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Im victorianischen England muß die junge Anabelle Burton völlig mittellos das Pfarrhaus verlassen, nachdem ihr Vater verstorben ist. Sie nimmt eine Stelle als Erzieherin der kleinen Viola auf der alten Normannenburg Darkhaven an der Südküste Englands an. Schon bald fühlt sie sich wohl dort. Sie lernt den Bruder des abwesenden Burgherrn kennen und lieben. Doch was verbirgt er? Ihre einzige Verwandte geht mit Florence Nightingale auf die Krim und verstirbt dort. Anabelle ist die Universalerbin ihres Vermögens. Heimlich heiratet sie Archibald. Da fälllt ihr durch einen Zufall das alte Tagebuch der früheren Burgherrin in die Hände. Nun erkennt sie, daß sie auf der Burg in großer Gefahr schwebt. Ihre einzige Freundin stirbt unter mysteriösen Umständen. Welche Rollte spielt der Burgherr? Gibt es noch eine Rettung oder ist es bereits zu spät?
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Kurzbeschreibung:
Im victorianischen England muß die junge Anabelle Burton völlig mittellos das Pfarrhaus verlassen, nachdem ihr Vater verstorben ist. Sie nimmt eine Stelle als Erzieherin der kleinen Viola auf der alten Normannenburg Darkhaven an der Südküste Englands an. Schon bald fühlt sie sich wohl dort. Sie lernt den Bruder des abwesenden Burgherrn kennen und lieben. Doch was verbirgt er? Ihre einzige Verwandte geht mit Florence Nightingale auf die Krim und verstirbt dort. Anabelle ist die Universalerbin ihres Vermögens. Heimlich heiratet sie Archibald. Da fälllt ihr durch einen Zufall das alte Tagebuch der früheren Burgherrin in die Hände. Nun erkennt sie, daß sie auf der Burg in großer Gefahr schwebt. Ihre einzige Freundin stirbt unter mysteriösen Umständen. Welche Rollte spielt der Burgherr? Gibt es noch eine Rettung oder ist es bereits zu spät?
Sylvia Weill
Das Geheimnis des alten Tagebuchs
Roman
Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2018 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2018 by Sylvia Weill
Korrektorat: Christin Ullmann
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-146-1
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Als ich Darkhaven das erste Mal sah, stand ich an der Bootsanlegestelle von Readingsworth. Die Sonne ging gerade unter, und so konnte ich Darkhaven nur in einem feinen Dunst sehen. Es schien mir wie ein Blick auf eine andere Welt. Nicht weit von der Küste entfernt lag eine kleine Felseninsel im Meer, auf deren höchstem Punkt schon die Normannen eine befestigte Burg gebaut hatten. Darkhaven.
Ich weiß noch genau, dass in zwei Fenstern Licht zu sehen war und ich mich fragte, was wohl gerade dort vor sich ging. Der Gedanke machte mir ein wenig Angst. Instinktiv zog ich meinen warmen Umhang fester um die Schultern und setzte mir die Kapuze auf, weil mich leicht fröstelte.
Was würde mich dort drüben erwarten? Wie oft hatte ich mir diese Frage schon gestellt, seit ich in York alles hinter mir gelassen und mich auf den Weg nach Devon gemacht hatte?
So weit nach Süden war ich noch nie gekommen und um ehrlich zu sein, war es die erste große Reise in meinem zweiundzwanzigjährigen Leben.
Seit ein paar Jahren gab es die Eisenbahn in England, und ich muss sagen, es war zwar eine anstrengende Reise, aber allemal besser als die mit Postkutschen, die immer noch fuhren und die ich zur Genüge kennengelernt hatte bei Fahrten in die Umgebung.
Darkhaven ist zu Fuß nur bei Ebbe über einen schmalen Damm zu erreichen, meistens aber werden die Menschen mit einem Boot übergesetzt.
Dazu war es aber heute Abend bereits zu spät, sodass man mir ein Zimmer in einer Pension direkt gegenüber der Bootsanlegestelle reserviert hatte.
Darauf war ich schriftlich vorbereitet worden. Morgen früh würde zur ausgemachten Stunde ein Boot auf mich warten und mich zu meiner neuen Heimat bringen.
Warum machte mich dieser Gedanke nicht froh? Es ist alles noch zu aufregend und neu für mich, versuchte ich mich selbst zu beruhigen.
Erst jetzt bemerkte ich, dass der Umhang und mein langes Kleid den nassen Sand am Strand berührten und davon wahrscheinlich schmutzig werden würden. Also raffte ich sie leicht und ging wieder auf die befestigte Straße.
Ich wollte aber noch nicht in die Pension zurückgehen, wo Mrs Pandergast sicherlich schon auf mich wartete, um mir das Dinner zu servieren. Sie war wohl der Ansicht, dass es nicht schicklich für ein so junges Ding wie mich war, solch eine lange Reise allein zu machen und dann auch noch abends ohne Begleitung vor die Tür zu gehen. Am liebsten hätte sie mich wohl noch höchstselbst in mein Zimmer gebracht, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich in mein Bett ging und dort auch verblieb.
Ich wollte die Seeluft noch ein bisschen genießen. Dabei schweifte mein Blick immer wieder hinüber nach Darkhaven, das langsam, aber sicher im Abenddunst verschwand. Die Lichter, die vor Kurzem noch so deutlich erkennbar gewesen waren, sah ich kaum noch.
Fühlte man sich auf so einer kleinen Insel nicht eingesperrt? Darüber hatte ich noch überhaupt nicht nachgedacht. Aber diese Überlegung war sowieso ein einziger Luxus, denn ich hatte ja keine Wahl. Ich war nun auf mich allein gestellt und würde mich auf Darkhaven bewähren müssen.
Zu Tante Etheldreda wollte ich auf gar keinen Fall. Sie lebte in London, hatte sich der Bewegung um Miss Nightingale angeschlossen und war sehr eigen. Auf meiner Reise hatte ich eine Nacht bei ihr verbracht und war gelinde gesagt froh gewesen, als ich am nächsten Tag weiterreisen konnte.
Jetzt kam ein kühler Wind von der See her, und mir wurde wirklich ziemlich kalt. Also machte ich mich seufzend auf den Weg zu Mrs Pandergast, die mich sofort an ihren üppigen Busen drückte und begann, mir das Dinner aufzutischen.
Obwohl ich nicht hungrig war, langte ich zu, da es wider Erwarten gut schmeckte und ich die liebe Frau nicht enttäuschen wollte. Als sie mir Kaffee brachte, fragte ich: „Kennen Sie die Leute von Darkhaven?“
Sie zuckte beinahe unmerklich zusammen, und ein Hauch von Unbehagen schien sie zu überkommen. „Kaum“, murmelte sie und verschwand in der Küche.
Ich dachte mir nichts dabei und ging dann in mein Zimmer, jetzt doch müde von der Reise. Aber ich konnte nicht einschlafen. War es das ungewohnte Geräusch der Wellen, die direkt auf mein Fenster zuzurollen schienen? Oder war es meine ganze Lebenssituation, über die ich jede Nacht seit dem Tod meines Vaters nachdachte? Ich wälzte mich hin und her und kam innerlich nicht zur Ruhe. Natürlich war ich auch angespannt wegen des morgigen Tages. Was würde er mir bringen? Ich kannte ja niemanden auf Darkhaven. Was wäre, wenn ich dort nicht bleiben konnte?
Ein Leben bei Tante Etheldreda mit ständigen Versammlungen ihrer Genossinnen, um Protestaktionen zu planen und durchzuführen, immer haarscharf am Gefängnis vorbei? Diese Aussicht beunruhigte mich. Außerdem machte mir London Angst. Allerdings hätte ich unsere junge Queen Victoria wirklich gern einmal von Nahem gesehen.
Ich stand auf, entzündete die Kerze auf dem Nachttisch und begann, in der Bibel meines Vaters zu lesen, die ich als einzigen Gegenstand aus dem Pfarrhaus mitgenommen hatte. Bald legte ich sie aber wieder aus den Händen.
Und wie jede Nacht kamen die Tränen. Ich konnte sie nicht stoppen. Wie sehr ich an meinem Vater gehangen hatte, wurde mir erst nach seinem Tod richtig bewusst.
Mein Leben im Pfarrhaus war sehr behütet gewesen. Das ganze Dorf war wie eine große Familie. Alle liebten meinen Vater. Seine Gottesdienste waren immer sehr gut besucht, und wir waren jeden Sonntag bei einer anderen Familie zum Lunch eingeladen.
Meine Mutter starb, als ich neun Jahre alt war. Sie bekam die Schwindsucht, und dann ging alles ganz schnell. Eigentlich erinnere ich mich gar nicht mehr so richtig an sie. Von Geburt an war ich der Liebling meines Vaters. Vielleicht, weil meine Eltern schon zwei Kinder verloren hatten.
Nach dem Tod seiner Frau beschloss mein Vater, dass er nun lange genug die Pflichten eines Ehemanns erfüllt hatte und kümmerte sich fortan nur noch um mich. Daran fand auch niemand etwas auszusetzen, obwohl einige Frauen im Dorf sich insgeheim bestimmt Hoffnungen gemacht hatten.
Seine Haushälterin, Mrs Stevens, hatte sowieso einen Narren an mir gefressen – und so vermisste ich nichts. Erst als mein Vater krank wurde, musste ich erkennen, dass er ein alter Mann geworden war. Es ging ihm zusehends schlechter, ohne dass die Ärzte richtig sagen konnten, was ihm fehlte. Er litt oft unter unsagbaren Schmerzen.
So musste die Kirche von England schließlich seine Nachfolge regeln – und ich wurde innerhalb von wenigen Monaten erwachsen. Im Pfarrhaus konnte ich nicht bleiben. Vaters Nachfolger, der junge Reverend Smith, war noch unverheiratet. Es hätte sich also nicht geschickt, wenn wir unter einem Dach gelebt hätten.
Bei einem seiner letzten Besuche war ich mit Reverend Smith spazieren gegangen, und er machte Andeutungen darüber, dass wir ja vielleicht heiraten könnten. So wäre allen geholfen. Aber für mich kam das nicht infrage. Ich fand ihn nett, aber sehr unbeholfen und konventionell. Außerdem stand mir zu dieser Zeit der Sinn nach allem, aber nicht nach einer Heirat.
So waren mein Vater und ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich nach seinem Tod zu seiner Schwester Etheldreda nach London ziehen würde. Sie war auch sofort einverstanden und freute sich auf ein neues Mitglied in Miss Nightingales Truppe.
Und dann kam wenige Wochen vor Vaters Tod ein Brief von Lord Rollo Cunningham. Er hatte meinen Vater vor vielen Jahren kennengelernt, und Vater hatte ihm wohl damals aus einer ziemlich misslichen Lage geholfen.
Jetzt hatte Lord Cunningham sich an ihn erinnert und schrieb, dass seine Frau vor einiger Zeit gestorben sei, man nun dringend eine Gouvernante für seine sechsjährige Tochter Viola finden müsse, und ob er ihm nicht weiterhelfen könne. Dabei erkundigte er sich natürlich auch nach dem Befinden meines Vaters und drückte nochmals seine Dankbarkeit aus.
Mein Vater sah dies als ein Zeichen des Himmels an. Er hätte mich zwar bei Tante Etheldreda wohlversorgt gewusst, aber er missbilligte ihr Engagement bei Miss Nightingale zutiefst. Dass sie sich für Arme und Kranke einsetzte, hielt er ja noch für christlich, aber dass sie sich darauf vorbereitete, mit Miss Nightingale in den Krimkrieg zu ziehen, verurteilte er auf das Schärfste. So etwas schickte sich nicht für eine Dame ihres Standes.
Wir besprachen also das Für und Wider und schließlich antwortete er Lord Cunningham und schlug mich für diesen Posten vor. Da ich bereits in der kleinen Dorfschule unterrichtet hatte, schien es uns beiden passend. Komischerweise erzählte er mir nicht viel über Lord Cunningham, der höchstens zehn Jahre älter sein konnte als ich. Es war irgendwie nicht wichtig. Ebenso erfuhr ich nicht, worin Vaters Hilfe damals bestanden hatte. Ich fragte auch nicht.
Mein Vater verfiel mit jedem Tag mehr, und ich war nur noch mit seiner Pflege beschäftigt.
Eine Woche vor seinem Tod kam die Antwort von Lord Cunningham, in der er sich sehr erfreut über Vaters Vorschlag zeigte und diesen gern annahm. Zudem gab er genaue Anweisungen für die Reise nach Darkhaven zwei Monate später und legte eine Eisenbahnfahrkarte bei. So fügte es sich, dass ich nach der Beerdigung meines Vaters noch genügend Zeit hatte, um alles Notwendige zu regeln.
Es war mir nicht leichtgefallen, York zu verlassen. Besonders der Abschied von Mrs Stevens war sehr schwer. Auch deshalb kommen mir jede Nacht die Tränen. Sie liebte mich wie ein eigenes Kind und für mich war sie eine Art Mutterersatz gewesen. Ich nahm mir vor, ihr gleich nach meiner Ankunft zu schreiben.
Und jetzt saß ich hier in diesem fremden Ort und kam mir vor wie Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies. Aber mein Vater hatte mir beigebracht, immer nach vorn zu schauen. Und damit war ich bisher ganz gut durchs Leben gekommen.
Also löschte ich die Kerze, sprach ein kurzes Gebet und schlief dann auch endlich in Mrs Pandergasts gemütlichem Bett ein.
Am nächsten Morgen wartete ein üppiges Frühstück auf mich. Meine Zimmerwirtin hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, mich zu verwöhnen. Aber ich war so aufgeregt, dass ich nicht viel essen konnte. Sie schien es achselzuckend zu verstehen.
Ich packte meinen Koffer, verabschiedete mich von Mrs Pandergast und ging langsam zu der Bootsanlegestelle, wo ich abgeholt werden sollte. Natürlich war ich wie immer zu früh. Das scheint mir in die Wiege gelegt worden zu sein. Ich sagte mir dann immer: „Na ja, besser zu früh als zu spät“, und vertrieb mir die Zeit. Das fiel mir an diesem Morgen aber schwer, denn meine Anspannung stieg.
Es war noch dunstig, die Sonne war hinter einer dicken Wolkenschicht verborgen, und man konnte Darkhaven wie am Abend zuvor nur im Nebel erkennen.
Wieder zweifelte ich, ob es richtig war, was ich vorhatte. War dieses Abenteuer nicht ein wenig zu groß für mich geraten? Andererseits war es gang und gäbe, dass sich junge Mädchen aus besserem Haus als Gouvernanten verdingten, wenn es finanzielle Engpässe in der Familie gab oder, wie in meinem Fall, man keine Familie mehr hatte. Der andere Weg wäre eine lukrative Heirat gewesen, aber das kam für mich überhaupt nicht infrage. Lieber wäre ich in ein Kloster für höhere Töchter gegangen. Aber ich fasste Mut, drückte mein Kreuz durch und fragte mich, was mir denn schon passieren könne.
Also ging ich auf und ab, immer darauf bedacht, dass mein Kleid und mein Umhang nicht den feuchten Sand aufnahmen – und sah immer wieder hinüber nach Darkhaven.
Endlich meinte ich, in der Ferne einen Punkt ausmachen zu können, der sich ganz langsam näherte. Tatsächlich war es das von mir erwartete Boot.
Wieder sah ich mich um, ob noch andere Personen nach Darkhaven übersetzen wollten, aber ich stand allein hier.
Nach einer Ewigkeit landete das kleine Boot genau vor mir. Ein alter mürrischer Mann nickte mir nur kurz zu, packte meinen Koffer, warf ihn in das Boot und setzte sich wieder auf seine Bank, bereit abzulegen. Ich war verwirrt und wusste kurzzeitig nicht, wie ich mich verhalten sollte, sprang dann aber kurz entschlossen in das Boot und setzte mich ihm gegenüber.
Vor mir lag Darkhaven.
Er sah mich nicht an und sprach kein einziges Wort, ruderte nur ganz gemächlich, so als täte er das schon hundert Jahre lang. Ich fand das sehr beklemmend, denn ich hätte mich gern mit ihm unterhalten, um mich darauf vorzubereiten, was gleich auf mich zukommen würde. So aber kam ich mir vor wie in Charons Boot auf dem Styx, das mich in die Unterwelt brachte. Panisch erinnerte ich mich, dass jeder Reisende laut dieser Sage Charon eine Münze für die Überfahrt geben musste. Verstohlen betrachtete ich meinen Fährmann und überlegte, ob er das wohl auch von mir erwartete, aber ich kam zu dem Schluss, dass er ein Angestellter von Lord Cunningham sein musste.
So näherte ich mich also Darkhaven – und wäre am liebsten wieder umgekehrt, so unheimlich war mir alles am helllichten Tag.
Die Überfahrt erschien mir ewig lang, aber schließlich kamen wir drüben an. Es war ebenfalls eine sehr schlichte Bootsanlegestelle, von der aus eine Steintreppe steil nach oben führte. Mein Fährmann nahm meinen Koffer, stellte ihn an Land ab, drehte sich wortlos um und ruderte wieder hinaus.
„Jetzt also beginnt der Ernst des Lebens, Annabelle“, sagte ich mir, nahm meinen Koffer und machte mich an den Aufstieg.
Dass die Treppe so lang und steil war, hatte ich nicht erwartet. Seit meiner Kindheit litt ich an Höhenangst. Hätte ich mich in diesem Moment umgedreht, ich hätte sicherlich einen Schrei losgelassen.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Möwen, die links und rechts von der Treppe ihre Nester hatten und munter um meinen Kopf herumflogen. Dabei machten sie einen höllischen Lärm, der mich ein wenig ablenkte.
Oben angekommen sah ich ein altes Burgtor in der Mauer, das offen stand und hinter dem ein breiter Weg noch weiter nach oben führte.
Ich war ganz schön aus der Puste, als ich endlich oben auf dem Burghof ankam.
Schon von unten hatte ich gesehen, dass es sich um eine beeindruckende Burganlage handelte, die die Normannen vor langer Zeit erbaut hatten. Von hier aus hatten sie den gesamten Schiffsverkehr kontrollieren und Zölle erheben können. Das hatte mir mein Vater erzählt. Er hatte Lord Cunningham damals auf seine Burg begleitet. Warum nur hatte er mir davon erst auf seinem Sterbebett erzählt? Aber für solche Gedanken hatte ich jetzt keine Zeit.
Auf dem Hof war niemand außer mir, also sah ich mich unschlüssig um und ging dann auf den Haupteingang zu.
In diesem Moment kam die Sonne raus und blendete mich mit ihrem Strahlen. Als ich wieder sehen konnte, stand mir eine schüchterne Dienstmagd gegenüber.
„Miss Burton? Ich bin Daisy. Willkommen auf Darkhaven. Bitte kommen Sie herein.“
Ich nickte und folgte ihr. Drinnen musste ich erst einmal meinen Koffer abstellen, so sehr beeindruckte mich die Größe dieser Halle.
Links und rechts von mir gingen verschiedene Zimmer ab und vor mir führte eine große Treppe hinauf zu einer Galerie. Ein riesiger Leuchter hing von der Decke, und alles lag im Halbdunkel. Ein paar alte verzierte Truhen und Ritterrüstungen konnte ich ausmachen. Beim Blick hinauf zur Galerie sah ich am Kopfende der Treppe das riesige Bild einer wunderschönen Frau.
„Bitte kommen Sie zuerst mit in die Küche, Miss Burton. Da wartet eine gute Tasse Tee auf Sie. Mrs Dunners, die Haushälterin, kommt dann gleich.“
Die Küche erwies sich als ein Traum. In der Mitte standen mehrere große Kohleherde, über denen Töpfe und Pfannen hingen, und an den Wänden standen alte Eichenschränke, denen man ihr Alter ansah. Das Schönste war jedoch ein riesengroßer uralter Eichentisch, der am Fenster stand. Drum herum standen Bänke. Hier also aß das Gesinde, wie es in Herrenhäusern üblich war.
Ich setzte mich und sah erst jetzt eine beleibte ältere Frau, die sich an einem der Abwaschbecken zu schaffen machte.
„Das ist Mrs Pimrose, unsere Köchin“, sagte Daisy. Ich nickte ihr zu, und sie nickte geistesabwesend zurück. Offensichtlich wusste sie, wer ich war.
Daisy stellte mir eine Tasse dampfenden Tees mit Milch und Zucker hin und verschwand wieder.
Nach der Überfahrt durch den Dunst und dem langen Aufstieg war mir so klamm, dass mir der Tee guttat.
Hier fühlte ich mich gleich wohl, obwohl Mrs Pimrose weiter ihre Pfannen schrubbte und mich nicht beachtete. Im Pfarrhaus hatte ich auch immer am liebsten in der Küche gesessen und Tee getrunken.
Plötzlich strich mir etwas um die Füße. Erschrocken zog ich meine Beine weg. Ein unwilliges Maunzen setzte mich sogleich ins Bild. Eine wunderschöne grau getigerte Katze begrüßte mich.
Ich beugte mich zu ihr hinunter und streichelte sie. „Wenigstens du scheinst mich wirklich willkommen zu heißen“, dachte ich.
„Mr Tom, du hast hier nichts verloren, verschwinde!“, meldete sich Mrs Pimrose mit einer tiefen, voluminösen Stimme.
Am liebsten hätte ich protestiert, aber der Kater schien sie zu verstehen und trollte sich durch die offene Tür hinaus.
„Der weiß genau, dass er hier nicht reindarf“, schimpfte sie weiter. „Aber er versucht es doch immer wieder, das alte Schlitzohr. Weil ihm hier immer jemand etwas zusteckt“, murrte sie grimmig und rückte der nächsten Pfanne zu Leibe.
Ich hatte meinen Tee noch nicht ganz ausgetrunken, da hörte ich Schritte auf die Küche zukommen. Schritte, an denen ich gleich erkannte, dass ich die Person, die mit diesen Schritten auf mich zukam, nicht mögen würde.
Manchmal ist das wie ein sechster Sinn. Ich hatte diese Erfahrung schon ein paar Mal in meinem Leben gemacht.
Ich erblickte eine schlanke, ältere, ganz in Grau gekleidete Hausdame, die ihr Haar unter einer Haube streng nach hinten frisiert hatte, sich kerzengerade hielt und der man ansah, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war.
„Wahrscheinlich kennt sie die Bibel auswendig“, schoss es mir durch den Kopf, und ich musste mir ein Grinsen verkneifen.
„Ich bin Mrs Dunners“, stellte sie sich mit einer harten, bellenden Stimme vor. Dann gab sie mir die Hand, was ich nicht erwartet hätte. „Folgen Sie mir bitte.“
Ich warf noch einen Blick auf Mrs Pimrose, deren Gesichtsausdruck ich aber nicht deuten konnte.
Wir gingen zurück in die Halle und stiegen die große Treppe hinauf. Dabei konnte ich gar nicht anders, als die ganze Zeit das wirklich sehr große Bild anzustarren, dem wir uns mit jeder genommenen Stufe weiter näherten. Darauf war die schönste Frau zu sehen, die ich in meinem Leben je gesehen hatte. Sie war jung, hatte die dunklen Haare hochgesteckt, trug ein bezauberndes Kleid und dezenten, aber wahrscheinlich sündhaft teuren Schmuck.
Mit einem rätselhaften Blick sah sie dem Besucher entgegen. Sie blendete mit ihrer Schönheit, ich mochte sie jedoch nicht. Aber wahrscheinlich sieht das jede Frau erst einmal so, die nicht mit einer ähnlichen Schönheit gesegnet ist. Wer sie wohl war? Ich traute mich nicht, Mrs Dunners zu fragen. Sie hatte die ganze Zeit, die sie einen Schritt vor mir herlief, kein weiteres Wort zu mir gesagt. Irgendwie schüchterte sie mich ein. Vielleicht wegen des großen Altersunterschiedes, aber vielleicht auch wegen der Härte, die sie ausstrahlte.
Sie würdigte das Bild mit keinem Blick, wohl deshalb, weil sie häufig am Tag daran vorbeiging. Außerdem konnte ich mir kaum ein gegensätzlicheres Paar vorstellen als die junge Frau auf dem Bild und Mrs Dunners. Ich nahm mir vor, die Identität der schönen Dame später zu klären.
Oben gingen einige Gänge ab, die wohl in die verschiedenen Flügel der Burg führten. Wir bogen in einen davon ein, der sich sehr lang und ein wenig düster vor uns auftat. An den Wänden hingen Bilder, die mich aber nicht weiter interessierten.
Fast am Ende des Gangs stoppte Mrs Dunners und öffnete mit einem Schlüssel ihres riesigen Schlüsselbunds, der an ihrem Gürtel hing, eine Tür.
Ich betrat das schönste Zimmer, das ich in meinem bisherigen Leben jemals gesehen hatte.
Ein großes Himmelbett stand an der Wand, Holztruhen und ein großer Schrank schufen die Atmosphäre eines herrschaftlichen Raumes. Am meisten aber der große Kamin. Große Fenster aus Bleiglas ließen das Licht ungehindert einfallen. Und noch bevor ich hindurchsah, wusste ich, dass ich von hier aus das Meer sehen konnte. An der linken Fensterseite war ein Erker mit Sitzbank eingebaut. Man konnte dort also sitzen und aufs Meer hinaussehen oder einer Handarbeit nachgehen.
Mrs Dunners musste wohl meinen verzückten Gesichtsausdruck bemerkt haben: „Seine Lordschaft hat angeordnet, dass Sie in diesem Zimmer untergebracht werden. Es liegt direkt neben dem von Miss Viola.“
An dem kaum wahrnehmbaren Unterton in ihrer Stimme bemerkte ich, dass sie selbst mit dieser Entscheidung überhaupt nicht einverstanden war. Und ich konnte sie sogar verstehen. Dies war nicht das Zimmer für eine Gouvernante, sondern der Raum für ein Mitglied der Familie.
„Seine Lordschaft bat mich, ihn zu entschuldigen, er ist im Moment nicht auf Darkhaven. Wir erwarten ihn erst in der nächsten Woche zurück. Er hat aber angeordnet, dass es Ihnen an nichts fehlen soll.“ Sie sah mich mit einem unergründlichen Blick an.
„Miss Viola werden Sie dann beim Lunch kennenlernen. Ich schicke Daisy, damit sie den Kamin anzündet und Ihnen beim Auspacken hilft.“
Dabei warf sie einen nicht zu deutenden Blick auf meinen Koffer und verschwand.
Aber sie konnte mir die unbändige Freude über diesen wunderschönen Raum nicht nehmen. Damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet. Ich war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich ein besseres Zimmer im Dienstbotentrakt zugewiesen bekommen würde, so wie es sich für eine Gouvernante schickte.
Ich ging zum Fenster und tatsächlich sah ich das Meer von hier. Es musste also der nördliche Flügel der Burg sein, in dem ich mich befand.
Eines der Fenster ließ sich öffnen, und ich hörte, wie sich die Brandung an den Felsen unter mir brach. Ich atmete tief ein.
Dann wandte ich mich wieder dem Raum zu. Ich setzte mich auf das Bett und stellte erfreut fest, dass es schön hart war. Ich hasse weiche Matratzen.
Erst jetzt nahm ich die Gobelins an den Wänden wahr und nahm mir vor, sie später eingehend zu studieren.
Neben dem Schrank an der Fensterseite sah ich eine unauffällige Tür. Ich öffnete sie und sah einen angebauten Abtritt, der wohl genau über den Felsen befand. „Wie praktisch“, sagte ich zu mir selbst. So etwas kannte ich gar nicht. Ich war es gewohnt, erst den Hof zu überqueren, um zum Abtritt zu kommen. Ich würde also nachts nicht durch diese düsteren Gänge schleichen müssen.
In der Ecke hing ein großer Spiegel, neben dem ein Waschtisch stand.
„Was für ein Luxus“, dachte ich. Als ich hineinsah, musste ich unwillkürlich an die Dame auf dem Bild denken. Ich musste lachen. Im Dorf galt ich gemeinhin als Schönheit, aber was war das gegen die überirdische Schönheit auf dem Bild? Ich hatte wie sie langes dunkles Haar und dunkelblaue Augen, aber was war das gegen ihre grünen Katzenaugen?
Eigentlich mochte ich mich im Spiegel immer gern anschauen, aber nachdem ich sie gesehen hatte, fühlte ich mich wie ein graues, langweiliges Mäuschen. Und meine Kleidung machte mich ja auch tatsächlich dazu.
Geld für teure Kleidung hatte es im Pfarrhaus nie gegeben. Und mein Vater hätte das auch nicht geduldet. Er hasste jede Form von Luxus und Tändelei. Beten und arbeiten, das war seine Lebensdevise. So wie ich angezogen war, konnte ich vielleicht noch ein wenig neben Mrs Dunners punkten, aber ganz sicher nicht neben der Dame auf dem Bild.
Daisy riss mich aus diesen müßigen Überlegungen.
Sie hatte schüchtern angeklopft und betrat den Raum. Wortlos machte sie sich daran, das Feuer im Kamin zu entzünden. Es gelang ihr aber nicht, und ich sah, dass sie sich dabei sehr ungeschickt anstellte. Da ich im Pfarrhaus beinah jeden Tag den Kamin in dem kleinen Wohnzimmer angezündet hatte, kam ich ihr zu Hilfe, und bald knisterte ein munteres Feuer vor sich hin.
„Danke“, flüsterte sie.
„Kommst du aus Readingsworth?“, fragte ich sie.
„Ja.“ Sie nickte schüchtern.
„Ach, dann kennst du ja bestimmt Mrs Pandergast?“
Sie sah mich überrascht an. „Ja. Sie ist meine Tante.“
Ich lachte. „Ich habe letzte Nacht in ihrer Pension übernachtet.“
Sie lächelte zum ersten Mal, seit ich sie kennengelernt hatte. So viel jünger als ich konnte sie nicht sein.
„Brauchen Sie meine Hilfe beim Auspacken?“
Ich wollte schon verneinen, denn die paar Sachen aus dem Koffer konnte ich spielend allein in den Schrank hängen, aber dann wäre sie sofort wieder verschwunden. Also nickte ich und wies auf den Koffer, den ich auf das Bett gestellt hatte.
Sie machte sich an die Arbeit.
„Wie lange bist du denn schon hier?“
„Ein halbes Jahr. Für meine Tante war es selbstverständlich, dass ich in Stellung gehen würde. Und seine Lordschaft war sehr freundlich.“
Jetzt konnte ich meine Neugier nicht mehr bezwingen. „Daisy, wer ist die Dame auf dem Bild in der Halle?“
Sie sah mich mit großen Augen an, aus denen ich nichts lesen konnte.
„Das ist Lady Cunningham. Sie ist vor sechs Monaten gestorben.“
Ich hatte mir so was fast gedacht.
Daisy verließ mich wieder, und ich setzte mich vor den Kamin. Ich war dankbar dafür, dass er brannte, denn obwohl es Frühling war, fröstelte mich leicht. Diese Kälte herrschte in alten Burgen ja immer. Wahrscheinlich muss man auch im Hochsommer ein Kaminfeuer anzünden.
Daisy hatte die Tür nur angelehnt. Plötzlich bewegte sie sich leicht und jemand kam herein.
Ich wollte schon aufstehen, als ich erleichtert feststellte, dass es Mr Tom war. Mit einem Satz sprang er auf meinen Schoß und rollte sich zusammen, als hätte er das schon immer so getan. Ich begann, ihn zu streicheln und hing meinen Gedanken nach. Ab und zu hörte ich ein Knarzen im Gebälk oder der Wind pfiff um die Zinnen, obwohl draußen die Sonne schien. Mr Tom schnurrte selig.
So bemerkte ich nicht, wie die Zeit verstrich.
Fast war ich über Mr Tom eingenickt, als es zaghaft klopfte und Daisy ihren Kopf zur Tür hereinsteckte.
„Ich komme, Sie zum Lunch abzuholen, Miss“, sagte sie und bemerkte erst dann Mr Tom. „Was machst du denn hier, du Rumtreiber? Na, lass dich bloß nicht von Mrs Dunners erwischen.“
Ich musste lachen und ging so, wie ich war, mit ihr. Der Herr des Hauses war ja nicht anwesend, und da ich die Gouvernante war, gehörte ich eigentlich zum Personal.
Früher hatte ich schon oft von dem zwiespältigen Schicksal vieler meiner „Leidensgenossinnen“ gehört, die in einem Herrenhaus unterrichteten und nicht richtig zur Familie, aber auch nicht richtig zum Hauspersonal zählten. Manche aßen am Tisch der Familie, manche beim Personal in der Küche und andere in ihrem Zimmer, zusammen mit den Kindern.
Aber ich machte mir über meinen Status hier keine Gedanken, denn jetzt würde ich meine Schutzbefohlene, die kleine Viola, kennenlernen.
Also folgte ich Daisy auf dem mir nun schon bekannten Weg durch den dunklen Gang und die Halle in die Küche.
Am Tisch saßen mehrere Personen, die meisten wohl Dienstmägde unterschiedlichen Alters, aber wohl auch der Stallmeister und sogar mein Fährmann saßen dort – und er sprach auch jetzt kein Wort.
Als sie mich wahrnahmen, verstummte das fröhliche Stimmengewirr, das ich schon von der Halle aus gehört hatte.
Daisy sagte nur: „Das ist Miss Burton“, und setzte sich an ihren Platz.
Ich lächelte allen zu und war etwas unschlüssig, wohin ich mich setzen sollte.
Da packte mich jemand energisch an der Schulter: „Na, Kindchen, dann setzen Sie sich mal hierher zu mir. Ich hoffe, Sie mögen das Essen von der alten Pimrose.“
In diesem Moment schien das Eis fürs Erste gebrochen. Mrs Pimrose war wohl die Autorität, auf die alle hörten.
Dankbar sah ich sie an. Alle anderen nahmen ihre Unterhaltungen wieder auf.
Es roch herrlich, und erst jetzt bemerkte ich, dass ich wirklich hungrig war.
Mrs Pimrose legte mir so viel auf, dass ich es kaum schaffen würde. Aber um sie nicht zu verärgern, langte ich kräftig zu. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, was ich ihr auch mindestens nach jedem dritten Bissen sagte. Es schien sie glücklich zu machen.
Erst als sie einen Apple Pie zum Nachtisch servierte, bemerkte ich, dass Mrs Dunners und Viola nicht anwesend waren. Ich fragte das Mädchen, das neben mir saß, nach ihnen. Erstaunt sah sie mich an: „Mrs Dunners isst nie mit uns. Immer nur in ihrem Zimmer.“ Wortlos schien sie nachzuschieben: „Dem Himmel sei’s getrommelt und gepfiffen!“
„Und Viola?“
„Die fühlt sich heute wieder mal nicht wohl und ist im Bett geblieben. Ich schau gleich mal nach ihr.“
Mrs Pimrose mischte sich mit ihrer dunklen Stimme ein: „Seit ihre Mutter von uns gegangen ist, kränkelt sie nur noch, das arme Ding. Wurde Zeit, dass Sie gekommen sind, Miss. So kann das doch nicht weitergehen. Nichts von dem, was ich ihr hochbringen lasse, rührt sie an. Sie will immer nur Milchreis. Aber ich bitte Sie, davon kann sie doch nicht wachsen. Außerdem fehlt ihr die frische Luft. Ach, es ist ein Elend!“
Damit stand sie auf und trommelte ihre Gehilfinnen für den Abwasch zusammen.
Gleichzeitig erhoben sich fast alle vom Tisch, um wieder ihrer Arbeit nachzugehen.
Ich fragte das Mädchen, das neben mir gesessen hatte, wie ihr Name ist.
„Na, Mary“, gab sie zurück.
„Mary, darf ich dich begleiten, wenn du zu Miss Viola raufgehst?“
Sie sah mich an, als sei sie so eine Frage nicht gewohnt.
„Selbstverständlich. Sie sind doch jetzt ihre Gouvernante.“
Also machte ich mich mit ihr auf zu Lady Cunningham.
Wir gingen bis zu dem Zimmer neben meinem. Mary öffnete leise die Tür.
Ich trat mit ihr ein. Sofort schlug mir eine Welle sehr trockener Hitze entgegen. Im Kamin brannte ein starkes Feuer. Ich bekam kaum Luft.
Der Raum war zwar auf den ersten Blick ein Kinderzimmer, aber es war viel zu aufgeräumt. Alles befand sich ordentlich an seinem Platz.
In einer Ecke stand ein Kinderbett, auf das Mary zuging.
Dort lag schlafend das reizendste Mädchen, das ich bisher gesehen hatte. Langes blondes, lockiges Haar, seidige dunkle Wimpern und ein sehr unschuldiger Ausdruck auf seinem Gesicht.
Wir hatten es wohl doch geweckt, denn es schlug die Augen auf. Fast musste ich einen kleinen Aufschrei unterdrücken. Ich sah in die gleichen grünen Katzenaugen wie auf dem Bild seiner Mutter.
„Hallo, Miss Viola. Schau mal, wen ich dir mitgebracht habe.“ Mary trat etwas zur Seite, sodass Viola mich sehen konnte. Sie schaute mich einfach nur an, mit ausdruckslosen Augen.
„Seltsames Kind“, dachte ich.
„Hallo. Ich bin Miss Burton, deine neue Gouvernante.“
Jetzt wurde sein Blick neugieriger.
„Guten Tag, Miss.“ Dabei streckte Viola mir die Hand entgegen.
Erstaunt nahm ich sie und musste feststellen, dass sie sehr kalt war. Und schon ließ sie mich wieder los.
„Möchtest du etwas essen?“, fragte Mary wie jemand, der die Antwort schon kannte.
„Nein. Ich habe keinen Hunger.“
Mary zuckte nur mit den Schultern und verschwand.
Ich setzte mich in den Lehnstuhl neben dem Bett und sah mich im Raum um.
„Schön hast du es hier.“
„Ja, finden Sie?“, erwiderte Viola tonlos. Dabei schob sie die Decke weg und setzte sich auf den Bettrand. Erst dann sah ich, wie dünn und zerbrechlich sie war. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und fest gedrückt, um dann gleich mit ihr zu Mrs Pimrose zu gehen, damit die sie aufpäppeln konnte. Aber das musste wohl noch warten.
Sie sah einfach nur vor sich hin und wippte mit den Beinen.
„Kennen Sie meinen Vater?“, fragte sie nach einer Weile.
„Nein, noch nicht. Er kommt wohl erst nächste Woche zurück.“
„Ja. Und er bringt mir ein ganz großes Geschenk mit. Das macht er immer. Bringt Ihr Vater Ihnen auch Geschenke mit, Miss?“
Diese Frage traf mich mitten ins Herz. Oft war mein Vater nicht fort gewesen, aber wenn, dann hatte er mir immer eine Kleinigkeit mitgebracht. Manches davon habe ich noch lange Zeit aufgehoben. Mir stiegen Tränen in die Augen. Plötzlich vermisste ich ihn sehr.
Viola schien davon nichts zu bemerken, erwartete wohl auch keine Antwort.
„Ja, das hat er.“
Sie sah mich wieder nur an.
In diesem Moment wurde die Tür resolut geöffnet, und Mrs Dunners trat ein.
Sofort ging mit Viola eine Veränderung vor sich. Sie drückte ihr Kreuz durch, rutschte vom Bett und ging hinüber zu einem Stuhl, auf dem ihre Kleidungsstücke akkurat lagen.
Mrs Dunners ging zu ihr und half ihr in das Kleidchen und die Schuhe. Dabei fiel kein Wort. Dann nahm sie sie bei der Hand und zog sie mit sich.
Viola warf mir noch einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Und dann war ich allein im Kinderzimmer, völlig überrumpelt.
So saß ich noch eine ganze Weile, bis ich diesen Auftritt verarbeitet hatte, und ging schließlich hinüber in mein Zimmer.
Ich legte mich auf das Bett und fiel sogleich in einen leichten Mittagsschlaf. Daran war wohl Mrs Pimroses gutes Essen schuld.
In den nächsten Tagen versuchte ich, mich in den Alltag auf Darkhaven einzufügen. Ich glaube, es gelang mir ganz gut.
Die Schar der Bediensteten war klein, sodass ich schnell alle kennenlernte.
Mr Brown, der Stallmeister, ein netter älterer Herr, nahm mich mit zu den Stallungen. Es gab nicht viele Pferde dort, aber die wenigen waren ausgezeichnete Exemplare.
„Lord Cunningham ist da sehr eigen“, klärte er mich auf. „Er hat nur die besten Zuchthengste hier.“ Dabei schwang Stolz in seiner Stimme. Und Anerkennung für seine Lordschaft.
Ich hatte in York schon früh das Reiten gelernt, wenn ich mich auch nicht als eine erfahrene Reiterin bezeichnen würde. Aber es hatte mir immer Spaß gemacht, und die Stürze waren zum Glück belanglos gewesen.
Während ich einem jungen Braunen über die Nüstern streichelte und überlegte, wie lange ich nicht mehr auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte, ging mir plötzlich etwas auf.
„Moment mal, Mr Brown, Sie können die Pferde hier auf der Insel doch gar nicht ausführen!“
Zwar war ich noch nicht aus der Burg hinausgekommen, aber ich wusste ja, dass die Insel nur sehr klein war. Wo hier Pferde auslaufen sollten, war mir völlig schleierhaft.
Mr Brown lachte. „Da haben Sie recht. Aber Lord Cunningham hat auch noch einen Stall drüben in Readingsworth. Allerdings können wir mit unseren Pferden nur bei Ebbe rüberreiten, damit sie sich dort richtig austoben. Aber wir gewöhnen sie schon von klein auf daran, über den Damm zu gehen, sodass es kein Problem für sie ist. Drüben werden sie dann eingesetzt, um Botengänge zu erledigen, Besuche zu machen oder um einfach nur auszureiten. Das macht Lord Cunningham für sein Leben gern. Er reitet wie der Teufel. Und drüben fühlen sich die Pferde auch wohl.“
„Ach, dann ist hier nur die Zucht?“
Mr Brown nickte und verließ mich dann.
Ich musste daran denken, wie er über seine Lordschaft gesprochen hatte. Voller Verehrung und Respekt.
Zum ersten Mal machte ich mir Gedanken, wie er wohl sein würde.
Bisher musste ich so viele neue Eindrücke verarbeiten, dass ich gar nicht groß darüber nachdenken konnte, wie ich mich mit seiner Lordschaft verstehen würde.
Ich nahm mir vor, mich in der Küche mal umzuhören.
Einer der Stalljungen kam zu mir: „Mr Brown hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass seine Lordschaft angeordnet hat, Sie könnten jederzeit bei Ebbe ausreiten, Miss.“
Ich brachte nur ein kurzes erstauntes „Danke“ hervor. Damit hatte ich nicht gerechnet, ebenso wenig wie mit meinem herrschaftlichen Zimmer.
Seiner Lordschaft schien wirklich etwas daran gelegen zu sein, mich hier zu halten.
Der Unterricht für Viola begann.
Am Tag zuvor hatte mich Mrs Dunners zu sich gebeten, um mir mitzuteilen, wie der Unterricht für Viola zu gestalten sei.
Offenbar hatte sie genaue Instruktionen von seiner Lordschaft erhalten.
Sie teilte mir also mit, dass Viola nach dem für ihr Alter üblichen Lehrstoff unterrichtet werden solle. Und der Lord wünsche keinerlei Sonderbehandlung oder Nachsicht. Viola habe sich dem Unterricht anzupassen. Alles Weitere wolle er dann mit mir persönlich besprechen.
Während sie mir das in ihrer kalten, beherrschten Art, die ich fürchtete, mitteilte, sah ich mich ein wenig in ihrem Arbeitszimmer um.
Im Kamin brannte kein Feuer, sie schien nicht zu frösteln, was mich ehrlich gesagt nicht verwunderte.
Auf ihrem Schreibtisch lagen einige Papiere, an denen sie wohl gerade arbeitete.
In der Küche hatte ich erfahren, dass es noch einen Butler auf Darkhaven gab, einen älteren Herrn namens Mr McNeal, der mit seiner Lordschaft unterwegs war. Während seiner Abwesenheit musste Mrs Dunners alles erledigen. „Und das bestimmt perfekt“, dachte ich eingeschüchtert.
Sonst gab es in dem Raum nicht viel Beachtenswertes. Ein großes Kreuz hing an der Wand, was mich in meinem ersten Eindruck von ihr bestärkte, dass sie äußerst religiös war.
Nicht eine Pflanze oder ein paar Blumen gab es. An den Wänden hingen langweilige, nichtssagende Gemälde.
Sie fixierte mich mit ihren kalten grauen Augen: „Miss Viola leidet immer noch unter dem Verlust ihrer Mutter und braucht eine starke Hand, die sie führt.“
Der Unterton in ihrer Stimme gab mir deutlich zu verstehen, dass sie mir diese Autorität nicht zutraute.
Komisch, ich hatte mich immer für selbstbewusst gehalten.
Mein Vater hatte mir von Kindheit an beigebracht, dass alle Menschen gleich sind und ich mich vor niemandem fürchten muss. Zum ersten Mal saß ich jetzt einem Menschen gegenüber, der mich einschüchterte, ohne dass er viel dazu tat, und mich wie ein kleines Mädchen fühlen ließ, das fortwährend getadelt wird.
„Sie muss essen“, sagte ich und räusperte mich.
„Selbstverständlich. Wenn Sie es nicht schaffen, muss ich das eben weiter übernehmen.“
Entsetzt sah ich sie an. Jetzt wurde mir klar, wohin sie Viola immer mitnahm, wenn sie sie aus dem Kinderzimmer oder dem Unterrichtszimmer abholte. Ich hatte mich schon gefragt, welchem Zweck diese Unternehmung diente.
Mrs Dunners gab mir noch ein paar Anweisungen für den Umgang mit dem Personal, und dann wurde ich mit einem nur angedeuteten Kopfnicken entlassen.
Ich ging aus dem Raum wie eine Schülerin, die gerade einen Tadel von der Direktorin bekommen hatte. Meine Hände waren feucht, und ich atmete kaum noch.
Das Verhältnis zwischen Viola und mir war seltsam. Sie schien mich zwar zu akzeptieren und war willig, aber ich konnte nicht zu ihr durchdringen.
In der ersten Zeit sah ich sie nur zum Unterricht. Dieser fand in einem sehr schönen, hellen Zimmer unter dem Dach statt. Die ersten Male verlief ich mich immer, wenn ich hinaufging. Aber bald hatte ich es raus. Es gab dort alles, was sich ein Kind für das Entdecken und Lernen nur wünschen konnte. Auch standen dort sehr viele Bücher, die aber größtenteils nicht für Mädchen in Violas Alter geeignet waren.
Wir sahen uns dort am Vormittag bis zum Lunch und dann noch einmal am Nachmittag. Ich hatte mir vorgenommen, sie nicht zu bedrängen. Also war ich so höflich zu ihr, wie sie es zu mir war. Ich bemerkte jedoch, dass sie mich beobachtete.
Anfangs fragte ich sie jeden Tag, ob sie mit zum Lunch in die Küche gehen wolle. Sie verneinte es jedes Mal. Dann gab ich es auf. Deshalb erschien zwangsläufig Mrs Dunners und nahm sie mit.
„Arme Kleine“, dachte ich nur.
Einmal konnte ich mir die Frage nicht verkneifen: „Magst du Mrs Dunners?“
Sie sah mich kurz an und nickte dann nur.
Was das zu bedeuten hatte, war mir sehr klar. Gab es wohl irgendjemanden, der Mrs Dunners mochte? Von den Bediensteten wurde sie gefürchtet, das hatte ich schnell bemerkt.
Manchmal dachte ich an Lord Cunningham. Ich erfuhr, dass sich seine Rückkehr verzögerte.
In meiner freien Zeit erkundete ich die Umgebung der Burg, soweit mir das möglich war.
Zu meinem grenzenlosen Erstaunen entdeckte ich gleich hinter der Burg einen relativ großen Garten, der bis an die Steilküste führte, unterhalb der das Meer tobte.
Er war fast ein kleiner Park mit Laub- und Obstbäumen, Rosenstauden, Blumenbeeten und einem größeren Stück guten englischen Rasens.
Ich war entzückt und konnte nicht genug davon bekommen. Jede freie Minute verbrachte ich hier. In einigen lauschigen Ecken standen Holz- oder Steinbänke, auf denen ich mich sonnte oder die Schönheit des Parks bewunderte.
Schon im Pfarrhaus hatte ich mit Begeisterung den Küchengarten gehegt und gepflegt. Dort gab es im Sommer immer irgendwas zu tun, und Mrs Stevens brachte mir ihr gesamtes Wissen über Gartenarbeit bei – und das war nicht wenig.
Schon am ersten Tag, als ich den Garten fand, lernte ich den Gärtner Mr Osborn kennen. Er war schon sehr alt und schien mit seinem Garten richtiggehend zusammengewachsen zu sein. Meistens sah ich ihn gar nicht und entdeckte ihn erst nach einigem Suchen. Er liebte seine Pflanzen wohl mehr als Menschen.
Wir ließen uns also gegenseitig in Ruhe, und ich glaube, er merkte schnell, dass ich nicht die Absicht hatte, ihn zu stören.
Beim Essen in der Küche hatte ich ihn ab und zu gesehen, aber Mrs Pimrose hatte mir schon gesagt, dass er oft im Garten aß. Dabei hatte sie ihre Augen gerollt, so also würde sie ihn für sehr eigen halten, und ich musste lachen.
Eines Tages saß ich an einem warmen, angenehmen Nachmittag auf meiner Lieblingsbank, von der aus ich auch die Fassade der Burg betrachten konnte. Mr Osborn war nirgends zu sehen.
Ich fühlte mich wie im Paradies. Grillen zirpten, und die Vögel sangen in den Bäumen um die Wette. Neben mir stand ein großer Rosenstrauch in voller Blüte und schickte mir seinen betörenden Duft.
Gerade als ich den Gedanken zuzulassen begann, dass ich diesen traumhaften Moment gern mit einem Mann an meiner Seite geteilt hätte, schaute ich zur Burg hoch und sah an einem der Fenster schemenhaft eine Gestalt, die mich offenkundig beobachtete. Als sie bemerkte, dass ich sie entdeckt hatte, verschwand sie.
Mit einem Mal war der Zauber dieses Moments verflogen. Vielleicht hätte ich es damals als Warnung auffassen sollen.
Ich pflegte den Nachmittagstee bei Mrs Pimrose in der Küche zu trinken.
Sie schien mich in ihr großes Herz geschlossen zu haben und war einem kleinen Schwätzchen nie abgeneigt, selbst wenn sie schon mit der Zubereitung des Dinners begonnen hatte.
Meistens waren die Dienstmädchen ebenfalls in der Küche beschäftigt, sodass wir nur über Belanglosigkeiten reden konnten. Aber auch das wurde mir zur lieben Gewohnheit. Es erinnerte mich daran, dass ich im Pfarrhaus den Tee am Nachmittag immer mit Mrs Stevens getrunken hatte und mein Vater manchmal dazugekommen war. Das waren sehr vertraute Minuten, an die ich immer zurückdenken werde.
An einem der nächsten Tage, das Wetter war nicht besonders gut, sodass ich nicht in den Garten gehen konnte, ergab es sich, dass ich mit Mrs Pimrose allein in der Küche saß.
Zuerst sprachen wir über Viola, die in Mrs Pimroses Augen wohl erste Fortschritte machte. Ich wollte die Gunst der Stunde nutzen und sie nach Lady Cunningham fragen, das hatte ich mir schon lange vorgenommen. Denn ich war noch immer fasziniert von dem großen Bild, an dem ich mehrmals am Tag vorbeilief. Jedes Mal machte ich mir Gedanken darüber, wie sie auf die Menschen auf Darkhaven gewirkt haben mochte. Und natürlich interessierte mich auch, wie ihre Ehe mit Lord Cunningham gewesen war. War es die große Liebe oder eine Vernunftehe gewesen? Ich wusste ja rein gar nichts.
Also fragte ich Mrs Pimrose beiläufig, ob sie ihre Ladyschaft sehr gemocht habe und über ihren Tod sehr traurig gewesen sei.
Sofort ging eine Veränderung mit ihr vor. Es war nicht sehr auffällig und jemand anderes hätte es vielleicht nicht bemerkt, aber es irritierte mich.
„Sie war eine sehr schöne Frau und hat Leben hierhergebracht“, sagte sie ausweichend. „Es gab rauschende Feste, jedermann hat sie bewundert und Lord Cunningham um seine strahlende Frau beneidet. Und diese wundervollen Kleider … Jede Woche erschien sie in einem neuen sündteuren Kleid.“ Ihrem Tonfall nach zu schließen war es wohl keine große Zuneigung gewesen. Ich traute mich jedoch nicht weiterzufragen.
Nachdem Mrs Pimrose sich kurz umgeschaut hatte, flüsterte sie: „Und dann die vielen Besucher. Besonders der jüngere Bruder seiner Lordschaft war ja ständig hier. Damals musste ich schuften, das ging auf keine Kuhhaut.“ Sie seufzte geistesabwesend. „Hier unten tauchte sie natürlich nie auf. Das erledigte alles die Dunners, so wie heute. Eigentlich habe ich die Lady kaum gekannt.“
Sie schenkte mir noch einmal Tee ein. Wir mochten beide Earl Grey, und dank irgendwelcher Quellen hatte sie einen ausgezeichneten aufgetrieben, den sie angeblich nur mit mir trank. Der Duft war einfach verführerisch.
„Wie ist sie denn eigentlich gestorben?“, fragte ich so leichthin wie möglich.
Mrs Pimrose sah mich mit einem Blick an, den ich noch nicht von ihr kannte. Ich las in ihren Augen so etwas wie eine Warnung. Leise raunte sie: „Sie fiel vom Pferd und brach sich das Genick, als sie mit Lord Archibald ausgeritten war.“
„Wer ist Lord Archibald?“, fragte ich tonlos.
„Na, der Bruder seiner Lordschaft“, sagte sie nun wieder in normalem Ton.
Sie trank ihre Tasse leer und machte Anstalten aufzustehen, was bei ihrer Leibesfülle nicht so einfach zu sein schien. Sie drehte sich noch einmal zu mir um: „Kindchen, es ist manchmal besser, nicht zu viele Fragen zu stellen. Und daran halten Sie sich besser.“ Jetzt war sie wieder so resolut wie immer.
Ich muss jedoch gestehen, dass mich dieses Gespräch mit ihr noch neugieriger machte, als ich es vorher schon gewesen war.
Das war schon im Pfarrhaus ein ständiger Punkt des Tadels seitens meines Vaters. „Das hat dich nicht zu interessieren“, bekam ich häufig zu hören. Dann interessierte es mich erst recht, und ich forschte nach. Mrs Stevens hatte darüber oft genug nur den Kopf geschüttelt.
Später sollte ich erfahren, dass eine junge Frau wie ich zu große Neugier an den Rand des Abgrunds führen kann.
Viola war mir ein Rätsel. Was ging nur in diesem Kind vor? In unserem Dorf in York hatte ich viele unterschiedliche Kinder kennengelernt, aber keines wie Viola.
Sie war eigentlich kein Kind mehr, wenn ich es recht überlege. Im Grunde war sie eher eine kleine Erwachsene. Aber wen sollte das gewundert haben? Es gab ja keine gleichaltrigen Kinder, mit denen sie hätte spielen können. Daisy und Mary waren viel älter und behandelten sie auch nicht wirklich wie ein Kind. Mit den anderen Dienstmädchen oder den Stalljungen hatte sie kaum Kontakt. Und bei Mrs Dunners konnte sie ganz sicher kein verspieltes Kind sein. Das Einzige, was die Hausdame verlangte, war Unterwerfung, und Viola schien Angst vor ihr zu haben.
Aber wer in dieser Burg hatte eigentlich keine Angst vor Mrs Dunners? Sogar Mrs Pimrose sprach von ihr nur mit Respekt und die wenigen Male, die ich sie zusammen sah, wirkte auch sie eingeschüchtert.