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Der Unterricht im »Phobinasium« geht weiter ...
Mrs Wellington, die Direktorin von Summerstone, hat Madeleine, Garrison, Theo und Lulu zu einem Auffrischungskurs ins Phobinasium eingeladen. Die vier geben zwar vor, im letzten Jahr von ihren Ängsten geheilt worden zu sein, doch Mrs Wellington weiß es besser: Madeline hat ihr Imkerkostüm abgelegt, trägt aber nachts einen Insektenschleier. Theo überprüft nicht mehr per Handy, ob seine Familie noch lebt, sondern schleicht Eltern und Geschwistern nach. Garrison spielt den begeisterten Surfer, geht jedoch morgens nur an den Strand, um mit nassen Haaren in der Schule zu erscheinen. Und Lulu wartet stundenlang vor Aufzügen, damit sie die enge Kabinen nicht allein betreten muss. Und dann gibt es noch eine neue Schülerin, Hyacinth, die panische Angst davor hat, allein gelassen zu werden. Doch bevor sich die Fünf dem neuen Lehrplan stellen können, müssen sie die Schule und Mrs Wellington aus großen Gefahren retten.
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Seitenzahl: 238
Für Sophia Coco
In der Wildnis außerhalb von Farmington, Massachusetts (Die genaue Lage wird aus Sicherheitsgründen verschwiegen) Bitte richten Sie allen Schriftverkehr an: Postfach 333, Farmington, MA 01201
Liebe Teilnehmer,
genau wie Ihr Euch nicht gegen Hausaufgaben, Pickel und die Pubertät entscheiden könnt, ist Euer zweiter Sommer im Phobinasium nicht freiwillig. Jedem Versuch einer Weigerung, etwa unter Berufung auf den Tod eines geliebten Haustiers, den Verlust Eures Gedächtnisses oder die Anmeldung für ein Ferienlager im Ausland, wird mein Rechtsanwalt Munchhauser entgegentreten – und zwar buchstäblich. Der Mann mit den schmutzigsten Fingernägeln in ganz Amerika wird mit Zahnseide in der Hand bei Euch zu Hause erscheinen. Sodann wird Munchhauser, der in seinem ganzen Leben nur dreimal beim Zahnarzt war, seine kleinen, gelben Zähne wenige Zentimeter vor Eurem Gesicht reinigen. Davon werdet Ihr Euch nie wieder erholen.
Der Sommerkurs beginnt am Samstag, den 29. Mai, pünktlich um 9 Uhr morgens am Fuß des Felsens von Summerstone. Bitte haltet das Phobinasium weiterhin geheim und sprecht nur über unser Institut, wenn der Fernseher in voller Lautstärke dröhnt, das Badewasser einläuft und Mundharmonika-Musik dudelt. Mein Assistent Schmidty mit der Turbanfrisur, die Bulldogge Makkaroni, meine hervorragend dressierten Katzen und ich selbst – wir alle freuen uns darauf, schon sehr bald Euer mit Vaseline aufpoliertes Lächeln wiederzusehen.
Ganz herzlich grüßt Euch Eure
Mrs Wellington
Direktorin des Phobinasiums 49-malige Schönheitskönigin
PS: Munchhauser legt nicht den geringsten Wert darauf, einen von Euch wiederzusehen. Er hat mich gebeten, Euch dies mitzuteilen.
Die Sonne ist nicht nur die Sonne. Das soll nicht etwa heißen, sie sei der Mond, denn das stimmt keinesfalls. Die Sonne ist nur noch viel mehr als das Zentrum unseres Sonnensystems oder ein hell leuchtender Himmelskörper. Tag für Tag entreißt die Sonne uns der Dunkelheit und bringt die vielen Geheimnisse ans Licht, die wir vor anderen und manchmal sogar vor uns selbst verbergen. Oh ja, die Sonne ist die Hüterin der Wahrheit, ob uns das gefällt oder nicht.
Die dreizehnjährige Madeleine Masterson landete vergnügt in Boston und war überglücklich, dass sie dem düsteren Himmel von London entronnen war. Mit einem strahlenden Lächeln lief das hellhäutige Mädchen mit den blauen Augen und den knapp schulterlangen, pechschwarzen Locken vor ihren Eltern her, hinaus in die feuchtwarme Hitze. Die ganze Familie Masterson stand erst einmal da und wärmte die durchfrorenen englischen Glieder in der Sonne. Für Engländer ist die Sonne ein wenig wie ihre Königin: Sie wissen, dass es sie gibt, aber sie bekommen sie nicht oft zu sehen.
Vor einem Jahr war Madeleine nur ein Schatten ihres derzeitigen Selbst gewesen und voller Schrecken durchs Leben gegangen, weil sie um die nächste Ecke oder vielmehr in jeder Ecke Feinde vermutete. Das einzige Kind von Mr und Mrs Masterson hatte jahrelang unter fürchterlicher Angst vor Spinnen und Insekten aller Art gelitten. Madeleine hatte stets einen netzartigen Schleier getragen und dosenweise Insektenspray an einem Gürtel herumgeschleppt. Außerdem hatte sie sich geweigert, ein Haus zu betreten, das nicht kurz zuvor von einem Kammerjäger ausgeräuchert worden war. Wie man sich vorstellen kann, lehnten es die Eltern der meisten Klassenkameradinnen ab, die umfangreichen und teuren Maßnahmen jedes Mal durchzuführen, bevor Madeleine ihr Heim betrat. Folglich versäumte Madeleine alle Übernachtungspartys, Geburtstagsfeste und Unternehmungen im Freien.
Zum großen Glück für alle Beteiligten hatte Madeleine den letzten Sommer in der streng geheimen, nur durch Mundpropaganda empfohlenen Einrichtung namens »Phobinasium« verbracht. Zum Entzücken ihrer Eltern war Madeleine ohne Schleier und Insektenspray nach Hause gekommen – ein völlig verwandeltes Kind.
Vielleicht nicht in allen Punkten: Sie interessierte sich noch immer für Staatsoberhäupter und listete häufig zum Spaß die Delegierten bei den Vereinten Nationen in alphabetischer Reihenfolge auf. Aber ihre Spinnenphobie, die ihr Leben so eingeschränkt hatte, war überwunden.
»Mummy und Daddy, ich möchte ja nicht frech sein, aber warum schickt ihr mich noch einmal einen Sommer lang dorthin? Ich bin geheilt, kuriert oder wie immer ihr es nennen wollt. Darf ich euch daran erinnern, dass ich jetzt Mitglied im Klub der Spinnenfreunde bin und ebenso bei ›Achtbeinige Geschöpfe fördern den sozialen Wandel‹?«
»Ja, das wissen wir, Schätzchen. Dein Vater und ich sind tief beeindruckt von deinen Fortschritten«, sagte Mrs Masterson lächelnd.
»Bist du nicht das einzige Mitglied dieser Klubs?«, erkundigte sich Mr Masterson.
»Das ist doch nicht der Punkt, Daddy«, erwiderte Madeleine verschnupft.
»Wie wir dir bereits erklärt haben, geht es leider um die Einhaltung eines Vertrags. Der Anwalt von Mrs Wellington, dieser grässliche Munchhauser, hat verlangt, dass wir von vornherein eine Einwilligung für zwei Sommer unterschreiben. Er sagte, der Auffrischungskurs sei nötig, um die Fortschritte zu festigen, die du letzten Sommer gemacht hast. Aber keine Sorge, Liebes, nächsten Sommer kannst du alles machen, was du willst.«
»Na gut, noch ein Sommer kann mir wohl nicht schaden. Außerdem brenne ich darauf, die anderen wiederzusehen und zu erfahren, wie es ihnen inzwischen ergangen ist«, sagte Madeleine friedfertig, als die Limousine der Familie in eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster einbog.
Schon nach wenigen Sekunden war das Auto von Dämmerlicht eingehüllt, denn rechts und links standen Bäume. Von der einen Straßenseite zur anderen wucherten hoch oben Klebeschlingpflanzen, sodass ein Tunnel entstanden war. Zahlreiche handgeschriebene Schilder warnten vor dem Betreten des Verlorenen Waldes, die man allerdings im schwachen Licht kaum entziffern konnte. Der dichte Wald stand in dem Ruf, Menschen auf Nimmerwiedersehen zu verschlingen.
Als der Tunnel aus Blattwerk sich am Fuß eines hohen Granitfelsens öffnete, wurde der Wagen langsamer. Mr und Mrs Masterson hatten eigentlich aussteigen und Schmidty kennenlernen wollen, von dem sie so viel gehört hatten. Die Temperatur war aber schon so hoch, dass die Londoner Bleichgesichter rasch beschlossen, den schützenden Raum ihres klimatisierten Autos lieber nicht zu verlassen. Nur Madeleine hüpfte in ihrem orangefarben karierten Kleid mit passendem Haarband breit lächelnd ins Freie. Das heißt, genau genommen stieg sie eher gemächlich aus, weil ihr feuchtheiße Luft entgegenschlug. Plötzlich ging Madeleine auf, was Leute mit dem Begriff »zu viel des Guten« meinten.
Auf zwei Liegestühlen saßen unter einem großen Sonnenschirm Schmidty, der bewährte Koch/Hausmeister /Perückenpfleger des Phobinasiums, und Makkaroni, die Englische Bulldogge.
»Schmidty!«, rief Madeleine freudig aus und blieb dann wie vom Donner gerührt stehen. Sie brachte kein Wort mehr heraus. Der dicke alte Mann trug ein Hawaiihemd, schwarze Polyestershorts und offene Sandalen, die seine stark behaarten Beine und seine schartigen braunen Zehennägel voll zur Geltung brachten. Am schlimmsten war jedoch der Anblick seiner aufgelösten Turbanfrisur, von der nur noch ein Wirrwarr von grauen Löckchen übrig war. Madeleine starrte ihn ein paar Sekunden lang stumm an, bis sie die Fassung wiedergewann und überlegte, wie sie die heikle Situation am besten meistern konnte.
»Schmidty, es tut mir sehr leid, aber ich muss Ihnen sagen, dass Ihre Haare…«
»Bitte nicht, Madeleine«, unterbrach Schmidty, »es schmerzt mich so sehr, es bestätigt zu hören. Ich versuche es zu verdrängen, aber das ist viel schwerer, als Mrs Wellington es hinstellt.«
Madeleine nickte verständnisvoll und klopfte Schmidty dann auf die Schulter. Angesichts der Hitze und der aufgelösten Frisur hielt sie es für besser, ihn nicht zu umarmen.
Während Madeleine sich selbst und Makkaroni mit einer Zeitschrift Luft zufächelte, bog ein VW-Bus voller Aufkleber mit derart quietschenden Reifen um die Ecke, dass buchstäblich Qualm vom Kopfsteinpflaster aufstieg. Durch die beschlagene Windschutzscheibe, an der zahlreiche Insekten klebten, sah Madeleine, dass ein Teenager am Lenkrad saß. Der junge Mann war nicht älter als neunzehn, trug eine Baseballkappe und eine große Sonnenbrille.
Sekunden später blieb der VW-Bus ruckartig stehen, die hintere Tür ging auf und gab einen wackeligen Theodor Bartholomew frei. Der pummelige braunhaarige Junge mit der Brille trug lachsfarbene Golfshorts, ein türkisblaues Polohemd, Top-Sider-Segelschuhe und eine karierte Gürteltasche. Alles in allem war sein Aufzug nicht gerade eine Augenweide.
»Das sage ich Mom und Dad, Joaquin! Hast du gehört? Du hast ihnen versprochen, nicht schneller als sechzig Meilen zu fahren. Und obwohl ich vor Todesangst Sternchen gesehen habe, habe ich doch mitgekriegt, dass der Tacho näher bei achtzig war«, schrie der dreizehnjährige Theo seinen älteren Bruder an, während der zwei Taschen aus dem Bus hob.
Theo war ein nervöser Junge aus New York, der ständig Angst hatte, ihm und den Seinen drohe auf Schritt und Tritt Gefahr oder sogar der Tod. Er war das jüngste von sieben Kindern und hatte mit seinen theatralischen Ausbrüchen übertriebener Fürsorge die ganze Familie an den Rand der Verzweiflung gebracht, vor allem mit seinem Überwachungssystem. Ehe Theo das erste Mal nach Summerstone gekommen war, hatte er nämlich seine Eltern und Geschwister gnadenlos kontrolliert und stündlich in seinem geliebten Notizbuch vermerkt, ob sie tot oder lebendig waren. Außerdem hatte er Stunden und Tage damit verbracht, Briefe an den Bürgermeister von New York zu schreiben, in denen er ihm Tipps gegeben hatte, wie man die Stadt sicherer machen könnte. Zu Theos Verdruss bekam er vom Bürgermeister nie eine Antwort – nicht einmal auf den Vorschlag hin, er solle ein Gesetz erlassen, das alle Einwohner der Stadt verpflichtete, stündlich ein Desinfektionsmittel für die Hände zu benutzen.
Theo hatte dafür einen eingängigen Werbespruch erfunden: »Der Bürgermeister mahnt: Nehmt Purell, sonst landet ihr ganz schnell in einer Zell.«
Während sie in der brennenden Sonne standen, starrte Joaquin seinen überdrehten jüngeren Bruder an und seufzte.
»Na hör mal, Opa«, murmelte Joaquin als Antwort auf Theos Vorwurf, er sei zu schnell gefahren.
»Sprich den Namen unseres Großvaters nicht ohne Ehrfurcht aus! Und zum letzten Mal: Meine sportliche Freizeitkleidung ist keine Seniorenmode. Und damit du’s nur weißt: Das ist diesen Sommer richtig angesagt.«
»Kannst du dich nicht einfach mal abregen?«, fragte Joaquin, offensichtlich genervt.
»Ja, reg dich ab, Theo«, pflichtete ihm Lulu Punchalower bei, als sie vom Beifahrersitz des Busses kletterte.
Sie trug ein altes T-Shirt, Jeans-Shorts und schwarze Converse-Turnschuhe. Die rotblonden Haare der dreizenjährigen Lulu waren länger und welliger geworden, seit sie das Phobinasium vor einem Jahr verlassen hatte. Aber die grünen Augen, die Lulu so oft verdrehte, leuchteten so hell wie immer aus einem Meer von Sommersprossen.
Auf den ersten Blick war das Mädchen aus Povidence auf Rhode Island beinahe die Alte, Phobinasium hin oder her. Lulu war noch immer starrköpfig und sarkastisch und sagte gern unumwunden ihre Meinung. Aber wenn man genauer hinsah, hatten zahlreiche wichtige Veränderungen stattgefunden. Lulu konnte jetzt den ganzen Tag Wasser oder andere Getränke zu sich nehmen. Sie brauchte den Genuss von Flüssigem nicht mehr zu scheuen, weil sie keine fensterlosen Toiletten aufsuchen wollte.
Ehe sie ins Phobinasium gekommen war, hatte Lulu so sehr unter Klaustrophobie gelitten, dass sie beinahe alles getan hätte, um enge Räume zu meiden. Gelegentlich hatte sie sich sogar mit Handschellen an Autos, Toilettentüren oder fremde Menschen gekettet. Glücklicherweise überließ Lulu es jetzt rechtmäßigen Ordnungshütern und übereifrigen Aufpassern in Einkaufszentren, mit Handschellen herumzulaufen.
»Reg dich ab«, äffte Theo Lulu nach. »Plappere Joaquin bloß nicht alles nach. Er ist ein Wrack. Richtig heruntergekommen. Wusstest du, dass er derzeit die zwölfte Klasse wiederholt? Und dass nicht mal kriminelle Jugendliche ihre Freizeit mit ihm verbringen dürfen, weil man fürchtet, er hätte einen schlechten Einfluss auf sie? Es besteht der Verdacht, dass er in einer Drogeriekette klaut. Und das ist nicht in Ordnung!«, schrie Theo, dessen Brille sich in der hohen Luftfeuchtigkeit beschlagen hatte.
»Nur kein Neid, Theo. Dein Bruder ist einfach von Natur aus cooler als du.«
»Tschüss dann, Lu«, sagte Joaquin, hielt Lulu freundschaftlich die Faust hin und marschierte zum Bus.
»Lu? Du hast ihr einen Spitznamen gegeben? Und was ist mit mir? Ich bin dein eigen Fleisch und Blut und bitte dich seit Jahren um einen Spitznamen!«
»Später, Theo«, brummte Joaquin, schlug die Autotür zu und ließ den Motor an.
»Mach unserer DNA keine Schande und umarme mich zum Abschied«, schrie Theo, als der Bus anfuhr. »Wäre ich doch Italiener geworden, die schätzen ihre Familie … und Pasta.«
»Lulu! Theo!«, rief Madeleine fröhlich und kam unter dem Sonnenschirm hervor ihren Freunden entgegen.
»Das nenne ich eine angemessene Reaktion auf das Wiedersehen mit Freunden«, sagte Theo belehrend zu Lulu, ehe er Madeleine umarmte.
»Hör bloß auf. Meine Güte, ich umarme nun mal nicht gerne«, fauchte Lulu und streckte Madeleine die Faust entgegen.
»Tut mir wirklich leid, Lulu, aber was genau soll ich jetzt machen? Ist das wie Stein, Schere, Papier?«
»Nee, so begrüßen sich coole Leute. Sie stoßen die Fäuste aneinander. Joaq hat es mir beigebracht, anscheinend machen das jetzt alle, sogar Obama.«
»In Ordnung«, sagte Madeleine munter und boxte dann mit der Faust gegen die von Lulu. »Ich lerne gerne, wie hochgestellte Persönlichkeiten Menschen begrüßen.«
Theo räusperte sich heftig und durchbohrte Lulu mit Blicken.
»Was ist los?«, fragte Lulu achselzuckend.
»Also, erstens hast du mich nicht umarmt…«
»Dafür habe ich dich gegen die Faust geboxt. Das kommt auf’s Gleiche raus, Theo. Sogar Maddie weiß das, obwohl sie aus England kommt.«
»Es gibt viele Möglichkeiten, jemanden zu begrüßen, Theo. Wir sollten Lulu nicht wegen ihrer bevorzugten Art und Weise kritisieren«, sagte Madeleine ruhig. »In Japan verbeugen sich die Menschen und in Frankreich küssen sie einander auf die Wange.«
»Sie hat mich geboxt!«, schrie Theo, dem Schweiß von den Augenbrauen tropfte, erst auf die Brille und dann auf seine roten Hamsterbäckchen.
»Nein! Du bist bloß auf meine Faust gefallen. Deshalb bist du ganz allein daran schuld«, rief Lulu leidenschaftlich aus.
»Auf deine Faust gefallen? Wenn wir hier im Gerichtssaal wären, würde der Richter dir ins Gesicht lachen. Oder dir vielleicht sogar in die Augen spucken«, sagte Theo und versuchte seine Stirn mit dem Ärmel abzuwischen. »Hat jemand ein Taschentuch? Ich ertrinke gleich.«
»Lulu, Theo, es tut mir sehr leid, dass ich euch unterbrechen muss, aber…«
»Oh, Schmidty«, säuselte Theo, als er mit ausgebreiteten Armen auf den alten Mann zuwatschelte. »Sie haben mir so gefehlt. An manchen Tagen habe ich sogar fast Ihren Casu Frazigu vermisst. Bitte beachten Sie, dass ich fast gesagt habe … und tun Sie nichts davon auf meinen Teller.«
»Lieber Theo, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin ganz gerührt, dass du überhaupt an mich gedacht hast und sogar an die Vorliebe der gnädigen Frau für Madenkäse.«
»Schm, Sie und ich haben doch fast ein familiäres Verhältnis, obwohl wir nicht verwandt sind«, sagte Theo überschwänglich. »Wären damit nicht vielfältige schwerwiegende Gesundheitsrisiken verbunden, würde ich mir in den Finger stechen und Sie zu meinem Blutsbruder machen.«
»Hast du ihn gerade Schm genannt?«, fragte Lulu.
»Oh, tut mir leid, habt ihr vielleicht ein Monopol auf Spitznamen, du und Joaq?«, gab Theo zurück.
»Wie habe ich doch die endlosen sinnlosen Streitereien zwischen Lulu und Theo vermisst«, murmelte Schmidty vor sich hin.
»Hi, Schmidty«, sagte Lulu mit Wärme und streckte ihm ihre Faust hin, die er bereitwillig boxte.
Um zu unterstreichen, dass selbst Schmidty wusste, wie man sich Faust an Faust begrüßte, warf Lulu Theo einen unverhüllt triumphierenden Blick zu, den er geflissentlich übersah. Und wenn Theo tat, als sehe er etwas nicht, rollte er die Augen dramatisch von rechts nach links und vom Himmel zur Erde. Andeutungen waren noch nie seine Stärke gewesen.
»Makkaroni, oh Makkaroni!«, rief Theo freudig und fiel neben dem keuchenden Hund auf die Knie. »Du bist doch wirklich der beste Freund des Menschen – niemand würde Lulu dafür halten.«
Lulu schaute Schmidty und Madeleine völlig genervt an. »Ich musste ihn schon beinahe fünf Stunden aushalten«, sagte sie, »und das übersteigt das Maß des Erträglichen um vier Stunden fünfundfünfzig Minuten.«
»Lulu, wie kommt es denn, dass ihr beide im selben Auto gelandet seid?«, erkundigte sich Schmidty.
»Das war Theos Idee. Außerdem hatten meine Eltern im Grunde keine Lust, noch einmal die Fahrt hierher zu machen. Sie haben gesagt, sie würden lieber Golf spielen.«
»Das ist der Dank dafür, dass ich die Erde rette«, sagte Theo und machte dann eine lange Pause. »Fahrgemeinschaften sind kein Verbrechen, sie sind gut für die Umwelt und wir können miteinander sprechen.«
»Das hat er selbst gedichtet«, erklärte Lulu mit unbewegter Miene.
»Hab ich auch«, sagte Theo stolz. »Dieser Slogan wird um die Welt gehen. Um die W-E-L-T!«
»Warum buchstabierst du das? Wir wissen alle, wie man ›Welt‹ schreibt«, sagte Lulu mit wachsendem Ärger.
»Das Wichtigste ist, dass ihr beide hier seid. Ich war schon ganz erpicht darauf, euch zu sehen und zu hören, wie es euch ergangen ist«, warf Madeleine ein, die offenkundig die Spannung lösen wollte.
»Ich hatte völlig vergessen, dass du so komische Wörter wie ›erpicht‹ benutzt«, grinste Lulu. »Es ist nichts dabei, ich hatte nur bis jetzt überhaupt nicht mehr daran gedacht.«
»Aha, eine von Lulus unterschwelligen Beleidigungen. Ich wette, das hast du gar nicht mitgekriegt«, sagte Theo laut zu Madeleine.
Madeleine wusste nicht, wie sie die Situation entschärfen sollte, und hielt es für das Beste, einfach zu lächeln. Und während sie noch so dastand, spürte sie ein leichtes Kribbeln oder Krabbeln am linken Arm. Madeleine zuckte reflexartig zusammen und schlug gleichzeitig dorthin, wo es sie kitzelte.
»Tut mir leid, ich dachte, ich hätte etwas auf meinem Arm gespürt. Natürlich keine Spinne. Die machen mir ja jetzt nichts mehr aus, weil ich sie inzwischen richtig gern mag. Ich dachte nur, es könnte ein aggressiver Schwärmer sein, aber es war bloß eine Haarsträhne. Das kann man sehr leicht verwechseln.«
»Warum sind wir noch hier draußen?«, stöhnte Theo.
»Es ist wirklich sehr feucht«, pflichtete ihm Madeleine unsicher bei. »Ich habe kürzlich gelernt, dass zwei Arten von nordamerikanischen Käfern bei feuchtwarmem Wetter gerne Eier legen. Ist das nicht interessant? «
»Ich habe schon einen Liter Flüssigkeit ausgeschieden und fühle mich allmählich wie ein Model auf dem Laufsteg – nur noch Haut und Knochen«, knurrte Theo. Madeleines Bemerkung überging er einfach.
»Keine Sorge, Theo. Du siehst auf keinen Fall wie ein Model aus«, gab Lulu ruhig zurück.
»Aber du musst wissen, dass ich schon einmal gemodelt habe«, sagte Theo und pumpte prahlerisch seinen Brustkasten auf.
Lulu krümmte sich gut dreißig Sekunden lang vor Lachen, ehe sie überhaupt ein Wort herausbrachte. »Guter Witz! Du als Model … ha, ha!«
»Es ist wahr!«, verteidigte sich Theo giftig.
»Ach ja? Dann sag mir bitte, für wen du gemodelt hast!«
»Für einen Artikel in einer Kinderzeitschrift. Ich glaube, der Titel war ›Bagel Boys: Kinder, die süchtig nach Kohlehydraten sind‹«, sagte Theo leise. Wieder wieherte Lulu los. »Aber das zählt trotzdem als modeln! «
»Schmidty, bitte sagen Sie, ob Garrison diesen Sommer auch wieder kommt?«, bat Madeleine, während sie das Hickhack zwischen Theo und Lulu beobachtete.
Madeleine, Lulu, Theo, Schmidty und Makkaroni schnitten allesamt Grimassen, während sie ungeduldig auf die Ankunft des vierzehnjährigen Garrison Feldman warteten. Zwar kam der Junge nur zehn Minuten zu spät, aber in der feuchtheißen Luft fühlte es sich wie eine Stunde an. Theo hatte sich inzwischen an Makkaronis Liegestuhl herangepirscht und sich neben ihn gequetscht, wobei er die Stellung des Hundes nachahmte und in Rückenlage Arme und Beine in die Höhe streckte.
Lulu wollte gerade Theos kindisches Benehmen kritisieren, da bog ein offener Jeep um die Ecke, aus dem laute Reggae-Musik dröhnte. Auf dem Beifahrersitz saß Garrison Feldman. Als er ausstieg, war im Sonnenlicht nur seine scharf umrissene Silhouette zu sehen – fast wie im Kino. Er war gewachsen und seine Haut war viel stärker gebräunt als bei der letzten Begegnung vor einem Jahr. Seine früher ordentlich gekämmten blonden Locken hingen ihm jetzt als verfilzte Zotteln ums Gesicht. Aber obwohl er Surfer-Shorts, ein altes T-Shirt und Flip-Flops trug, sah er blendend aus.
Garrison schnappte seine Tasche und sein Boogieboard und warf den Wartenden ein strahlendes Lächeln zu, mit dem er augenblicklich alle in seinen Bann schlug. Selbst Theo war von seiner eindrucksvollen Erscheinung gefesselt, was allerdings auch daran liegen konnte, dass Garrisons glänzende Haut ihn an Pommes frites erinnerte.
»Wie geht’s?«, fragte Garrison herzlich und streckte Schmidty die Hand hin.
»Schön, dass du wieder da bist, Garrison«, antwortete Schmidty lächelnd.
Garrison erwiderte sein Lächeln. Als er Theo die Hand reichen wollte, nahm der jedoch Anlauf und umschlang ihn mit beiden Armen wie ein Bär.
»Mensch, Gary! Endlich sind wir Jungs wieder zusammen! Möge die Busenfreundschaft wieder aufleben! «
»Nenn mich nicht Gary«, sagte Garrison und schob den schwitzenden Theo weg. »Und nimm auf keinen Fall das Wort ›Busenfreundschaft‹ in den Mund. Nicht mal, wenn wir allein sind!«
»Iiihhh, du hast einen Abdruck von deinem Gesicht auf seinem T-Shirt hinterlassen!«, rief Lulu und zeigte Theo einen Umriss aus Schweiß.
Zum Glück merkte Garrison nichts davon, denn er war bereits zu Madeleine weitergegangen, die rot wie eine Tomate dastand, weil ihr die Vorfreude in die Wangen gestiegen war. Sie hatte niemandem etwas davon verraten, aber sie dachte oft voller Zuneigung an Garrison, besonders wenn es in London wieder einmal kalt und grau war. Aber als er jetzt vor ihr stand, war sie völlig überwältigt von ihren schwärmerischen Gefühlen.
»Maddie …«
»Hallo, Garrison. Hattest du eine angenehme Reise von Miami hierher?«, fragte Madeleine nervös. Sie sprach außergewöhnlich schnell. Noch ehe er antworten konnte, umarmte Madeleine ihn kurz und schlug dann verlegen die Augen nieder. Lulu spürte die Beklemmung, die in der Luft lag, schlang den linken Arm um Garrisons Schulter und zauste ihm spielerisch die Haare.
»Was ist denn mit deinen Haaren passiert? Die sind ja fast länger als meine.«
»Ich bin jetzt Surfer«, verkündete Garrison, der eine Wasserphobie gehabt hatte, stolz. »Alle Jungs am Strand tragen die Haare so.«
»Ähm, ist das hier nicht ein Boogieboard?«
»Warum musst du die Leute immer auf ihre Schwächen ansprechen, Lulu?«, mischte sich Theo ein. »Und glaub ja nicht, ich hätte nicht gesehen, dass du ihn umarmt hast.«
»Mir doch egal.«
»Meine Lieben, es schmerzt mich zwar tief, diese außerordentlich geistreichen Gespräche unterbrechen zu müssen, aber die gnädige Frau wartet und ihr wisst ja, wie alt sie ist. Sie könnte im Grunde jeden Augenblick sterben …« Schmidtys Stimme wurde immer leiser.
Zum ersten Mal blickten die Schüler jetzt an Schmidty vorbei auf eine große Metallkonstruktion am Fuß des Felsens. Sie sah ein bisschen wie ein großer Vogelkäfig aus oder, wenn man es etwas makabrer formulieren wollte, auch wie eine kunstvolle Gefängniszelle.
»Was ist das?«, erkundigte sich Lulu. »Nicht dass ich Angst hätte. Ich kann jederzeit Aufzüge benutzen. Aber das ist ja nicht mal ein richtiger Aufzug. Was genau ist das, Schmidty?«
»Das ist die jüngste Neuerung des Phobinasiums: die Vertikale Straßenbahn von Summerstone«, erklärte Schmidty und weckte dabei Makkaroni aus dem Schlummer, in den er wegen der Hitze gesunken war.
»Diese VSS sieht aber hübsch aus«, sagte Theo wie einer, der sich auskennt.
»VS was?«, fragte Lulu mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Mit deiner gütigen Erlaubnis habe ich den Beschluss gefasst…«
»Ich hab dir gar nichts erlaubt…«
»Dann habe ich eben ohne deine Erlaubnis den Beschluss gefasst, eine Abkürzung zu erfinden. Und ich kann euch sagen, Abkürzungen sind in NYC der letzte Schrei.«
»Kinder, ehe ihr in die VSS einsteigt, wie Theo sie getauft hat, muss Mak erst noch euer Gepäck abschnüffeln und nach Elektronik suchen. Denn wie ihr sicher noch wisst, missbilligt Mrs Wellington Handys, PDAs, BlackBerrys, Computer und alle anderen technischen Kommunikationsmittel. Und denkt bitte nicht, ich würde euch misstrauen. Aber die gnädige Frau traut euch nicht. Heute Morgen konnte sie sich kaum noch daran erinnern, ob sie euch mochte.«
Daraufhin watschelte die sabbernde Bulldogge mit den großen Augen im faltigen Gesicht zu den Taschen der Schüler. Makkaroni setzte sich hin, die Vorderpfoten fein säuberlich zwischen den Hinterpfoten, und begann zu schnauben. Einer Bulldogge ist es völlig unmöglich, etwas zu beschnuppern, ohne zu schnauben. Eher könnte sie sprechen lernen, als ohne Geschnaube zu schnüffeln. Zwischen den geräuschvollen Schnupperphasen setzte Makkaroni auch seine Zunge ein und leckte nicht nur an den Taschen, sondern auch an den Beinen der Kinder. Als er fertig war, warf er Schmidty einen wissenden Blick zu und sank dann, völlig erschöpft von der Anstrengung, auf das Kopfsteinpflaster.
»Nichts für ungut, Theo, aber ich bin ganz platt, dass du nicht versucht hast, ein Handy einzuschmuggeln«, sagte Madeleine ehrlich.
»Was soll ich dazu sagen, Maddie? Du hast einen völlig veränderten Mann vor dir.«
»Oh Himmel«, sagte Lulu und verdrehte in altbekannter Weise die Augen. »Jetzt glaubt er auch noch, er sei ein Mann.«
Während Theo verärgert die Stirn runzelte, zog Schmidty einen großen Schlüsselbund aus der Tasche seiner schwarzen Shorts und begann nach dem richtigen Schlüssel zu suchen.
»Warum machen Sie sich die Mühe, das Ding abzuschließen? Fürchten Sie, es könnte jemand Vergnügungsfahrten damit machen?«, fragte Garrison und schleuderte die blonden Locken nach hinten.
»Eigentlich wollte ich das die gnädige Frau erklären lassen, aber da sie nur selten vernünftig redet, sollte ich die Sache wohl selbst in die Hand nehmen«, antwortete Schmidty und räusperte sich dann. »Summerstone wurde in den letzten Monaten wiederholt von einem sehr hartnäckigen Dieb heimgesucht. Ich glaube, wir hatten schon sieben Einbrüche, oder waren es acht? Allerdings könnte die Zahl auch viel höher liegen, denn wir merken oft tagelang nicht, dass etwas fehlt«, sagte Schmidty, als er die Kinder und Makkaroni in die »Straßenbahn« führte und die Tür schloss.
»Haben Sie mit dem Sheriff gesprochen?«, fragte Madeleine, als sich die Bahn in Bewegung setzte.
»Selbstverständlich haben wir mit dem Sheriff gesprochen, aber er ist genauso perplex wie wir.«
»Kommt es mir nur so vor, oder ist das die langsamste Fahrt in der Geschichte der modernen Verkehrsmittel? «, fragte Lulu mit beklommenem Lächeln, während die Bahn ratternd und rumpelnd den Berg hinauffuhr.
»Aber in der Stadt hat es keine Einbrüche gegeben, Schmidty?«, wollte Madeleine wissen.
»Also, keine richtigen…«
»Was soll das heißen, ›keine richtigen‹?«
»Na ja, jemand hat in der Bäckerei Mancini eingebrochen, aber der Dieb hat bloß Muffins mitgenommen, deshalb ist sich der Sheriff ziemlich sicher, dass der kleine Jimmy Fernwood dahintersteckt. Seine Mutter hat ihm eine streng zuckerfreie Ernährung verordnet …«
»Immer auf die Dicken«, beschwerte sich Theo. »Das ist Rassendiskriminierung.«
»Theo, ich muss dich leider darüber aufklären, dass dicke Kinder keine Rasse sind«, belehrte ihn Madeleine.
»Mann, es wird langsam richtig stickig hier drin. Man kriegt kaum Luft«, sagte Lulu gepresst.
»Lulu, wir sind im Freien«, erinnerte sie Garrison.
»Hört außer mir noch jemand dieses Zirpen?«, fragte Madeleine ängstlich. »Wie weit sind diese Tiere wohl weg? Sie sind doch nicht etwa hier in der Bahn? Natürlich frage ich nur aus reiner Neugier.«
»Ist dieses Ding mit einem Notruf per Funk oder Telefon oder mit einer Leuchtpistole ausgestattet?«, fragte Lulu dazwischen, als der alte Mann gerade Madeleine antworten wollte.
»Ich fürchte nein, Lulu. Du kennst doch die gnädige Frau. Keine neumodischen und zweifelhaften technischen Geräte.«
»Ich glaube, ich muss mal aufstehen«, sagte Lulu, während sie das vertraute Pochen hinter ihrem linken Auge spürte. Solange Lulu denken konnte, machte sich Angst bei ihr stets mit einem heftigen Pochen hinter dem linken Auge bemerkbar.
»Aber du stehst doch schon, Lulu«, meinte Madeleine sanft.
»Ähm«, sagte Lulu und verzog schmerzlich das Gesicht. »Sind wir bald da? Mir ist, als wären wir schon Stunden hier drin.«
»Gleich, Lulu«, sagte Schmidty, als die VSS mit einem Ruck am oberen Rand des Felsens anhielt.
Lulu stürzte als Erste aus der Bahn, beugte sich dann nach vorn und schnappte mit den Händen auf den Knien nach Luft.
»Wie Sie wissen, bin ich ja nicht prozesssüchtig, Schmidty, aber das hier schreit geradezu nach einer Klage wegen eines Schleudertraumas. Ich wundere mich ein wenig, dass Munchhauser diese Konstruktion zugelassen hat«, sagte Theo und stieg hinter dem alten Mann aus der Bahn.
»Igitt, Munchhauser. Wenn ich nur schon seinen Namen sagen muss, habe ich einen sauren Geschmack im Mund«, sagte Schmidty und machte ein Gesicht wie eine Katze, die einen Haarballen herauswürgt.
Garrison, der als Letzter die VSS verließ, hatte gerade den zweiten Fuß auf festen Boden gesetzt, da sauste die Bahn 70 Meter tief nach unten. Die Metallstangen rammten sich in die Erde, was ein donnerndes Getöse auslöste.
»Heiliges Kanonenrohr!«, schrie Theo, fiel auf die Knie und hielt sich schützend die Hände über den Kopf. »Der Einbrecher will uns umbringen! Ein Angriff! «
»Ich muss dich leider enttäuschen, Theo, aber niemand versucht dich umzubringen.«
»Noch nicht«, warf Lulu ein.
»Ich habe nur vergessen, die Bremse der VSS anzuziehen. Das passiert mir leider ziemlich oft.«
»Schmidty, ich hätte 70 Meter abstürzen und in die Erde krachen können! Haben Sie auch nur die geringste Vorstellung, was ein solcher Unfall bei einem Sportler anrichten kann? Ich hätte so was nicht für möglich gehalten, aber das Ding ist noch schlimmer als der hölzerne Kran, mit dem Sie uns letztes Jahr hochgezogen haben«, sagte Garrison empört. »Das Holz war zwar morsch und nur von Gummibändern und Klebstoff zusammengehalten, aber wenigstens ließ es niemanden fallen!«
»Ich bekomme Spannungskopfschmerzen«, sagte Theo und massierte sich die Schläfen. »Wir haben Mrs Wellington noch nicht einmal gesehen und ich kann schon jetzt kaum noch atmen und mein Kopf zerspringt fast.«
»Ähm, falls du es vergessen hast, Theo, es war Garrison, der fast 70 Meter in die Tiefe gerauscht wäre, nicht du«, sagte Lulu spitz.
»Immer hältst du dich mit Kleinigkeiten auf«, sagte Theo, als er sich dem gewaltigen schmiedeeisernen Tor von Summerstone näherte. Die Flügel des verrosteten Tores waren in einer hohen Schiefermauer verankert. Die Mauer umschloss das drei Fußballfelder große Hochplateau, das in schwindelnder Höhe lag.
Die vier folgten Schmidty und Makkaroni durch das Tor auf das Gelände von Summerstone, wo sich ihnen ein höchst befremdlicher Anblick bot. Auf dem fleckigen grünen Rasen standen zahlreiche Vogelscheuchen im Smoking und Schilder mit der Aufschrift WARNUNG VOR DER SCHÖNHEITSKÖNIGIN. Außerdem gab es Unmengen von Fallen: Dicht gespannte Seile zogen sich kreuz und quer über den Rasen und verbanden Kannen mit Leitern, Eimern und Netzen und mit seltsam geformten Metallgegenständen, Glasgefäßen, Glocken und vielem anderem.
»Schmidty, Sie wissen vielleicht, dass ich mich gern handwerklich betätige. Zu Weihnachten bastle ich jedes Jahr mit ein bisschen Klebstoff und Glitter Weihnachtsschmuck. Aber ich muss Ihnen sagen, wenn es um die Sicherheit eines Hauses geht, sollte man professionell vorgehen. Da nützt dieser Do-it-yourself-Quatsch nichts.«
Der alte Mann blickte Theo nur versonnen an. Die Antwort lag auf der Hand: Das waren Sicherheitsvorkehrungen nach Mrs Wellingtons Art.
Die Eingangshalle von Summerstone war größer als die der meisten Herrenhäuser, aber natürlich war es auch kein gewöhnliches Herrenhaus. Die rosarote Tapete im Lilienblütenmuster war leicht gewellt und löste sich hie und da von der Wand. Frische rosafarbene Hortensien standen auf dem runden Tisch nahe am Eingang. Links davon war eine ganze Wand mit gerahmten Fotos dekoriert, die Mrs Wellington als Schönheitskönigin zeigten. Die Kinder stellten ihr Gepäck am Fuß der Treppe ab, wo Makkaroni schon auf der Seite lag und alle viere von sich streckte.
»Offenbar hat sich Makkaroni heute Morgen beim Schlafen, Herumwatscheln und Schnauben überanstrengt«, sagte Schmidty.
Während Makkaroni friedlich schnarchte, führte Schmidty die vier in die Große Halle. Im Laufe des Jahres hatten die Kinder immer mal wieder an diese Halle gedacht und sich gefragt, ob ihre Erinnerungen an sie wirklich stimmten oder mit der Zeit fantastischer geworden waren.
Theo hatte versucht, seinen Eltern die irrwitzige Raumgestaltung klarzumachen, aber da er im Ruf stand, sowieso gern zu übertreiben, hatten weder seine Mutter noch sein Vater die Schilderung sonderlich ernst genommen. Allerdings muss man den Bartholomews zugutehalten, dass Theos Beschreibung auch wenig realistisch klang. Wie oft stößt man schon auf eine gewaltige Halle, die über und über mit Türen geschmückt ist – beziehungsweise vom Fußboden über die Wände bis zur Decke nur aus Türen besteht? Türen in Form von Schlüssellöchern und Taschenuhren waren neben Scheunentoren und Seitenteilen von Flugzeugen angebracht. Manche waren so klein, dass nur eine Maus hindurchschlüpfen konnte, andere so groß, dass ein ganzer Bus durch den Rahmen gepasst hätte. Und am Ende der Halle gab es ein buntes Glasfenster, das Mrs Wellington in ihren besten Tagen als Schönheitskönigin mit Schärpe und Krone zeigte.
Zur Überraschung der vier war die Halle in Wirklichkeit noch viel spektakulärer als in ihrer Erinnerung. So etwas konnte man nur mit einem gewissen Maß an Exzentrik und Verrücktheit schaffen. Niemand außer Mrs Wellington hätte dieses Haus in Auftrag geben können.
Schmidty führte die Kinder zu einer Flügeltür in Weiß und Gold, die er schwungvoll aufriss, sodass das Wohnzimmer und das Klassenzimmer sichtbar wurden.
»Und hier ist eure verehrungswürdige, modische und sehr jugendlich aussehende Lehrerin, Mrs Wellington«, sagte Schmidty mit einer Stimme, als lese er von einem Blatt ab.
Mrs Wellington wandte sich den Kindern mit völlig ausdrucksloser Miene zu. Das fiel aber nicht einmal auf, weil die dicke Schicht Schminke auf ihrem Gesicht ablenkte. Die alte Dame hielt offenkundig nichts von dem Motto »Weniger ist mehr«, wenn es um Make-up ging. In einem ärmellosen lavendelfarbenen Kleid mit Petticoat darunter und mit einem grauen Schal um den Hals tänzelte Mrs Wellington mit der Andeutung eines Lächelns auf die vier zu. Sie strich mit beiden Händen über ihre etwas zerzauste Bubikopf-Perücke und blieb dann neben Schmidty stehen.
»Wer sind diese kleinen Leute?«
»Ihre Schüler, gnädige Frau. Möchten Sie sie vielleicht begrüßen?«
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1. Auflage 2011
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbj, München
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »School of Fear – Class is not dismissed« bei Little, Brown and Company, Books for Young Readers Hachette Book Group 237 Park Avenue, New York, NY 10017, USA Übersetzung: Christa Broermann Lektorat: Hjördis Fremgen hf · Herstellung: RF Satz: Uhl + Massopust, Aalen
eISBN 978-3-641-06447-1
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