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Es hätte der schönste Tag in Carolines Leben werden sollen: Hochzeit auf den Shetlands. Mittsommernacht, die Küste in silbernes Licht getaucht. Die Stimmung ist ausgelassen – bis einer der Gäste tot aufgefunden wird. Detective Jimmy Perez und seine Kollegin Willow Reeves verfolgen eine mysteriöse Spur: Die tote Eleonor hatte angeblich «Peerie Lizzie» gesehen, den Geist eines kleinen Mädchens, das hier gut hundert Jahre zuvor ums Leben gekommen war. Alles nur Spuk? Oder ein Geheimnis, so schrecklich, dass jemand es um jeden Preis zu schützen versucht? Band sechs der erfolgreichen und preisgekrönten Shetland-Serie
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Seitenzahl: 567
Ann Cleeves
Das Geistermädchen
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Stefanie Kremer
Ihr Verlagsname
Es hätte der schönste Tag in Carolines Leben werden sollen: Hochzeit auf den Shetlands. Mittsommernacht, die Küste in silbernes Licht getaucht. Die Stimmung ist ausgelassen – bis einer der Gäste tot aufgefunden wird.
Detective Jimmy Perez und seine Kollegin Willow Reeves verfolgen eine mysteriöse Spur: Die tote Eleonor hatte angeblich «Peerie Lizzie» gesehen, den Geist eines kleinen Mädchens, das hier gut hundert Jahre zuvor ums Leben gekommen war. Alles nur Spuk? Oder ein Geheimnis, so schrecklich, dass jemand es um jeden Preis zu schützen versucht?
Band sechs der erfolgreichen und preisgekrönten Shetland-Serie
Ann Cleeves, geboren in Herefordshire, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für «Die Nacht der Raben», den ersten Band ihrer Krimireihe, die auf den Shetlands spielt, erhielt sie die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur: den «Duncan Lawrie Dagger Award».
Weitere Veröffentlichungen:
(mit dem Ermittler Jimmy Perez)
Die Nacht der Raben
Der längste Tag
Im kalten Licht des Frühlings
Sturmwarnung
Tote Wasser
(mit der Ermittlerin Vera Stanhope)
Totenblüte
Opferschuld
Seelentod
Das letzte Wort
Ein dunkler Fleck
Für Joseph Clarke.
Und seine schöne Mutter.
Die Musik setzte ein. Zunächst ein einzelner Akkord auf Geige und Schifferklavier, dann ein Augenblick atemloser Stille, in dem sich die ganze Szene in Pollys Gedächtnis einprägte wie eine Fotografie, und dann bebte der Gemeindesaal von Meoness. Polly hatte dreizehn Stunden auf der Nachtfähre von Aberdeen nach Lerwick verbracht, und als sie wieder an Land gegangen war, hatte sich der Boden unter ihren Füßen angefühlt, als würde er immer noch schwanken. Nun wollten ihre Sinne sie offenbar wieder täuschen: Die Musik schien von Wänden und Boden abzuprallen und die Menschen in die Mitte des Saales zu treiben, sie von den Stühlen hochzureißen. Sogar die selbstgebastelten Wimpel und die Luftballons, die an den Dachbalken hingen, schienen zu tanzen. Der Rhythmus der Musik brachte die Füße zum Wippen und die Köpfe zum Nicken. Festlich gekleidete Kinder klatschten in die Hände, und selbst die Älteren unter den Gästen erhoben sich ächzend von den Sitzen und fielen mit ein. Eine junge Mutter wiegte ihr Baby auf den Knien. Lowrie nahm die Hand seiner frisch angetrauten Braut Caroline und führte sie auf die Tanzfläche, um sie seiner Familie ein weiteres Mal voller Stolz zu präsentieren.
Sie feierten Hamefarin’: Heute wurde die Braut in ihr neues Zuhause geführt. Lowrie stammte von den Shetlands, und nachdem sie schon jahrelang zusammengewohnt hatten, hatte Caroline ihn endlich dazu gebracht – oder gedrängt –, sie zu heiraten. Die eigentliche Hochzeit hatte bereits in der Nähe von Carolines Heimatstadt Kent stattgefunden, und ihre beiden engsten Freundinnen waren ihr danach nach Unst gefolgt, auf die nördlichste Insel der Shetlands, um auch bei diesem Teil der Feierlichkeiten dabei zu sein. Und sie hatten ihre Männer mitgebracht.
«Sieht sie nicht umwerfend aus?» Das war Eleanor, die sich neben Pollys Stuhl hingehockt hatte.
Die beiden Frauen kannten Caroline seit der gemeinsamen Studienzeit. Sie war stets die vernünftigste der drei gewesen, ihre Waffenschwester. In Kent waren Polly und Eleanor Carolines Brautjungfern gewesen, und heute Abend trugen sie noch einmal die cremefarbenen Seidenkleider, die sie sich für diesen Anlass zusammen in London gekauft hatten. Die Reise in den hohen Norden hatten sie nur für das Hamefarin’ auf sich genommen. Während des Hochzeitsmarsches waren sie hinter Caroline durch den Saal gezogen, und jetzt bewunderten sie einmal mehr ihr elegantes Auftreten, ihre Selbstsicherheit und das sündhaft teure Brautkleid.
«Das wollte sie schon, seit sie Lowrie damals in der Einführungswoche an der Uni das erste Mal gesehen hat», fuhr Eleanor fort. «Und schon damals war offensichtlich, dass sie ihren Willen auch bekommen würde. Sie ist eine zielstrebige Dame, unsere Caroline.»
«Lowrie scheint es ja nicht allzu viel auszumachen. Seit der Trauung hat er nicht mehr aufgehört, zu strahlen.»
Eleanor lachte. «Ist das alles nicht wunderbar?»
Polly glaubte, Eleanor seit Monaten nicht mehr so glücklich gesehen zu haben. «Ja, ganz wunderbar», sagte sie. Bei geselligen Anlässen konnte sie sich nur selten entspannen, doch sie merkte, dass sie sich heute Abend tatsächlich ziemlich gut amüsierte. Sie erwiderte das Lächeln ihrer Freundin und verspürte kurz ein zärtliches Gefühl der Verbundenheit. Seit dem Tod ihrer Eltern waren diese Menschen zu ihrer Familie geworden. Und dann dachte sie, dass der Alkohol sie ganz schön rührselig machte.
«Bald wird das Essen serviert.» Eleanor musste schreien, um sich durch die Musik hindurch verständlich zu machen. Ihr Gesicht war gerötet, und ihre Augen glänzten, als hätte sie Fieber. «Die Freunde von Braut und Bräutigam müssen beim Auftragen helfen. Das ist Tradition.»
Die Musik verstummte, und die Gäste applaudierten und lachten. Marcus, Pollys Freund, hatte mit Lowries Mutter getanzt. Er war schwungvoll über die Tanzfläche gewirbelt, auch wenn er die Schritte nicht richtig beherrschte. Nun kam er mit federndem Gang zu ihnen herüber, immer noch im Takt der Musik.
«Es ist Zeit fürs Essen», sagte Eleanor zu ihm. «Du musst beim Aufstellen der Tische helfen. Ian mischt schon kräftig mit. Wir kommen gleich nach, um die Leute zu bedienen.»
Marcus drückte Polly einen Kuss auf den Scheitel und verschwand. Polly war stolz auf sich, dass sie nicht gefragt hatte, ob er sich amüsiere. Sie hatte immer Angst um ihre Beziehung und spürte, dass ihr ständiges Bedürfnis nach Bestätigung langsam anfing, ihn zu nerven.
In einem kleineren Nebenraum hatten die Männer Tische und Bänke aufgestellt, und Lowries Freunde versorgten die wartenden Gäste mit Suppe. Eleanor und Polly nahmen sich jede ein Tablett. Eleanor hatte einen Riesenspaß. Sie zog eine Show ab, flirtete mit den alten Männern und sonnte sich in der Aufmerksamkeit. Dann gab es Fladenbrot und Platten mit Lamm und gepökeltem Rindfleisch. Bannockbrot mit Fleisch, hatte Lowrie das genannt. Polly war Vegetarierin, und als sie die Platten aus der Küche heraustrug, wurde ihr von den Fleischbergen leicht übel. Irgendwie fühlte sie sich bei dieser ganzen Feier fehl am Platz. Das lag bestimmt daran, dass sie letzte Nacht dreizehn Stunden auf einem Schiff verbracht hatte und heute den ganzen Tag an der frischen Luft gewesen war. Dass es hier abends noch so merkwürdig hell war. Dass Eleanor so aufdrehte. Polly nippte an ihrem Tee und stocherte in einem Stück Hochzeitstorte herum. Ich kann immer noch spüren, wie das Schiffsdeck unter meinen Füßen schlingert, dachte sie.
Nach dem Essen halfen sie und Marcus beim Abdecken der Tische, dann fing die Band wieder an, zu spielen, und Polly wurde ungeachtet ihrer Proteste in einen schottischen Volkstanz hineingezogen. Auf einmal war sie mitten im Kreis der Tanzenden, wurde von Mann zu Mann gereicht und drehte sich. Dann tanzte sie mit Lowries Vater. Er wirbelte sie mit gekreuzten Armen herum, und die Bewegung war so kraftvoll, dass ihre Füße den Boden beinahe nicht mehr berührten. Dabei hatte sie ihn für einen alten Mann gehalten und nicht erwartet, dass er so energisch sein könnte. Für einen flüchtigen Moment verspürte sie ein überraschendes sexuelles Verlangen. Als die Musik aufhörte, merkte sie, dass sie zitterte. Das kam von der körperlichen Anstrengung und dieser seltsamen Erregung. Eleanor und Marcus waren nirgends zu sehen, und Polly ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen.
Es musste schon fast elf Uhr sein, doch noch immer war es draußen hell. Lowrie hatte erklärt, dass man dies auf den Shetlands Simmer Dim nannte, die sommerliche Dämmerstunde. So hoch oben im Norden wurde es im Juni nie richtig dunkel, und jetzt schimmerte die Küste silbrig grau. Polly beschäftigte sich hauptberuflich mit Sagen und Volksmärchen, und sie verstand sehr gut, wieso die Menschen auf den Shetlands einst angefangen hatten, sich Geschichten von Trollen zu erzählen, jenen kleinen Wesen mit magischen Kräften. Daran waren die Naturspektakel der verschiedenen Jahreszeiten und das seltsame Licht schuld. Ihr kam die Idee, dass sie darüber doch einen kleinen Aufsatz schreiben könnte. Für so etwas könnten sich skandinavische Wissenschaftler interessieren.
Aus dem Gemeindesaal hinter ihr drangen die letzten Töne eines Stücks, Gelächter und das Geklapper von Geschirr, das in der Küche abgewaschen wurde. Unten am Strand saß ein Pärchen und rauchte. Polly sah nur ihre Silhouetten. Dann, aus dem Nichts, erschien plötzlich ein kleines Mädchen am Ufer. Sie war ganz in Weiß gekleidet, und das dämmrige Licht fing ihre Gestalt ein und ließ sie leuchten. Das weiße Kleid besaß eine hohe Taille und war mit Spitzen besetzt, und im Haar trug das Mädchen weiße Bänder. Sie hielt den Rock mit ausgespreizten Armen leicht in die Höhe und hüpfte über den Sand, tanzte zu einer Musik in ihrem Kopf. Während Polly sie noch beobachtete, drehte sich das Mädchen zu ihr um und machte mit ernster Miene einen Knicks. Polly deutete Applaus an.
Dann blickte sie um sich, ob es noch andere Erwachsene gab, die dem Mädchen zuschauten. Eben bei der Feier war ihr die Kleine nicht aufgefallen, aber sie musste doch schließlich mit ihren Eltern hier sein. Vielleicht gehörte sie ja zu dem Pärchen, das da unten saß. Doch als Polly jetzt wieder zum Ufer hinuntersah, war das Mädchen verschwunden, und nur der aufgehende Mond spiegelte sich schimmernd im Wasser.
Als die Feier zu Ende war, konnten sie nicht schlafen. Caroline und Lowrie waren im Haus von Lowries Eltern verschwunden. Polly und Eleanor hatten mit ihren Männern ein Feriencottage namens Sletts gebucht, das in fußläufiger Entfernung zum Gemeindesaal von Meoness lag, und jetzt saßen die vier auf weißen Holzstühlen auf der Veranda und sahen zu, wie die Ebbe einsetzte. Bis auf das Geplätscher der Wellen und ihre eigenen leisen Stimmen war alles vollkommen still. Dann und wann war zu hören, wie Wein in große Gläser gegossen wurde. Polly spürte ihre Benommenheit zurückkehren und dachte erneut, dass sie viel zu viel getrunken habe. Als sie sich ihren Freunden wieder zuwandte, merkte sie, dass diese in ein Gespräch vertieft waren.
«Habt ihr das Baby von Lowries Cousine gesehen?» Der Neid in Eleanors Stimme war fast schon mit Händen greifbar. «Die kleine Vaila. Gerade mal vier Wochen alt.»
Eleanor war sechsunddreißig und wünschte sich sehnlichst ein Baby. Sie hatte eine späte Fehlgeburt erlitten, und das Kind war ein Mädchen gewesen. Keiner wusste darauf etwas zu sagen. Es folgte ein langes Schweigen.
«Als ihr heute Nachmittag spazieren wart, habe ich etwas wirklich Merkwürdiges gesehen», fuhr Eleanor fort, die offenbar beschlossen hatte, das Thema zu wechseln. Vielleicht hatte sie ja gemerkt, dass ihnen das Gerede über Babys unangenehm war. «Unten am Strand hat ein kleines Mädchen getanzt. Sie war ganz in Weiß gekleidet. Hatte so eine Art altmodisches Sonntagskleid an. Sie kam mir ein bisschen zu jung vor, um so ganz allein dort zu sein, aber als ich dann aus dem Cottage trat, um sie anzusprechen, war sie verschwunden. Hatte sich einfach in Luft aufgelöst.»
«Was erzählst du denn da?» Die Stimme ihres Ehemanns Ian klang neckend, aber nicht unwirsch. «Glaubst du etwa, du hast ein Gespenst gesehen?»
Polly sagte nichts. Sie dachte an das Mädchen, das sie am Strand tanzen gesehen hatte.
«Ich bin mir nicht sicher», sagte Eleanor. «An einem Ort wie diesem könnte ich ohne weiteres an Gespenster glauben. Diese ganze Vergangenheit, die so dicht unter der Oberfläche liegt. Ein paar von den Nachforschungen, die ich für Bright Star betrieben habe, haben echt fesselnde Dinge zutage gefördert. Wirklich, ich denke, dass viele von den Menschen, mit denen ich gesprochen habe, davon überzeugt sind, schon mal mit etwas Übersinnlichem in Berührung gekommen zu sein.»
«Ich wette, das sind alles Spinner.»
«Nein! Es sind ganz gewöhnliche Menschen, die eben außergewöhnliche Erfahrungen gemacht haben.»
«Du hast jetzt Urlaub», sagte Ian. «Du brauchst nicht an die Arbeit zu denken oder an die Firma oder den neuen Auftrag. Davon wirst du nur wieder krank. Entspann dich und lass das Ganze auf sich beruhen.» Die anderen lachten unsicher, in der Hoffnung, dass die peinliche Stimmung damit verflogen war und sie den Abend wieder genießen konnten.
Polly kam der Verdacht, dass Ian nur deshalb mit auf die Shetlands gekommen war, weil sie und Marcus auch dabei sein würden. Zurzeit ertrug er es kaum, mit seiner Frau allein zu sein, auch wenn ihre Depressionen in den letzten paar Monaten offenbar etwas nachgelassen hatten. Nach der Fehlgeburt hatte er gedacht, dass sie vollkommen abstürzen, dass er sie verlieren würde. Polly wusste nicht einmal, ob er selbst überhaupt ein Baby gewollt hatte. Vielleicht wollte er ja nur die alte Eleanor wiederhaben, so wie sie gewesen war, als sie sich kennenlernten. Elegant und unkompliziert, heiter und zu Späßen aufgelegt. Voller Lebenslust.
Eleanor schoss das Blut in den Kopf. Sie hatte schon früh am Abend angefangen, zu trinken. Sie arbeitete fürs Fernsehen und konnte normalerweise einiges vertragen, aber heute Nacht wirkte selbst sie leicht betrunken. «Vielleicht denkst du ja, dass ich wieder durchdrehe, dass man mich zurück in die Klapsmühle stecken sollte.» Sie starrte hinaus aufs Meer. «Oder vielleicht denkst du auch, dass ich mir so was ausdenke. Um Aufmerksamkeit zu bekommen.»
Wieder schwiegen alle. Einen Augenblick lang war Polly versucht, den Mund aufzumachen, zu erzählen, dass auch sie ein ganz in Weiß gekleidetes kleines Mädchen am Strand hatte tanzen sehen, doch selbst jetzt noch blieb sie stumm. Eine Art Verrat.
«Erst wenn du behauptest, Erscheinungen aus dem Jenseits gesehen zu haben.» Ians Stimme klang herablassend. Er war Tontechniker. Hatte etwas von einem Nerd. Ganz offensichtlich hielt er das Gespräch für einen Witz und fühlte sich unbehaglich dabei, auf unbekanntem Terrain.
Mittlerweile war es so dunkel, wie es zu dieser Jahreszeit nur werden konnte, und über dem Meer zog Nebel auf, der das letzte Licht schluckte. Polly fröstelte. Sie trug zwar eine gefütterte Jacke, aber es war kalt geworden. «Wir sollten reingehen», sagte sie. «Ich bin reif fürs Bett.»
«Du glaubst mir doch, Polly, nicht wahr?» Als Studentin war Eleanor eine Schönheit gewesen, auf eine erwachsene, sinnliche Weise, neben der Polly ausgesehen hatte wie ein graugesichtiges, unterernährtes Kind. Ian beugte sich vor und zündete eine dicke weiße Kerze auf dem Tisch an. Die Flamme flackerte, und Polly sah Schatten unter den Augen ihrer Freundin. Stress, und eine gewisse Verzweiflung. Über ihr Brautjungfernkleid hatte sie sich ein theatralisch wirkendes schwarzes Cape geworfen. «Als ich heute von meinem Nachmittagsschlaf aufgewacht bin, war da ein kleines Mädchen gleich hier beim Cottage. Während ihr alle über die Klippen marschiert seid. Und dann ist sie verschwunden. Als wäre sie geradewegs ins Meer spaziert.»
«Natürlich glaube ich dir.» Polly wollte zeigen, dass sie auf Eleanors Seite stand, sie wollte, dass ihre Freundin aufhörte, von Kindern zu reden und sich lächerlich zu machen. Sie schwieg kurz. «Ich glaube, ich selbst habe sie heute Abend auch gesehen, als ich gleich nach dem Essen aus dem Saal gegangen bin, um etwas frische Luft zu schnappen. Sie hat da unten am Strand getanzt. Aber ich glaube nicht, dass es ein Gespenst war. Nur ein Kind von hier, das sich für die Feier feingemacht hat, und heute Nachmittag ist sie vermutlich einfach nur die Straße hoch nach Hause gelaufen.» Polly erwähnte jedoch nicht, dass das Mädchen, das sie während des Hamefarin’ gesehen hatte, auch verschwunden war, als sie kurz weggeschaut hatte. Das hätte Eleanor nur in ihren Phantasien bestärkt, und auch Polly wollte ihre alte Freundin wiederhaben. Die Verbundenheit, die zwischen ihnen bestanden hatte. Das ausgelassene Lachen und die Albernheiten.
Sie stand auf und brachte die Gläser rein. Ian und Marcus kamen ihr nach. Sie fragte sich, was Marcus wohl von alldem hielt. Er war Pollys neuer Freund – ziemlich neu, jedenfalls –, und noch immer versetzte es sie in Erstaunen, dass sie ein Paar waren. Wenn sie an ihn dachte, hatte sie regelrecht Schmetterlinge im Bauch, wie ein Teenager. Als sie ihn zaghaft gefragt hatte, ob er vielleicht Lust habe, mit aufs Hamefarin’ zu kommen, hatte er sofort zugesagt. «Die Shetlands zur Sommersonnenwende? Aber klar.» Mit diesem breiten lausbubenhaften Grinsen im Gesicht, das sie als Allererstes an ihm angezogen hatte. «Und wenn wir schon in den Norden fahren, wo wäre es besser als auf Unst. Nördlicher geht es nicht, und trotzdem sind wir noch im Vereinigten Königreich.» Für ihn schien das Leben nur aus neuen Erfahrungen zu bestehen.
Durchs Küchenfenster sah Polly, dass Eleanor immer noch auf der Veranda saß. Der Nebel war nun bis zum Cottage hochgekrochen, und die Gestalt da draußen war nur noch verschwommen zu erkennen. Es sah aus, als wäre Eleanor aus Eis und würde langsam anfangen, zu schmelzen. Polly ging zur Tür und rief sie.
«Komm doch rein, Liebes. Du wirst dir noch den Tod holen.»
Eleanor winkte ihr zu. «Lass mich noch ein paar Minuten. Ich komme gleich rein.» Sie blies die Kerze aus.
Als sie sich umdrehte, um auf ihr Zimmer zu gehen, war es Polly, als hätte sie eine weißgekleidete Gestalt die Gezeitenlinie entlangtanzen sehen.
In Ravenswick brachte Jimmy Perez Cassie den Hügel hinunter zu einer ihrer Freundinnen. An manchen Tagen ließ er sie nun schon allein zu ihren Freunden oder auch in die Schule gehen, doch dann sah er ihr immer nach, bis sie im Schulhaus verschwunden war, mit seinen Blicken verfolgte er die kleine Gestalt mit der roten Mütze, die seine Mutter in einem Muster von Fair Isle gestrickt hatte und die Cassie bei jedem Wetter trug. Dass er sich stets so sehr um Cassie sorgte, lag ebenso daran, dass er sich schuldig fühlte, wie daran, dass sie nicht seine leibliche Tochter war. Er hatte die Verantwortung für sie übertragen bekommen, und diese Aufgabe war ihm Ehre und Last zugleich.
Heute hatte er erst später Dienst, weshalb er langsam zu der umgebauten Kapelle zurückging, die einst Fran gehört hatte, wobei er wieder dachte, dass er endlich eine Lösung für sein Haus in Lerwick finden müsse. Er war sich nicht sicher, ob er es über sich bringen könnte, es zu verkaufen, und außerdem glaubte er, dass es eine gewisse Sicherheit für Cassie darstellen würde, falls ihm etwas zustieße. Ihr leiblicher Vater hatte zwar anscheinend Geld, aber Perez hielt ihn für einen Nichtsnutz. Vielleicht konnte das Haus in Lerwick ja Cassies Studium finanzieren oder als Anzahlung für ihr erstes eigenes Heim dienen. Immobilien in der Stadt brachten mehr ein als solche auf dem Land. Dennoch erschien es ihm sträflich, das Haus leer stehen zu lassen, wo Wohnraum doch so knapp war, und außerdem wurde es schnell feucht, wenn niemand darin wohnte. Er beschloss, in der nächsten Woche einmal beim Maklerbüro vorbeizuschauen, das in der Nähe des Reviers lag, um die Leute dort damit zu beauftragen, das Haus zu vermieten. Als Fran letztes Jahr ums Leben gekommen war, hatte er sich außerstande gesehen, solche kleinen Aufgaben zu bewältigen, und er verspürte einen leisen Stolz, dass er jetzt ernsthaft ins Auge fasste, die Sache anzugehen.
Als er die Haustür aufmachte, klingelte sein Handy. Sein Kollege Sandy Wilson war dran. Perez hatte erst seit kurzem begonnen, in Sandy einen Kollegen zu sehen. Davor war Wilson für ihn einfach ein junger Kerl gewesen, den man anleiten und beschützen musste.
«Auf Unst wird eine Frau vermisst.» Aber auch jetzt noch war Sandy offenbar nicht in der Lage, Einzelheiten zu liefern, wenn man ihn nicht explizit dazu aufforderte.
«Was für eine Frau?» Noch vor ein paar Monaten hätte Perez das aufgeregt, und er hätte Sandy seine Gereiztheit deutlich spüren lassen. Er konnte immer noch launisch sein. Spät nachts, wenn er nicht schlafen konnte, weil Kummer und Schuld ihn beinahe auffraßen, hasste er die ganze Welt, doch wenn er dann das Frühstück für Cassie machte, musste er wieder klar und vernünftig denken. Und wie alles andere fiel einem auch das klare Denken umso leichter, je häufiger man es trainierte.
«Eine Touristin. Heißt Eleanor Longstaff. Sechsunddreißig Jahre alt und aus Battersea.» Kurze Pause. «Das ist in London. Sie hatte zusammen mit ihrem Mann und noch einem anderen Paar ein Feriencottage in Meoness gemietet. Die vier waren auf dem Hamefarin’ von Lowrie Malcolmson und sind dann gegen Mitternacht zurück zum Cottage, wo sie weitergetrunken haben. Als die anderen schlafen gegangen sind, saß Eleanor noch draußen, und als sie dann heute Morgen aufwachten, war sie verschwunden. Hat sich einfach in Luft aufgelöst.»
Perez überlegte. «Und ihr Mann hat nicht bemerkt, dass sie nicht ins Bett gekommen ist?»
«Das habe ich ihn natürlich schon gefragt.» Sandy konnte empfindlich sein; immer glaubte er, dass man ihn kritisierte. «Anscheinend hat er einen tiefen Schlaf. Und, wie ich schon sagte, sie hatten alle nicht wenig gebechert.»
«Könnte sie nicht auch in einem anderen Zimmer geschlafen haben? Auf dem Sofa? Und heute Morgen einfach spazieren gegangen sein?» In dem Fall gäbe es keinen Grund zur Panik. Selbst wenn sie Eleanor auf Unst nicht finden würden, hatten mittlerweile doch die Fähren den Tagesbetrieb aufgenommen. Vielleicht hatte sie bloß für sich allein sein wollen, oder die Einsamkeit auf Unst hatte ihr nicht behagt und sie war wieder zurück in die Stadt geflüchtet. Vielleicht hatte sie sich mit ihrem Mann gestritten. Wenn sie aber mitten in der Nacht verschwunden war, hätte sie keine Möglichkeit gehabt, von der nördlichsten Insel des Vereinigten Königreichs wegzukommen. Und eine Frau, die Alkohol getrunken hatte, konnte ohne weiteres frühmorgens von den Wanderwegen abkommen und sich auf den Klippen verirren. Das seltsame Licht in den sommerlichen Dämmerstunden auf den Shetlands konnte zu Sinnestäuschungen führen.
«Das weiß ich nicht», sagte Sandy. «Ich habe mit Ian gesprochen, ihrem Mann. Er meinte, dass sie in letzter Zeit anders war als sonst. Sie hatte Depressionen. Irgendwas mit einer Fehlgeburt.»
«Er denkt, dass sie Selbstmord begangen haben könnte?»
«Das hat er nicht direkt gesagt, aber ich glaube, dass er so was vermutet. Er klang ziemlich durcheinander. Er wollte, dass wir sofort nach Unst kommen.» Sandy schwieg kurz. «Ich sagte ihm, dass wir so bald wie möglich kommen würden. Das ist eigentlich Mary Lomax’ Revier da oben, aber die ist gerade unterwegs, weshalb ich die Küstenwache gebeten habe, eine Suchaktion zu starten. War das okay?»
«Absolut.» Perez fand, dass es ein schöner Tag für einen Ausflug zu den nördlichen Inseln war, das Wetter war klar und ruhig. «Buche uns einen Platz auf der Fähre, und ich hole dich in Lerwick ab.»
Als sie in Toft ankamen, lag die Fähre schon bereit, und ihr Wagen, der zweite in der Spur für Reservierungen, wurde beinahe sofort an Bord gewinkt. Auf dem Passagierdeck tranken sie einen grauenvollen Kaffee aus dem Automaten, und Perez beobachtete die Eissturmvögel, die in geringer Höhe übers Wasser flogen. Es fühlte sich an, als würden sie einen Tag blaumachen. Die Arbeit schwänzen. Er blickte auf sein Handy und bat Sandy, auch auf seinem einmal nachzuschauen, ob er Netz hatte. Der Empfang hier draußen auf dem Meer kam und ging, sodass sie es vielleicht gar nicht erfahren würden, falls die Frau wieder aufgetaucht war. Er hoffte, dass man sie schon wieder gefunden hätte, wenn sie in Meoness ankamen. Er versuchte, sich vorzustellen, was sie wohl für eine Frau sein mochte, und fragte sich, ob sie ihn und Sandy auf einen Kaffee oder zum Mittagessen einladen würde, um sich für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Sicher wäre sie peinlich berührt, solch einen Aufruhr verursacht zu haben. Und ein bisschen böse auf ihren Mann, weil er überreagiert hatte. Dann würden er und Sandy kehrtmachen und zurück nach Lerwick fahren und hätten nur einen halben Tag vergeudet. Doch auch als sie auf Yell anlegten und ihre Handys wieder Empfang hatten, gab es noch keine Neuigkeiten. Perez überquerte die Insel mit hoher Geschwindigkeit Richtung Norden, er hatte das seltsame Gefühl, dass Eile geboten war. Aber als sie in Gutcher ankamen, hatte die Fähre gerade abgelegt, und sie mussten auf die nächste warten. Er konnte spüren, wie die Anspannung ihm in die Stirn und über die Schultern kroch. Fran war sechsunddreißig gewesen, als sie ums Leben gekommen war.
Als sie schließlich in Belmont auf Unst anlegten, wartete dort bereits eine Gruppe Kinder darauf, an Bord der Fähre Richtung Süden gehen zu können. Perez vermutete, dass sie unterwegs nach Lerwick waren, auf einem Ausflug so kurz vor Ende des Schuljahrs. Ein paar von ihnen hatten sich richtig feingemacht. Als sie die Fähre stürmten, die sie auf die Hauptinsel der Shetlands bringen sollte, lachten und schrien sie ausgelassen. Perez wollte schon Sandy fragen, ob er wisse, was da los sei – Sandy verschlang die Shetland Times mit der gleichen Neugier wie eine Klatschtante eine Illustrierte –, doch der Sergeant hatte inzwischen eine Karte auf seinen Knien ausgebreitet und konzentrierte sich darauf, sie dorthin zu lotsen, wo sie erwartet wurden, weshalb Perez es für besser hielt, ihn nicht zu stören.
Das Feriencottage war ein niedriges, langgezogenes Gebäude mit weißgetünchten Mauern. Es stand direkt am Strand, und hinter dem Haus erstreckte sich ein weiter Bogen aus Sand und Kieselsteinen. Früher einmal war es möglicherweise ein kleiner Bauernhof mit angrenzendem Kuhstall gewesen, doch die Renovierungen waren sorgfältig durchgeführt worden, ganz auf die Bedürfnisse von Feriengästen ausgerichtet. Zwischen dem Haus und dem Strand lag eine Veranda aus Holz, auf der ein Pärchen saß und wartete. Als Perez aus dem Auto stieg, musterte er die beiden. Die Frau war dünn und blass. Ihr Gesicht war auf interessante Weise kantig, Fran hätte es sicher zeichnen wollen. Das lange Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden. Sie trug Jeans und einen Wollpulli und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. «Gibt es schon etwas Neues? Ian ist mit dem Auto losgefahren, um Eleanor zu suchen, aber das ist Ewigkeiten her, und seitdem haben wir nichts mehr gehört.» Sie hatte schrägstehende graue Augen, wie eine Katze, und sprach mit einem ganz leichten Akzent, der darauf schließen ließ, dass sie an der Grenze zu Schottland aufgewachsen war.
Perez stellte sich vor.
«Polly Gilmour. Und das ist mein Freund, Marcus Wentworth.»
«Und Sie sind also mit Mr. und Mrs. Longstaff hier?»
«Ja, wir sind zu der Hochzeitsfeier von Lowrie und Caroline gekommen. Wir vier dachten, wir könnten einen kleinen Urlaub daraus machen, uns eine Auszeit nehmen.» Sie sah ihm unverwandt in die Augen.
«Brauchte Mrs. Longstaff denn eine Auszeit?» Perez trat nun auf die Veranda und setzte sich in einen Holzstuhl auf der anderen Seite des Tischs, gegenüber von Marcus. Sandy lehnte sich an die Hauswand und versuchte, möglichst unauffällig zu wirken.
Das Pärchen schwieg. Vielleicht hatten sie eine solche Frage nicht erwartet.
«Ich meine», sagte Perez, «gab es einen Grund, weshalb sie womöglich für sich allein sein wollte? Hatte sie vielleicht eine schwere Zeit durchgemacht?»
Polly zögerte. «Sie hatte eine Fehlgeburt in einem sehr späten Stadium der Schwangerschaft», sagte sie dann. «Danach war sie recht niedergeschlagen und hat eine Weile in einer Klinik verbracht. Ian dachte, es würde ihr vielleicht helfen, mal aus London rauszukommen.»
Eine Zeitlang sagte Perez darauf nichts. Bevor er Fran kennengelernt hatte, war er verheiratet gewesen, und seine Frau hatte drei Fehlgeburten erlitten. Jede einzelne hatte ihn zutiefst erschüttert, doch er war entschlossen gewesen, sich zusammenzureißen. Daraufhin hatte Sarah ihm vorgeworfen, gefühllos zu sein, und ihn verlassen.
«Ist Eleanor wegen der Depression noch in ärztlicher Behandlung?»
Polly schüttelte den Kopf. «Sie hat die Klinik aus eigenem Entschluss verlassen und lehnt seither jede Behandlung ab. Sie meint, es wäre ganz normal, dass man nach dem Verlust eines Kindes trauere; es wäre krank, nicht so zu empfinden. Und in letzter Zeit ging es ihr wieder viel besser. Sie war fast wieder wie früher.»
Erneut entstand eine Pause. Perez konnte spüren, dass Sandy ungeduldig wurde. Und offenbar machte das Schweigen auch Marcus nervös, denn jetzt stand er auf. «Mögen Sie einen Kaffee? Es ist ein ganz schöner Weg von Lerwick hierher. Ich glaube, vor unserer Ankunft sind mir die Entfernungen auf den Shetlands gar nicht richtig bewusst gewesen – wie weit es hier von einem Ort zum anderen ist.» Er klang ungezwungen und selbstsicher, ein Mann, der eine gute Schule besucht hatte und davon ausging, stets das zu bekommen, was er wollte.
«Ein Kaffee wäre phantastisch.» Perez wartete, bis Marcus im Cottage verschwunden war, dann wandte er sich wieder an Polly. «Erzählen Sie mir von Eleanor.»
Jetzt musste die Frau doch mal blinzeln. «Wir sind Freundinnen. Wir stehen uns sehr nahe. Eigentlich sind wir zu dritt: Eleanor, Caroline und ich. Am ersten Tag an der Uni haben wir uns kennengelernt, und Eleanor hat mich unter ihre Fittiche genommen. Schon damals konnte man sehen, dass sie es im Leben schaffen würde. Natürlich hat sie schon immer fabelhaft ausgesehen, und das ist ja auch hilfreich, nicht wahr? Vor allem, wenn man in der Medienbranche arbeiten möchte.»
«Was arbeitet sie denn?»
«Sie hat Theaterwissenschaften studiert und gleich nach ihrem Abschluss einen Job beim Fernsehen bekommen, erst als Mädchen für alles und später als Dramaturgin. Vor kurzem hat sie dann ihre eigene Produktionsfirma gegründet. Sie machen hauptsächlich Dokumentationen für Channel 4 und die BBC.»
«Klingt stressig.» Perez lachte kurz auf. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, in London ein Unternehmen zu leiten oder auch nur dort zu leben. Durch die offenstehende Tür zur Küche konnte er Kaffee riechen. Der Duft nach gutem Kaffee erinnerte ihn immer noch an Fran.
«Nell blüht bei Stress richtig auf. Dann fühlt sie sich erst lebendig. Und soweit ich weiß, läuft ihre Firma ziemlich gut. Aber als sie dann das Baby verlor, war das etwas ganz anderes. Das lag außerhalb ihrer Kontrolle. Und ich glaube, das war das allererste Mal, dass sie etwas nicht geschafft hat.»
«Glauben Sie, sie könnte sich umgebracht haben?»
Die Frage schien sie zu verblüffen, doch sie antwortete augenblicklich. «Niemals. Nell ist eine Kämpferin. Sie würde nie aufgeben. Außerdem steckt sie mitten in einem Projekt und würde nie etwas nur halbfertig zurücklassen.»
«Was ist das für ein Projekt?» Perez merkte, dass er sich nun auf unbekanntes Terrain begab. Er hatte keine Ahnung von der Medienwelt und sah nur zusammen mit Cassie fern. Die Kindersendungen auf BBC oder den Disney Channel.
«Eine Dokumentation über Geister. Moderne Spukgeschichten. Deshalb war sie ja auch so begeistert, als ich ihr die Legende von Peerie Lizzie erzählte.»
«Woher kennen Sie die denn?» Perez war nicht klar gewesen, dass die Geschichte von Peerie Lizzies Geist auch außerhalb der Shetlands bekannt sein könnte.
«Ich bin Bibliothekarin», sagte Polly. «Ich habe mich auf Volksmärchen und britische Mythen und Legenden spezialisiert.» Sie schwieg kurz. «Nell arbeitet pausenlos. Ich glaube, sie ist regelrecht arbeitswütig. Sie dachte, wenn sie schon mal hier ist, könnte sie doch gleich ein paar Leute interviewen, die das Mädchen gesehen haben. Sie hat sogar ein digitales Aufnahmegerät mit auf die Insel geschleppt.»
Peerie Lizzie war ein kleines Mädchen, von der man sich erzählte, dass sie spät nachts die Gegend um Meoness auf Unst heimsuche. Es hieß, sie sei der Geist eines Kindes, der Tochter des Herrenhauses, die in den 1930ern ganz in der Nähe ertrunken war. Dieses Mädchen hatte besonders behütet gelebt, weil die Eltern schon Mitte vierzig waren, als sie sie bekamen, und in einigen Geschichten hieß es, Peerie Lizzies Auftauchen sage eine Schwangerschaft voraus. Vielleicht war Eleanors Interesse an dieser Geistergeschichte ja deshalb so groß gewesen. Perez jedenfalls war skeptisch. Die meisten Menschen, die berichteten, dass das Mädchen ihnen erschienen war, waren junge Burschen, die einen über den Durst getrunken hatten, oder Wichtigtuer, die wollten, dass ihr Name in der Zeitung stand. Und soweit Perez wusste, war in der Folge noch nie jemand schwanger geworden.
Er hatte das Gefühl, dass Polly noch etwas anfügen wollte, doch dann wandte sie sich ab und sah auf den Strand hinaus, weshalb er den Faden wieder aufnahm.
«Glauben Sie, sie könnte in der Hoffnung, Peerie Lizzies Geist zu sehen, gestern Nacht noch einmal runter zum Strand gegangen sein?»
Da erschien Marcus mit einem Tablett, auf dem eine Kanne Kaffee und vier Becher standen. Polly wartete mit ihrer Antwort, bis er alles auf den Tisch gestellt hatte.
«Das ist zumindest wahrscheinlicher als die Annahme, sie könnte Selbstmord begangen haben.» Kurzes Schweigen. «Wie ich schon sagte, sie dachte fast nur noch an diese Dokumentation, also ja, genau so was könnte sie tatsächlich getan haben.» Die junge Frau sah zu ihrem Freund hoch. «Meinst du nicht auch?»
«Ich kenne sie ja kaum. Nicht so gut wie du. Wir haben ein paarmal zusammen zu Abend gegessen, und dann waren wir natürlich alle die ganze Nacht auf der Fähre von Aberdeen zusammen … aber für selbstmordgefährdet halte ich sie ganz sicher nicht.»
«Haben Sie ein Foto von ihr?» Perez konnte sich die vermisste Frau immer noch nicht so richtig vorstellen und glaubte, wenn er ein Bild von ihr hätte, könnte sie fassbarer für ihn werden. «Das würde uns helfen, falls wir die Suche nach ihr ausweiten müssen.» Er würde das Foto den Burschen zeigen, die auf der Fähre nach Yell arbeiteten. Wenn Eleanor heute ganz in der Früh an Bord gegangen war, und noch dazu zu Fuß, war sie ihnen sicherlich aufgefallen.
«Kein ausgedrucktes», sagte Polly, «aber auf meinem Laptop sind welche. Auf der Fähre habe ich ein paar Bilder aufgenommen, sie sind also ganz aktuell. Hier im Haus gibt es WLAN. Kommen Sie doch rein.»
Das Cottage war schlicht und geschmackvoll eingerichtet. Einzig die Schaffelle vor dem Holzofen und die Drucke von Papageientauchern und Basstölpeln an den Wänden erinnerten die Besucher daran, dass sie auf den Shetlands waren. Und der atemberaubende Ausblick aus dem Fenster. Pollys Laptop stand aufgeklappt auf dem Couchtisch. Mit wenigen Klicks hatte sie die Fotos geöffnet.
Eleanor Longstaff hatte dunkle Augen. Auf den Bildern wehte ihr der Wind das lange Haar aus dem Gesicht. Sie sah aus, als könnte sie die gleichen Vorfahren haben wie Jimmy Perez, dessen Ahnen mit der spanischen Armada vor Fair Isle Schiffbruch erlitten hatten. Die Bilder waren auf dem Deck der NorthLink-Fähre aufgenommen worden. Eleanor trug einen wasserdichten Anorak und lehnte mit dem Rücken an der Reling. Sie lachte. Wenigstens auf diesen Bildern gab es keinen Hinweis auf Stress oder Depressionen.
«Ich kann Ihnen die Bilder per E-Mail schicken, wenn das etwas nützt», sagte Polly.
Perez nickte und reichte ihr seine Visitenkarte mit den Kontaktdaten. Er würde sich ein Foto in dem kleinen Polizeirevier auf Unst ausdrucken lassen. Weil Mary Lomax, die Leiterin der Dienststelle, gerade nicht da war, hatte Sandy sich den Schlüssel für das Revier besorgt.
Pollys schmale Finger huschten über die Tastatur, als sie plötzlich innehielt und sich zu Perez umwandte. Sie wirkte blasser denn je. Entsetzt. «Ich habe eine E-Mail von Eleanor bekommen. Heute Morgen. Losgeschickt um zwei Uhr in der Früh, kurz, nachdem wir schlafen gegangen sind. Sie muss sie von ihrem iPhone gesendet haben.»
«Mach sie auf!» Marcus blickte ihr über die Schulter.
Um die Erlaubnis bittend sah sie zu Perez hoch. Dieser nickte und stellte sich so hin, dass er einen besseren Blick auf den Bildschirm hatte. Polly klickte die Nachricht an.
Keine Anrede und keine Abschiedsformel, nicht mal die üblichen lieben Grüße. Nur eine Zeile. Spart euch die Mühe, nach mir zu suchen. Ihr werdet mich nicht lebend finden.
Von draußen war das Geräusch eines Wagens zu hören, der langsam den Weg herabkam. Ians Geländewagen. Polly klappte den Laptop zu. Ihr war egal, was der Ermittler denken mochte; doch die Vorstellung, Ian käme jetzt herein und sähe sie, wie sie alle auf die Nachricht von seiner Frau starrten, konnte sie nicht ertragen. Eine Nachricht, die durchaus als Ankündigung eines Suizids gelesen werden konnte. Sie selbst konnte es noch immer nicht ganz glauben; sie dachte, wenn ich meinen Posteingang noch einmal aufmache, ist die E-Mail bestimmt verschwunden, sicher war sie nur ein Produkt unserer gemeinsamen Phantastereien.
Ian war vernarrt in alles Technische, ein Fachidiot, der nicht zu Gefühlsausbrüchen welcher Art auch immer neigte; und selbst jetzt, als er in der Tür stand und die Stirn runzelte, war schwer zu erkennen, was er von der ganzen Situation hielt. Polly war immer der Meinung gewesen, dass er und Eleanor eigentlich nicht zusammenpassten. Wie hatte Eleanor, die so viel Zuneigung brauchte, die berührt und umarmt und geküsst werden wollte, sich nur in einen derart gefühllosen, unzugänglichen Mann verlieben können? Polly hatte auch schon überlegt, ob sie vielleicht einfach selbstsüchtig war: Vielleicht war ihr ja der Gedanke zuwider, ihre engsten Freundinnen aus der Studienzeit zu verlieren, von ihnen getrennt zu werden. Aber Caroline hatte Lowrie geheiratet, einen einfühlsamen, unkomplizierten Kerl, und darüber war Polly überglücklich.
Dagegen hatte Eleanors Verbindung mit Ian Polly von Anfang an Sorgen bereitet. Am Abend vor Eleanors Hochzeit hatten sich die drei Freundinnen in Pollys Wohnung betrunken. Die Braut mit ihren Brautjungfern und viel zu viel Sekt. Ein unverzichtbares Ritual.
«Du weißt, dass es noch nicht zu spät ist, oder?», hatte Polly gesagt, nachdem Caroline in einem Sessel in der Ecke eingeschlafen war und mit offenem Mund schnarchte. «Du musst das nicht durchziehen. Mach einen Rückzieher, und den ganzen organisatorischen Kram erledige ich dann schon für dich.»
«Aber ich will überhaupt keinen Rückzieher machen!» Eleanor war schockiert gewesen, sie hatte Polly angesehen, als würde sie sie kaum wiedererkennen. «Ian ist genau der Mann, den ich will und den ich brauche. Ich kann mir gar nicht vorstellen, den Rest meines Lebens nicht mit ihm zu verbringen. Was stimmt denn bloß nicht mit dir? Kannst du dich nicht einfach für mich freuen? Bist du etwa eifersüchtig, dass ich endlich den Richtigen gefunden habe?»
Das war vor drei Jahren gewesen, und Polly hatte das Gefühl, dass es ihre Freundschaft immer noch belastete. Caroline war nichts aufgefallen, aber Polly spürte eine gewisse Spannung, sie musste ihre Worte von nun an sorgfältig wählen. Sie konnte ihre Gefühle nicht mehr so offen vor Eleanor zeigen wie damals, als sie alle noch Singles gewesen waren. Eigentlich hatte sie gehofft, die Reise nach Unst würde die Dinge zwischen ihnen wieder geradebiegen.
Natürlich hatte die Hochzeit stattgefunden, und Polly war Eleanors Trauzeugin gewesen, hatte an einem windigen Tag im März vor dem Standesamt in die Kameras gelächelt. Eleanor hatte den Namen ihres Mannes angenommen, obwohl nur noch wenige in ihrem Freundeskreis das taten. Am Nachmittag waren sie mit dem London Eye gefahren und hatten mit Champagner auf Mr. und Mrs. Longstaff angestoßen. Dann hatte Eleanor die Gäste gebeten, ohne das Brautpaar weiterzufeiern. «Mein Mann und ich möchten allein sein.» Mit einem strahlenden Lächeln.
Carolines Hochzeit hatte all die Erinnerungen aus jener Zeit wieder aufleben lassen, und als Ian nun so steif und ungerührt in der Tür stand, musste Polly wieder an Eleanors Hochzeit denken. Blitzschnell schoss ihr ein alberner Gedanke durch den Kopf: Zwei Hochzeiten und ein Todesfall. Als sie merkte, dass ein Grinsen sich auf ihrem Gesicht ausbreiten wollte, war sie, auch wenn sie wusste, dass es vom Stress kam, über sich selbst entsetzt.
Der Ermittler mit dem spanischen Namen sprach zuerst. Er stand auf und stellte sich vor. «Sie haben hier auf der Insel keine Spur von Ihrer Frau gefunden?»
Ian schüttelte den Kopf. Er war schon immer wortkarg gewesen. Jetzt wirkte er wie versteinert. «Ich bin bis zum Haus von Lowries Eltern hochgefahren, aber da war niemand. Dann habe ich versucht, dort anzurufen, aber es ist gleich der AB angesprungen.»
«Die freiwillige Küstenwache ist schon unterwegs», sagte Perez.
Ian nickte, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
«Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen», schlug Perez vor. «Mir fällt das Nachdenken immer leichter, wenn ich dabei ein paar Schritte mache.»
Was für ein einfühlsamer Mensch, dachte Polly. Offenbar will er Ian unter vier Augen von der E-Mail erzählen.
Ian wandte sich um, und die beiden Männer gingen hinaus. Polly und Marcus blieben mit Perez’ jüngerem Kollegen im Wohnzimmer. Marcus stand auf, um frischen Kaffee zu machen. Er holte das Tablett von der Veranda und trug es in die Küche. Polly hätte sich am liebsten bei ihm entschuldigt. Ich hätte dich niemals hierherschleppen dürfen, dachte sie. Ich glaubte, es würde Spaß machen und wäre eine gute Gelegenheit, meine Freunde kennenzulernen. Und jetzt ist es zu einem schrecklichen Albtraum geworden. Aber Wilson, der junge Sergeant, stand dabei und hörte zu, und unter diesen Umständen konnte alles, was sie sagte, missverstanden werden.
Noch immer war ihr unbehaglich zumute, wenn sie sich mit Fremden in einem Raum befand, sie kam sich linkisch und ungelenk vor, trotz ihrer beiden Universitätsabschlüsse und des guten Jobs in der Sentiman Library. Das hatte mit ihrem Akzent zu tun und mit ihrer bescheidenen Herkunft aus einer Vorstadt, mit einer Scheu vor dem Bildungsbürgertum, die ihre Eltern ihr mitgegeben hatten. Manchmal hatte sie das sichere Gefühl, dass Ian unter dem gleichen Handicap litt; sie stammten beide aus dem Norden Englands, und beiden fehlte diese Selbstsicherheit, die Marcus und Eleanor gemeinsam mit ihrer klaren Aussprache und den gut gefüllten Bankkonten geerbt hatten. Vielleicht hätte sie ja besser zu Ian gepasst, und aus Eleanor und Marcus hätte ein schönes und gefeiertes Paar werden können.
«Das war bestimmt eine tolle Hochzeit», meinte der Polizeibeamte jetzt. Es war das erste Mal, dass er den Mund aufmachte, und obwohl er langsam sprach, konnte sie ihn kaum verstehen. Lowrie wohnte seit seinem Studium in Südengland. Manchmal lachten sie über seinen Akzent, doch so schlimm wie der des Polizisten war er nicht. «Die Leute auf Unst verstehen es, ein Hamefarin’ zu feiern.» Polly fand, dass er wehmütig klang, ganz als wünschte er, er wäre auch eingeladen gewesen.
«Ich glaube nicht, dass Eleanor gestern Nacht noch mal ins Haus gekommen ist», sagte sie. «Die Tür war noch nicht abgeschlossen. Wer aus London kommt, sperrt seine Haustür immer ab. Reine Gewohnheit.» Darüber hatte sie sich schon den Kopf zerbrochen.
«In diesen Mittsommernächten können manche Menschen nicht gut einschlafen», sagte Wilson. «Und das Wetter war so gut, da wollte Ihre Freundin vielleicht noch ein bisschen spazieren gehen. Hier draußen sieht man einen Sternenhimmel, das haben Sie in der Stadt nicht. Und Lowrie ist jetzt bestimmt mit seiner Familie im Gemeindesaal von Meoness und räumt auf. Vielleicht ist sie ja da.»
«Aber die E-Mail?», schrie Polly auf. «Wieso hätte sie die schicken sollen?»
«Ein kranker Scherz? Oder vielleicht hat sich ja jemand in ihren Account gehackt?»
Polly schüttelte den Kopf. Zwar spielte Eleanor ihren Freunden gern Streiche, aber sie würde ihnen niemals solche Angst machen. Wenn sie selbst die E-Mail geschrieben hätte, hätte sie sie durchs Fenster beobachtet und wäre breit grinsend mit einem «Ta-da, jetzt hab ich euch ganz schön reingelegt!» hereingestürmt, noch bevor sie Zeit gehabt hätten, sich Sorgen zu machen. Die E-Mail beunruhigte Polly beinahe noch mehr als alles andere. Doch dass jemand sich in Eleanors Account gehackt hatte, war, so nahm sie an, durchaus möglich.
«Ist es in Ordnung, wenn ich kurz rausgehe und mal im Festsaal nachschaue?», fragte sie. «Dass Lowrie und Caroline dort sein könnten, ist uns gar nicht in den Sinn gekommen.»
Sandy Wilson blickte unsicher drein. Sie merkte, dass er nicht wusste, was er tun sollte – er war offensichtlich nicht daran gewöhnt, selber Entscheidungen zu treffen, und hätte wohl lieber seinen Chef gefragt. Also nahm sie ihm die Verantwortung ab, indem sie einfach nach ihrer Jacke griff und sich auf den Weg machte. «Danke. Bitte sagen Sie Marcus, wo ich hingegangen bin.» Damit verließ sie das Cottage.
Draußen war keine Wolke am Himmel, und das Sonnenlicht glitzerte auf dem Meer. Polly sah, dass Ian und Perez noch immer ins Gespräch vertieft über den Strand gingen, doch sie wandte sich in die andere Richtung, weg von der Küste, und keiner von beiden bemerkte sie. Das Sträßchen nach Meoness war schmal, auf der einen Seite wurde es von einem Zaun begrenzt, und auf der anderen gab es gelegentliche Autobuchten zum Ausweichen. Ein Schaf lief ihr über den Weg. Bevor es davonsprang, konnte sie seine fettige Wolle riechen, und den Duft nach niedergetrampeltem Gras. Auf einer Anhöhe saß eine riesige Raubmöwe mit krummem Schnabel und furchteinflößendem Blick, die sie zu beobachten schien. Meoness war eine ausgedehnte Gemeinde, die aus kleinen Gehöften mit angrenzenden Feldern und hier und da einem neu gebauten Haus bestand. Zwischen Sletts und den anderen Häusern standen die Gerippe alter, verfallener Gebäude und zahlreiche Mauerreste, und überall zogen sich von Wollgras und Sumpfschwertlilien halbverdeckte Grenzgräben entlang. Dort, wo der Weg auf eine etwas breitere Straße mündete, standen eine alte rote Telefonzelle sowie der Gemeindesaal. Davor parkten ein paar Autos, und aus den geöffneten Fenstern drang das Geräusch eines Staubsaugers. Polly stieß die Tür auf und ging hinein. Im Hauptsaal stand Lowrie auf einer Trittleiter und hängte die Wimpel ab. In London arbeitete er als Buchhalter für eine große Ladenkette und war stets ganz seriös in Anzug und Krawatte gekleidet. Jetzt trug er Sweatshirt und Jeans und hatte einen auf Fair Isle gefertigten Hut auf dem Kopf, der aussah wie ein gedeckter Apfelkuchen. Er grinste ihr zu und winkte. Das Geräusch des Staubsaugers kam aus dem kleineren Saal, in dem sie am Abend zuvor gegessen hatten. Dann hörte es auf, und Caroline trat ein.
«Dann bist du also doch noch gekommen, um uns zu helfen!», sagte sie. «Wurde aber auch Zeit. Wir sind schon fast fertig.» Sie war eine große, kräftige Blondine. «Wir wollten gerade was trinken gehen, um zu feiern, dass wir alles wieder sauber gekriegt haben. Das gehört anscheinend auch zur Tradition.»
«Ist Eleanor hier?»
«Nein! Schläft sie denn nicht noch ihren Rausch aus?» Caroline nahm ihrem Mann die Kordel ab, an der die Wimpel gehangen hatten, und wickelte sie auf.
«Sie hat heute Nacht gar nicht im Cottage geschlafen», erwiderte Polly. «Wir wissen nicht, wo sie steckt. Ian macht sich solche Sorgen, dass er die Polizei benachrichtigt hat. Aus Lerwick sind zwei Beamte hergekommen, und der Inspector unterhält sich gerade mit ihm. Die Küstenwache sucht die Gegend um die Klippen ab.»
Lowrie kletterte die Leiter herunter. «Sie ist bestimmt ganz in der Nähe.» An seinem nüchternen Tonfall merkte Polly, dass er sicher dachte, sie würden überreagieren. Als Londoner waren sie so auf Verbrechen geeicht, dass sie überall welche witterten. Vielleicht war es ihm ja peinlich, dass sie einen solchen Aufstand machten, dass sie zwei Polizeibeamte über zwei Inseln und mit zwei Fähren hierherbeordert hatten, bloß weil eine Frau die Besonderheit der Nächte auf den Shetlands allein hatte erkunden wollen. Aber inzwischen war es schon Mittag, und Eleanor war noch immer nicht wieder aufgetaucht. Und sie hatte diese merkwürdige E-Mail geschickt.
«Sie hat mir so eine komische Mail geschickt.» Polly versuchte, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. «Darin steht, dass wir sie nicht suchen sollen. Dass wir sie lebend nicht wiedersehen werden.» Und jetzt begann sie zu weinen.
Sie nahmen sie mit in das Haus von Lowries Eltern, setzten sie in der Küche auf einen großen Holzstuhl und machten ihr Tee. Nach dem Sonnenschein draußen wirkte das Haus sehr düster, voller Staub und Schatten. Auf einer Stange über dem riesigen Herd hingen Dutzende Küchentücher zum Trocknen. Wahrscheinlich waren sie am vergangenen Abend benutzt worden und nun bereits wieder gewaschen. Polly fand, dass die Küche ungeheuer vollgestopft war. Wie konnte man in diesem Chaos aus alten Zeitschriften, Strickwolle und Gemüse überhaupt je etwas finden? Über allem hing ein leichter Geruch nach Schaf und feuchter Erde. Polly verabscheute jegliche Unordnung und fühlte sich geradezu körperlich davon abgestoßen. Machte es ihnen denn nichts aus, Gäste in ein derart unaufgeräumtes Haus einzuladen?
Lowries Eltern waren nirgends zu sehen.
«Ich weiß ja, dass es albern ist», sagte sie, «und ich bin überzeugt, es gibt eine vernünftige Erklärung für alles. Aber Eleanor war in letzter Zeit so labil. Erst der Verlust des Babys, und dann dieses ganze Gerede über Geister und all die Spukgeschichten. Als der Polizist sagte, dass ihr bestimmt im Gemeindesaal wärt, dachte ich: ‹Aber natürlich, da wird sie stecken.› In dem Cottage habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten. Und als ihr sie dann auch nirgendwo gesehen habt, war ich mir auf einmal sicher, dass irgendwas Furchtbares passiert sein muss.»
Es war sehr warm in der Küche, und sie merkte, dass sie jetzt auf diesem harten Stuhl einschlafen könnte, und wenn sie dann aufwachte, wäre alles nur ein Traum gewesen.
«Ich gehe mit dir zurück», sagte Caroline. «Vielleicht gibt es ja schon etwas Neues.»
Sie klang ungerührt, gleichgültig, als wäre Eleanor ihr vollkommen egal. Warum nahm diese Sache sie nicht stärker mit? Polly kam der Gedanke, dass Caroline sie wahrscheinlich aus dem Haus haben wollte, bevor ihre Schwiegereltern zurückkamen. Eine hysterische Freundin könnte ja ein schlechtes Licht auf sie selbst werfen. Caroline war die typische Akademikerin, immer gefasst und akkurat. Und dann dachte Polly noch, dass Caroline ihr die ganze Geschichte womöglich gar nicht glaubte und die Umstände von Eleanors Verschwinden selbst überprüfen wollte.
Zurück zu dem Feriencottage nahmen sie einen anderen Weg. Caroline führte Polly durch den Garten, in dem die Hühner hinter einem Maschendrahtzaun scharrten, dann über den Zaunübertritt und auf eine kurzgemähte Wiese. Sie kannte sich hier schon so gut aus, als wäre sie zu Hause.
«Wollt ihr später eigentlich mal auf den Shetlands wohnen?», fragte Polly plötzlich. «Würde Lowrie das wollen?»
«Kann schon sein. Wenn mir was einfällt, was ich den ganzen Tag über so tun könnte. Wir haben schon darüber gesprochen. In London möchte ich im Grunde keine Kinder großziehen.» Caroline grinste überraschend. «Er denkt daran, hier ein Geschäft auf die Beine zu stellen. In Gewächshäusern gezogene Beeren, hochwertige Marmeladen und Konfitüren.»
«Und das würde dir nichts ausmachen? Deine ganzen Freunde zurückzulassen? Und all das, was das Leben in London einem so bietet? Die Theater gleich vor der Tür. Die Geschäfte und Bars und Restaurants. Selbst Lerwick ist ewig weit weg von hier.» Polly merkte, dass diese neue Caroline sie von ihren Sorgen ablenkte, eine Caroline, die Gummistiefel trug, mühelos einen Stacheldrahtzaun öffnen und schließen konnte und darüber nachdachte, sich in dieser kargen Landschaft mit ihren extremen Wetterumschwüngen niederzulassen.
«Na ja, wo genau wir dann hinziehen, darüber müssen wir uns wohl noch einigen. Unst könnte mir dann doch etwas zu abgelegen sein. Und auch wenn ich George und Grusche von Herzen gernhabe, möchte ich lieber doch nicht direkt neben meinen Schwiegereltern wohnen.» Sie hielt einen Augenblick inne und warf einen Blick zurück auf den kleinen Hof. «Manchmal behandelt Grusche Lowrie wie einen Neunjährigen, den man noch daran erinnern muss, sich die Zähne zu putzen.»
Sie hatten die Kuppe einer Anhöhe erreicht, und Polly konnte sich wieder orientieren. Unter ihnen lagen die kleine Straße, die zum Cottage führte, und der Strand. Ian und Perez waren immer noch dort unten, aber bereits auf dem Rückweg nach Sletts. Im Süden sah man die Klippen und die Inselspitze.
«Wenn Eleanor über die Klippen gestürzt ist», sagte Polly unvermittelt, «könnte sie tagelang da unten auf den Felsen liegen, ohne dass man sie findet.»
Vor sich sahen sie nun einen aus Bruchstein errichteten Kreis mit einem kleinen Eingang an einer Stelle. Plötzlich schoss eine Raubmöwe, die Polly so groß wie ein Adler vorkam, direkt vom Himmel auf sie herab. Polly schrie auf. Sie konnte den Luftzug des Flügelschlags auf ihrem Gesicht spüren. Caroline lachte leise. «Die verteidigt bloß ihr Nest. Wenn du die Hand in die Luft streckst, zielt sie darauf und verschont dein Gesicht.» Dann deutete sie auf den Steinkreis. «Das ist ein alter Gemüsegarten. Früher haben die Menschen darin Kohl angepflanzt, als Futter für die Schafe. Ich nehme an, die Mauer hat die Pflanzen vor dem salzigen Wind geschützt.»
Sie schickte sich an, weiterzugehen, und Polly erkannte, dass ihre Freundin bereits beschlossen hatte, die Shetlands als ihr neues Zuhause anzusehen. Sie beschäftigte sich schon mit Geschichte und Kultur der Inseln. Doch genau genommen war die Anthropogeographie Carolines Spezialgebiet, und Polly glaubte, dass sie hier stets eine Außenseiterin bleiben würde, eine Beobachterin. Sie würde den Blick mit der gleichen ironischen Sachlichkeit auf ihre Nachbarn richten wie damals auf die Wanderarbeiter, über die sie ihre Doktorarbeit geschrieben hatte.
Polly konnte sich das Leben in London ohne ihre Freundinnen nicht vorstellen. Weil sie immer für sie da gewesen waren, hatte sie nie das Bedürfnis verspürt, ihren Freundeskreis zu erweitern, und in diesem Augenblick zählte Marcus irgendwie nicht für sie. Der Schrecken, den ihr die herabstürzende Möwe eingejagt hatte, hatte eine Panik in ihr ausgelöst, wie sie sie in ihrem Alltag noch nie erlebt hatte. In London war sie die fachkundige Bibliothekarin, die sich in der Sentiman Library um den Buchbestand kümmerte und die Historiker und Studenten, die das Angebot dort nutzten, beriet. Doch hier an diesem Ort verspürte sie nun wieder das Schwindelgefühl vom Vortag. Sie bückte sich, legte die Hände auf die Knie und merkte, wie ihr das Blut in den Kopf zurückströmte.
«Möchtest du eine Verschnaufpause einlegen?» Caroline klang fürsorglich, aber auch ein bisschen selbstgefällig. Sie war sportlich und hätte noch meilenweit laufen können. Wieder dachte Polly überrascht, dass ihre Freundin sich überhaupt nicht um Eleanor sorgte. Sie hatte den Kopf voll mit ihrem frisch angetrauten Ehemann und Zukunftsplänen.
Sie setzten sich hin und lehnten sich mit dem Rücken gegen die Bruchsteinmauer. Die Sonne hatte die Steine aufgeheizt, und sie saßen windgeschützt.
Polly merkte, dass sie wieder schläfrig wurde, und fragte sich, wie das möglich sein konnte, wo Eleanor doch noch immer nicht wieder aufgetaucht war. Sie stand auf und schüttelte ihre Glieder, um sich wacher zu fühlen, und warf dann zum ersten Mal einen Blick in den alten Gemüsegarten. Nichts deutete darauf hin, dass hier in den letzten Jahren etwas angepflanzt worden wäre. Polly sah nur eine abgegraste Wiese und verstreut umherliegende Schafsköttel. Und ein iPhone mit leuchtend rosafarbener Schutzhülle, das Eleanor gehörte.
Jimmy Perez konnte die Anspannung des Mannes, der neben ihm herging, spüren. Er wirkte steif, bewegte sich wie ein Roboter. Jeder Schritt war ihm schwer, und als Perez einen Blick zurück über den Sand warf, war er erstaunt, dass die Fußabdrücke der beiden Männer sich kaum voneinander unterschieden, dass Ian Longstaffs Abdrücke nicht viel tiefer waren als seine eigenen.
«Sie sind jetzt seit drei Jahren verheiratet?» Hier draußen am Strand fühlte es sich für Perez so an, als wären sie meilenweit von dem geschmackvoll eingerichteten Feriencottage Sletts entfernt; als wären sie umschlossen von einer Seifenblase aus Naturgeräuschen. Von Norwegen blies ein leichter Wind heran, und die Wellen leckten träge an einer Kiesbank. In der Ferne ließ ein feiner Hitzeschleier den Horizont verschwimmen.
«Etwas über drei Jahre. Ich war für den Ton bei einer ihrer Produktionen zuständig.» Ian blickte Perez an. Ein nur schwer zurückgehaltener Missmut wandelte sich langsam zu richtiger Wut. «Aber wir vergeuden hier nur Zeit. Wir sollten nach ihr suchen.»
«Unsere Leute suchen nach ihr», sagte Perez. «Leute von hier, die sich auf Unst auskennen. Denen wären wir nur im Weg. Erzählen Sie mir jetzt alles, was seit Ihrer Ankunft auf den Shetlands geschehen ist. Sie sind gestern Morgen mit der Fähre aus Aberdeen hier angekommen?»
«Ich wollte mein Auto mitnehmen», erwiderte Ian, «deshalb haben wir die Fähre genommen und nicht das Flugzeug. Und Marcus hat seins dann auch mitgenommen. Wir wussten ja nicht, wie es hier so werden würde. Ob es Geschäfte in der Nähe geben würde. Sie wissen schon …»
«Oh, mittlerweile sind wir hier oben fast schon zivilisiert.»
Ian blieb stehen und musste gegen seinen Willen grinsen. «Na, wie auch immer. Weder Nell noch ich sind häufig auf dem Land. Wir waren nicht sicher, wie es sein würde.»
«Haben Sie denn keinen Halt in Lerwick eingelegt? Um dort einzukaufen? Zu frühstücken?»
«Wir haben auf der Fähre gefrühstückt und beschlossen, auf direktem Weg gen Norden zu fahren. Den Kofferraum hatten wir mit Lebensmitteln und Alkohol so vollgeladen, dass es für Monate gereicht hätte, und um Milch und Brot wollte Caroline sich kümmern. Ich hatte mir die Strecke auf der Karte angesehen. Davor war mir gar nicht klar gewesen, wie weit wir noch zu fahren hatten.»
«Über zwei langgestreckte Inseln und mit zwei Fähren – und das alles, nachdem Sie erst mal Toft auf der Hauptinsel erreichen mussten», sagte Perez, als hätte er alle Zeit der Welt.
«Als wir hier ankamen, war es später Vormittag. Wir hatten mit dem Besitzer abgemacht, dass uns das Cottage ab Mittag zur Verfügung steht, und Polly hat uns dann was zu essen gekocht.» Wieder blieb Ian stehen und sah Perez an. «Wollen Sie das alles wirklich wissen?» Über ihren Köpfen schrien die Seeschwalben.
«Ja, bitte.»
«Auf der Fähre von Aberdeen hat Eleanor nicht viel geschlafen. Wenn sie aufgeregt ist, ist sie wie ein kleines Kind. Total aufgedreht. Als wir nach dem Mittagessen den Tisch abgeräumt hatten, sagte sie, sie wolle sich vor der Hochzeit noch mal hinlegen.»
«War sie wirklich aufgeregt?», fragte Perez. «Nicht eher angespannt oder depressiv?»
«Die anderen haben Ihnen von der Fehlgeburt erzählt.» Ian sah starr aufs Meer hinaus. «Es war ihre zweite. Sie wünscht sich ein Kind. Natürlich war sie durcheinander und wütend. Eleanor bekommt immer, was sie sich wünscht.» Er schwieg kurz. «Das klingt jetzt, als wäre sie ein schrecklicher Mensch, aber ihr ist bisher immer alles in den Schoß gefallen. Sie kommt aus einer liberalen, kunstliebenden Familie, die genug Geld hatte, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Sie ist schlau, die Prüfungen an der Uni hat sie ohne größeren Aufwand bewältigt. Und dann passiert ihr so was. Etwas, das man nicht mit Geld oder harter Arbeit wiedergutmachen kann. Das hat sie fertiggemacht.»
«Sie war dann einige Zeit in einer Klinik?»
«Nur, um mir einen Gefallen zu tun», sagte Ian. «Ich kam mir so hilflos vor. Ich wollte meine Frau wiederhaben. Ich bin Techniker und daran gewöhnt, Dinge zu reparieren, die nicht richtig funktionieren. Also habe ich sie in eine private Klinik gebracht.»
«Aber da wollte sie dann nicht bleiben?» Perez fragte sich, was es in einer Beziehung wohl anrichten mochte, wenn der Mann seine Frau in eine Klinik schickte, weil sie trauerte.
«Sie meinte, sie sei schließlich nicht krank und das sei nur Zeitverschwendung. Sie sagte, ich solle ihr vertrauen.» Ian schwieg. «Sie hatte recht. Auf der Fahrt hierher war sie schon beinahe wieder wie früher. In Gedanken mit einem neuen Projekt beschäftigt. Und aufgeregt, wegen der Reise und der Hochzeit.»
«Und wegen der Gespenster», ergänzte Perez.
«Das war für ihre Arbeit. Eine Dokumentation über Geister und Spuk in heutiger Zeit. Wir haben sie damit aufgezogen. Und sie zog uns ebenfalls auf.»
«Nach dem Essen hat sich Ihre Frau also hingelegt», sagte Perez. «Was haben Sie und Ihre Freunde währenddessen gemacht?»
«Wir sind spazieren gegangen, um die Gegend zu erkunden. Hier gibt es einen Fußweg, der über die Klippen Richtung Süden führt. Wir hatten herrliches Wetter, und die Sicht war phantastisch. Wir haben Papageientaucher gesehen, die waren uns so nahe, dass wir sie hätten berühren können, wenn wir die Hand ausgestreckt hätten. Das hätte Eleanor gefallen. Unterwegs fragte ich mich, ob ich nicht zurückgehen und sie holen sollte. Es war eine Schande, dass sie das alles verpasste.» Ian runzelte die Stirn.
«Aber Sie sind dann doch nicht zurückgegangen?»
«Nein. Ich beschloss, sie ausruhen zu lassen. Wir wussten, dass es ein langer Abend werden würde, und außerdem haben wir das Cottage für eine ganze Woche gemietet. Sie hat noch genug Zeit, das alles zu entdecken.» Ian setzte sich wieder in Bewegung und stieß seine Worte in rauen Salven hervor. «Als wir zurückkamen, war sie wach und saß auf der Veranda. Später, nach der Feier, behauptete sie, einen Geist gesehen zu haben.»
«Peerie Lizzie?» Perez ließ seine Stimme ganz normal klingen. Der Mann neben ihm mochte es bestimmt nicht, verspottet zu werden. Unter der harten Schale spürte Perez einen zerbrechlichen Stolz.
«Ja, ein Kind. Ein kleines Mädchen in einem altmodischen weißen Kleid und mit Bändern im Haar. Eleanor sagte, sie habe ihr eine Weile zugeschaut und sich dann Sorgen gemacht, weil die Eltern nirgends zu sehen waren und das Kind sich immer mehr dem Wasser näherte. Aber als sie dann auf das Mädchen zuging, ist es verschwunden. Das ist zumindest, was sie erzählt hat.»
«Sie haben ihr aber nicht geglaubt?» Perez war sich nicht sicher, ob das von Bedeutung sein könnte. Ihm fielen die herausgeputzten Kinder vorhin bei der Fähre wieder ein – vielleicht hatte Eleanor ja eins von denen gesehen.