8,99 €
Wer das Böse jagt ...
Mickey glaubt immer noch nicht, dass sein Vater tot ist – zu viele Lügen, dunkle Geheimnisse und offene Fragen umranken den tragischen Unfall von Brad Bolitar. Verzweifelt forscht Mickey weiter nach Antworten. Da überschlagen sich die Ereignisse: Ema eröffnet ihm, dass ihr Online-Boyfriend spurlos verschwunden ist. Und dann bittet ihn auch noch ausgerechnet Erzfeind Troy Taylor um Hilfe! Natürlich nimmt Mickey die Herausforderung an – und kommt einer schockierenden Wahrheit auf die Spur ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 339
DER AUTOR
Sandra Mapp c/o Dutton Adult, Penguin US
Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Als erster Autor wurde er mit den drei wichtigsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet: dem Edgar, dem Shamus und dem Anthony Award. Seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt und stehen weltweit auf den Bestsellerlisten. Mit Mickey Bolitar hat er einen sympathischen Helden für seine Thriller für Jugendliche zum Leben erweckt.
Von dem Autor sind außerdem bei cbt erschienen:
Der schwarze Schmetterling. (Mickey Bolitar ermittelt, Bd. 1)
Das dunkle Haus. (Mickey Bolitar ermittelt,Bd. 2)
Mehr zu cbt auch auf Instagram @hey_reader
Harlan Coben
Das geheimnisvolle Grab
Mickey Bolitar ermittelt
Band 3
Aus dem Amerikanischen
von Anja Galić
Für meine Zimmergenossen von Flur A
Brad Bradbeer
Curk Burgess
Jon Carlson
Larry Vitale
Vier Männer, die mit mir zusammenwohnten.
Und überlebt haben.
1
Vor acht Monaten hatte ich zugesehen, wie der Sarg meines Vaters in die Erde hinuntergelassen wurde. Heute sah ich zu, wie er wieder ausgegraben wurde.
Mein Onkel Myron stand neben mir. Ihm liefen Tränen übers Gesicht. Sein Bruder lag in diesem Sarg – das heißt, sein Bruder lag angeblich in diesem Sarg –, ein Bruder, der angeblich vor acht Monaten gestorben war, den Myron aber seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Wir waren auf dem B’nai Jeshurun Friedhof in Los Angeles. Es war kurz vor sechs Uhr morgens, die Sonne ging gerade erst auf. Warum wir so früh hier waren? Einen Leichnam zu exhumieren war verstörend für Menschen, hatten die zuständigen Behörden erklärt. Es musste zu einer Uhrzeit passieren, die maximale Privatsphäre bot. Blieben nur spätnachts – ähm, nein danke – oder frühmorgens.
Onkel Myron schniefte und wischte sich über die Augen. Er sah aus, als würde er jeden Moment den Arm um mich legen, deshalb rückte ich ein Stück von ihm ab. Ich schaute auf die aufgewühlte Erde hinunter. Vor acht Monaten war die Zukunft noch so vielversprechend gewesen. Nachdem meine Eltern ihr halbes Leben durch die Welt gereist waren, hatten sie beschlossen, in die USA zurückzukehren, damit ich endlich Wurzeln schlagen und dauerhafte Freundschaften schließen konnte.
Innerhalb eines einzigen Augenblicks änderte sich alles. Das war etwas, das ich auf die harte Tour gelernt hatte. Deine Welt gerät nicht langsam aus den Fugen. Sie zerspringt nicht stufenweise in tausend Stücke. Sie kann so schnell zerstört werden wie ein Fingerschnipsen.
Was war passiert?
Ein Autounfall.
Mein Vater starb, meine Mutter zerbrach daran, und am Ende musste ich zu meinem Onkel Myron Bolitar nach New Jersey ziehen. Vor acht Monaten waren meine Mutter und ich zu diesem Friedhof gekommen, um den Mann zu beerdigen, den wir wie keinen anderen Menschen auf dieser Welt liebten. Wir murmelten die Segnungswünsche mit. Wir schauten zu, wie der Sarg meines Vaters hinuntergelassen wurde. Ich warf sogar eine Handvoll Erde darauf.
Es war der schlimmste Moment in meinem Leben.
»Gehen Sie bitte ein Stück zurück«, sagte einer der Friedhofsangestellten.
Wie nannte man jemanden, der auf einem Friedhof arbeitete? Grabpfleger klang irgendwie zu harmlos. Totengräber zu gruselig. Sie hatten einen Bulldozer benutzt, um einen Großteil der Erde abzutragen. Den Rest erledigten die beiden Männer in Overalls – nennen wir sie Grabpfleger – mit Schaufeln.
Onkel Myron wischte sich die Tränen weg. »Alles okay, Mickey?«
Ich nickte. Er war derjenige, der weinte, nicht ich.
Ein Mann, der eine Fliege trug und ein Klemmbrett in der Hand hielt, machte sich stirnrunzelnd Notizen. Die beiden Grabpfleger hielten inne und warfen ihre Schaufeln aus dem Loch. Sie landeten klirrend am Rand der Grube.
»Fertig!«, rief einer der beiden. »Dann fangen wir jetzt mit der Aushebung an.«
Sie machten sich daran, Nylongurte unter den Sarg zu schieben, was eine ziemliche Fummelei zu sein schien. Ich hörte sie vor Anstrengung ächzen. Als sie es geschafft hatten, kamen sie herausgeklettert und nickten dem Kranführer zu. Der nickte zurück und betätigte einen Hebel.
Der Sarg meines Vaters stieg aus der Erde auf.
Es war nicht einfach gewesen, die Exhumierung zu veranlassen. Es gibt diesbezüglich etliche Regelungen und Vorschriften. Ich weiß nicht genau, wie Onkel Myron es geschafft hatte. Ein einflussreicher Freund hatte ihm wohl dabei geholfen. Vielleicht hatte auch die Mutter meiner besten Freundin Ema, der Hollywoodstar Angelica Wyatt, ihren Einfluss geltend gemacht. Ich schätze, die Details sind nicht wichtig. Wichtig war, dass ich kurz davor stand, die Wahrheit zu erfahren.
Wahrscheinlich fragen sich jetzt einige, warum wir das Grab meines Vaters überhaupt öffnen ließen.
Ganz einfach – ich musste wissen, ob Dad wirklich da drin lag.
Nein, ich glaube nicht, dass es in den Unterlagen irgendeinen Schreibfehler gegeben hatte oder dass er in den falschen Sarg gelegt oder an der falschen Stelle beerdigt worden war. Und nein, ich glaube nicht, dass mein Dad ein Vampir oder Geist oder so was ist.
Ich habe den Verdacht – und ja, ich weiß selbst, wie schrägt das klingt –, dass mein Vater immer noch am Leben ist.
In meinem Fall klingt das sogar noch schräger, weil ich bei dem Unfall mit ihm im Wagen saß. Weil ich sah, wie er starb. Ich sah, wie der Sanitäter den Kopf schüttelte und den leblosen Körper meines Vaters auf einer Trage davonrollte.
An dieser Stelle muss ich natürlich hinzufügen, dass genau dieser Sanitäter vor ein paar Tagen versucht hatte, mich umzubringen.
»Langsam, langsam.«
Der Kran schwenkte leicht nach links.
Der Kranführer ließ den Sarg meines Vaters auf die Ladefläche eines Pick-ups hinunter. Er war aus schlichtem Kiefernholz. Mein Vater hätte es so gewollt, das wusste ich. Nichts Ausgefallenes. Er war nicht religiös, aber er mochte Gebräuche.
Nachdem der Sarg mit einem dumpfen Geräusch aufgekommen war, stellte der Kranführer den Motor aus, sprang aus dem Führerhäuschen, lief zu dem Mann mit der Fliege und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die Fliege warf ihm einen scharfen Blick zu. Der Kranführer zuckte mit den Achseln und ging.
»Was sollte das?«, fragte ich.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Onkel Myron.
Ich schluckte, als wir langsam auf die Ladefläche des Pick-ups zugingen. Myrons und meine Schritte waren synchron, was etwas seltsam war. Wir sind beide ziemlich groß – einen Meter fünfundneunzig. Wenn jemandem der Name Myron Bolitar bekannt vorkommt, dann wahrscheinlich deswegen, weil er ein Basketballfan ist. Bevor ich geboren wurde, gehörte Myron zu den besten Spielern der Duke University und schaffte es direkt in der ersten Auswahlrunde in das Team der Boston Celtics. Aber er sollte das grüne Trikot der Celtics nur ein einziges Mal tragen. Bei seinem allerersten Spiel in der Vorsaison wurde er von einem gegnerischen Spieler namens Burt Wesson gerammt, dabei verdrehte sich das Knie meines Onkels, und seine Karriere war beendet, ehe sie richtig begonnen hatte. Da ich selbst Basketball spiele – und hoffe, ihn eines Tages zu übertreffen –, habe ich mich schon oft gefragt, wie das für ihn gewesen sein musste, wenn alle Hoffnungen und Träume zum Greifen nah waren, wenn man dieses grüne Trikot anhatte, von dem man sich immer gewünscht hatte, es eines Tages zu tragen, und dann, zack, war plötzlich alles einfach so vorbei.
Wobei … als ich jetzt auf den Sarg zuging, glaubte ich zu wissen, wie es gewesen sein musste.
Wie schon gesagt, kann sich deine Welt innerhalb eines einzigen Augenblicks komplett verändern.
Onkel Myron und ich blieben vor dem Sarg stehen und senkten die Köpfe. Myron warf mir einen kurzen Blick von der Seite zu. Er glaubte natürlich nicht, dass mein Vater immer noch lebte. Er hatte dieser Sache nur zugestimmt, weil ich ihn darum gebeten – oder ihn vielmehr angebettelt – hatte und er sich erhoffte, dass sich die Beziehung zwischen uns verbessern würde, wenn er mir half.
Der Kiefernsarg sah verrottet und morsch aus, so als könnte er in sich zusammenbrechen, wenn wir ihn bloß zu fest anschauten. Die Antwort lag direkt hier vor mir. Entweder war mein Dad in dieser Kiste oder er war es nicht. So gesehen eigentlich ganz einfach.
Ich trat ein bisschen näher an den Sarg heran und hoffte, irgendetwas zu fühlen. Mein Vater lag angeblich dort drin. Sollte ich da nicht … keine Ahnung … irgendetwas fühlen, wenn es so war? Sollte sich mir nicht eine kalte Hand in den Nacken legen oder ein Schauer über den Rücken laufen?
Ich fühlte gar nichts.
Also war Dad vielleicht nicht dort drin.
Ich legte eine Hand auf den Deckel des Sargs.
»Was machen Sie da?«
Es war der Typ mit der Fliege. Er hatte sich uns als Umwelthygiene-Beauftragter vorgestellt, allerdings hatte ich keine Ahnung, was genau das sein sollte.
»Ich wollte nur …«
Die Fliege stellte sich zwischen den Sarg meines Vaters und mich. »Ich habe ihnen die Vorgehensweise doch erklärt, oder?«
»Ja, schon, ich meine …«
»Aus Sicherheitsgründen und weil es der Respekt gebietet, darf kein Sarg vor Ort geöffnet werden.« Er klang, als würde er einen Text bei einem Lesewettbewerb vorlesen. »Dieses Behördenfahrzeug wird den Sarg Ihres Vaters in die Gerichtsmedizin überführen, wo er von ausgebildetem Personal geöffnet wird. Meine Aufgabe hier ist es, sicherzustellen, dass wir das richtige Grab geöffnet haben, dass der Sarg den Angaben über die zu exhumierende Person entspricht, dass alle Gesundheitsvorschriften eingehalten wurden und dass der Transport reibungslos und respektvoll vonstattengeht. Wenn ich Sie also bitten dürfte …«
Ich sah Myron an. Er nickte. Langsam nahm ich die Hand von dem feuchten, erdverkrusteten Kiefernholz und trat einen Schritt zurück.
»Danke«, sagte die Fliege.
Der Kranführer flüsterte einem der Grabpfleger etwas zu. Der Grabpfleger wurde blass. Das gefiel mir nicht. Das gefiel mir überhaupt nicht.
»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte ich die Fliege.
»Was meinen Sie?«
»Was soll dieses ganze Geflüster?«
Die Fliege musterte sein Klemmbrett, als würde die Antwort irgendwo dort draufstehen.
»Und?«, sagte Onkel Myron.
»Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es von meiner Seite nichts weiter zu berichten.«
»Was soll das heißen?«
Der Grabpfleger, der immer noch blass war, fing an, den Sarg mit Nylongurten zu sichern.
»Der Sarg wird in die Gerichtsmedizin überstellt«, fuhr er fort. »Das ist alles, was ich Ihnen im Moment sagen kann.«
Die Fliege ging zur Fahrerkabine und stieg auf den Beifahrersitz. Der Fahrer startete den Motor. Ich eilte zu seinem Fenster.
»Wann?«, fragte ich.
»Wann was?«
»Wann wird der Sarg geöffnet?«
Er warf erneut einen Blick auf sein Klemmbrett, obwohl er die Antwort bereits zu kennen schien.
»Jetzt«, sagte er.
2
Wir waren im Büro der Gerichtsmedizin und warteten darauf, dass der Sarg geöffnet wurde, als mein Handy klingelte.
Ich ignorierte es. Die Antwort auf die Schlüsselfrage meines Lebens – lebte mein Vater oder war er tot? – lag nur wenige Momente entfernt.
Ein Anruf konnte warten, oder?
Andererseits hatte ich gerade nichts Besseres zu tun. Vielleicht wäre ein Anruf eine willkommene Ablenkung. Ich warf einen verstohlenen Blick auf das Display und sah, dass es meine beste Freundin Ema war. Emas richtiger Name ist Emma, aber sie trägt immer von Kopf bis Fuß Schwarz und hat ziemlich viele Tattoos, weshalb sie an der Schule als »Emo« verschrien ist, und irgendwann hatte jemand die geniale Idee, »Emma« und »Emo« zu kombinieren und ihr den Spitznamen Ema zu geben.
Der Name ist hängen geblieben.
Mein erster Gedanke: Oh Gott, es ist etwas mit Löffel passiert!
Onkel Myron schaute über meine Schulter und deutete auf das Display. »Ist das Angelica Wyatts Tochter?«
Ich runzelte die Stirn. Als ob ihn das etwas angehen würde. »Yep.«
»Ihr beiden seid ziemlich eng geworden.«
Ich runzelte noch mehr die Stirn. Als ob ihn das etwas angehen würde. »Yep.«
Für einen Moment war ich unentschlossen, was ich machen sollte. Vielleicht demonstrativ ein paar Schritte weggehen und den Anruf entgegennehmen. Onkel Myron konnte ziemlich schwer von Begriff sein, aber selbst er würde den Wink verstehen. Ich hielt mein Handy hoch und sagte: »Ähm, könntest du vielleicht …?
»Was? Ach so, natürlich. Entschuldige.«
Ich ging dran und sagte: »Hey.«
»Hey.«
Wie schon erwähnt, war Ema meine beste Freundin. Wir kannten uns erst seit ein paar Wochen, aber es sind gefährliche und verrückte Wochen gewesen, lebensbejahende und lebensbedrohliche Wochen. Es gab Leute, die konnten ihr Leben lang miteinander befreundet sein, ohne dass die Verbundenheit zwischen ihnen annähernd so eng war wie zwischen Ema und mir.
»Gibt es schon etwas Neues zu … ähm …?« Ema wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Mir ging es genauso.
»Das Ergebnis kann jeden Moment da sein«, sagte ich. »Wir sind gerade in der Gerichtsmedizin.«
»Oh, tut mir leid. Da hätte ich lieber nicht stören sollen.«
In ihrer Stimme schwang ein Unterton mit, der mir nicht behagte. Ich spürte, wie mir das Herz in die Kehle sprang.
»Was ist los?«, fragte ich. »Geht es um Löffel?«
Löffel war mein bester Freund. Das letzte Mal, als ich ihn sah, lag er im Krankenhaus. Er war angeschossen worden, als er uns das Leben rettete, und würde möglicherweise nie wieder laufen können. Ich schob den grauenhaften Gedanken pausenlos beiseite. Gleichzeitig grübelte ich pausenlos darüber nach.
»Nein«, sagte sie.
»Hast du irgendetwas Neues gehört?«
»Leider nicht. Seine Eltern lassen mich auch nicht zu ihm.«
Löffels Mom und sein Dad hatten mir verboten, sein Zimmer zu betreten. Sie gaben mir die Schuld an dem, was passiert war. Ich auch.
»Was ist dann los?«, fragte ich.
»Ich hätte nicht anrufen sollen. Ist nicht weiter wichtig.«
Was mich erst recht davon überzeugte, dass es sehr wohl um etwas Wichtiges ging.
Ich wollte gerade widersprechen und sie dazu bringen, mir zu sagen, warum sie angerufen hatte, als die Fliege hereinkam.
»Ich muss Schluss machen«, sagte ich. »Ich melde mich, sobald ich kann.«
Ich legte auf. Myron und ich traten auf die Fliege zu. Er hatte den Kopf gesenkt und machte sich Notizen.
»Und?«, sagte Myron.
»Die Ergebnisse müssten jeden Moment vorliegen.«
Ich merkte, dass ich die Luft angehalten hatte, und atmete aus. Dann fragte ich: »Was sollte dieses Geflüster?«
»Entschuldigung?«
»Auf dem Friedhof. Der Kranführer hat erst ihnen etwas zugeflüstert und dann einem der Männer, die das Grab ausgehoben haben.
»Oh«, sagte er. »Das.«
Ich wartete.
Die Fliege räusperte sich. »Dem Kranführer und den Grabpflegern« – okay, sie wurden also tatsächlich so genannt – »ist aufgefallen, dass der Sarg sich ein bisschen …« Er legte den Kopf schräg, als würde er nach dem passenden Wort suchen.
Nachdem ungefähr drei Sekunden vergangen waren, die sich wie eine Stunde anfühlten, sagte ich: »Dass der Sarg sich ein bisschen was?«
»Dass er sich ein bisschen leicht anfühlte.«
»Mit leicht meinen Sie, er hätte schwerer sein müssen?«, hakte Myron nach.
»Ähm, ja. Aber sie haben sich geirrt.«
Das ergab keinen Sinn. »›Sie haben sich geirrt‹ soll heißen, dass der Sarg sich doch nicht leicht anfühlte?«
»Genau.«
»Wie das?«
Er hob sein Klemmbrett, als könnte es wie ein Schild Angriffe abwehren. »Mehr kann ich dazu nicht sagen. Erst wenn mir die notwendigen Unterlagen vorliegen.«
»Welche notwendigen Unterlagen?«
»Ich muss jetzt leider gehen.«
»Aber …«
Hinter mir ging die Tür auf. Eine Frau in einem Hosenanzug kam herein. Wir drehten uns alle zu ihr um und sahen sie an.
»Die Untersuchung ist fertig.«
»Und?«
Die Frau schaute sich kurz verstohlen um, als wollte sie sich vergewissern, dass uns niemand belauschte. »Folgen Sie mir bitte«, sagte sie.
3
>>Vielen Dank für Ihre Geduld. Ich bin Dr. Botnick.«
Ich hatte damit gerechnet, dass ein Gerichtsmediziner irgendwie etwas Makabres an sich hätte oder gruselig aussehen würde. Ich meine, Gerichtsmediziner beschäftigen sich den ganzen Tag mit toten Menschen. Sie schneiden sie auf und versuchen herauszufinden, woran sie gestorben sind.
Aber Dr. Botnick war eine kleine Frau mit einem fröhlichen Lächeln und orangeroten Haaren, was an so einem Ort seltsam fehl am Platz wirkte. In ihrem Büro gab es keinerlei persönliche Gegenstände wie zum Beispiel gerahmte Familienfotos, andererseits – wer wollte in einem von so viel Tod erfüllten Raum schon gern die Bilder seiner Liebsten anschauen? Auf ihrem Schreibtisch war nichts außer einer Schreibunterlage aus braunem Leder, einer dazu passenden Briefablage (leer), einem Notizenhalter, einem Stiftbecher (zwei Kugelschreiber und ein Bleistift) und einem Brieföffner. An den Wänden hingen ein paar Diplome.
Sie lächelte uns weiter an. Ich schaute zu Myron. Er wirkte verloren.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin nicht besonders gut im Umgang mit Menschen. Andererseits hat sich bis jetzt noch keiner meiner Patienten beschwert.« Sie fing an zu lachen. Ich lachte nicht mit. Onkel Myron auch nicht. Sie räusperte sich und sagte: »Verstehen Sie?«
»Sicher«, sagte ich.
»Na ja, weil meine Patienten doch, ähm, tot sind.«
»Schon klar«, sagte ich.
»Das war vermutlich etwas daneben, nicht wahr? Mein Fehler. Ich muss gestehen, ich bin ein wenig nervös. Das ist eine ungewöhnliche Situation.«
Mein Puls beschleunigte sich.
Dr. Botnick sah Myron an. »Wer sind Sie?«
»Myron Bolitar.«
»Der Bruder von Brad Bolitar?«
»Ja.«
Ihr Blick fand meinen. »Dann müssen Sie sein Sohn sein.«
»Der bin ich«, sagte ich.
Sie schrieb etwas auf ein Blatt Papier. »Darf ich Sie bitten, mir die Todesursache zu nennen?«
»Ein Autounfall«, sagte ich.
»Verstehe.« Sie machte sich eine weitere Notiz. »Ein Antrag auf Exhumierung wird in der Regel dann gestellt, wenn die Grabstelle verlegt werden soll. Das ist hier nicht der Fall, oder?«
Myron und ich verneinten.
»Wo ist Kitty Hammer Bolitar?«, fragte Dr. Botnick.
Kitty Hammer Bolitar war meine Mutter.
»Sie ist nicht hier«, sagte Myron.
»Nun, das sehe ich. Wo ist sie?«
»Sie ist gerade unpässlich«, sagte Myron.
Dr. Botnick runzelte die Stirn. »Sie meinen, sie ist kurz zur Toilette?«
»Nein.«
»Kitty Hammer Bolitar ist als Ehefrau angegeben und somit die nächste Angehörige«, fuhr Dr. Botnick fort. »Sie sollte anwesend sein. Warum ist sie nicht gekommen?«
»Sie ist in einer Entzugsklinik in New Jersey«, antwortete ich.
Sie sah mich an. Ihr Blick war freundlich und vielleicht ein bisschen mitfühlend. »Es gab mal eine berühmte Tennisspielerin namens Kitty Hammer. Ich habe sie bei den US Open gesehen, als sie gerade mal fünfzehn war.«
Ein Fels legte sich auf meine Brust.
»Das tut hier nichts zur Sache«, sagte Myron scharf.
Ja, das war meine Mutter. Kitty Hammer Bolitar hätte eine der größten Tennisspielerinnen aller Zeiten werden können, zusammen mit Billie Jean King und den Williams-Schwestern. Dann passierte etwas, das ihrer Karriere ein Ende setzte: Sie wurde schwanger.
Mit mir.
»Sie haben recht«, sagte Dr. Botnick. »Bitte entschuldigen Sie.«
»Hören Sie«, sagte Onkel Myron. »Sind seine sterblichen Überreste nun dort drin oder nicht?«
Ich versuchte, die Antwort von ihrem Gesicht abzulesen, aber es gab nicht das Geringste preis. Dr. Botnick hätte eine großartige Pokerspielerin abgegeben. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Ist das der Grund, warum Sie hier sind?»
»Ja«, sagte ich.
»Um herauszufinden, ob Ihr Vater im richtigen Sarg ist?«
Wieder sagte ich Ja.
»Was veranlasst Sie zu der Annahme, Ihr Vater wäre nicht dort drin?«
Wie sollte ich das erklären?
Dr. Botnick sah mich an, als würde sie mir wirklich helfen wollen. Aber sogar unausgesprochen in meinem Kopf klang es völlig krank. Ich konnte ihr nicht von der Hexe erzählen, die von sich sagte, Lizzy Sobek zu sein, die Holocaust-Heldin, von der jeder glaubte, sie sei während des Zweiten Weltkrieges gestorben. Ich konnte ihr nicht von Abeonas Zuflucht erzählen, der geheimen Organisation, die Kinder in Not rettete, und wie Ema, Löffel, Rachel und ich in ihrem Dienst unser Leben riskiert hatten. Ich konnte ihr nicht von dem unheimlichen Sanitäter mit den rotblonden Haaren und den grünen Augen erzählen, der meinen Vater wegbrachte und dann acht Monate später versuchte, mich umzubringen.
Wer würde so etwas Durchgeknalltes glauben?
Onkel Myron sah, wie ich unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her rutschte. »Die Gründe sind vertraulich«, versuchte er mir zu helfen. »Würden Sie uns bitte einfach sagen, was Sie in dem Sarg gefunden haben?«
Dr. Botnick kaute auf dem Ende ihres Kulis. Wir warteten.
»Ist mein Bruder in dem Sarg, ja oder nein?«, versuchte Myron es noch mal
Sie legte den Kuli auf die Schreibunterlage und stand auf.
»Warum kommen Sie nicht mit und schauen es sich selbst an?«
4
Wir liefen einen langen Flur entlang.
Dr. Botnick ging voraus. Der Flur schien mit jedem Schritt enger zu werden, als würden die gekachelten Wände immer näher rücken. Ich wollte mich schon hinter Myron zurückfallen lassen und im Gänsemarsch weitergehen, als sie vor einer kleinen Glasfront stehen blieb.
Dr. Botnick steckte den Kopf durch die Tür. »Fertig?«
»Gib mir noch zwei Sekunden«, antwortete eine Stimme.
Dr. Botnick schloss die Tür wieder. Vor der vergitterten Scheibe war ein Sichtschutz heruntergelassen, sodass wir nichts sehen konnten.
»Sind Sie so weit?«, fragte Dr. Botnick.
Ich zitterte. Wir waren hier. Der Moment war gekommen. Ich nickte. Myron sagte Ja.
Der Sichtschutz hob sich wie der Vorhang bei einer Theateraufführung. Als er oben war – als ich in den Raum schauen konnte –, fühlte es sich an, als hätte mir jemand auf jedes Ohr eine große Muschel gedrückt. Niemand rührte sich. Keiner sagte etwas. Wir standen bloß da.
»Was …?«
Die Stimme gehörte Onkel Myron. Vor uns war eine Bahre. Und auf der Bahre stand eine silberne Urne.
Dr. Botnick legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ihr Vater wurde eingeäschert. Seine Asche kam in diese Urne und wurde begraben. Das ist nicht unbedingt üblich, aber auch nicht völlig ungewöhnlich.«
Ich schüttelte fassungslos den Kopf.
»Habe ich das richtig verstanden?«, sagte Myron. »In diesem Sarg hat sich nichts als Asche befunden?«
»Ja.«
»DNS«, sagte ich.
»Verzeihung?«
»Kann man mit Asche einen DNS-Test durchführen?«
»Ich verstehe nicht. Warum sollte ich das tun?«
»Um zu bestätigten, dass sie meinem Vater gehört.«
»Um zu bestätigen, dass …?« Dr. Botnick sah mich einen Moment prüfend an, bevor sie antwortete: »Das ist technisch leider nicht möglich.«
Ich sah Myron an. Ich hatte Tränen in den Augen. »Verstehst du nicht?«, sagte ich.
»Verstehe ich was nicht?«
»Er lebt.«
Myron wurde blass. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Fliege den Flur entlanggeeilt kam.
»Mickey …«, begann Myron.
»Jemand versucht, seine Spuren zu verwischen«, sagte ich. »Wir hätten ihn nicht einäschern lassen.«
»Ich fürchte, da irren Sie sich.«
Es war die Fliege. Er hielt ein offiziell aussehendes Dokument hoch.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Die Vollmacht, den Leichnam von Brad Bolitar nach der Gesetzgebung des Staates Kalifornien einzuäschern. Es wurde alles rechtmäßig festgehalten, einschließlich der notariell beglaubigten Unterschrift der nächsten Angehörigen.«
Onkel Myron griff nach der Vollmacht, aber ich war schneller. Mein Blick wanderte sofort zum unteren Rand des Papiers.
Es war von meiner Mutter unterschrieben worden.
Ich spürte, wie Myron mir über die Schulter schaute.
Kitty Hammer Bolitar hatte in ihrer Zeit als Tennisspielerin eine Menge Autogramme gegeben. Ihre Unterschrift war ziemlich einzigartig, mit einem großen geschwungenen K und einem Kringel auf der rechten Seite des H. Diese Unterschrift enthielt beides.
»Das ist eine Fälschung!«, rief ich, obwohl es nicht wie eine Fälschung aussah. »Es muss eine Fälschung sein.«
Alle sahen mich an, als würde mir plötzlich ein dritter Arm aus der Stirn wachsen.
»Sie wurde notariell beglaubigt«, sagte die Fliege. »Das bedeutet, dass eine unabhängige Person die Unterschrift Ihrer Mutter bezeugt und bestätigt hat.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nicht …«
Die Fliege nahm mir das Dokument aus der Hand. »Tut mir leid«, sagte er. »Mehr können wir nicht für Sie tun.«
5
Sackgasse.
Wir saßen am Flughafen im Boardingbereich und warteten auf unseren Flug nach Hause. Onkel Myron starrte übertrieben konzentriert auf das Display seines Handys. »Mickey?«
Ich sah ihn an.
»Findest du nicht auch, dass es langsam an der Zeit ist, mir zu erzählen, was los ist?«
Doch. Onkel Myron verdiente es, die Wahrheit zu erfahren. Er hatte einen Gefallen eingefordert und sich selbst in die Schusslinie begeben. In gewisser Hinsicht hatte er sich mein Vertrauen verdient. Aber es gab noch ein paar andere Dinge zu bedenken. Erstens war mir mehr als einmal von Abeonas Zuflucht eingeschärft worden, Myron nichts zu erzählen. Das konnte ich nicht einfach ignorieren.
Zweitens – und das war der eigentliche Knackpunkt – gab ich immer noch Myron die Schuld daran, was mit meinen Eltern passiert war. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, nahm Onkel Myron die Neuigkeit nicht sonderlich gut auf. Er traute meiner Mutter nicht. Er und mein Vater hatten sich deswegen gestritten. Es endete damit, dass meine Eltern davonliefen, ins Ausland gingen und erst Jahre später zurückkehrten und … tja, das führte dazu, dass mein Dad jetzt »vielleicht tot« und meine Mutter in der geschlossenen Abteilung einer Entzugsklinik war.
Onkel Myron wartete auf meine Antwort. Ich überlegte, wie ich mich am besten herausreden könnte, als mir einfiel, dass ich Ema noch nicht zurückgerufen hatte. Ich hielt mein Handy hoch und sagte: »Da muss ich dran«, obwohl es gar nicht geklingelt hatte.
Ich stellte mich ein paar Schritte abseits und tippte in der Anruffunktion auf Emas Namen. Sie meldete sich sofort.
»Und?«, sagte Ema.
»Und nichts.«
»Was? Hattest du nicht gesagt, dass ihr jeden Moment das Ergebnis bekommen würdet?«
»Doch. Das haben wir auch.«
Ich erklärte ihr, dass mein Vater eingeäschert worden war. Sie hörte zu, wie immer ohne mich zu unterbrechen. Ema gehörte zu den Menschen, die einem ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkten, wenn man ihnen etwas erzählte. Sie konzentrierte sich auf das Gesicht ihres Gegenübers. Ihr Blick blieb ruhig und huschte nicht ständig woanders hin. Sie nickte nicht an unpassenden Stellen. Selbst jetzt am Telefon spürte ich diese ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Und du bist sicher, dass es ihre Unterschrift ist?«
»Sieht zumindest definitiv nach ihrer aus.«
»Aber sie könnte auch gefälscht worden sein«, sagte Ema.«
»Unwahrscheinlich. Ich meine, sie wurde von einem Notar beglaubigt. Aber …« Ich verstummte.
»Was?«
»Nach dem Tod meines Vaters, na ja, da ist sie komplett zusammengebrochen.«
»Sie fing an, Drogen zu nehmen?«
»Ja.« Unschöne Erinnerungen stiegen in mir hoch. »Genauer gesagt, war sie die meiste Zeit so weggetreten, dass … Ich weiß nicht, wie sie so eine Entscheidung hätte treffen sollen.«
»Und was jetzt?«
»Ich fliege nach Hause. Heute Nachmittag habe ich Basketballtraining.«
Ja, ich weiß. Wer denkt in so einem Moment schon an sein Basketballtraining? Tja, ich tue das. Mir ist klar, dass das ziemlich komisch klingt. Aber selbst jetzt – oder vielleicht gerade jetzt – hatte ich das Bedürfnis, auf dem Feld zu stehen und zu spielen. Ich wollte, dass es einen Moment lang nichts Wichtigeres als Basketball gab. Das war der Ort, an dem ich aufblühte, der mir eine Flucht bot, und danach sehnte ich mich, ganz egal, was gerade sonst um mich herum passierte.
»Gibt es irgendwas Neues über Löffels Zustand?«, fragte ich.
»Nein.«
»Was ist mit Rachel?«
Stille.
Ich wartete. Nach Rachel zu fragen war vielleicht ein Fehler. Ich weiß es nicht. Rachel gehörte zu unserer kleinen Truppe, auch wenn sie als beliebtestes und wahrscheinlich heißestes Mädchen der Schule nichts mit uns gemeinsam zu haben schien.
»Rachel geht es gut«, sagte Ema. Ihre Stimme klang wie eine zuschlagende Tür. »Sie kommt klar, glaube ich.«
Ich musste versuchen, Rachel zu erreichen, wenn ich zurück war. Ich hatte eine riesige Bombe – eine lebensverändernde Bombe – über ihr platzen lassen und war dann nach Los Angeles geflogen. Das musste ich in Ordnung bringen.
»Warum hast du vorhin angerufen?«, fragte ich.
»Das hat Zeit, bis du wieder da bist.«
»Jetzt sag schon, Ema. Ich kann etwas Ablenkung gebrauchen.«
Sie atmete tief ein. Ich sah sie vor mir, wie sie allein in dieser riesigen bewachten Villa saß. »Warum wir?«, fragte sie.
Ich wusste, was sie meinte. Nichts von all dem, was wir in den letzten Wochen erlebt hatten, war zufällig passiert. Eine Geheimorganisation namens Abeonas Zuflucht hatte Ema, Löffel, Rachel und mich rekrutiert, um Kindern und Jugendlichen zu helfen, die in Not waren. Aber wir hatten uns weder für diesen Job beworben, noch hatte uns vorher irgendjemand gefragt, ob wir bei dieser Sache mitmachen wollten. Es war einfach so … passiert.
»Das frage ich mich jeden Tag«, sagte ich.
»Und?«
»Ich weiß es nicht.«
»Es muss einen Grund geben«, sagte Ema. »Zuerst Ashley, dann Rachel und jetzt …«
»Jetzt was?«
»Es wird wieder jemand vermisst«, sagte sie.
Mein Griff um das Handy wurde fester. »Wer?«
»Du kennst ihn nicht.«
Es war wahrscheinlich albern, aber ich hatte gedacht, ich würde jeden kennen, den Ema kennt. Vielleicht lag es daran, wie perfekt sie das dicke Außenseitermädchen spielte. Die anderen Schüler machten sich gern über ihr Gewicht und ihre schwarzen Klamotten lustig. In der Mittagspause saß Ema immer allein in der Cafeteria, mit finsterer Miene, die sie zu so einer Art Kunstform kultiviert hatte.
»Aber du kennst ihn?«, sagte ich.
»Ja.«
»Wer ist es?«
»Er … na ja, er ist so was wie mein Freund.«
6
Mann, mit der Antwort hatte ich nicht gerechnet.
Warum wusste ich nicht, dass Ema einen Freund hatte? Wie hatte sie so etwas vor mir geheim halten können? Ich meine, nicht dass mich jemand falsch versteht. Ich fand es toll. Ema war so unglaublich. Sie verdiente es, jemand zu haben.
Warum war ich dann sauer?
Weil wir uns immer alles erzählten, oder? Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich hatte ihr alles erzählt, aber vielleicht war das eine einseitige Sache gewesen. Zumindest schien es Dinge zu geben, die Ema lieber für sich behielt.
Wie hatte sie mir nicht erzählen können, dass sie einen verdammten Freund hatte?
Andererseits, hatte ich ihr von Rachel und mir erzählt? Davon dass zwischen uns vielleicht ein bisschen mehr war als nur Freundschaft?
Nein.
Warum nicht? Wenn Ema meine beste Freundin war, warum hatte ich ihr dann nicht von Rachel erzählt?
»Alles okay?«, fragte Onkel Myron.
Wir saßen mittlerweile im Flieger, nebeneinandergezwängt in der letzten Reihe. Der Fußraum in Flugzeugen ist für Menschen konzipiert, die ungefähr einen halben Meter kleiner sind.
»Mir geht’s gut«, sagte ich.
»Und was jetzt?«, sagte Onkel Myron.
»Was meinst du?«
»Du hast mich gebeten, dir zu helfen, das Grab deines Vaters zu exhumieren, oder?«
»Ja.«
Onkel Myron versuchte, mit den Achseln zu zucken, aber der Sitz war zu klein dafür. »Nachdem wir das getan haben, was ist dein nächster Schritt?«
Das hatte ich mich natürlich selbst schon gefragt. »Ich weiß es noch nicht.«
Sobald wir gelandet waren, rief ich Ema an. Sie ging nicht dran. Ich versuchte es bei Rachel. Dasselbe. Ich schrieb ihnen, dass ich wieder in New Jersey war. Danach rief ich im Krankenhaus an, aber man wollte mich nicht mit Löffels Zimmer verbinden.
»Wir dürfen keine Anrufe zu diesem Patienten durchstellen«, wurde mir erklärt.
Das gefiel mir nicht.
Wir waren pünktlich gelandet, was bedeutete, dass ich es zum Basketballtraining schaffen würde. Wegen dem Trip nach Los Angeles hatte ich es die letzten Tage verpasst. Das bedeutete, dass ich mit meinen Mannschaftskollegen nicht auf demselben Level sein würde, was mir ein bisschen Sorgen machte. Ich hatte noch nicht mit der Schulmannschaft trainiert, und ich wusste, dass ich ziemlich hinterherhinken würde.
Die Kasselton High, auf die ich ging, seit ich bei Onkel Myron wohnte, hatte eine Senior- und eine Juniormannschaft. Die Neunt- und Zehntklässler spielten in der Juniormannschaft und bis jetzt hatte Coach Grady in seiner zwölfjährigen Tätigkeit als Trainer der Kasselton Camels nie einen Neunt- oder Zehntklässler in die Seniormannschaft geholt.
Achtung, Tiefstapel-Alarm: Ich, ein einfacher kleiner Zehntklässler, war probeweise in die Seniormannschaft aufgenommen worden.
Ich konnte es nicht erwarten, aufs Spielfeld zu kommen, aber als Onkel Myron vor der Schule den Wagen anhielt, zog mein Magen sich zusammen. Myron musste den Ausdruck auf meinem Gesicht gesehen haben.
»Bist du nervös?«
»Ich?« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.«
Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Es braucht vielleicht ein bisschen, um nach dem langen Flug warm zu werden«, sagte er, »aber sobald du auf dem Platz bist und den Ball in der Hand hast …«
»Schon klar, danke«, unterbrach ich ihn.
Es war nicht so, dass ich mir Sorgen um meine sportlichen Leistungen machte.
Das Problem waren meine Mannschaftskollegen. Kurz gesagt, sie hassten mich.
Weder den Seniors noch den Juniors gefiel der Gedanke, dass ein einfacher Zehntklässler ihre Party crashte.
Ich hörte Lachen aus der Umkleidekabine, aber sobald ich durch die Tür kam, verstummten alle Geräusche, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Troy Taylor, der Mannschaftskapitän, musterte mich finster. Troy und ich kamen nicht sonderlich gut miteinander klar, um es mal vorsichtig zu formulieren. Ich wandte den Blick ab und machte einen der Spinde auf.
»Die Reihe nicht«, sagte Troy.
»Was?«
»Die Spinde in der Reihe sind für diejenigen reserviert, die sich durch besondere sportliche Leistungen hervorgetan haben.«
Ich sah die anderen Jungs an, von denen jeder einen Spind in dieser Reihe hatte. Manche hielten den Kopf gesenkt und banden übertrieben konzentriert ihre Schuhe zu. Manche erwiderten meinen Blick mit unverhohlener Feindseligkeit. Ich schaute mich nach Buck um, Troys bester Freund und ein Vollidiot vor dem Herrn, aber er war nicht da.
Ich wartete darauf, dass jemand meine Partei ergriff oder zumindest irgendetwas sagte. Nichts. Troy grinste und wedelte mit einer Hand in meine Richtung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. Sollte ich zurückschlagen oder es gut sein lassen?
Ich beschloss, dass es eine Auseinandersetzung nicht wert war.
Ich hasste es, Troy die Genugtuung zu geben, aber ich erinnerte mich an etwas, das mein Vater einmal gesagt hatte: Es nützt nichts, wenn man die Schlacht gewinnt, aber den Krieg verliert.
Ich nahm meine Sachen und ging in die nächste Reihe, zog meine Shorts und ein Trainingstrikot an. Nachdem ich meine Sneakers zugebunden hatte, machte ich mich auf den Weg in die Halle. Das süße Echo gedribbelter Bälle beruhigte mich ein bisschen, aber sobald ich die Tür aufmachte, verstummte das Geräusch.
Oh Mann, werdet erwachsen.
Um jeden der drei Körbe standen vier oder fünf Jungs. Troy war an dem ganz rechts. Er hatte wieder seinen finsteren Blick aufgesetzt. Ich schaute mich erneut nach Buck um – der Troy normalerweise wie ein Schatten folgte –, aber es fehlte immer noch jede Spur von ihm. Ich fragte mich, ob Buck sich eine Verletzung zugezogen hatte, und hoffte, auch wenn das jetzt ziemlich gemein klingt, dass es so war.
Ich schaute zu den Jungs, die um den Korb in der Mitte standen. Wären ihre Gesichter Fenster gewesen, dann wären sie alle fest verschlossen und die Rollläden heruntergelassen gewesen. Am dritten Korb entdeckte ich Brandon Foley, der Center des Teams und zweite Mannschaftskapitän. Brandon war mit gut zwei Metern der größte Spieler im Team und der Einzige, der meine Anwesenheit bisher zur Kenntnis genommen hatte. Aber als ich auf ihn zutrat, sah er mich an und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Fantastisch.
Dann eben nicht. Ich ging zu dem Korb ganz links und warf alleine Körbe. Mein Gesicht brannte. Ich ließ mich von dem Brennen durchdringen. Das Brennen war gut. Das Brennen würde mein Spiel befeuern und mich besser machen. Das Brennen würde mich zumindest ein paar Momente lang vergessen lassen, dass ich immer noch nicht wusste, was wirklich mit meinem Vater passiert war. Das Brennen würde mich vergessen lassen – nicht wirklich, nein –, dass mein Freund Löffel im Krankenhaus lag und vielleicht nie wieder würde laufen können und dass ich daran schuld war.
Vielleicht war das der Grund, warum alle meine potenziellen Mannschaftskollegen, sogar Brandon Foley, sich gegen mich stellten. Vielleicht gaben sie mir ebenfalls die Schuld an dem, was mit dem kleinen Nerd passiert war, den sie immer so gern schikaniert hatten.
Es spielte keine Rolle. Werfen, den Rebound fangen, werfen. Auf den Korb schauen, nur auf den Korb; niemals der Flugbahn des Balls folgen; die Rillen unter den Fingerspitzen spüren. Werfen, wusch, werfen, wusch. Den Rest der Welt für eine kleine Weile ausblenden.
Weiß jemand, wovon ich rede? Davon, wie es ist, etwas in seinem Leben zu haben, das für eine kleine Weile die ganze Welt in den Hintergrund rücken lässt? Das war Basketball für mich. Manchmal schaffte ich es, mich so zu konzentrieren, dass alles andere einfach zu existieren aufhörte. Da war der Ball. Da war der Korb. Und sonst nichts.
»Hey, du Ass.«
Der Klang von Troys Stimme holte mich aus meiner Versunkenheit. Ich schaute mich um. Die Halle war leer.
»Teambesprechung für die Frischlinge«, sagte Troy. »Raum einhundertachtundsiebzig.«
»Wo ist das?«
Troy runzelte die Stirn. »Ist das dein Ernst?«
»Ich bin neu hier, schon vergessen?«
»Unteres Stockwerk, durch die Metalltüren. Und beeil dich lieber, Coach Grady kann es nicht leiden, wenn man zu spät kommt.«
»Danke.«
Ich ließ den Ball fallen, lief aus der Halle und rannte den Flur entlang. Auf dem Weg die Treppe hinunter begann es in meinem Hinterkopf zu arbeiten. Ich fragte mich, warum Coach Grady so weit von der Sporthalle entfernt ein Meeting abhielt. Ich wünschte, ich hätte auf meinen Bauch gehört und wäre umgekehrt. Aber es war keine Zeit. Und was hätte ich auch sonst tun sollen – wieder nach oben laufen und meinen Kumpel Troy nach mehr Einzelheiten zu dem Meeting fragen?
Also lief ich weiter. Außer mir war hier unten niemand unterwegs. Das Echo meiner Sneakers auf dem Linoleum klang so laut wie …
… Schüsse.
In meinem Kopf begann es sich zu drehen. Wo genau war ich? Im unteren Stockwerk befanden sich die Klassenräume der Zwölftklässler. Ich war hier noch nie gewesen. Aber wenn mich mein Orientierungssinn nicht täuschte, war ich direkt über der Stelle, wo Löffel nur wenige Tage zuvor angeschossen wurde.
Ich lief schneller.
Raum 166. Raum 168. Ich würde gleich da sein. 170, 172 …
Vor mir tauchte die Metalltür auf, die Troy erwähnt hatte. Ich schob mich hindurch und sie fiel mit einem lauten Knall hinter mir zu.
Ich hatte mich ausgesperrt.
Ich blieb stehen und schloss die Augen. Es gab keinen Raum 178. Wahrscheinlich fing genau in diesem Moment das Training an. Ich würde außen herumgehen müssen, über das Footballfeld, und durch den Vordereingang wieder rein, um zur Sporthalle zurückzukommen.
Ich rannte, so schnell ich konnte, aber ich brauchte trotzdem fast zehn Minuten. Meine Mannschaftskollegen waren schon beim Weave-Drill-Aufwärmtraining, als ich in die Halle gestürmt kam. Coach Grady war darüber nicht erfreut. Er drehte sich um und sagte scharf: »Du kommst zu spät, Bolitar.«
»Das ist nicht meine …«
Ich hielt inne. Was genau wollte ich eigentlich sagen? Troy sah mich wieder mit diesem dämlichen Grinsen an. Er wusste es. Ich hatte zwei Möglichkeiten. Coach Grady erzählen, was wirklich passiert war, was er mir entweder glauben oder nicht glauben würde, mich aber so oder so für immer als Petze brandmarken würde. Oder die Klappe halten.
»Tut mir leid, Coach.«
Aber Coach Grady war noch nicht fertig. »Zu spät zum Training zu kommen ist sowohl deinen Mannschaftskollegen als auch deinen Trainern gegenüber respektlos.«
Ich nickte. »Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Du bist hier immer noch in der Probezeit.«
»Ja, Sir.«
»Und das macht die Sache nicht gerade besser.«
»Verstanden, Sir. Es tut mir wirklich leid.«
Coach Grady sah mich einen Moment an. »Du läufst erst mal drei Runden, dann geht’s ans Werfen. Troy?«
»Ja, Coach?«
»Wo ist Buck?«
Ich würde ja sagen, dass Buck hinterhältiger als eine Schlange war, aber das wäre eine Beleidigung für die Schlange gewesen.
»Ich weiß es nicht, Coach. Er ist nicht an sein Handy gegangen.«
»Seltsam. Er hat noch nie ein Training verpasst. Okay. 5 Second Denial Drill. Los geht’s.«
Das Training lief nicht viel besser. Jedes Mal, wenn mir jemand den Ball zuwarf, zielte er dabei auf meine Füße, sodass ich so gut wie keine Chance hatte, ihn zu fangen. Während des Spiels schlossen sie mich komplett aus, gaben nie den Ball an mich ab, egal wie frei ich stand. Ich bekam natürlich dennoch meinen Anteil an Rebounds und schaffte es, ein paarmal den Ball zu erobern und zwei Körbe zu machen. Aber trotzdem. Wenn man von seinen Mannschaftskollegen aus dem Spiel ausgeschlossen wird, kann man nicht viel dagegen tun.
Und dann eröffnete sich mir eine Minute vor Trainingsende eine großartige Chance.