Inhaltsverzeichnis
Widmung
DAS PHOBINASIUM
Kapitel 1 – Jeder hat vor etwas Angst: Mottephobie ist die Angst vor Motten
Kapitel 2 – Jeder hat vor etwas Angst: Phasmophobie ist die Angst vor Gespenstern
Kapitel 3 – Jeder hat vor etwas Angst: Illyngophobie ist die Angst vor ...
Kapitel 4 – Jeder hat vor etwas Angst: Agyrophobie ist die Angst vor dem ...
Kapitel 5 – Jeder hat vor etwas Angst: Ablutophobie ist die Angst vor dem ...
Kapitel 6 – Jeder hat vor etwas Angst: Hippopotomonstrosesquippedaliophobie ist ...
Kapitel 7 – Jeder hat vor etwas Angst: Didaskaleinophobie ist die Angst vor dem Schulbesuch
Kapitel 8 – Jeder hat vor etwas Angst: Optophobie ist die Angst davor, die ...
Kapitel 9 – Jeder hat vor etwas Angst: Kakophobie ist die Angst vor Hässlichkeit
Kapitel 10 – Jeder hat vor etwas Angst: Lachanophobie ist die Angst vor Gemüse
Kapitel 11 – Jeder hat vor etwas Angst: Peladophobie ist die Angst vor kahlen Menschen
Kapitel 12 – Jeder hat vor etwas Angst: Nomatophobie ist die Angst vor Namen
Kapitel 13 – Jeder hat vor etwas Angst: Ailurophobie ist die Angst vor Katzen
Kapitel 14 – Jeder hat vor etwas Angst: Logiozomechanophobie ist die Angst vor Computern
Kapitel 15 – Jeder hat vor etwas Angst: Osmophobie ist die Angst vor Gerüchen
Kapitel 16 – Jeder hat vor etwas Angst: Helminthophobie ist die Angst, Würmer ...
Kapitel 17 – Jeder hat vor etwas Angst: Mastigophobie ist die Angst vor Strafe
Kapitel 18 – Jeder hat vor etwas Angst: Eisoptrophobie ist die Angst, sich im ...
Kapitel 19 – Jeder hat vor etwas Angst: Arachibutyrophobie ist die Angst ...
Kapitel 20 – Jeder hat vor etwas Angst: Atychiphobie ist die Angst vor dem Scheitern
Kapitel 21 – Jeder hat vor etwas Angst: Mnemophobie ist die Angst vor Erinnerungen
Kapitel 22 – Jeder hat vor etwas Angst: Somniphobie ist die Angst vor dem Schlaf
Kapitel 23 – Jeder hat vor etwas Angst: Autophobie ist die Angst vor dem Alleinsein
Kapitel 24 – Jeder hat vor etwas Angst: Chirophobie ist die Angst vor Händen
Kapitel 25 – Jeder hat vor etwas Angst: Geliophobie ist die Angst vor dem Lachen
Kapitel 26 – Jeder hat vor etwas Angst: Heliophobie ist die Angst vor der Sonne
Kapitel 27 – Jeder hat vor etwas Angst: Kynophobie ist die Angst vor Hunden
Kapitel 28 – Jeder hat vor etwas Angst: Phobophobie ist die Angst vor der Angst
Copyright
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
Für Shamsi
DAS PHOBINASIUM
In der Wildnis außerhalb von Farmington, Massachusetts (Die genaue Lage wird aus Sicherheitsgründen verschwiegen) Bitte richten Sie allen Schriftverkehr an: Postfach 333, Farmington, MA 01201
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre Bewerbung um einen Platz im Sommerkurs des Phobinasiums erfolgreich war. Wie Sie schon wissen, ist das Phobinasium eine außerordentlich exklusive Einrichtung unter der Leitung der Direktorin Mrs Wellington, die niemals öffentlich in Erscheinung tritt. Das Ziel dieser Schule ist, die Ängste von Kindern mithilfe unkonventioneller Methoden auszumerzen. Die kleine Gruppe von Eltern, Ärzten, ehemaligen Schülern und Lehrern, die von unserer Existenz weiß, wahrt sorgfältig unsere Anonymität. Diese wenigen Eingeweihten haben die Befugnis, Schüler an uns zu verweisen. Wir raten allen Bewerbern und ihren Angehörigen dringend, Gespräche über das Phobinasium nur im Schutz ihrer eigenen vier Wände, bei laufendem Fernsehapparat, aufgedrehtem Wasserhahn und begleitet von Hundegebell zu führen.
Im Namen von Mrs Wellington und dem gesamten Lehrkörper des Phobinasiums heiße ich Sie willkommen.
Mit freundlichen Grüßen, Diktiert, aber nicht mehr geprüft
LEONARD MUNCHHAUSER Rechtsanwalt von Mrs Wellington und dem Phobinasium Anwaltskanzlei Munchhauser & Sohn
1
Jeder hat vor etwas Angst: Mottephobie ist die Angst vor Motten
Eine Glocke ist nicht einfach nur eine Glocke. Zwar ist sie unbestreitbar aus Metall gefertigt und in erster Linie zum Läuten da, aber das ist noch längst nicht alles. Sie birgt auch den Geschmack von gegrilltem Fleisch, das Gefühl sonnengebräunter Haut nach tagelangem Draußenspielen und den Chlorgeruch frisch gereinigter Schwimmbäder in sich. Sie verheißt Fußballspiele, Übernachtungen bei Freunden und Videospiel-Wettkämpfe, und all das ohne Unterbrechung durch Hausaufgaben. Kurz und knapp: Die Glocke ist das Tor zum Sommer.
In der Brunswick-Schule für Mädchen im piekfeinen Londoner Stadtteil Kensington wartete eine Gruppe von zwanzig Schülerinnen in Uniform auf das Zeichen, dass endlich das Schuljahr zu Ende war. Mit Verzweiflung in den Augen starrten die Mädchen auf die Uhr und sehnten das Läuten herbei. Viele kleine dunkelblaue Schuhe schlugen voller Ungeduld gegen die abgenutzten Stühle und übertönten die Stimme der Lehrerin.
Die Lehrerin zu missachten war ja nun keine neue Masche, aber an diesem besonderen Tag machten die Mädchen das so gekonnt wie die Garde vor dem Buckingham-Palast, jene Männer mit den flauschigen Bärenfellmützen, die unter keinen Umständen zu einer Reaktion zu bewegen sind. Immer frustrierter fragten sich die Mädchen, ob die Glocke vielleicht in Urlaub gegangen war. Angeblich hatte sie das schon öfter getan, vor allem während Prüfungen, Referaten und anderen lästigen schulischen Pflichten.
Unfug spukte neunzehn der zwanzig Mädchen im Kopf herum, aber in der letzten Reihe saß ein Mädchen, das seine ganze Willenskraft darauf richtete, dass die Glocke nicht läuten möge. Madeleine Masterson mit den rabenschwarzen Haaren hatte ihren Platz gezielt so gewählt, dass sie weder die Uhr noch die Glocke sehen konnte. Ihre blauen Augen huschten nervös hin und her, und sie murmelte unablässig zwei einfache Worte vor sich hin: »Läute nicht.«
Zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben erfüllte sie der Beginn der Sommerferien mit nichts als Zittern und Zagen. Normalerweise genoss Madeleine die vielen ruhigen Sommernachmittage, die sie mit einem Buch, einem Puzzle oder einem Laptop mit Internetzugang im Wohnzimmer verbrachte. Madeleine war stolz darauf, dass sie sich überdurchschnittlich gut in der Weltpolitik auskannte. Die meisten Schülerinnen wussten nicht, wie der norwegische Premierminister hieß, nämlich Jens Stoltenberg, aber Madeleine wohl. Sie wusste auch die Namen des grönländischen Premierministers, Hans Enoksen, des isländischen Premiers, Geir Haarde, des mauretanischen Präsidenten, Sidi Ould Cheikh Abdallahi, des Präsidenten von Benin, Yayi Boni, und so weiter und konnte sie obendrein auch noch aussprechen. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass alle einhundertzweiundneunzig Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ihr Interesse verdienten.
Madeleine hätte den Sommer liebend gerne in der Brunswick-Schule verbracht, hätte sie damit dem Plan ihrer Eltern für sie entrinnen können. Sie würde ihren Durst einfach am Trinkbrunnen löschen und ihre Nahrung aus dem Automaten holen. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie genügend Kleingeld hatte. Die Idee nahm allmählich Gestalt an: Madeleine konnte die Bibliothek plündern, ganze Arme voll Bücher verschlingen, durch die Flure hüpfen und in der makellos sauberen Krankenstation schlafen. Ein Sommer in der Brunswick-Schule wäre rundum herrlich!
Leider wurde Madeleines inständige Bitte, die Glocke möge nicht läuten, nicht erhört, wie sich um genau 15 Uhr zeigte. Ein durchdringender Ton schrillte durch die weiten Räume der Brunswick-Schule und löste eine Massenflucht von Mädchen in schicken blau-weißen Uniformen aus. Ganz ähnlich wie die Stierhatz von Pamplona war dieses wilde Hinausstürmen aus der Schule eine gefährliche Sache. Zum Glück war das für die zwölfjährige Madeleine kein Thema. Schon seit Langem bestand sie darauf, zehn Minuten zu warten, bis die Kinder, Kindermädchen und Eltern vor der Schule das Feld geräumt hatten, ehe sie von ihrem Stuhl aufstand.
An diesem speziellen Tag fühlte sich Madeleine derart von Furcht überwältigt, dass sie noch ganze fünfundvierzig Minuten im Klassenzimmer blieb, ehe sie hinausging. Um sich die Zeit zu vertreiben, brachte sie im Geiste die Namensliste der Delegierten bei den Vereinten Nationen in alphabetische Ordnung. Madeleine wusste, dass ihre Mutter und der Chauffeur auf sie warteten, aber sie musste erst noch den Mut aufbringen, sich diesen Sommerferien zu stellen. Betrüblicherweise können nur wenige ihren Mut mit der gleichen Schnelligkeit mobilisieren, mit der sie ihre Angst wecken können. Und Madeleine war da keine Ausnahme.
Mrs Masterson, die ein gutes Gespür für ihre Tochter hatte, war auf die Verspätung gefasst gewesen und hatte sich die Herald Tribune zum Lesen mitgebracht. Zum Glück fand sie den feudalen Innenraum ihres Range Rovers, den der Chauffeur fuhr, erheblich bequemer als das Sofa in ihrem Wohnzimmer. Als sie alle wichtigen Artikel gelesen hatte, faltete Mrs Masterson die Zeitung gerade rechtzeitig zusammen, um mitzubekommen, wie Madeleine sich dem Hauptausgang des viktorianischen Schulgebäudes näherte. Mrs Masterson stieg aus, als ihre Tochter aus dem Halbdunkel hervortrat. Madeleine trug einen netzartigen Schleier vor dem Gesicht und war mit einem Spraydosen-Gürtel um die Taille bewaffnet. Während das Mädchen rasch auf seine Mutter zulief, sprühte es wild um sich.
»Hallo, Schatz, wie war es in der Schule?«
»Sehr gut, Mummy, danke der Nachfrage. Darf ich mich erkundigen, ob das Auto heute ausgesprüht worden ist?«
»Selbstverständlich, Maddie.«
»Ich hoffe, du schwindelst nicht, Mummy. Ich merke den Unterschied nämlich. Mein Geruchssinn ist sehr fein.«
»Schwindeln? Das ist ja lächerlich. Ich versichere dir, das Auto wurde heute schon gründlich ausgesprüht.«
»Vielen Dank, Mummy. Fragst du mich denn nicht, warum ich so spät komme?«
»Nein, Schätzchen.«
»Also, wenn du nichts dagegen hast, wäre ich sehr für einen Streit und anschließenden Hausarrest zu haben. Vielleicht einen, der den ganzen Sommer über dauert, oder falls nötig auch noch länger.«
»Hab keine Angst, Maddie, es ist wie ein Ferienlager«, sagte Mrs Masterson fröhlich.
»Das kenne ich aus dem Kino, Mummy! In Ferienlagern gibt es schlecht isolierte Hütten mit Spinnen, Tausendfüßlern und Kakerlaken, die überall auf mir herumkrabbeln. Ich kann den Sommer unmöglich in einer so verwahrlosten Umgebung verbringen!«
Madeleines heftige, zwanghafte Angst vor Spinnen, Käfern und Insekten aller Art machte ihren Eltern große Sorgen. Es war eine Angst, die sämtliche Bereiche von Madeleines Leben beeinträchtigte, von der Schule bis zu ihrer Nachtruhe. Am Abend betete Madeleine um eine spinnenfreie Nacht, ehe sie unter einen dichten Baldachin aus Moskitonetzen kroch. Sie war schon von Haus aus schüchtern. Und ihre Angst vor Spinnen und Käfern baute eine zusätzliche Barriere gegen freundschaftliche Kontakte auf.
Madeleine blieb oft zu Hause, weil sie nicht bereit war, sich in einem Gebäude aufzuhalten, das nicht jüngst von einem Kammerjäger ausgeräuchert worden war. Die Anwesenheit des Kammerjägers schenkten ihr das Gefühl von Wärme und Aufregung, mit dem die meisten Kinder nur Geburtstagsgeschenke und Ferienüberraschungen begrüßen. Leider waren nur wenige Eltern von Brunswick-Schülerinnen bereit, die kostspieligen und zeitaufwendigen Forderungen des Mädchens mit dem Schleier zu erfüllen.
Die Mastersons hatten sich bemüht, den Ursprung für Madeleines Ängste herauszufinden und zerbrachen sich den Kopf über mögliche traumatische Ereignisse, die mit Spinnen oder Käfern zu tun hatten. Aber sie fanden nie etwas heraus. Sie erinnerten sich, dass Madeleine schon an ihrem ersten Geburtstag beim Anblick eines Weberknechts bitterlich geweint hatte. Mit den Jahren wurde Madeleines Angst immer extremer und hysterischer, bis die Mastersons sich nicht mehr einreden konnten, sie sei eine ganz normale Entwicklungsphase der Kindheit.
Als Madeleine sechs war, steigerte sie sich in eine Panik mit wildem Herzrasen hinein, nachdem sie beobachtet hatte, wie ein Grashüpfer durch die Haustür hereingewitscht war. Sie hatte die fixe Idee, das zirpende Geschöpf würde ihr im Schlaf übers Gesicht kriechen. Der bloße Gedanke daran genügte, dass das Mädchen mit seinem ohnehin schwachen Magen vor Übelkeit umkippte. Innerhalb von Minuten stellte Madeleine ihren Eltern ein Ultimatum: entweder ausziehen oder Wilbur, den bewährten Kammerjäger, rufen.
Wilbur hatte schon so viele Nächte bei den Mastersons verbracht, dass sie nicht nur seine Telefonnummer auswendig kannten, sondern dass sie ihm auch Urlaubskarten schrieben. Er war wie ein Familienmitglied und der einzige Mensch auf der Welt, der Madeleines Angst etwas Positives abgewinnen konnte. Es war sehr fraglich, ob er sich ohne Madeleine jedes Jahr Urlaub auf der Insel Bora-Bora hätte leisten können. Als daher die Mastersons wegen des Grashüpfers anriefen, kam er bereitwillig. Es war eine schrecklich teure Angelegenheit, einen einzigen, armseligen Grashüpfer zu entfernen, aber Madeleine bestand darauf.
Vor der Brunswick-Schule machte sich Madeleine gerade bereit, ins Auto einzusteigen, als ihr ein Schauder über den Rücken lief. Instinktiv packte sie ihr Insektenspray und wollte abdrücken.
»Nicht schießen!«, bat eine schockierte Klassenkameradin und hob die Hände in Ich-ergebe-mich-Haltung über den Kopf.
»Tut mir leid, Samantha, ich wusste nicht, wer hinter mir ist«, antwortete Madeleine und senkte ihre Dose.
»Wann hat dir denn zuletzt eine Spinne auf die Schulter getippt? Also, wirklich, Madeleine!«, sagte Samantha entnervt. »Ich gebe morgen Nachmittag eine Party und wollte fragen, ob du vielleicht kommen möchtest.«
»Würde es dir schrecklich viel ausmachen, die Party bei mir zu Hause zu geben?«
»Wie bitte?«
»Könnten wir sie bei mir machen?«
»Dann denken alle, es sei deine Party.«
»Das stimmt wahrscheinlich. Wurde euer Haus in letzter Zeit ausgeräuchert?«
»Tut mir leid, Mum sagt, sie lässt es nicht noch einmal ausräuchern. Kannst du wenigstens auf ein Stück Pizza vorbeikommen?«
»Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass das klug wäre. Außerdem mag deine Mum ja den Geruch von Insektenspray nichts besonders.«
Mrs Masterson hörte den beiden zu und ihr Herz wurde bleischwer. Sie konnte nur hoffen, dass Madeleines Problem nach dem Sommer nicht mehr vorhanden war. So intelligent, höflich und freundlich Madeleine sonst auch war, wenn es um Spinnen oder Insekten ging, rastete sie aus.
Vor einigen Monaten war Mrs Masterson gezwungen gewesen, sich Madeleines Tick zu stellen, als sie um eine Entschuldigung bat, die sie vom Turnunterricht in der Schule befreien sollte.
»Mummy, bitte schreib einen Brief an Mrs Anderson und erkläre ihr, dass ich nicht im Freien spielen kann, weil ich mir ein fleischfressendes Virus zugezogen habe.«
»Im Haus ist das Virus kein Problem? Nur draußen?«, fragte Mrs Masterson amüsiert.
»Mummy, das Virus ernährt sich von den UV-Strahlen der Sonne.«
»Du musst dir doch bestimmt keine so extreme Krankheit aussuchen, um zu verhindern, dass du draußen spielen musst. Wie wäre es mit so was wie einer Erkältung? Ich will nicht, dass die Schule wieder das Gesundheitsamt anruft.«
»Mummy, musst du das unbedingt noch mal zur Sprache bringen? Ich hatte keine Ahnung, dass es Maul- und Klauenseuche wirklich gibt. Ich wurde in die Enge getrieben und es fiel mir einfach so ein.«
»Fleischfressende Viren gibt es auch in Wirklichkeit, Maddie.«
»Ja, Mummy, aber Mrs Anderson hat mir keine andere Wahl gelassen. Sie sagte, wenn ich nicht gerade einen fleischfressenden Virus hätte, müsste ich draußen spielen.«
»Maddie, meinst du nicht, es wäre einfacher, draußen zu spielen?«
»Mummy, ich will nicht frech sein, aber ich hätte wirklich lieber einen fleischfressenden Virus, als ins Freie zu gehen.«
Mr und Mrs Masterson hatten es mit herkömmlicher Therapie und Hypnose versucht, um Madeleines stärker werdende Ängste zu besiegen, aber beides blieb erfolglos. Der Therpeut und der Hypnotiseur glaubten, Madeleines Angst vor Spinnen hätte sich schon in eine Phobie verwandelt, in Arachnophobie. Aber die Angst mit einem Namen zu versehen, trug natürlich nicht dazu bei, sie zu lindern.
Als Mrs Anderson Madeleine verbot, mit ihrem Schleier und ihren Sprühdosen in die Schule zu kommen, inszenierte Madeleine ihre eigene Entführung.
Eine Stunde nach der Entdeckung der Lösegeldforderung in der Küche fand Mrs Masterson Madeleine fest in Moskitonetze eingewickelt auf dem Boden ihres Wandschranks.
»Madeleine, was machst du denn da unten?«
»Mummy, ich bin entführt worden. Würde es dir etwas ausmachen, später wiederzukommen?«
»Wie bitte, Schatz? Wer genau hat dich entführt?«
»Es war niemand da, deshalb musste ich mich selbst entführen.«
Mrs Masterson nickte und fragte dann: »Gibt es einen speziellen Grund für die Entführung?«
»Diese verrückte, übergeschnappte Mrs Anderson will mich zwingen, ohne meinen Schleier und meine Sprühdosen in die Schule zu kommen. Das ist eine grausame und unübliche Strafe. Ich glaube, ich sollte einen Anwalt konsultieren«, sagte Madeleine.
»Also ehrlich, Schatz, es gibt in ganz England keinen Anwalt, der deinen Fall übernehmen würde. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass du ernsthaft geplant haben solltest, rechtliche Schritte einzuleiten.«
»Mummy, ich habe keine Zeit, darüber zu diskutieren: Ich bin entführt worden.«
»Wenn ich mit Mrs Anderson spreche und sie dazu bewege, dass du deinen Schleier und deine Insektenabwehrmittel behalten darfst, erklärst du die Entführung dann für beendet?«
»Hm, vielleicht schon. Aber du musst trotzdem noch das Lösegeld bezahlen. Es beträgt fünf Pfund.«
»Die habe ich jetzt nicht bei mir, aber ich kann sie unten bei deinem Vater holen. Kommst du jetzt im Vertrauen darauf heraus?«
Kurz nach dem großen Schrecken über die Entführung lud die Schulpsychologin, Mrs Kleiner, Mr und Mrs Masterson zu einem vertraulichen Gepräch in ihr Büro ein. Dort gab es nicht, wie Mr Masterson vorhergesagt hatte, ein bequemes Sofa, sondern vielmehr zwei sehr unbequeme barocke Stühle. Mrs Kleiner machte die Zimmertür zu, schloss sie ab und legte ein Handtuch vor den Spalt am Boden. Mrs Masterson hatte erst einmal gesehen, dass jemand so etwas machte, und zwar um bei einem Brand den Rauch fernzuhalten. Als sie gerade fragen wollte, ob es einen Grund für das Handtuch gebe, schaltete Mrs Kleiner auch noch das Radio ein. Die grauhaarige Psychologin nahm ihre ovale Brille ab und tupfte sich den Schweiß von der Oberlippe, ehe sie etwas sagte.
»Vielen Dank, dass Sie heute hergekommen sind. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen«, sagte Mrs Kleiner leise.
»Wir freuen uns sehr, dass Sie sich um Maddies Wohlergehen sorgen«, antwortete Mrs Masterson.
Mrs Kleiner nickte nervös, ehe sie ihre Geschichte begann: »Vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich meine Nichte, Eugenia, zu einem ungewöhnlichen Kurs angemeldet. Denn immer, wenn sie einem Hund begegnete, wurde sie starr vor Angst. Kam ein Hund in Sicht, fiel sie augenblicklich in Ohnmacht. Sie konnte mitten auf der Straße sein, und bums, lag sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt, während Taxis und Lastwagen auf sie zurasten. Und all das nur, weil in der Ferne ein kleiner weißer Pudel des Weges kam.«
»Wie schrecklich!«, rief Mrs Masterson aus.
»Ich habe mir nie viel aus Pudeln gemacht«, sagte Mr Masterson zerstreut.
Die beiden Frauen entschieden sich, seinen Kommentar zu übergehen und das Gespräch fortzusetzen.
»Wir brauchten etwas Durchschlagendes für Eugenias Phobie, das aber auch nachweislich erfolgreich war, und diese Kombination ist nicht leicht zu finden. Erst nach langen Nachforschungen haben wir genau das gefunden.«
»Das freut mich aber sehr. Was war es?«, fragte Mrs Masterson.
Mrs Kleiner blickte nach rechts und nach links und flüsterte dann: »Das Phobinasium.«
»Das Phobi … was?«, fragte Mr Masterson.
»Psst! Sie dürfen den Namen nicht laut aussprechen. Sie dürfen niemandem sagen, was ich Ihnen gleich offenbaren werde. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Einzelheiten des Programms im Dunkeln bleiben, damit die Schüler die bestmögliche Chance für eine Gesundung haben.«
»Mrs Kleiner, ist das eine Schule oder Scotland Yard?«, fragte Mr Masterson in scherzhaftem Ton.
»Mr Masterson, das ist eine Schule, die anders ist als jede andere und die daher äußerste Diskretion verlangt. Sind Sie beide bereit, Madeleine zuliebe dieses Opfer zu bringen?«, fragte Mrs Kleiner streng. »Denn wenn nicht, stelle ich das Radio ab, nehme das Handtuch vor der Tür weg und höre auf zu flüstern. Zu meiner Partie Backgammon komme ich sowieso schon zu spät. Wenn Ihnen nicht ernstlich an Hilfe für Madeleine gelegen ist, sagen Sie es lieber gleich.«
»Natürlich liegt uns ernstlich daran, unserer Tochter zu helfen«, antwortete Mrs Masterson und blickte dabei beschwörend ihren Mann an. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Sorgen wir uns allein schon um ihre Lungen machen. Das viele Insektenspray kann nicht gesund für sie sein. Sie wacht jede Nacht dreibis fünfmal auf und sprüht nach.«
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie schweigen können?«, fragte Mrs Kleiner und starrte ihnen dabei kalt in die Augen.
»Wir sind sicher«, antworteten die Mastersons.
Daraufhin erklärte ihnen Mrs Kleiner: »Das Phobinasium ist eine außerordentlich exklusive Einrichtung, eine Schule gegen Angst, geleitet von der niemals in Erscheinung tretenden Mrs Wellington. Die Auswahl der Schüler ist so streng, dass nur wenige Menschen überhaupt von seiner Existenz wissen. Wenn man einen Briefträger, einen Gemüsehändler, eine Telefonistin oder einen Richter nach dem Phobinasium fragt, können sie einem nichts sagen. Die Öffentlichkeit hat keine Ahnung, dass es einen solchen Ort gibt, weil die handverlesene Gruppe der eingeweihten Eltern, Ärzte und Lehrer sorgsam darüber wacht, dass die Anonymität der Institution gewahrt bleibt. Diese Gruppe hat das Recht, nach eigenem Ermessen Kandidaten vorzuschlagen, da Mrs Wellington ein persönliches Empfehlungsschreiben verlangt, um die Zulassung eines Schülers auch nur zu erwägen.
Ebenfalls im Geheimen, wie es der Natur der Schule entspricht, wird der Hintergrund der Kandidaten und ihrer Familien gründlich ausgeleuchtet. Es werden so umfassende Erkundigungen eingezogen, dass Mrs Wellington häufig Dinge erfährt, die man kaum für denkbar hält: angefangen beim heimlichen Teignaschen im Vorschulalter bis hin zum falschen Buchstabieren des eigenen Nachnamens in der zweiten Klasse.
Hat Mrs Wellington alle wichtigen Informationen über den Bewerber und seine Familie erhalten, verlangt sie einen Bericht von nicht weniger als tausend Wörtern Länge, in dem die Ängste des Kindes in allen Einzelheiten geschildert werden sowie die herkömmlichen Behandlungsmethoden aufgelistet sind, die nicht geholfen haben. Für Grammatikfehler, Rechtschreibfehler und unleserliche Schrift werden Punkte abgezogen. In dem Antrag steht ausdrücklich, dass alle Berichte von Hand geschrieben werden müssen, da Mrs Wellington von zweifelhaften technischen Hilfsmitteln wie Schreibmaschinen und Computern nichts hält.«
Einen solchen Papierkrieg hatten die Mastersons bisher nur beim Wechseln ihrer Krankenversicherung erlebt. Es wurden Fingerabdrücke genommen und umfangreiche Tests mit befremdlichen Namen gemacht, wie etwa »Standardisierter Test auf Geisteskrankheit im Kindesalter« und »Untersuchung auf Persönlichkeitsstörungen«.
Es war ein ziemlicher Kraftakt, alles zusammenzutragen, was der ausgeklügelte Antrag verlangte, wenn man bedenkt, dass alles mit der Post erledigt werden musste. Mrs Wellington wollte die Identität ihrer Angestellten nicht vor einer Aufnahme der Schüler bekanntgeben. Während die Bewerber über Mrs Wellington im Dunkeln gelassen wurden, sorgte sie mithilfe ihrer Privatdetektive dafür, dass nichts ihrer Aufmerksamkeit entging.
Erfuhr Mrs Wellington während des Antragsverfahrens, dass Bewerber nicht dichthielten, wurden sie augenblicklich disqualifiziert und bekamen eine strenge Verwarnung von Mrs Wellingtons persönlichem Anwalt bei Munchhauser & Sohn. Wie allseits bekannt war, machte mit Munchhauser niemand Mätzchen, wirklich niemand.
Viele ehemalige Schüler wurden zu angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft, ohne je ein einziges Wort über ihre Tage im Phobinasium verlauten zu lassen. Das Schweigegelöbnis ruhte auf zwei Pfeilern: auf höchster Loyalität gegenüber Mrs Wellington und der Angst vor dem Zorn des berüchtigten Munchhausers.
Leonard Munchhauser senior war bekannt für seine Bösartigkeit, seine Gnadenlosigkeit und sein kaltes Herz – auch gegenüber seiner eigenen Familie. Man erzählte sich, er hätte einmal seinem Sohn Haar für Haar die Augenbrauen ausgerissen, als Strafe dafür, dass er Milch verschüttet hatte. Das Schlimmste daran war, dass Munchhauser juniors Augenbrauen dadurch dauerhaften Schaden nahmen und nur noch büschelweise und unregelmäßig nachwuchsen. So grausam das auch gewesen sein mochte, verblasste es doch im Vergleich mit den niederträchtign Taktiken, mit denen Munchhauser senior seine Klienten schützte. Und kein Klient war ihm wichtiger als Mrs Wellington und das Phobinasium.
2
Jeder hat vor etwas Angst: Phasmophobie ist die Angst vor Gespenstern
Was soll das heißen, Grandma ist tot? Wie konntet ihr es dazu kommen lassen?«, heulte Theodor Bartholomew in der Küche des unordentlichen Appartments seiner Eltern in Manhattan. Der pummelige Junge mit der alabasterweißen Haut, dem dunkelbraunen Haar und den Augen in der Farbe von Milchschokolade, die von einer Brille umrahmt waren, starrte seine Mutter schockiert an.
»Grandma war alt und da passiert das eben. Alte Menschen sterben irgendwann einmal«, erklärte Theos Mutter, Mrs Daphne Bartholomew mitfühlend und legte ihre Hand auf die von Theo.
»Aber du bist auch alt. Schau dir doch bloß deine vielen Falten an. Du wirst auch bald tot sein!«
»So alt bin ich nun auch wieder nicht.«
»Ich sehe nichts als Altersflecken und Falten«, sagte Theo und begann, schnell und flach zu atmen. »Mir ist ganz elend – schnell, das Riechsalz!«
»Wo hast du es denn? Ich weiß es nicht mehr!«, fragte Mrs Bartholomew aufgeregt.
»Muss ich denn alles selber machen?«
Theo zog ein Erste-Hilfe-Täschchen aus seiner Jackentasche, schnappte einen weißen Stift und hielt ihn sich unter die Nase. Selbst aus ein paar Schritten Entfernung bekam Mrs Bartholomew den stechenden Geruch des Riechsalzes mit.
»Liebling, ist alles in Ordnung?«, fragte Mrs Bartholomew sanft.
»Meine Großmutter ist tot, bei meiner Mutter fehlt auch nicht mehr viel und ich musste gerade mein Riechsalz benutzen«, brummte Theo.
Der zwölfjährige Theo war das jüngste von sieben Kindern und mit Abstand das … wie soll man sagen? Das war es eben bei Theo: Er war schwer zu beschreiben, weil er so vielseitig war. Er war auf alle Fälle der theatralischste, hysterischste und neurotischste Junge in ganz Manhattan. Er war auch freundlich, aufrichtig, rührend naiv und ein Hort ungewöhnlichen Faktenwissens. Seine Gedanken wanderten oft in düstere Gefilde und lösten die wildesten Befürchtungen aus, die er ohne jede Scheu auch mitteilte.
Seltsamerweise machten sich Theos Geschwister selten über etwas anderes Sorgen als über die Frage, wer zuerst ins Bad durfte. Daher überraschte es niemanden, dass Theo den Tod seiner Großmutter von allen Kindern am schwersten nahm. Seine Geschwister waren vielmehr, obwohl es eine Spur herzlos war, dankbar für das zusätzliche Zimmer, das durch den Tod der Großmutter frei geworden war. Doch ehe man nun die Kinder der Bartholomews wegen mangelnder Anteilnahme verurteilt, sollte man bedenken, dass Wohnungen in Manhatten unglaublich knapp bemessen sind, was viele Vermieter dazu bringt, begehbare Wandschränke als Schlafzimmer aufzuführen.
Ungeachtet dieser vernünftigen Begründung fand Theo das Interesse seiner Geschwister am Zimmer seiner Großmutter pietätlos. Er wollte es am liebsten als Großmutter-Gedenkstätte so bewahren, wie es war, samt ihrem Hörgerät, der Zahnprothese und ihren Herz-Medikamenten. Diese Sachen waren ihre letzten Spuren in seinem Leben und sie wegzuräumen, erschien ihm wie ein Sakrileg. Gegen die Idee der Gedenkstätte und ebenso von T-Shirts mit dem Aufdruck »Wir vermissen Grandma« wurde bei einem Familienrat der Bartholomews Einspruch eingelegt.
Theo war von seinen Geschwistern enttäuscht, und das erst recht, als sich – im Gegensatz zu ihm – von den sechs anderen keines bei der Beerdigung auf den Sarg warf. Diese Geste war typisch Theo und er sah sie als Beweis seiner Liebe und Treue an. Während der Ansprache, die Mr Bartholomew auf dem Morristown-Friedhof hielt, starrte Theo auf den Eichensarg, der mit weißen Lilien geschmückt war. Die Stimme seines Vaters hallte ihm in den Ohren, als er plötzlich ungestüm auf den Sarg zustürzte, mit dem Ergebnis, dass die Lilien herunterfielen. Er umschlang den Sarg fest und drückte sein Gesicht an das glatte Holz. Theo glaubte, wenn er zuerst gestorben wäre, hätte seine Großmutter dasselbe auch für ihn getan. Es war eine letzte Umarmung, wenn auch nur durch den Sargdeckel hindurch.
Tränen strömten unter seiner Brille hervor über die weichen Wangen auf seinen schönen Anzug. Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Es war die seines älteren Bruders Joaquin, der ihn zurückholen sollte. Theo lockerte seinen Griff und ließ sich von seinem Bruder an seinen Platz zurückführen. Dann setzte er seine dramatische Darbietung damit fort, dass er mit zum Himmel erhobenen Augen laut »Warum?« krächzte.
»Weil sie fünfundneunzig war«, antwortete Joaquin ruhig.
Theo funkelte seinen Bruder böse an, weil der seine Frage so wörtlich genommen hatte.
»Wie? War das etwa eine rhetorische Frage?«, erkundigte sich Joaquin und begriff gar nichts.
Kurz nach der Beerdigung seiner Großmutter entwickelte der sowieso schon zur Ängstlichkeit neigende Junge eine noch größere Furcht vor dem Tod und das zwanghafte Bedürfnis, ständig zu wissen, wo sich die Seinen gerade aufhielten. Theo verlangte stündlichen Telefonkontakt mit jedem Familienmitglied, um sich zu vergewissern, dass alle noch am Leben waren. Alle Informationen wurden in einem Notizbuch festgehalten, auf dessen Etikett passenderweise »Tot oder lebendig« stand. Das war zwar etwas kühn, aber Theo hatte eben einen Hang zum Melodramatischen.
Nun saß er im dunklen Wohnzimmer der Familie mit seinen Wänden voller Bücher und Bilder, öffnete sein Büchlein »Tot oder lebendig« und begann bei seiner ältesten Schwester Nancy. Zuletzt hatte er sie mit nur einer Wollweste über dem Kleid aus der Haustür stürmen sehen. Theo fürchtete, sie könnte sich erkälten, wodurch ihr Immunsystem so geschwächt würde, dass sie Gehirnhautentzündung bekommen und die ganze Familie anstecken könnte. Er hatte ihr umsichtig geraten, eine Jacke, einen Mundschutz und ein bakterientötendes Reinigungstuch für die Hände mitzunehmen, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Während er ihre Nummer wählte, schüttelte er den Kopf und dachte darüber nach, wie oft seine Geschwister seine Warnungen völlig in den Wind schlugen.
»Nancy, hier ist dein Bruder …«, er hielt inne und wartete auf eine freudige Begrüßung. »Aber da du vier Brüder hast, sollte ich mich vielleicht mit Namen melden. Ich bin’s, Theo.«
»Das war mir schon klar, Theo, verlass dich drauf«, sagte Nancy, offenkundig verärgert.
»Schön, das zu hören«, antwortete er mit einem selbstvergessenen Lächeln. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass du in Sicherheit bist und dass es dir gut geht. Und ich möchte dir nahelegen, noch einmal nach Hause zu kommen und einen warmen Mantel, einen Mundschutz und ein Reinigungstuch für die Hände zu holen.«
»Ruf mich nicht dauernd an: Ich hab gerade eine Verabredung!«, schäumte Nancy.
»Ich nehme das als Bestätigung dafür, dass du am Leben bist und dass es dir gut geht. Und sorge dafür, dass der Junge sich die Hände wäscht, ehe er mit dir Händchen hält – um diese Jahreszeit wimmelt es von Bazillen. Okay, viel Spaß. Ich rufe dich in einer Stunde wieder an.«
»Untersteh dich!«, schrie Nancy in den Hörer, aber Theo hatte bereits aufgelegt.
Nicht einmal das strenge Handyverbot in der Schule hielt Theo davon ab, seine Familie zu kontrollieren. Er tüftelte ein System aus, nach dem ihm jedes Familienmitglied während der Schulstunden eine Bestätigung seines Befindens schicken und erklären musste, ob es tot oder lebendig war. Das war im Grunde kein wirklich logisches System, weil ein Toter sich ja nicht mehr melden kann. Folglich schrieben Joaquin und seine anderen beiden Brüder oft zum Spaß eine SMS mit »tot«.
Theo lachte nie. Trotz seines ausgeklügelten und zeitraubenden Systems plagten ihn weiterhin Gedanken an den Tod. Seine Geschwister begannen, ihn »Theo, den Thanatophoben« zu nennen – Thanatophobie ist die Angst vor dem Tod oder vor dem Sterben.
Theo fand sein Verhalten als durchaus gerechtfertigt. Er brauchte bloß die Zeitungsberichte darüber zu lesen, wie viele Menschen durch Autounfälle, Krankheiten, Verbrechen und sonstige unglaubliche Ereignisse zu Tode kamen.
Theos neurotische Ängste erreichten einen Höhepunkt, als seine Eltern im Yosemite-Nationalpark in Nordkalifornien Campingurlaub machten. Zwischen den uralten Gletschern und den riesengroßen Redwoodbäumen gab es ein komplettes Funkloch, sodass sie Theo nicht anrufen konnten. Theo drehte fast durch. Seine Fantasie ging mit ihm durch und er stellte sich vor, wie Grizzlybären gerade seine geliebten Eltern verschlangen. Ohne es mit seinen Geschwistern abzusprechen, wollte er sein Möglichstes tun, um seine Mum und seinen Dad zu beschützen. Wenn seine Eltern ihn nicht erreichen konnten, musste er eben sie erreichen und jede dafür erforderliche Maßnahme ergreifen. Daher gingen bei den Rangern des Nationalparks abwechselnd Meldungen ein, seine Eltern seien verletzt, überfallen worden, vom Feuer eingeschlossen oder hätten sich verirrt.
»Ich sagte ›verirrt‹! Was ist daran nicht zu verstehen? Meine Eltern haben mich gebeten, Hilfe zu holen!«, kreischte Theo.
»Wenn sie kein Handy haben, wie haben sie dir dann mitgeteilt, dass sie sich verirrt haben?«, fragte der Ranger listig.
»Ich habe die Gabe …«
»Blödsinn zu reden«, ergänzte der Ranger.
»Der übersinnlichen Wahrnehmung. Im Herbst gibt es eine Sendung über mich im Radio«, log Theo. »Bitte, Sie müssen sie finden!«
»Hör mal, Junge, gestern habe ich acht Stunden wegen dieses Feuermärchens verschwendet. Ich falle nicht noch mal auf dich herein.«
Als die Ranger drohten, rechtliche Schritte gegen Theo einzuleiten, erkannten die Bartholomews, dass es Zeit war, professionelle Hilfe zu suchen. Da Theos Eltern beide Theologieprofessoren an der Columbia-Universität waren, beschlossen sie, als ersten Schritt andere Mitglieder ihrer Fakultät zu fragen, ob sie einen Rat wüssten. Sie mussten sich ein paar blöde Bemerkungen über Militärakademien und Schlank-und-Fit-Sommercamps anhören, aber dann fanden sie einen Psychologieprofessor, dessen Sohn in einer privaten Einrichtung in Neuengland seine Angst vor fremden Sprachen überwunden hatte. Offenbar war die so ausgeprägt gewesen, dass der Junge sich geweigert hatte, ohne Kopfhörer auf die Straße zu gehen. Ehe der Professor den Bartholomews den Namen der Einrichtung nannte, blickte er natürlich zuerst nach rechts und links den Flur entlang und verschloss dann die Tür seines Büros. Wie andere Eingeweihte flüsterte vorsichtshalber auch er, als er über das Phobinasium sprach.
Die Bartholomews waren ganz beglückt von der Vorstellung, Theos Angst vor dem Tod und vielen anderen Dingen ließe sich ausmerzen. Von ihren sieben Kindern benötigte Theo mit seinen ständigen Befürchtungen mit Abstand am meisten Zeit und Energie.
Als Mr und Mrs Bartholomew dann mit Theo sprachen, baten sie ihre anderen Kinder, in ihren Zimmern zu bleiben. Sie setzten sich auf ein kastanienbraunes Zweiersofa und eröffneten Theo ihren Plan, ihn im Sommer ins Phobinasium zu schicken.
»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? ›Phobinasium‹ klingt wie eine Sekte! Warum schickt ihr mich nicht gleich nach Nordkorea?«, fragte Theo sarkastisch und schüttelte angewidert den Kopf.