Das Geheimnis von Blackwell Heath - Dorothea Stiller - E-Book

Das Geheimnis von Blackwell Heath E-Book

Dorothea Stiller

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Beschreibung

Die junge Valentina soll durch eine Zweckehe ihre vom Ruin bedrohte Familie retten. Doch dann bietet sich ihr ein Ausweg. Das berühmte Medium Persephone Lyness sucht eine Gesellschafterin. Valentina taucht in die schillernde Welt der viktorianischen Spiritisten ein und lernt, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als sie ahnt. Auf Einladung einer exzentrischen Adligen reisen die beiden auf deren Landsitz, wo Valentina dem attraktiven Lord L’Isle begegnet, der eine starke Faszination auf sie ausübt. Doch der Mann gibt ihr Rätsel auf. Bei einer Séance, die den Höhepunkt einer Abendgesellschaft bilden soll, sagt Madame Persephone den gewaltsamen Tod eines der Gäste voraus. Und plötzlich wird Valentina in einen Strudel haarsträubender Ereignisse gezogen, bei denen sie nicht nur ihr Herz riskiert.

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Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Epilog

Liebe Leserin!

Über die Autorin

Über die Romance Alliance Love Shots

Danksagungen

Weitere Love Shots

Weitere Bücher der Autorin

Leseprobe aus "Frühling der Herzen"

Impressum

Das Geheimnis von Blackwell Heath

Romance Alliance Love Shot

Dorothea Stiller

Befinden wir uns am Anfang einer neuen Offenbarung oder nicht? Lassen sich die Geheimnisse der unsichtbaren Welt, die sich für so viele Jahrtausende dem Begreifen der Sterblichen entzogen haben, nun mithilfe unserer Möbelstücke zum ersten Mal enthüllen? Sind Mahagoni-Tische die Apostel eines neuen Glaubens und Messingglöckchen und Akkordeons seine Missionare? Werden wir mitten in einem Londoner Salon zum Preis von zehn Schilling und Sixpence unter dem Bemühen eines gefeierten Mediums mit der Seele des verstorbenen Vaters, der Mutter, des Ehemanns, der Gattin in Kontakt treten können, während draußen die Mietdroschken vorbeirattern und die Diener brav mit einem Tablett Sandwiches und Sherry parat stehen?

Kann die Hand meines toten Kindes mich berühren – wahrhaftig berühren, als ob noch Fleisch die verrottenden Knochen bedeckte und Herzblut durch die vertrockneten Adern liefe? Und kann es sich dann auch sichtbar machen und in einer Aura des Lichts und der Herrlichkeit durch die Luft schweben? Müssen wir unseren Freund Newton im Nachhinein doch als Hochstapler entlarven, dessen großartige Entdeckung der Schwerkraft letztlich doch keine Entdeckung war? Mit anderen Worten: Ist es möglich, dass ein Gentleman auf einem Rosenholzstuhl zur Decke emporschwebt, so wie man einst in noch nicht allzu lange vergangenen Zeiten gewissen alten Damen die Fähigkeit zusprach, ihre Reisen auf einem Besenstiel zurückzulegen? So absurd diese und ein Dutzend ähnlicher Fragen erscheinen mögen, muss man sich vergegenwärtigen, dass Tausende durchaus respektabler Menschen in England und Amerika sie ohne zu zögern mit Ja beantworten würden.

»The Spirit-Rapping Humbug«, Durham Chronicle, 24. August 1860

Eins

Lady Hartcliffes Soirée, Berkeley Square, London, 15. März 1862

Valentina war sich der Blicke der Herren bewusst. Sie beäugten sie neugierig interessiert. Viele der Damen hingegen musterten sie abschätzend und argwöhnisch. Schließlich gehörte Valentina zu den Debütantinnen, deren Eintritt in den Heiratsmarkt mit besonderer Neugier und Wachsamkeit beobachtet wurde.

Für Valentinas erste Saison hatte Mama keine Kosten gescheut. Das himmelblaue Seidenkleid, das sie an diesem Abend trug, stand ihr ausgezeichnet. Das beinahe verboten tiefe Dekolleté entblößte ihre Schultern und ließ unter der Spitze den Ansatz ihrer Brüste erahnen. Endlich konnte sie sich auch einmal wie eine erwachsene Frau präsentieren. Zwei gerüschte Schärpen, die sich unterhalb der Brust kreuzten, sowie ein bestickter und spitzenbesetzter Gürtel betonten ihre schmale Taille. Darunter bauschten sich voluminöse Röcke, die bei jedem Schritt geheimnisvoll raschelten wie ein lauer Sommerwind in den Baumkronen. Elsie hatte ihr himmelblaue und weiße Seidenblüten und Bänder ins Haar geflochten, die hervorragend zu ihren blauen Augen passten. Elsie hatte gemeint, das Kleid ließe sie richtig strahlen.

Sie fühlte sich wie eine Königin, als sie an der Seite ihres Bruders durch die Eingangshalle schritt, um ihre Gastgeberin zu begrüßen. Sie gab sich Mühe, ihre Aufregung zu verbergen und eine unbeeindruckte Miene aufzusetzen.

»Lady Marksbury mit ihrem Ältesten, Mr Valerian Day, und ihrer Tochter, Miss Valentina Day«, verkündete der livrierte Diener. Valentina knickste höflich.

Lady Hartcliffe lächelte und streckte in einer einladenden Geste die Hände aus, die in eleganten weißen Handschuhen steckten. »Meine liebe Lady Marksbury, Mr Day, Miss Day, seien Sie herzlich willkommen. Ich freue mich so, Sie ebenfalls bei meiner Soirée begrüßen zu dürfen, Miss Day. Ihr Debüt hat schließlich bereits für einiges Aufsehen gesorgt, wenn ich so frei sein darf.«

Hitze stieg Valentina in die Wangen. Derlei Aufmerksamkeit war sie nicht gewohnt, doch sie genoss sie in vollen Zügen, ebenso wie die unverhohlen bewundernden Blicke der Herren.

»Kommen Sie, meine Liebe, ich werde Sie ein paar besonders guten Freunden vorstellen.« Lady Hartcliffe bot Valentina den Arm und führte sie in den Salon. Ein verunsicherter Blick über die Schulter zeigte Valentina, dass Mama ein äußerst zufriedenes Gesicht machte. Offenbar war es ihr nur recht, dass Lady Hartcliffe Valentina bei ihrem Eintritt in die bessere Gesellschaft ein wenig behilflich sein wollte.

Folgsam ließ Valentina sich von Grüppchen zu Grüppchen führen, knickste und lächelte artig, während Lady Hartcliffe sie ihren Bekannten vorführte wie eine kostbare Neuerwerbung. Nachdem sie Valentina mit einigen der anwesenden Damen bekannt gemacht hatte, steuerte Lady Hartcliffe auf ein Paar zu, das in der Nähe des Kamins stand. Der Mann mochte ungefähr in Papas Alter sein und hatte dunkles Haar und einen Backenbart. Eine teuer wirkende Uhrenkette baumelte vor der Brust seiner schwarzen Seidenweste. Die Dame in dem hochgeschlossenen, violetten Kleid schien etwas älter zu sein als er, denn ihr Haar war bereits überwiegend silbergrau. Sie hatte es zu einem strengen Knoten gebunden, der von einem perlenbestickten Haarnetz bedeckt wurde.

»Lord Udley, Mrs Palfrey, Sie müssen unbedingt unsere reizende Miss Day kennenlernen, Lady Marksburys Älteste, sie debütiert in diesem Jahr.«

»Obadiah Spiller, der 5. Baron Udley, und seine liebe Schwiegermama Mrs Palfrey.« Valentina knickste und lächelte, während Lady Hartcliffe fortfuhr. »Leider ist unser armer Udley bereits Witwer. Seine Gattin, dieser Engel, hat uns tragischerweise vor zwei Jahren verlassen.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Valentina. Allzu schwer schien die Trauer allerdings nicht auf Lord Udley zu lasten, denn er musterte Valentina mit unverhohlenem Interesse. Sein direkter Blick war ihr beinahe körperlich unangenehm.

»Lady Marksburys Tochter, dann stammen Sie aus Sussex«, stellte er fest und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. »Wie gefällt es Ihnen in London, Miss Day?«

»Sehr gut, vielen Dank, Lord Udley«, antwortete sie knapp und warf einen Blick über die Schulter, ob sie Valerian irgendwo in der Menge entdecken konnte, doch er war nirgends zu sehen. Dafür nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, wie Lord Udleys prüfender Blick an ihrem Hals abwärts glitt. Sie fühlte sich augenblicklich seltsam nackt und wünschte sich, ein Kleid mit einem etwas züchtigeren Ausschnitt gewählt zu haben.

»Ihre erste Saison, und ausgerechnet in diesem Jahr ist der Frühling so verregnet«, bemerkte Mrs Palfrey. »Nicht das Wetter für Ausfahrten im Hyde Park.«

»Nein, Sie möchten sich ja gewiss keinen Schnupfen holen, nicht wahr, Miss Day?«, entgegnete Lady Hartcliffe. »Ein zartes junges Ding wie Sie verkühlt sich, eh man sich’s versieht. Aber dann machen wir es uns eben drinnen nett, nicht wahr? Sie werden sehen, Miss Day, Ihnen wird schon nicht langweilig werden. Abendgesellschaften, Bälle, Theater, Oper – London hat so viel zu bieten.«

»Der armen Miss Day wird noch ganz schwindelig werden. Udleys Bewunderung ist Ihnen jedenfalls bereits gewiss, wie ich sehe. Die Verehrer werden Sie wie die Motten umschwärmen.« Mrs Palfrey warf Lord Udley einen verschmitzten Blick zu. » Da werden Sie sich anstrengen müssen, mein Bester. Unsere Miss Day wurde in Beecham’s Ladies’ Newspaper and Court Chronicle als vielversprechendste Debütantin der Saison namentlich genannt. Ihr wird es an Bewunderern nicht mangeln.«

Lady Hartcliffe und Mrs Palfrey schütteten sich aus vor Lachen, während Lord Udley sich räusperte und sie tadelnd ansah, während er seinen Backenbart zwirbelte. Valentina spürte Hitze in ihren Wangen aufsteigen.

»Verzeihen Sie, Udley, Miss Day. Nun haben wir Sie mit unseren albernen Späßen in Verlegenheit gebracht.« Lady Hartcliffe wischte sich mit dem kleinen Finger eine Träne aus dem Auge. Valentina hätte im Boden versinken mögen. Wieder sah sie sich unauffällig nach Valerian um und entdeckte seinen dunkelbraunen Haarschopf am anderen Ende des Raumes. Er schien in ein Gespräch mit jemandem vertieft, doch Valentina konnte nicht erkennen, mit wem.

»Ich … äh … glaube, mein Bruder wird mich bereits suchen. Es war reizend, Sie kennenzulernen. Lord Udley. Mrs Palfrey. Gewiss haben wir später noch Gelegenheit, miteinander zu plaudern.«

»Das hoffe ich doch sehr, Miss Day. Es war mir eine Freude.« Lord Udley neigte den Kopf und lächelte ölig, wobei er den Blick wieder über Valentinas Schultern und Dekolleté gleiten ließ.

Nicht, wenn ich es verhindern kann, dachte sie, knickste kurz und entfernte sich so rasch, wie es gerade noch als höflich durchgehen konnte.

Nun erst sah sie, dass Valerian mit einer Dame sprach, die ihr nicht bekannt war und deren Erscheinung etwas eigenartig Achtunggebietendes hatte. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber Valentina vermutete, dass sie etwa in Mamas Alter war. Sie trug ein hochgeschlossenes Volantkleid aus perlenbestickter, mitternachtsblauer Seide mit einem ausladenden Reifrock. Ihr lackschwarzes Haar war über der Stirn von einer einzigen breiten, silbrigweißen Strähne durchzogen, streng gescheitelt und im Nacken und an den Seiten zu kunstvollen Rollen aufgesteckt. Darauf thronte ein Haarschmuck mit einer ebenfalls mitternachtsblauen Dahlienblüte aus Seide und Samt, verziert mit Spitze, Perlmutt und Gold. Die von dichten, schwarzen Wimpern umkränzten Augen waren von einem klaren Eisgrau. Als sie sich nun auf Valentina richteten, hatte sie das Gefühl, nichts vor ihnen verbergen zu können. Ein unangenehmes Kribbeln lief Valentina vom Nacken aufwärts über die Kopfhaut. Hinter der rechten Schulter der Dame stand ein hoch aufgeschossener Mann, der selbst Valerian noch um einiges überragte. So reglos stand er, dass man ihn für eine Säule hätte halten können. Sein kantiges Gesicht mit dem langen Kinn und den ausgeprägten Kieferknochen wirkte eingefallen und fahl, als hätte es lange kein Sonnenlicht gesehen. Auch der Mann sah nun in Valentinas Richtung, und seine Augen waren schwarz und glänzend wie polierte Pechkohle. Dem Blick der beiden folgend wandte sich nun auch Valerian um.

»Da bist du ja, Schwesterlein. Wir sprachen soeben von dir. Darf ich dir Mrs Lyness und ihren Assistenten Mr Stoker vorstellen?«

Mrs Lyness? Der Name kam Valentina vage bekannt vor. Sie knickste.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Miss Day.« Mrs Lyness neigte den Kopf. »Ich hatte gerade Ihren Bruder gefragt, wer denn seine überaus reizende Begleiterin sei.«

Valentina lächelte scheu.

»Mrs Lyness ist ein bekanntes Trancemedium«, erklärte Valerian.

Richtig. Deswegen war ihr der Name so bekannt vorgekommen. Erst gestern hatte sie ihn noch in der Zeitung gelesen, in einem kritischen Artikel über die immer mehr um sich greifende Mode des Tische-Rückens und spiritistischer Sitzungen. Persephone Lyness oder Madame Persephone, wie sie sich nannte. Offenbar auf ihrem Gebiet eine Berühmtheit. Sie hielt regelmäßige spiritistische Salons ab, und es war bisher niemandem gelungen, sie als Schwindlerin zu entlarven. Auch wenn es ihre Konkurrenten und diverse Skeptiker versucht hatten und es immer wieder vorkam, dass Medien der Scharlatanerie überführt wurden.

»Madame Persephone, ich hoffe, wir dürfen heute Abend auf eine Demonstration Ihrer übersinnlichen Fähigkeiten hoffen?«, fragte Valerian.

»Ich fürchte, Lady Hartcliffe wird darauf bestehen«, entgegnete Mrs Lyness mit einem fein ironischen Lächeln. »Eigentlich widerstrebt es mir, den Kontakt mit anderen Sphären des Seins als profane gesellschaftliche Unterhaltung zu inszenieren, doch die Leute verlangen danach, und auch eine Dame muss auf die eine oder andere Weise ihren Unterhalt bestreiten, nicht wahr? Glauben Sie an übersinnliche Phänomene, Mr Day?« Wieder richteten sich die eisgrauen Augen auf Valentina, obwohl die Frage eindeutig für Valerian gedacht gewesen war.

»Ehrlich gesagt habe ich meine Vorbehalte, aber ich bin dennoch äußerst gespannt.«

»Das dürfen Sie sein, Mr Day.« Sie wandte sich dem breitschultrigen Mann mit dem Steingesicht zu. »Nicht wahr, Mr Stoker?«

Er nickte langsam, und sein bis dahin vollkommen unbewegtes Gesicht zeigte ein leichtes Lächeln. Valentina hatte das deutliche Gefühl, dass die beiden sich über sie lustig machten. Allerdings schien es die Art gutmütiger Spott zu sein, die nicht darauf abzielte, andere zu verletzen, sondern sie vielmehr aus der Reserve zu locken.

»Bitte halten Sie Mr Stoker nicht für unhöflich. Er leidet unter einer seltenen Form des Mutismus. Er kann Sie hören, aber nicht sprechen. Jedenfalls nicht mit der Stimme.«

»Verstehe«, sagte Valerian und nickte dem hünenhaften Assistenten freundlich zu.

»Darf ich Ihren Andeutungen entnehmen, dass wir heute noch eine Ihrer berühmten Séancen erleben werden, Mrs Lyness?«, fragte Valentina. Ihre Neugier war geweckt. »Gerade gestern noch las ich darüber in der Zeitung. Der Artikel war sehr kritisch, was den wachsenden Zuspruch für Spiritismus angeht. Es hieß, derlei Praktiken seien Scharlatanerie und stellten eine Gefahr für die geistige Gesundheit dar. Ich hoffe, Sie verzeihen.«

Madame Persephone lachte leise. »Aber natürlich, Miss Day. Warum sollte ich Ihnen Ihre erfrischende Offenheit übel nehmen? Eine gesunde Skepsis hat noch niemandem geschadet, am wenigsten der Jugend. Dennoch werden Sie mir hoffentlich nicht widersprechen, dass es Dinge gibt, die den menschlichen Geist übersteigen.«

»Gewiss, Mrs Lyness«, räumte Valentina ein. »Doch die Menschheit erschließt sich einen immer größeren Wissensschatz. Denken Sie an die enormen wissenschaftlichen Entdeckungen der vergangenen Jahre. Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte.«

»Das ist richtig, und möglicherweise werden wir eines Tages das Unerklärliche erklären können«, entgegnete Mrs Lyness. »Doch dann wäre die Welt des Geheimnisses und ihres Zaubers beraubt, oder nicht?«

Valentina lächelte. »Da könnten Sie recht haben, Madame.«

»Geben Sie gut auf Ihre Schwester acht, Mr Day, sie ist ein kluger Kopf. Eine Eigenschaft, die an Frauen selten geschätzt wird und sich nicht mit der erwünschten Fügsamkeit verträgt.« Ihre Lippen kräuselten sich zu einem hintergründigen Lächeln, und sie musterte Valentina aufmerksam. »Nun, ich denke, es wird Zeit, mich auf die Séance vorzubereiten. Es war mir eine besondere Freude, Sie beide kennenzulernen.«

»Eine eigenartige Person«, bemerkte Valerian, als Madame Persephone und Mr Stoker außer Hörweite waren. »Ich bin sehr gespannt, was wir zu sehen bekommen werden. Aber nun komm, ich habe eben zwei Bekannte entdeckt, denen ich dich vorstellen möchte.«

Valentina ergriff diese Gelegenheit nur zu gern, denn sie nahm an, dass Valerians Bekannte eher ihrem Alter entsprächen und weit angenehmere Gesellschaft wären als etwa dieser schmierige Lord Udley.

Tatsächlich wurde der Abend auf diese Weise deutlich vergnüglicher. Zu Lady Hartcliffes Bekanntenkreis zählten unter anderem ein berühmter Konzertpianist und eine Opernsängerin, die Kostproben ihrer Kunst zum Besten gaben. Valentina lernte einige unterhaltsame Leute kennen, darunter einige junge Herren, von denen sie hoffte, sie bei nächster Gelegenheit auf einem Ball wiederzusehen. Die Saison begann für sie recht vielversprechend. So verlor sich langsam die ängstliche Erwartung, die sie anfangs verspürt hatte, weil alle fest damit rechneten, dass sie gleich in ihrer ersten Saison einen passenden Ehemann finden würde. Es beruhigte sie, zu sehen, dass es ihr an Auswahl höchstwahrscheinlich nicht mangeln würde.

Schließlich gesellte sich auch Mama wieder zu ihnen.

»Schrecklich, findest du nicht?«, zischelte sie hinter vorgehaltenem Fächer. »Wie Lady Barlings ihre beiden Ältesten vorführt! Man möchte meinen, wir befänden uns auf einer Viehauktion. Nun ja, man munkelt, dass es finanziell nicht gut um die Familie bestellt ist, und dann gleich vier Töchter! Sie würde die Mädchen wohl auch mit einer Vogelscheuche verheiraten, wenn die nur genügend Geld und einen Titel mitbrächte. Sieh dir an, wie sie um Lord Saxby herumscharwenzelt. Der könnte der Großvater ihrer Töchter sein.«

Valentina hob ebenfalls ihren Fächer und kicherte leise. »Mama! Still, sonst hört uns noch jemand. Mir tun bloß die Mädchen leid.«

»Du hast recht, ich sollte mich nicht über sie lustig machen«, entgegnete Mama. »Allerdings bin ich dankbar, dass du es nicht nötig hast, derart wahllos zu sein.« Sie nahm den Fächer herunter, lächelte und zupfte den Spitzensaum an Valentinas Ärmel zurecht. »Du siehst heute Abend wirklich bezaubernd aus. Das Kleid steht dir ausgezeichnet. Es passt so gut zu deinem dunklen Haar, und bei der Frisur hat Elsie sich selbst übertroffen.« Leise setzte sie hinzu: »Ich möchte wetten, dass du bereits das Interesse einiger Herren geweckt hast. Du wirst dich gewiss nicht anbieten müssen wie sauer Bier.«

Sie sah auf. Lady Hartcliffe hatte sich vor der mehrflügligen Falttür aufgestellt, die den großen Salon von dem angrenzenden Raum trennte, läutete ein Messingglöckchen und räusperte sich. Langsam verstummten die Unterhaltungen, und die Anwesenden wandten sich der Gastgeberin zu.

»Meine lieben Gäste! Wie Sie vielleicht wissen, haben wir am heutigen Abend ein berühmtes Medium unter uns. Daher freue ich mich, Ihnen eine ganz besondere Überraschung präsentieren zu dürfen, denn Madame Persephone hat sich bereit erklärt, uns eine kleine Kostprobe ihrer Fähigkeiten zu geben.«

Auf einen Wink öffneten zwei Diener die Falttür und gaben den Blick auf einen kleineren, vermutlich den privaten Salon der Lady frei. Darin war ein ovaler Holztisch aufgebaut, dessen Platte von einer gedrechselten Säule auf drei Füßen getragen wurde. Um ihn herum waren einige Stühle gruppiert.

»Madame Persephone bittet Sie, hier vor der Tür Platz zu nehmen, sodass Sie alle sehen können.«

Die Diener stellten Stühle und Sessel zu zwei großen Halbkreisen und brachten noch zusätzliche Stühle herein.

»Wenn die Plätze nicht ausreichen, möchte ich die Herren bitten, sich hinter den Stühlen aufzustellen.«

Es dauerte eine Weile, bis sich alle gesetzt hatten. Mama und Valentina setzten sich in die hintere Reihe. Im kleinen Salon hatte Madame Persephone an einem Ende des Tisches auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne Platz genommen. Der Mann, den sie als Mr Stoker angesprochen hatte, stand aufrecht und regungslos hinter ihrer rechten Schulter.

Madame Persephone wandte sich an ihr Publikum. »Verehrte Damen und Herren, Lady Hartcliffe bat mich, Sie heute Abend an einer ganz besonderen Erfahrung teilhaben zu lassen: dem Kontakt mit einer anderen Ebene des Seins. Mir ist bewusst, dass viele von Ihnen diesen Phänomenen skeptisch gegenüberstehen, und ich weiß einen kritischen Geist zu schätzen. Doch wenn Sie an die Wissenschaft glauben, die der Schöpfung eine wachsende Zahl ihrer Geheimnisse abringt, warum sollten Sie daran zweifeln, dass es Dinge gibt, die wir nur bisher noch nicht ausreichend erklären können? Möglicherweise gelingt es uns eines Tages, auch hinter das letzte große Geheimnis zu blicken. Fänden Sie es nicht tröstlich, zu wissen, dass jene, die von uns gegangen sind, nicht fort sind, sondern nur eine neue Ebene das Daseins, eine neue Welt betreten haben, bloß durch einen dünnen Schleier von der unseren getrennt? Halten Sie es nicht für möglich, dass wir durch diesen Schleier hindurchsehen können, wenn wir lernen, unsere Sinne dafür zu schulen, und aufmerksam hinsehen? Heute Abend möchte ich Ihnen bei einer Séance zeigen, dass dies gelingen kann. Dafür benötige ich die Mithilfe einiger Personen aus dem Publikum, die über die nötige Sensitivität verfügen. Mein Assistent Mr Stoker wird gleich einige von Ihnen an der Schulter berühren. Wenn Sie dann so freundlich wären, sich hier an den Tisch zu setzen. In der Zwischenzeit brauche ich zwei Freiwillige, die mir die Fesseln anlegen und überprüfen, ob damit alles seine Richtigkeit hat.«

Valerian und ein weiterer Mann erhoben sich und wurden von Madame Persephone nach vorn gerufen. Mr Stoker glitt langsam und lautlos wie ein Geist durch das Publikum und tippte hier und da einem Gast auf die Schulter. Derweil machten sich Valerian und der andere Herr daran, Madame Persephones Füße mit einem langen Seil zu fesseln. Dessen Ende wurde jemandem in der ersten Reihe in die Hand gegeben, um sicherzustellen, dass das Medium nicht die Füße bewegte. Um ihren Hals wurde ein Lederriemen gebunden, der an der Rückenlehne des Stuhls befestigt wurde, sodass sie den Kopf kaum rühren konnte.

Valentina bemerkte ein eigenartig warmes Gefühl, das vom Ende der Wirbelsäule aufstieg, ins Genick und bis über ihre Kopfhaut ausstrahlte. Eine Gänsehaut überlief ihre Arme, als sie plötzlich eine sanfte Berührung an der Schulter spürte und Mr Stoker neben sich erkannte. Die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, und sie warf ihrer Mutter einen fragenden Seitenblick zu. Die lächelte und nickte ermunternd. Sie schien Madame Persephones Séance für eine amüsante Abendunterhaltung zu erachten.

Valentina erhob sich und ging zögerlichen Schrittes nach vorn, wo Madame Persephone ihr bedeutete, zu ihrer Linken Platz zu nehmen. Mittlerweile saßen fünf weitere Personen um den ovalen Tisch und hatten nach Anweisung des Mediums die Hände mit gespreizten Fingern und den Handflächen nach unten auf den Tisch gelegt. Schließlich gesellte sich auch der hünenhafte Assistent zu ihnen. Mit ihm wurde ebenso verfahren wie mit dem Medium, um sicherzustellen, dass er sich während der Séance nicht vom Tisch entfernen oder die Tischplatte mit Füßen oder Knien berühren konnte. Als das geschehen war und das Seil, mit dem Mr Stokers Füße gefesselt waren, ebenfalls einer Person im Publikum zur Überwachung in die Hand gegeben worden war, wies Madame Persephone die Gäste am Tisch an, die Daumen aneinanderzulegen und die Hände so zu platzieren, dass der kleine Finger jeweils den der benachbarten Person berührte. Als Valentina ihren Finger über den von Madame Persephone schob, kroch abermals diese eigenartige Wärme ihren Rücken hinauf und schien sich an einem Punkt auf ihrer Stirn zu sammeln. Sie schüttelte sich unauffällig, um das Gefühl abzustreifen. Jetzt ließ sie sich schon von dem Hokuspokus anstecken. Dabei war sie überzeugt, dass es sich bei derlei Veranstaltungen um nichts als geschickte Taschenspielereien handelte.

Wieder erschien dieses dezent ironische Lächeln auf Madame Persephones Gesicht, so als hätte sie Valentinas Gedanken erraten.

Ein Diener legte ein kleines Akkordeon, ein Messingglöckchen und eine Schiefertafel in die Tischmitte, das Zentrum ihres Kreises. Daraufhin ließ Madame Persephone das Gas herunterdrehen. Als Konturen und Farben langsam vom Zwielicht verschluckt wurden, senkte sich eine erwartungsvolle Stille über das Publikum, nur hier und da unterbrochen von Hüsteln, raschelnden Unterröcken und kaum hörbarem Wispern.

Auf Anweisung von Madame Persephone begannen die Anwesenden, die ersten drei Strophen des Kirchenliedes Abide with Me zu singen.

Abide with me;

Fast falls the eventide;

The darkness deepens;

Lord with me abide.

When other helpers fail and comforts flee,

Help of the helpless,

O abide with me.

Als das Lied verklungen war und sich erneut Stille ausbreitete, rief Madame Persephone: »Wesenheiten aus der Geisterwelt, seid ihr da?« Stille. »Werdet ihr die Güte haben, eure Anwesenheit heute in der gewohnten Weise zu manifestieren?«

Noch immer nichts.

»Ist der Geist, der mir heute versprach, mit uns kommunizieren zu wollen, anwesend?«

Abermals Stille.

Doch da, plötzlich ein dumpfer Schlag, der die Tischplatte unter Valentinas Hand zum Vibrieren brachte, dann wieder einer und ein weiterer. Ein erstauntes Raunen durchlief das Publikum.

»Wir danken dir, dass du uns mit deiner Anwesenheit beschenkst«, sagte Madame Persephone in die angespannte Stille. »Ich war sicher, wir würden nicht enttäuscht werden. Sind Geister anwesend, die mit einem der hier Versammelten in Kommunikation treten wollen?«

Dieses Mal dauerte es kaum eine Sekunde und drei rasch aufeinanderfolgende Schläge waren zu hören. Jeder davon schickte Vibrationen durch Valentinas Fingerspitzen, die ihr durch den ganzen Körper bis in die Fußsohlen krochen und ein Gefühl hinterließen, wie wenn man aus dem Warmen plötzlich in die Kälte kam. Für einen Augenblick nahm sie einen eigenartigen Geruch wahr. Er erinnerte an den speziellen Duft eines Sommerregens, der auf der von der Sonne hart gebackenen Erdkrume verdampft.

»Kannst du uns ein Zeichen geben, mit wem diese Geister in Kontakt zu treten wünschen?«, fragte Madame Persephone.

Valentinas Augen hatten sich allmählich an das Dämmerlicht gewöhnt, und sie konnte die groben Umrisse des Mediums zu ihrer Rechten erkennen. Mrs Lyness saß weiterhin aufrecht und unbewegt in ihrem Stuhl. Ihr Finger, der Valentinas berührte, hatte sich die ganze Zeit über nicht bewegt.

Valentina hatte den Eindruck, dass das Publikum und die um den Tisch Versammelten kollektiv den Atem anhielten, während sie auf das Zeichen warteten, um das Madame Persephone gebeten hatte. Plötzlich zerriss ein klares, metallenes Klingeln die angespannte Stille, und ein kurzer Ruck ging durch den Kreis der verbundenen Hände.

Die Dame, die Valentina gegenübersaß, gab einen erschreckten Laut von sich. »Das Glöckchen! Es ist in meinen Schoß gefallen!« Wieder war das klare Bimmeln zu hören, diesmal länger und lauter, beinahe aggressiv.

»Du möchtest also mit Mrs Endacott in Kontakt treten?«

Wieder drei Schläge gegen das Holz des Tisches in schneller Folge. Das Akkordeon in der Tischmitte gab einen lauten Seufzer von sich, und der Ton schien sich in die Luft zu erheben.

»Wer bist du?«, fragte Madame Persephone. »Nenne uns deinen Namen. Würdest du ihn bitte auf der Schiefertafel notieren?«

Abermals erzitterte dreimal hintereinander dröhnend die Tischplatte.

Mrs Lyness bat darum, das Gas wieder hochzudrehen, damit man nachsehen möge. Der Herr, der Valerian eben geholfen hatte, das Medium und seinen Assistenten an ihre Stühle zu fesseln, sprang hinzu. Er nahm die Schiefertafel vom Tisch und hielt sie Mrs Endacott hin, die mit geweiteten Augen darauf starrte, während die Farbe aus ihren Wangen wich.

»Was steht darauf?«, rief jemand aus dem Publikum, und ein Wispern lief durch die Sitzreihen.

Der Herr hielt die Tafel so, dass die Zuschauer lesen konnten, was darauf in krakeligen, dünnen Kreidebuchstaben geschrieben stand: BIZZY.

»Ist es jemand, den Sie kennen?«, fragte er die noch immer recht blasse Mrs Endacott.

Sie nickte und schluckte, bevor sie mit belegter Stimme hervorbrachte: »Schwester.« Sie räusperte sich. »Meine Schwester Beatrice. Ich nannte sie immer Bizzy. Sie starb vor zwei Jahren an einer schweren Lungenentzündung.«

Laute der Verwunderung und des Unglaubens waren aus dem Publikum zu hören.

»Bitte unterbrechen Sie nicht den Kreis«, mahnte Madame Persephone. »Wir benötigen das Alphabet. Wenn Sie so liebenswürdig wären, Lady Hartcliffe.«

Lady Hartcliffe brachte einen Bleistift und eine Karte, auf die offenbar die Buchstaben des Alphabets geschrieben waren. Damit stellte Lady Hartcliffe sich hinter den Stuhl des Mediums.

»Wir wollen feststellen, ob es sich wirklich um den Geist Ihrer Schwester handelt, Mrs Endacott. Ich möchte Sie bitten, eine Frage zu stellen, von der Sie glauben, dass nur Ihre Schwester die Antwort kennen kann.«

»Als wir klein waren, hat unsere Großmutter uns immer ein Lied vorgesungen. Kannst du dich noch an den Namen erinnern?«

Kaum hatte sie die Frage gestellt, als abermals dreimal hintereinander lautes Klopfen zu hören war.

»Das Alphabet, Lady Hartcliffe«, sagte Madame Persephone, und Lady Hartcliffe begann, langsam mit der Spitze des Bleistifts die Buchstaben abzufahren, bis schließlich deutlich ein einzelnes Klopfen ertönte. Lady Hartcliffe diktierte die Lettern, die der Geist anzeigte.

»R-O-S-E-M-A-R-Y-L-A-N-E. Rosemary Lane!«

Mrs Endacott nickte heftig. »Du bist es! Bizzy, du bist es wahrhaftig.«

So ging es noch eine ganze Weile. Mrs Endacott stellte Fragen, die Bizzy beantwortete.

»Ich spüre, dass die Verbindung schwächer wird«, verkündete das Medium. »Bizzy, möchten Sie Ihrer Schwester noch eine Botschaft mitgeben, bevor Sie sich auf den Rückweg in die Jenseitswelt machen?«

Dreimal pochte es gegen den Tisch. Das Geräusch dieses Mal hörbar leiser und kraftloser. Mrs Endacott sah mit gespanntem Blick zu Lady Hartcliffe, die weiter mit dem Bleistift über das Papier fuhr.

»Hab keine Angst und sei nicht traurig. Wir werden uns eines Tages wiedersehen.«

»Bizzy? Bizzy, bist du noch da?«, flüsterte Mrs Endacott in die angespannte Stille. Doch das Klopfen blieb aus. Publikum und Teilnehmer am Tisch sahen einander schweigend und mit erstaunten Gesichtern an. Schließlich beendete Madame Persephone die Séance, ließ sich losbinden und verkündete, dass sie regelmäßige Sitzungen abhalte, zu denen die Anwesenden herzlich eingeladen seien, sollte diese Kostprobe ihrer Fähigkeiten sie überzeugt haben.

Valentina blieb noch eine Weile am Tisch sitzen, während die Versammlung sich langsam auflöste. Sie ließ das eben Erlebte noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren, als Mrs Lyness sie plötzlich aus ihren Gedanken riss.

»Und? Habe ich Sie überzeugen können, Miss Day?«

»Ich bin noch zu keinem Schluss gekommen«, entgegnete Valentina.

Mrs Lyness lächelte. »Das müssen Sie auch nicht. Wir müssen nicht auf alles stets sofort eine Antwort haben. Ihre Haltung gefällt mir, und ich würde gern kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Ich hätte da ein Angebot, das Sie möglicherweise interessieren könnte.«

Auf dem Heimweg in der Kutsche kannten Valerian und Mama nur ein Thema: die höchst erstaunliche Darbietung des berühmten Mediums.

»Ich bin mir sicher, dass sich alles, was wir gesehen haben, auf natürliche Weise erklären ließe«, beharrte Valerian.

---ENDE DER LESEPROBE---