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Weißt du, wem du trauen kannst? Winter auf den Shetland-Inseln. Still ruht die Welt unter einer weißen Decke. Das Mädchen im Schnee trägt einen roten Schal um den Hals. Um sie herum sitzen Raben. Als Fran Hunter die Leiche der Sechzehnjährigen findet, ist es um die Dorfidylle geschehen. Ein Schuldiger ist schnell gefunden. Die Polizei verhaftet Magnus Tait, einen menschenscheuen Sonderling. Doch dann verschwindet während des Wikingerfestivals «Up Helly Aa» Frans kleine Tochter Cassie … «Ann Cleeves wirft einen Blick hinter die heile Fassade einer eingeschworenen Dorfgemeinschaft, in der jeder die Geheimnisse des anderen zu kennen glaubt, sich in Wahrheit jedoch Abgründe auftun. Eine fesselnde Lektüre.» (Val McDermid)
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Seitenzahl: 519
Ann Cleeves
Die Nacht der Raben
Kriminalroman
Deutsch von Tanja Handels
Für Ella. Und für ihren Großvater.
Es war zwanzig nach eins am Neujahrsmorgen. Magnus wusste, wie spät es war, das sagte ihm die große Uhr auf dem Sims über dem Kamin, die Uhr seiner Mutter. In einer Ecke saß der Rabe in seinem Käfig aus Korbgeflecht und krächzte leise im Schlaf. Magnus wartete. Das Zimmer war fertig, die Gäste konnten kommen: Das Torffeuer prasselte, auf dem Tisch standen eine Flasche Whisky und der Ingwerkuchen, den er bei seiner letzten Fahrt nach Lerwick bei Safeway’s gekauft hatte. Er merkte, dass er immer wieder einnickte, wollte aber nicht ins Bett gehen, falls doch noch jemand vorbeikam. Wenn hinter dem Fenster Licht brannte, würde vielleicht jemand kommen, lachend, beschwipst und voller Geschichten. Seit acht Jahren war keiner mehr da gewesen, um ihm ein frohes neues Jahr zu wünschen, doch er wartete trotzdem, für den Fall, dass es diesmal anders wäre.
Draußen war es vollkommen still. Nicht einmal der Wind war zu hören. Wenn in Shetland einmal kein Wind wehte, erschrak man regelrecht. Dann lauschten die Leute angestrengt, versuchten herauszufinden, was ihnen fehlte. Am Nachmittag war leichter Schnee gefallen, über den sich mit der Dämmerung eine dünne Eisschicht gelegt hatte: Die hartgefrorenen Schneekristalle glitzerten wie Diamanten im letzten Tageslicht, und als es schon dunkel war, sah man sie wieder im Schein des Leuchtturms. Magnus wollte auch wegen der Kälte bleiben, wo er war. Im Schlafzimmer hatte sich jetzt sicher eine dicke Lage Eis innen an der Scheibe gebildet, und die Laken fühlten sich feucht und klamm an.
Er musste wohl eingeschlafen sein. Wäre er wach gewesen, hätte er sie kommen hören, denn sie näherten sich alles andere als leise. Man konnte wirklich nicht behaupten, sie hätten sich angeschlichen. Er hätte ihr Lachen hören müssen, ihre stolpernden Schritte, hätte den schlingernden Strahl der Taschenlampe vor dem gardinenlosen Fenster gesehen. Jetzt erwachte er von lautem Klopfen an der Tür und schreckte hoch. Er hatte einen Albtraum gehabt, konnte sich aber nicht mehr klar daran erinnern.
«Herein», rief er. «Immer herein.» Magnus erhob sich mühsam, mit steifen, schmerzenden Gliedern. Offenbar waren sie schon auf der Veranda. Er hörte sie zischelnd miteinander flüstern.
Dann ging die Tür auf und ließ einen Schwall eiskalter Luft und zwei junge Mädchen herein, so bunt und schillernd wie exotische Vögel. Er merkte gleich, dass die beiden betrunken waren. Sie blieben stehen und klammerten sich aneinander. Obwohl sie für das Wetter viel zu leicht angezogen waren, hatten sie rote Wangen, und er spürte ihre Lebenskraft, wie eine Welle von Hitze. Eine war blond, die andere dunkelhaarig. Die Blonde war hübscher, weich und rundlich, doch Magnus bemerkte die Dunkelhaarige zuerst. Ihr schwarzes Haar war von leuchtend blauen Strähnen durchzogen. Wie gern hätte er die Hand ausgestreckt und dieses Haar berührt, aber er hielt sich zurück. Das würde sie nur erschrecken und vertreiben.
«Immer herein», sagte er noch einmal, obwohl sie ja schon im Zimmer standen. Bestimmt hörte er sich an wie ein schwachsinniger alter Mann, der immer dasselbe sagte, nur sinnloses Zeug daherredete. Die Leute hatten ihn schon immer ausgelacht. Sie hielten ihn für zurückgeblieben und hatten damit vielleicht sogar recht. Er spürte, wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzog, und hörte im Geiste die Stimme seiner Mutter: «Wisch dir das alberne Grinsen vom Gesicht. Sollen dich die Leute für noch blöder halten, als du bist?»
Die Mädchen kicherten und kamen weiter ins Zimmer herein. Magnus schloss beide Türen hinter ihnen, die Verandatür, die von Wind und Wetter schon ganz verzogen war, und die Tür zum Haus. Er wollte die Kälte aussperren und hatte außerdem Angst, sie könnten entkommen. Er konnte es kaum fassen, zwei so hübsche Geschöpfe in seinem Haus zu haben.
«Setzt euch», sagte er. Er hatte nur einen Sessel, aber am Tisch standen noch zwei Stühle, die sein Onkel aus Treibholz gezimmert hatte. Die rückte er ihnen zurecht. «Trinkt etwas mit mir, um das neue Jahr zu begrüßen.»
Wieder kicherten sie, flatterten heran und landeten auf den Stühlen. Sie hatten Flitter im Haar, ihre Kleider waren aus Samt, Seide und Pelz. Die Blonde trug Stiefeletten aus Leder, das glänzte wie feuchter Teer, mit silbernen Schnallen und kleinen Ketten daran. Sie hatten hohe Absätze und waren vorne sehr spitz. Solche Schuhe hatte Magnus noch nie gesehen, er konnte den Blick kaum abwenden. Die Dunkelhaarige hatte rote Schuhe an. Er blieb am Kopfende des Tisches stehen.
«Wir kennen uns nicht, oder?», fragte er, obwohl er bei näherem Hinsehen merkte, dass sie schon oft an seinem Haus vorbeigegangen waren. Magnus gab sich Mühe, langsam zu reden, damit sie ihn auch verstanden. Manchmal sprach er zu undeutlich. Seine eigenen Worte klangen ihm seltsam in den Ohren, wie das Krächzen des Raben. Er hatte dem Raben ein paar Wörter beigebracht. Oft hatte er sonst wochenlang niemanden zum Reden. Er wagte einen weiteren Satz. «Wo kommt ihr her?»
«Wir waren in Lerwick.» Die Stühle waren niedrig, und das blonde Mädchen musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm hochzuschauen. Er sah ihre Zunge, ihre rosige Kehle. Das kurze Seidentop war ihr aus dem Rockbund gerutscht, er sah einen Streifen Haut, so seidig wie der Stoff ihrer Bluse, und ihren Nabel. «Wir haben Hogmanay gefeiert. Dann hat uns jemand bis oben an die Straße gebracht. Wir wollten schon nach Hause, aber dann haben wir noch Licht bei Ihnen gesehen.»
«Sollen wir etwas trinken?», fragte er eifrig. «Ja?» Er schaute die Dunkelhaarige an, die sich aufmerksam umsah, den Blick langsam schweifen ließ und alles genau betrachtete. Doch auch diesmal antwortete die Blonde.
«Wir haben selbst was dabei», sagte sie und zog eine Flasche aus der geflochtenen Schultertasche, die sie die ganze Zeit fest auf dem Schoß hielt. Die Flasche war zugekorkt und gut drei viertel voll. Vermutlich Weißwein, aber da war er sich nicht sicher. Wein hatte er noch nie getrunken. Sie zog den Korken mit ihren scharfen weißen Zähnen aus der Flasche. Das schockierte ihn. Als er merkte, was sie vorhatte, wollte er lauthals protestieren, sie daran hindern, aus Angst, sie könne sich die Zähne abbrechen. Eigentlich hätte er anbieten sollen, die Flasche für sie zu öffnen, das wäre ritterlich gewesen. Stattdessen sah er ihr wie gebannt zu. Das Mädchen nahm einen Schluck, wischte den Rand der Flasche mit der Hand ab und reichte sie an ihre Freundin weiter. Magnus griff nach dem Whisky. Ihm zitterten die Hände, und als er sich ein Glas eingoss, landeten ein paar Tropfen auf der Wachstuchdecke. Er hob das Glas, und die Dunkelhaarige stieß mit der Weinflasche an. Sie hatte schmale, schwarzumrandete Augen. Die Lider waren blaugrau geschminkt.
«Ich heiße Sally», sagte die Blonde. Sie besaß kein solches Talent zum Schweigen wie die Dunkelhaarige. Wahrscheinlich, dachte er, hatte sie es gern, wenn es laut war, mochte sie Musik und Plaudereien. «Sally Henry.»
«Henry», wiederholte er. Der Name kam ihm bekannt vor, er konnte ihn aber nicht gleich einordnen. Er war aus der Übung. Besonders schnell war er nie gewesen, doch jetzt kostete es ihn große Mühe, überhaupt nachzudenken. Magnus fühlte sich wie von dichtem Nebel umhüllt, erkannte Umrisse, schemenhafte Gedanken, doch es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. «Wo wohnst du?»
«In dem Haus unten an der Bucht», sagte sie. «Gleich neben der Schule.»
«Dann ist deine Mutter die Lehrerin?»
Jetzt konnte er sie einordnen. Die Mutter war ein zierliches Persönchen. Sie stammte von einer der nördlichen Inseln, Unst vielleicht oder Yell, und war mit einem Mann aus Bressay verheiratet, der für die Regierung arbeitete. Magnus hatte ihn schon oft in seinem großen Geländewagen vorbeifahren sehen.
«Ja», antwortete sie mit einem Seufzer.
«Und du?», wandte er sich an die Dunkelhaarige, die ihn viel mehr interessierte, so sehr, dass sein Blick immer wieder zu ihr zurückwanderte. «Wie heißt du?»
«Ich bin Catherine Ross.» Es war das Erste, was sie sagte. Sie hatte eine tiefe Stimme für ein so junges Mädchen. Weich und dunkel. Eine Stimme wie schwarzer Sirup. Für einen Augenblick vergaß er, wo er war, und sah seine Mutter vor sich, wie sie Sirup in den Teig für den Ingwerkuchen gab. Sie drehte den Löffel über dem Topf, um auch die letzten klebrigen Fäden einzufangen, und später gab sie ihm den Löffel zum Abschlecken. Er leckte sich die Lippen, dann merkte er peinlich berührt, dass Catherine ihn anstarrte. Sie konnte einen unverwandt anschauen, ohne zu blinzeln.
«Du bist nicht von hier.» Er hörte es an ihrem Akzent. «Kommst du aus England?»
«Ich wohne seit einem Jahr hier.»
«Und ihr seid befreundet?» Der Gedanke an Freundschaft war ihm neu. Hatte er selbst jemals Freunde gehabt? Er dachte einen Moment darüber nach. «Ihr seid Freundinnen. Stimmt’s?»
«Klar», erwiderte Sally. «Allerbeste Freundinnen.» Und sie fingen wieder an zu lachen, ließen die Flasche hin und her gehen und legten zum Trinken den Kopf in den Nacken, und ihre Hälse waren weiß wie Kreide im Schein der nackten Glühbirne über dem Tisch.
Fünf Minuten vor Mitternacht. In den Straßen von Lerwick rund um Market Cross war die Hölle los. Alle waren da, und alle waren ordentlich angetrunken, aber nicht aggressiv, einfach nur locker. Man hatte das Gefühl dazuzugehören, man war Teil der lachenden, trinkenden Menge. Ihr Vater hätte hier sein sollen. Dann hätte er gesehen, dass es gar keinen Grund gab, sich aufzuregen. Vielleicht hätte es ihm sogar Spaß gemacht. Hogmanay in Shetland. Das hier war schließlich nicht New York. Oder London. Was sollte ihr schon passieren? Die meisten Leute kannte sie sowieso.
Sally spürte das Wummern von Bässen unter den Füßen, es dröhnte in ihrem Kopf. Sie konnte nicht ausmachen, wo die Musik herkam, doch sie bewegte sich im Takt dazu, wie alle anderen auch. Dann schlugen die Glocken Mitternacht, alle sangen «Auld Lang Syne», und Sally fiel den Leuten, die gerade neben ihr standen, um den Hals. Als sie einen Typen küsste, merkte sie in einem Moment der Klarheit, dass es ein Mathelehrer aus der Anderson High School war. Er war noch sehr viel besoffener als sie.
Später konnte sie sich kaum noch an die nachfolgenden Ereignisse erinnern, zumindest nicht genau, nicht in der richtigen Reihenfolge. Vor der Lounge Bar war Robert Isbister, mit einer roten Bierdose in der Hand. Groß wie ein Bär stand er da und beobachtete das Treiben auf der Straße. Vielleicht hatte sie ihn ja gesucht. Sally sah sich selbst, wie sie sich im Rhythmus der Musik näherte, sich in den Hüften wiegte, fast auf ihn zutanzte. Sie blieb vor ihm stehen, sagte nichts, flirtete aber trotzdem. Und wie sie geflirtet hatte – das wusste sie noch ganz genau. Hatte sie ihn nicht sogar am Handgelenk gefasst, die feinen goldenen Härchen an seinem Unterarm gestreichelt, als wäre er ein Tier? Wäre sie nüchtern gewesen, hätte sie das niemals getan. Sie hätte sich nicht einmal getraut, zu ihm zu gehen, obwohl sie schon seit Wochen davon träumte, es sich bis ins kleinste Detail ausmalte. Trotz der Kälte hatte er die Ärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt. Er trug eine goldene Armbanduhr. Daran würde sie sich immer erinnern. Es war vermutlich kein echtes Gold, aber da konnte man sich bei Robert Isbister nie so ganz sicher sein.
Dann war Catherine plötzlich aufgetaucht und sagte, sie hätte ihnen eine Mitfahrgelegenheit organisiert, mindestens bis zur Abzweigung nach Ravenswick. Sally hatte eigentlich noch bleiben wollen, aber Catherine musste sie wohl überredet haben, denn kurze Zeit später fand sie sich auf dem Rücksitz eines Autos wieder. Es war wie im Traum, denn plötzlich saß Robert neben ihr, so nah, dass sie seine Jeans am Bein spürte und seinen bloßen Unterarm in ihrem Nacken. Sein Atem roch nach Bier. Ihr wurde übel davon, aber kotzen durfte sie auf keinen Fall. Nicht vor Robert Isbister.
Ein weiteres Pärchen zwängte sich neben sie auf den Rücksitz. Sally kannte die beiden flüchtig. Der Typ wohnte irgendwo im Süden von Mainland und studierte inzwischen in Aberdeen. Und das Mädchen? Lebte in Lerwick und war Krankenschwester im Gilbert Bain Hospital. Sie fielen sofort übereinander her. Das Mädchen war unten, der Typ lag halb auf ihr, knabberte an ihren Lippen, ihrem Hals und ihren Ohrläppchen und sperrte dann den Mund so weit auf, als wollte er sie Stück für Stück aufessen. Als Sally sich wieder zu Robert umdrehte, küsste er sie auch, aber langsam und sanft, nicht wie der Wolf aus dem Märchen. Sie hatte überhaupt nicht das Gefühl, aufgefressen zu werden.
Von dem Jungen am Steuer bekam Sally nicht allzu viel mit. Sie saß direkt hinter dem Fahrersitz und sah nur Hinterkopf und Schultern und dass er einen Parka trug. Er sagte auch nichts, weder zu ihr noch zu Catherine, die auf dem Beifahrersitz saß. Vielleicht war er ja genervt, weil er sie mitnehmen musste. Sally wollte ein bisschen mit ihm plaudern, einfach aus Höflichkeit, doch dann küsste Robert sie wieder, und das nahm sie völlig in Anspruch. Es lief keine Musik im Auto, man hörte nichts, nur den sehr lauten Motor und die Knutschgeräusche des anderen Pärchens.
«Halt!» Das kam von Catherine. Sie sprach gar nicht laut, doch nachdem es so still gewesen war, erschraken sie alle. Catherines englischer Akzent tat Sally in den Ohren weh. «Halt hier an. Sally und ich steigen aus, es sei denn, du willst uns bis zur Schule fahren.»
«Bloß nicht, Mann!» Der Student löste sich gerade lange genug für diesen Kommentar von der Krankenschwester. «Wir verpassen eh schon die halbe Party.»
«Kommt doch mit», sagte Robert. «Kommt mit zu der Party.»
Es war ein verführerisches Angebot, und es galt Sally, doch Catherine antwortete. «Nein, das geht nicht. Sally sollte eigentlich bei mir sein, sie durfte gar nicht in die Stadt. Wenn sie nicht bald heimkommt, machen sich ihre Eltern auf die Suche nach ihr.»
Sally war sauer, weil Catherine für sie sprach, wusste aber, dass sie recht hatte. Sie durfte es jetzt nicht noch vermasseln. Ihre Mutter würde ausflippen, wenn sie erfuhr, wo Sally gewesen war. Mit ihrem Vater konnte man ja noch reden, zumindest wenn man ihn allein zu fassen bekam, aber ihre Mutter war einfach nicht ganz dicht. Vorbei war der Zauber, jetzt hieß es: zurück in die Realität. Sie machte sich von Robert los und kletterte über ihn hinweg aus dem Wagen. Die Kälte nahm ihr den Atem, sie fühlte sich benommen und aufgekratzt, so als hätte sie noch mehr getrunken. Catherine und sie blieben nebeneinander stehen und sahen den Rücklichtern des Autos nach.
«Scheißtypen», sagte Catherine in so giftigem Ton, dass Sally sich fragte, ob sie vielleicht etwas mit dem Fahrer am Laufen hatte. «Die hätten uns doch ruhig noch nach Hause fahren können.» Sie griff in die Tasche, zog eine kleine Taschenlampe hervor und leuchtete ihnen damit den Weg. Das war mal wieder typisch Catherine: immer auf alles vorbereitet.
«Ist doch egal.» Sally spürte, wie sich ein albernes, seliges Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. «Es war ein toller Abend. Ein richtig toller Abend.» Als sie sich ihre Schultertasche umhängte, stieß ihr etwas Hartes gegen die Hüfte. Sie förderte eine schon geöffnete Flasche Wein zutage, die wieder zugekorkt worden war. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wo die herkam. Trotzdem hielt sie sie Catherine hin, um sie aufzuheitern. «Schau mal. Eine Stärkung für den Heimweg.»
Kichernd stolperten sie die vereiste Straße entlang.
Das helle Viereck tauchte wie aus dem Nichts auf und überraschte sie. «Verflixt, wo sind wir? Wir können doch unmöglich schon zu Hause sein.» Zum ersten Mal wirkte Catherine besorgt, weniger selbstsicher, irgendwie verwirrt.
«Das ist Hillhead. Das Haus oben auf dem Hügel.»
«Wohnt da jemand? Ich dachte immer, es steht leer.»
«Es gehört einem alten Mann», sagte Sally. «Magnus Tait. Der soll nicht ganz richtig im Kopf sein. Er lebt dort ganz zurückgezogen. Wir mussten uns immer von ihm fernhalten.»
Catherines Furcht war schon wieder verflogen, vielleicht wollte sie auch nur angeben. «Dann ist er jetzt sicher ganz allein. Komm, wir gehen hin und wünschen ihm ein frohes neues Jahr.»
«Ich habe doch gesagt, er ist nicht ganz richtig im Kopf.»
«Du hast Angst.» Catherine flüsterte fast.
Und wie – ich habe eine Heidenangst und weiß selbst nicht, warum. «Blödsinn.»
«Ich wette, du traust dich nicht.» Catherine zog die Flasche aus Sallys Tasche, trank einen Schluck, korkte sie wieder zu und steckte sie zurück.
Sally trat von einem Bein auf das andere, um ihr zu zeigen, wie albern es war, hier in der Kälte herumzustehen. «Gehen wir nach Hause. Meine Eltern warten, das hast du doch selbst gesagt.»
«Wir sagen einfach, wir haben Neujahrsbesuche bei den Nachbarn gemacht. Na los. Du traust dich ja doch nicht.»
«Nicht allein.»
«Gut, dann gehen wir zusammen.» Sally konnte nicht sagen, ob Catherine das von Anfang an so geplant oder sich einfach in eine Lage manövriert hatte, aus der sie jetzt nicht mehr herauskam, ohne das Gesicht zu verlieren.
Das Haus lag ein Stück abseits von der Straße. Es führte kein richtiger Weg hin. Als sie fast angekommen waren, hob Catherine die Taschenlampe, und der Lichtstrahl fiel auf das graue Schieferdach und die Torfsoden, die sich vor der Veranda stapelten. Sie rochen den Rauch, der aus dem Schornstein kam. An der Verandatür blätterte die grüne Farbe vom nackten Holz ab.
«Na los», sagte Catherine. «Klopf an.»
Sally klopfte zaghaft. «Vielleicht ist er ja schon im Bett und hat nur das Licht angelassen.»
«Nein. Ich sehe ihn doch da drinnen sitzen.» Catherine betrat die Veranda und hämmerte mit der Faust an die eigentliche Haustür. Sie spinnt, dachte Sally. Sie weiß gar nicht, worauf sie sich da einlässt. Das ist doch Wahnsinn. Am liebsten wäre sie weggelaufen, nach Hause zu ihren langweiligen, bodenständigen Eltern. Doch ehe sie sich auch nur bewegen konnte, hörte man von drinnen ein Geräusch, Catherine öffnete die Tür, und sie stolperten hintereinander ins Zimmer, blinzelnd, geblendet von der plötzlichen Helligkeit.
Der alte Mann kam auf sie zu, und Sally starrte ihn an. Sie merkte es selbst, konnte aber nichts dagegen tun. Bisher hatte sie ihn immer nur von weitem gesehen. Ihre Mutter, die sonst so freigebig mit ihrer Unterstützung für ältere Nachbarn war, voll christlicher Nächstenliebe einkaufen ging und Suppe und Selbstgebackenes verteilte, vermied jeden Kontakt zu Magnus Tait. Wenn er draußen war, wurde Sally rasch an seinem Haus vorbeigescheucht. «Da darfst du niemals hingehen», hatte ihre Mutter ihr eingeschärft, als sie noch klein war. «Er ist ein böser alter Mann. Das ist kein Ort für kleine Mädchen.» Seitdem übte sein kleiner Hof eine unwiderstehliche Faszination auf sie aus. Wenn sie in die Stadt fuhr oder von dort zurückkam, schaute sie immer wieder hinüber. Sie sah ihn mit gebeugtem Rücken Schafe scheren und erkannte seine Umrisse im Gegenlicht, wenn er vor dem Haus stand und zur Straße schaute. Als er jetzt so dicht vor ihr stand, kam es ihr so vor, als würde sie einer Figur aus einem Märchen begegnen.
Der Mann starrte sie ebenfalls an, er sah tatsächlich aus wie einem Bilderbuch entsprungen. Ein Troll, kam es Sally plötzlich in den Sinn. Genauso sah er aus, mit seinen kurzen Beinen, dem gedrungenen, stämmigen Körper, dem leichten Buckel, dem halb offenen Mund mit den schiefen gelben Zähnen. Sie hatte das Märchen von den drei Ziegen und dem bösen Troll unter der Brücke schon immer furchtbar gefunden. Als Kind hatte sie sich sogar davor gefürchtet, die Brücke über den kleinen Bach vor ihrem Elternhaus zu überqueren. Sie stellte sich den Troll vor, der darunter hauste, sah seine brennenden roten Augen vor sich, die geduckte Haltung, ehe er sich auf sie stürzte. Ob Catherine wohl ihre Kamera dabeihatte? Der alte Mann würde doch ein gutes Motiv abgeben.
Magnus musterte die Mädchen aus wässrigen Augen, sein Blick flackerte. «Herein», sagte er. «Immer herein.» Dann bleckte er die Zähne zu einem Lächeln.
Sally fing an zu plappern. Das passierte ihr immer, wenn sie nervös war. Die Worte purzelten ihr einfach aus dem Mund, ohne dass sie wusste, was sie sagte. Magnus schloss die Tür hinter ihnen, blieb davor stehen und versperrte so den einzigen Weg nach draußen. Er bot ihnen Whisky an, aber Sally war klug genug, nicht darauf einzugehen. Schließlich konnte er Gott weiß was hineingetan haben. Sie zog die Weinflasche aus der Tasche, lächelte ihn an, um ihn zu besänftigen, und redete einfach weiter.
Dann wollte sie aufstehen, doch jetzt hielt der Mann ein Messer in der Hand, lang und scharf, mit einem schwarzen Griff. Damit schnitt er den Kuchen, der schon die ganze Zeit auf dem Tisch stand.
«Wir sollten gehen», sagte Sally. «Meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.»
Doch die beiden anderen schienen sie gar nicht zu hören, und sie beobachtete entsetzt, wie Catherine sich ein Stück Kuchen nahm und hineinbiss. Sally sah die Krümel an den Lippen und zwischen den Zähnen ihrer Freundin. Der alte Mann stand mit dem Messer in der Hand vor ihnen.
Als Sally sich nach einem Fluchtweg umsah, entdeckte sie den Vogel in seinem Käfig.
«Was ist das denn?», fragte sie schroff. Die Frage platzte aus ihr heraus, bevor sie sich selbst davon abhalten konnte.
«Ein Rabe.» Er stand reglos da und sah sie an, dann legte er vorsichtig das Messer auf den Tisch.
«Ist das nicht grausam, ihn so gefangen zu halten?»
«Er hat sich den Flügel gebrochen. Er würde nicht wegfliegen, auch wenn ich ihn freilassen würde.»
Doch Sally achtete kaum auf die Erklärung des alten Mannes. Wahrscheinlich wollte er sie hier in seinem Haus behalten, sie einsperren wie den schwarzen Vogel mit seinem grausamen Schnabel und dem verletzten Flügel.
Dann stand Catherine plötzlich auf und klopfte sich die Kuchenkrümel von den Händen. Sally folgte ihrem Beispiel. Catherine ging auf den alten Mann zu, bis sie dicht genug vor ihm stand, um ihn zu berühren. Sie war größer als er und konnte daher auf ihn hinuntersehen. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete Sally, sie würde ihn auf die Wange küssen. Wenn Catherine das tat, musste sie es auch tun. Schließlich war das alles Teil des Spiels, zumindest kam es Sally so vor. Seit sie das Haus betreten hatten, war alles eine einzige Mutprobe. Magnus war schlecht rasiert, in den Falten an seinen Wangen wuchsen stachelige graue Stoppeln. Die Zähne waren gelb und von Speichel verklebt. Lieber würde Sally sterben, als ihn zu berühren.
Doch der Moment ging vorüber, und dann standen sie wieder draußen und lachten so laut, dass Sally fast in die Hose machte und mit Catherine zusammen in den Schnee purzelte. Nachdem ihre Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, brauchten sie keine Taschenlampe mehr, um den Weg zu finden. Am Himmel stand inzwischen ein fast voller Mond, und sie kannten den Weg nach Hause.
Bei Catherine war alles ruhig. Ihr Vater hielt nichts von Silvester und war früh schlafen gegangen.
«Kommst du noch mit rein?», fragte sie.
«Lieber nicht.» Sally wusste, dass genau diese Antwort von ihr erwartet wurde. Manchmal wusste sie beim besten Willen nicht, was Catherine dachte. Und manchmal wusste sie es ganz genau. Jetzt beispielsweise war sie sicher, dass Catherine sie eigentlich nicht mehr dahaben wollte.
«Gib den Wein lieber mir. Dann hast du keine belastenden Beweise dabei.»
«Gut.»
«Ich bleibe hier stehen und warte, bis du zu Hause bist», sagte Catherine.
«Brauchst du nicht.»
Trotzdem blieb Catherine an die Gartenmauer gelehnt stehen und sah ihr nach. Als Sally sich noch einmal umschaute, stand sie immer noch da.
Magnus hätte gern Gelegenheit gehabt, den Mädchen zu erklären, was es mit den Raben auf sich hatte. Es hatte immer Raben auf den Feldern gegeben, seit er ein kleiner Junge war, und seitdem beobachtete er sie. Manchmal sah es aus, als würden sie spielen. Die Vögel kreisten am Himmel und schlugen Haken wie Kinder beim Fangenspielen, dann legten sie plötzlich die Flügel an und stürzten sich vom Himmel herab. Magnus konnte ihnen nachfühlen, wie aufregend das sein musste: das Rauschen des Windes, das Tempo des Sturzflugs. Schließlich flatterten sie aus dem freien Fall davon, und ihr Krächzen klang wie Gelächter. Einmal hatte er die Raben dabei beobachtet, wie sie im Schnee auf dem Rücken den Hügel zur Straße hinunterrutschten, einer nach dem anderen, wie es die Jungen von der Post mit ihren Schlitten machten, bis die energischen Rufe ihrer Mutter sie zwangen, sich wieder von seinem Haus zu entfernen.
Manchmal konnten Raben auch ausgesprochen grausam sein. Einmal hatte er gesehen, wie sie einem neugeborenen kränklichen Lamm die Augen aushackten. Das Mutterschaf brüllte vor Schmerz und Zorn, konnte sie aber nicht verscheuchen. Auch Magnus hatte die Vögel nicht verscheucht, aber er hatte es auch gar nicht versucht. Er konnte den Blick einfach nicht davon abwenden, wie sie hackten und zerrten und ihre Klauen in das Blut tunkten.
In der Woche nach Neujahr dachte er ununterbrochen an Sally und Catherine. Wenn Magnus morgens aufwachte, sah er sie vor sich und träumte von ihnen, wenn er spätabends in seinem Sessel am Feuer einnickte. Ob sie wohl wiederkommen würden? Er ging eigentlich nicht davon aus, aber er konnte den Gedanken auch nicht ertragen, nie wieder mit ihnen zu reden. Währenddessen verschwanden die Inseln unter Eis und Schnee. Teilweise waren die Schneestürme so stark, dass er den Trampelpfad vor dem Fenster nicht mehr sehen konnte. Es fielen nur feine Flocken, die in Kurven und Spiralen wie Rauch durch die Luft wirbelten. Dann ließ der Wind plötzlich nach, die Sonne kam hervor, und das gleißende Licht tat Magnus in den Augen weh. Er musste sie zukneifen, um die Welt draußen erkennen zu können. Er sah die bläuliche Eisschicht auf der Bucht, den Schneepflug, der den Weg zur Hauptstraße frei räumte, und den Postwagen – nur nicht die beiden hübschen jungen Frauen.
Einmal sah Magnus zufällig die Grundschullehrerin Mrs.Henry, Sallys Mutter, aus der Schule kommen. Sie hatte dicke, pelzgefütterte Stiefel an den Füßen und trug eine rosa Jacke mit hochgezogener Kapuze. Obwohl sie viel jünger war als er, fand Magnus, dass sie sich anzog wie eine alte Frau. Zumindest wie eine, die sich keine Gedanken über ihr Aussehen machte. Sie war klein und wirkte sehr geschäftig, wuselte umher, als wäre sie furchtbar in Eile. Während er die Lehrerin beobachtete, hatte er plötzlich Angst, dass sie zu ihm wollte. Vielleicht hatte sie ja herausgefunden, dass Sally in der Neujahrsnacht bei ihm gewesen war. Er stellte sich vor, wie sie ihm eine Szene machte, ihr Gesicht dabei so nah an seins heranbrachte, dass er ihren Atem roch und die Speicheltröpfchen spürte, als sie ihn anbrüllte. «Lassen Sie bloß die Finger von meiner Tochter.» Einen Augenblick lang war er verwirrt. War das Einbildung oder Erinnerung? Doch dann kam sie gar nicht den Hügel zu seinem Haus hinauf, sondern ging einfach weiter.
Am dritten Tag gingen ihm Brot und Milch aus, es waren keine Haferkekse mehr da und auch nicht die Schokoladenplätzchen, die er gern zum Tee aß. Er fuhr mit dem Bus nach Lerwick, obwohl es ihm nicht leichtfiel, das Haus zu verlassen. Am Ende kamen die Mädchen, wenn er nicht da war. Lachend und strauchelnd würden sie den Hügel hinaufstapfen und klopfen, nur um festzustellen, dass niemand zu Hause war. Er würde nicht einmal erfahren, dass sie da gewesen waren, das war das Schlimmste daran. Der Schnee war so hart gefroren, dass sie keine Fußspuren hinterlassen würden.
Er kannte die meisten anderen Fahrgäste im Bus. Mit einigen war er zur Schule gegangen. Dort saß Florence, die bis zu ihrer Pensionierung Köchin im Hotel Skillig gewesen war. In ihrer Jugend waren sie gewissermaßen befreundet gewesen. Damals war sie ein hübsches junges Mädchen und eine hervorragende Tänzerin. Er erinnerte sich an einen Tanzabend im Gemeindesaal in Sandwick. Die Eunson-Brüder waren aufgetreten. Bei einem Tanz war die Musik immer schneller und schneller geworden, und Florence war gestolpert. Magnus hatte sie aufgefangen und dann einen Moment lang an sich gedrückt, bis sie sich lachend zu den anderen Mädchen flüchtete. Weiter vorn im Bus saß Georgie Sanderson, der sich bei einem Unfall so schwer am Bein verletzt hatte, dass er das Fischen aufgeben musste.
Doch Magnus suchte sich einen eigenen Platz, und keiner der anderen sprach ihn an oder nahm auch nur Notiz von ihm. Das war immer so. Wahrscheinlich sahen sie ihn schon gar nicht mehr. Der Fahrer hatte die Heizung voll aufgedreht. Unter den Sitzen kam heiße Luft hervor und ließ den Schnee an den Stiefeln der Fahrgäste schmelzen, bis das Wasser in kleinen Rinnsalen durch den Mittelgang floss, vor und zurück, je nachdem, ob der Bus gerade bergauf oder bergab fuhr. Die Scheiben waren beschlagen, und Magnus merkte nur, dass auch er aussteigen musste, weil sich alle anderen bereit machten.
Lerwick hatte sich zu einem lebhaften Ort entwickelt. In seiner Kindheit hatte er noch jeden gekannt, den er auf der Straße traf. Heute war die Stadt selbst im Winter voll von Fremden und Autos. Im Sommer war es noch schlimmer. Dann kamen die Touristen. Sie stiegen blinzelnd, mit müden Augen von der Nachtfähre aus Aberdeen, wandten den Kopf hierhin und dorthin und sahen sich alles an, als wären sie im Zoo oder auch auf einem fremden Planeten gelandet. Manchmal liefen riesige Kreuzfahrtschiffe in den Hafen ein, die alle Häuser überragten und dort vor Anker lagen. Die Passagiere fielen für eine Stunde in die Stadt ein. Eine richtige Invasion. Sie kamen mit wissbegierigen Mienen und lauten Stimmen, doch Magnus hatte immer das Gefühl, dass sie enttäuscht waren von dem, was sie vorfanden, dass der Ort nicht ihren Erwartungen entsprach. Sie hatten eine Menge Geld für diese Kreuzfahrt bezahlt und fühlten sich betrogen. Lerwick war wohl doch nicht so anders als die Städte, wo sie herkamen.
An diesem Morgen mied Magnus das Zentrum und stieg direkt beim Supermarkt am Stadtrand aus dem Bus. Der See, Clickimin Loch, war zugefroren, darüber kreisten zwei Singschwäne, auf der Suche nach einem Stückchen Wasser zum Landen. Auf dem Weg lief ein Jogger in Richtung Sportcenter. Normalerweise ging Magnus gern in den Supermarkt. Er mochte das helle Licht und die bunten Werbetafeln, bewunderte die breiten Gänge und die vollen Regale. Hier belästigte ihn keiner, niemand kannte ihn. Manchmal machte die Frau an der Kasse eine freundliche Bemerkung über seine Einkäufe. Dann lächelte er zurück und dachte daran, wie es gewesen war, als ihn alle noch freundlich grüßten. Nach dem Einkaufen ging er ins Café und gönnte sich eine Tasse Milchkaffee und etwas Süßes, ein Teilchen mit Aprikosen und Vanillecreme oder ein Stück Schokoladenkuchen, der so klebrig war, dass man ihn mit dem Löffel essen musste.
Heute allerdings hatte er es eilig. Ihm blieb keine Zeit zum Kaffeetrinken, er wollte den nächsten Bus zurück nach Hause nehmen. Mit zwei Einkaufstüten beladen, stand er an der Haltestelle. Trotz der Sonne fielen ein paar Schneeflocken, so fein wie Puderzucker. Sie landeten auf seiner Jacke und in seinem Haar. Diesmal hatte Magnus den Bus ganz für sich allein, und er entschied sich für einen Platz weit hinten.
Catherine stieg zwanzig Minuten später ein, als sie bereits die Hälfte der Strecke nach Hause zurückgelegt hatten. Zunächst sah er sie gar nicht. Er hatte die beschlagene Scheibe an einer Stelle sauber gewischt und schaute aus dem Fenster. Magnus merkte zwar, dass der Bus hielt, war aber ganz in seine Träume versunken. Dann brachte ihn irgendetwas dazu, sich umzudrehen. Ihre Stimme vielleicht, als sie den Fahrschein kaufte, obwohl er sie nicht bewusst gehört hatte. Vielleicht war es ihr Parfum gewesen, der Duft, den sie am Neujahrsmorgen mit in sein Haus gebracht hatte. Aber wie war das möglich? Er konnte sie doch nicht quer durch den Bus gerochen haben? Er schnupperte in die Luft, nahm aber nichts anderes wahr als Benzin und feuchte Wolle.
Eigentlich erwartete er gar nicht, dass sie ihn bemerkte. Es war schon aufregend genug, sie zu sehen. Die Mädchen hatten ihm beide gefallen, doch Catherine faszinierte ihn besonders. Sie hatte immer noch die blauen Strähnen im Haar, diesmal aber trug sie einen langen Mantel, schwer und grau, der ihr fast bis zu den Knöcheln reichte und am Saum feucht und ein wenig dreckig war. Ihr Schal war handgestrickt und leuchtend rot, wie frisches Blut. Catherine sah müde aus, und Magnus überlegte, wen sie wohl besucht haben konnte. Ohne ihn zu bemerken, ließ sie sich auf den erstbesten Platz sinken, offensichtlich viel zu erschöpft, um noch weiter durch den Bus zu gehen. Von seinem Platz aus konnte er sie nicht besonders gut sehen, glaubte aber, dass sie die Augen geschlossen hatte.
Sie stiegen an derselben Haltestelle aus. Er blieb stehen, um ihr den Vortritt zu lassen, doch sie schien ihn immer noch nicht zu erkennen. Konnte er es ihr verdenken? Für das junge Mädchen sahen wahrscheinlich alle alten Männer gleich aus, so wie die Touristen für ihn. Doch dann blieb sie auf der untersten Stufe stehen, drehte sich um und sah ihn. Sie lächelte zögernd und hielt ihm die Hand hin, um ihm beim Aussteigen zu helfen. Sie trug Wollhandschuhe, sodass er ihre Haut nicht an seiner spürte, doch trotzdem ließ die Berührung ihn erschauern. Diese körperliche Reaktion erstaunte ihn, und er hoffte, dass sie seine Nervosität nicht bemerkte.
«Hallo», sagte sie mit ihrer Stimme wie schwarzer Sirup. «Tut mir leid wegen neulich. Ich hoffe, wir haben Sie nicht zu sehr gestört.»
«Absolut nicht.» Er war ganz kurzatmig vor lauter Aufregung. «Ich fand es schön, dass ihr vorbeigekommen seid.»
Sie grinste, als hätte er etwas Lustiges gesagt.
Schweigend gingen sie ein Stück nebeneinanderher. Wenn ihm nur etwas einfallen würde, was er zu ihr sagen konnte. Er hörte, wie ihm das Blut in den Ohren rauschte, wie es manchmal passierte, wenn er Steckrüben vereinzelte und sich so lange in der prallen Sonne mit der Hacke über das Feld beugte, bis er nur noch keuchen konnte.
«Morgen fängt die Schule wieder an», sagte sie unvermittelt. «Die Ferien sind zu Ende.»
«Gehst du gern zur Schule?», fragte er.
«Eigentlich nicht. Es langweilt mich.»
Darauf wusste er nichts zu sagen. «Ich bin auch nicht gern zur Schule gegangen», sagte er schließlich und setzte dann, nur um etwas zu sagen, hinzu: «Wo warst du denn heute Morgen?»
«Nicht heute Morgen. Letzte Nacht. Ich war bei Freunden, auf einer Party. Irgendwann hat mich jemand zur Bushaltestelle gebracht.»
«War Sally nicht bei dir?»
«Nein, sie durfte nicht. Ihre Eltern sind ziemlich streng.»
«War es eine gute Party?», fragte er. Das interessierte ihn wirklich. Er war selbst nie viel auf Partys gewesen.
«Ach», erwiderte sie. «Das Übliche und…»
Er dachte, sie würde vielleicht noch mehr sagen, und hatte sogar das Gefühl, dass sie ihm ein Geheimnis anvertrauen würde. Inzwischen hatten sie die Stelle erreicht, wo er abbiegen musste, um den Hügel zu seinem Haus hinaufzugehen, und sie blieben beide stehen. Er wartete darauf, dass sie weiterreden würde, doch sie stand einfach nur da. An diesem Morgen hatte sie keine Farben an den Augen, sie waren nur schwarz umrandet und sahen verschmiert und schmutzig aus, als hätte sie die schwarzen Striche die ganze Nacht nicht entfernt. Schließlich blieb Magnus nichts anderes übrig, als das Schweigen zu brechen.
«Komm doch mit herein», sagte er. «Trink einen Schluck Whisky mit mir, gegen die Kälte. Oder einen Tee.»
Er rechnete überhaupt nicht damit, dass sie die Einladung annehmen würde. Sie war ein guterzogenes Mädchen, das sah man sofort. Man hatte ihr bestimmt beigebracht, nie mit Fremden nach Hause zu gehen. Jetzt sah sie ihn an und dachte nach.
«Ein bisschen früh für Whisky», sagte sie.
«Dann einen Tee?» Er spürte, wie seine Lippen sich zu dem schwachsinnigen Grinsen verzogen, über das sich seine Mutter immer so aufgeregt hatte. «Wir könnten Tee trinken und ein paar Schokoladenkekse essen.»
Zuversichtlich ging er den Trampelpfad zu seinem Haus hinauf. Er wusste, dass sie ihm folgen würde.
Obwohl seine Tür niemals abgeschlossen war, machte er sie dem Mädchen auf und trat beiseite, um sie vorgehen zu lassen. Während er wartete, bis sie sich auf der Fußmatte den Schnee von den Stiefeln gestampft hatte, sah er sich um. Draußen war alles still. Kein Mensch war da, der etwas sehen konnte. Kein Mensch ahnte, dass dieses wunderschöne Geschöpf ihn besuchen kam. Sie war sein Schatz, sein Rabe im Käfig.
Fran Hunter besaß zwar ein Auto, benutzte es aber nur ungern für kurze Strecken. Sie machte sich Gedanken um die Erderwärmung und wollte ihren Teil zum Umweltschutz beitragen. Deshalb hatte sie ein Fahrrad mit einem Kindersitz für Cassie, das sie beim Umzug auf der Northlink-Fähre hierhertransportiert hatte. Es war ihr einziges sperriges Gepäckstück gewesen, und es hatte sie mit Stolz erfüllt, so leicht bepackt zu reisen. Bei einem Wetter wie diesem half ihr das Fahrrad allerdings auch nicht weiter, deshalb zog sie Cassie eine Latzhose und eine warme Jacke an, dazu die Gummistiefel mit den grünen Fröschen, und brachte sie mit dem Schlitten zur Schule. Es war der fünfte Januar, der erste Schultag nach den Weihnachtsferien. Als die beiden aufbrachen, war es fast noch dunkel. Fran wusste, dass Mrs.Henry ohnehin schon etwas gegen sie hatte, und wollte sich daher auf keinen Fall verspäten. Auf weitere vielsagende Blicke, hochgezogene Augenbrauen und andere Mütter, die hinter ihrem Rücken über sie tuschelten, konnte sie wirklich verzichten. Cassie fiel es so schon schwer genug, sich einzufügen.
Fran hatte ein kleines Haus an der Straße nach Lerwick gemietet. Gleich daneben stand eine imposante Backsteinkirche, die das Häuschen noch winziger und bescheidener wirken ließ. Es hatte drei Zimmer und ein einfaches Bad, das nachträglich eingebaut worden war, doch die allermeiste Zeit verbrachten sie in der Küche, die sich seit dem Bau des Hauses eigentlich kaum verändert hatte. Der große Herd wurde mit Kohlen beheizt, die jeden Monat mit einem Lastwagen aus der Stadt geliefert wurden. Es gab auch einen Elektroherd, doch Fran mochte den Kohlenherd lieber. Sie hatte eben eine romantische Ader. Inzwischen gehörte kein Land mehr zum Haus, obwohl es früher vermutlich Teil eines Bauernhofs gewesen war. Während der Urlaubssaison wurde es als Ferienhaus vermietet, also würde Fran spätestens zu Ostern eine Entscheidung treffen müssen, wie es mit ihr und Cassie weitergehen sollte. Der Vermieter hatte angedeutet, unter Umständen verkaufen zu wollen. Und Fran betrachtete es bereits als ihr Haus, als ihren Arbeitsplatz. Ihr Schlafzimmer hatte zwei große Dachfenster, von denen man bis zum Raven’s Head sehen konnte. Es war wie geschaffen für ein Atelier.
Cassie plapperte in der grauen Morgendämmerung vor sich hin, und Fran antwortete ihr automatisch, obwohl sie mit den Gedanken ganz woanders war.
Als sie in der Nähe von Hillhead über den Hügel kamen, ging gerade die Sonne auf. Lange Schatten fielen über den Schnee, und Fran blieb stehen, um den Ausblick zu genießen. Über das Wasser hinweg sah sie bis zur Landzunge auf der anderen Seite der Bucht. Es war richtig gewesen zurückzukommen. Es gab kaum einen besseren Ort, um ein Kind großzuziehen. Bis zu diesem Moment hatte sie sich nicht klargemacht, wie sehr sie selbst noch an ihrer Entscheidung gezweifelt hatte. Sie spielte die Rolle der energischen, alleinerziehenden Mutter inzwischen so gut, dass sie sich das alles fast schon selber glaubte.
Cassie war fünf und mindestens so willensstark wie ihre Mutter. Fran hatte ihr Lesen beigebracht, bevor sie in die Schule kam – auch damit hatte sie Mrs.Henrys Missfallen erregt. Das kleine Mädchen war oft laut und rechthaberisch, und manchmal überlegte selbst Fran, die sich solche fürchterlichen Gedanken eigentlich verbot, ob sie nicht ein frühreifes kleines Monster herangezüchtet hatte.
«Es wäre schön», hatte Mrs.Henry beim ersten Elternabend frostig zu ihr gesagt, «wenn Cassie hin und wieder gleich beim ersten Mal tun würde, was man ihr sagt. Und zwar ohne erst eine detaillierte Erklärung einzufordern, warum das jetzt von ihr verlangt wird.»
Fran fühlte sich gedemütigt. Eigentlich hatte sie hören wollen, ihre Tochter sei ein kleines Genie, es sei eine Freude, sie zu unterrichten. Sie verbarg ihre Enttäuschung hinter einer flammenden Verteidigungsrede ihrer Methode der Kindererziehung. Kinder, hatte sie verkündet, sollten das Selbstvertrauen besitzen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und Autoritäten in Frage zu stellen. Das Letzte, was sie wolle, sei ein Kind, das sich widerspruchslos anpasse.
Mrs.Henry hatte sich das alles angehört.
«Es ist sicher nicht leicht», sagte sie, als Fran die Puste ausging, «ein Kind ganz allein großzuziehen.»
Cassie, die wie eine russische Prinzessin auf ihrem Schlitten thronte, wurde langsam unruhig.
«Was ist denn?», fragte sie. «Warum bleibst du stehen?»
Fran hatte sich von den Farbkontrasten ablenken lassen, der Idee für ein Bild, doch jetzt nahm sie das Schlittenseil wieder in die Hand und ging weiter. Genau wie die Lehrerin war auch sie Cassies herrischen Forderungen und Launen unterworfen. Oben auf dem Hügel blieb Fran stehen und setzte sich hinten auf den Schlitten. Sie schlang die Beine um ihre Tochter und griff mit beiden Händen fest nach den zwei Schlingen des Seils. Dann stieß sie sich mit den Fersen im Schnee ab und ließ den Schlitten bergab sausen. Cassie quietschte vor Angst und Aufregung. Sie holperten über die vereisten Furchen und wurden immer schneller, bis sie schließlich unten angekommen waren. Frans Gesicht brannte von Kälte und Sonnenlicht. Sie zog an der linken Schlinge und steuerte den Schlitten in einen frischen Schneehaufen, der vor der Schulhofmauer aufgeschüttet war. Das, dachte sie, ist mit nichts zu vergleichen. Besser kann es nicht mehr werden.
Heute waren sie tatsächlich einmal zu früh dran. Fran hatte an Cassies Leihbuch gedacht, außerdem an ihr Pausenbrot und an Schuhe zum Wechseln. Sie brachte Cassie in die Garderobe, setzte sie auf die Bank und zog ihr die Gummistiefel aus. Im Klassenzimmer war Mrs.Henry dabei, eine Reihe von Zahlen an der Wand zu befestigen. Obwohl sie bereits auf ihrem Pult kniete, kam sie nur mit Mühe hoch genug. Sie trug eine Hose aus irgendeiner Kunstfaser, die leicht glänzte und an den Knien Falten warf, und eine maschinell gefertigte Strickjacke mit angedeutetem Norwegermuster. Fran hatte ein Auge für Kleidung. Nach dem Studium hatte sie als Assistentin in der Moderedaktion einer Frauenzeitschrift gearbeitet. Eine Stilberatung hätte Mrs.Henry nicht geschadet.
«Kann ich Ihnen vielleicht helfen?» Absurderweise fürchtete sie sich davor, dass ihr Angebot abgelehnt werden könnte. Sie hatte schon Fotografen gebändigt, die erwachsene Männer zum Weinen bringen konnten, doch in Mrs.Henrys Gegenwart kam sie sich vor wie eine verschüchterte Sechsjährige. Normalerweise schaffte sie es immer erst kurz vor dem Klingeln in die Schule, und dann war Mrs.Henry längst umringt von Eltern, die sie allesamt gut zu kennen schien.
Die Lehrerin drehte sich jetzt um und war offensichtlich überrascht, Fran zu sehen. «Ja, würden Sie das tun? Das wäre wirklich nett. Komm, Cassie, setz dich hier auf die Matte, schau dir ein Buch an und warte, bis die anderen da sind.»
Wie durch ein Wunder tat Cassie, was ihr gesagt wurde.
Auf dem Rückweg zog Fran den leeren Schlitten hinter sich den Hügel hinauf und dachte, dass es eigentlich erbärmlich war, sich so darüber zu freuen. Was war schon Besonderes daran? Sie hielt doch nicht einmal viel vom Auswendiglernen. Wären sie in England geblieben, hätte sie Cassie möglicherweise sogar auf eine Waldorf-Schule gegeben. Und jetzt freute sie sich wie ein Schneekönig, weil sie das kleine Einmaleins an der Wand des Klassenzimmers befestigt hatte. Und weil Margaret Henry sie angelächelt und beim Vornamen genannt hatte.
Von dem alten Mann, der in Hillhead wohnte, war nichts zu sehen. Manchmal kam er nach draußen, wenn sie vorbeigingen, und grüßte sie. Meistens sagte er nichts, winkte ihnen nur zu, und einmal hatte er Cassie ein Bonbon in die Hand gedrückt. Fran sah es nicht gern, wenn Cassie Süßigkeiten aß – Zucker bestand schließlich nur aus leeren Kalorien, ganz zu schweigen von der Kariesgefahr–, doch er hatte so schüchtern und eifrig gewirkt, dass sie sich einfach nur bedankt hatte. Cassie hatte das leicht staubige gestreifte Pfefferminzbonbon gleich in den Mund gesteckt. Sie wusste, dass Fran sie vor dem alten Mann nicht daran hindern und sie auch, sobald er zurück ins Haus gegangen war, nicht zwingen würde, es wieder auszuspucken.
Fran blieb stehen und schaute noch einmal zum Meer hinunter, in der Hoffnung, das Bild wieder aufleben zu lassen, das sie auf dem Weg zur Schule gesehen hatte. Vor allem die Farben hatten sie gefesselt. Sonst waren die vorherrschenden Farben auf den Inseln sanfter – olivgrün, schlammbraun, meergrau–, und der Nebel ließ sie noch weicher erscheinen. Doch dieses Bild wirkte klar und kräftig im hellen Sonnenlicht des frühen Morgens. Das harte Weiß der Schneedecke, darauf drei Umrisse im Gegenlicht. Raben. In ihrem Bild würden sie eckig erscheinen, fast schon kubistisch. Grobe Vogelgestalten, wie aus hartem dunklem Holz geschnitzt. Und dazwischen dieser Farbfleck: rot, wie der Widerschein der scharlachroten Sonne.
Sie ließ den Schlitten am Wegrand stehen und ging querfeldein, um sich das Ganze aus der Nähe anzusehen. Von der Straße her versperrte ein Tor ihr den Weg. Der Schnee lag so hoch, dass sie es nicht aufschieben konnte, also kletterte sie darüber. Eine Steinmauer teilte das Feld in zwei Teile, an einigen Stellen war sie jedoch in sich zusammengebrochen, sodass eine Öffnung entstand, groß genug für einen Traktor. Als Fran näher kam, veränderte sich die Perspektive, doch das störte sie nicht. Das Bild stand ihr bereits klar vor Augen. Sie hatte geglaubt, die Raben würden wegfliegen, hatte sogar darauf gehofft, sie im Flug beobachten zu können. Es würde ihre Darstellung der Vögel am Boden beeinflussen zu sehen, wie sie flogen und die keilförmigen Schwanzfedern neigten, um im Gleichgewicht zu bleiben.
Fran war ganz konzentriert, und alles wirkte so unwirklich im reflektierten Sonnenlicht, dass ihr der Kopf schwirrte, und so begriff sie erst, als sie genau davorstand, was sie dort sah. Bis dahin war alles nur Form und Farbe gewesen. Dann wurde der kräftige rote Farbklecks plötzlich zu einem Schal. Der graue Mantel und die weiße Haut verschwammen vor dem Hintergrund der Schneedecke, die hier nicht mehr ganz so strahlend weiß war. Die Raben hackten am Gesicht eines Mädchens. Ein Auge fehlte bereits.
Als Fran näher gekommen war, waren die Vögel kurz aufgeflattert, doch jetzt, als sie wie erstarrt stehen blieb, kehrten sie zurück. Sie stieß einen Schrei aus, so laut, dass es hinten in der Kehle schmerzte, und klatschte in die Hände, bis die Vögel sich hoch in den Himmel erhoben. Doch sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Sie erkannte die junge Frau, selbst in diesem veränderten, entwürdigenden Zustand.
Es war Catherine Ross. Der rote Schal lag fest um ihren Hals, seine Fransen zogen sich wie Blutspuren durch den Schnee.
Magnus stand am Fenster und sah hinaus. Seit der ersten Morgendämmerung stand er dort, noch länger sogar. Er hatte nicht schlafen können. Er sah, wie die Frau vorbeiging und das kleine Mädchen auf dem Schlitten hinter sich herzog, und verspürte einen Anflug von Neid. Er selbst war in ganz anderen Zeiten aufgewachsen. Als Magnus klein war, waren die Mütter mit ihren Kindern nicht so umgegangen. Damals gab es kaum Zeit zum Spielen.
Das kleine Mädchen war ihm schon häufig aufgefallen. Einmal war er den beiden sogar bis zur Straße gefolgt, um zu sehen, wo sie wohnten. Das musste im Oktober gewesen sein, denn er hatte an früher denken müssen, als sie sich zu Halloween verkleidet hatten und mit Laternen aus ausgehöhlten Rüben durch die Straßen gezogen waren. Magnus dachte viel an früher. Die Erinnerungen vernebelten ihm das Gehirn und verwirrten ihn.
Die Frau und das kleine Mädchen lebten in dem Haus, wo im Sommer immer die Touristen waren. Früher hatte dort der Pfarrer mit seiner Frau gewohnt. Magnus hatte die beiden ein Weilchen beobachtet, sie hatten nicht gemerkt, dass er durchs Fenster hereinschaute. Er war viel zu schlau, um sich erwischen zu lassen, außerdem wollte er ihnen ja keine Angst machen. Das war nicht seine Absicht. Das kleine Mädchen saß am Tisch und malte mit dicken Buntstiften auf große bunte Papierbögen. Die Frau malte ebenfalls, mit einem Kohlestift und raschen, entschiedenen Bewegungen. Sie stand neben ihrer Tochter und beugte sich über sie, um an das Blatt heranzukommen. Gern wäre Magnus nah genug gewesen, um das Bild zu sehen. Als sie sich das Haar aus dem Gesicht strich, blieb ein rußähnlicher Fleck auf ihrer Wange zurück.
Jetzt dachte er daran, wie hübsch die Kleine war. Sie hatte runde Wangen, die von der Kälte gerötet waren, und goldblonde Locken. Wenn die Mutter sie bloß anders anziehen würde. Er hätte sie gern in einem Röckchen gesehen, einem rosa Röckchen aus Satin mit Spitzenbesatz, in weißen Söckchen und Spangenschuhen. Er hätte das Mädchen gern tanzen sehen. Doch selbst mit Latzhose und Stiefeln konnte man sie nicht für einen Jungen halten.
Von hier aus konnte man nicht hinter die Kuppe des Hügels sehen, wo Catherine Ross im Schnee lag. Magnus wandte sich kurz vom Fenster ab, um sich einen Tee aufzubrühen, dann nahm er mit der Tasse in der Hand seinen Posten wieder ein und wartete. Er hatte keine Verpflichtungen, zumindest keine dringenden. Den Schafen hatte er schon am Abend zuvor Heu gebracht. Inzwischen hielt er ohnehin nur noch wenige Tiere auf dem Hügel. Und an so kalten Tagen, wenn der Boden hartgefroren und schneebedeckt war, blieb ihm draußen sonst kaum etwas zu tun.
«Müßiggang ist aller Laster Anfang.» So deutlich hörte er diese Worte seiner Mutter in seiner Erinnerung, dass er sich beinahe umgedreht hätte, um zu sehen, ob sie nicht in ihrem Sessel am Ofen saß, um die Taille den Gürtel aus Rosshaar, in dem eine Stricknadel zum Fixieren steckte, während die andere sich in rasantem Tempo hin und her bewegte. Für ein Paar Socken brauchte sie einen Nachmittag, einen einfarbigen Pullover strickte sie in einer Woche. Seine Mutter galt als beste Strickerin der südlichen Inseln, obwohl sie sich nie mit dem aufwendigen Fair-Isle-Muster anfreunden konnte. «Ich weiß beim besten Willen nicht, was das soll», pflegte sie zu sagen und betonte dabei das vorletzte Wort so stark, dass es klang, als würde sie ausspucken. «Hält einen schließlich auch nicht wärmer.»
Er fragte sich, welche weiteren Laster wohl ihren Anfang in seinem Müßiggang nehmen würden.
Jetzt kam die Mutter mit dem leeren Schlitten von der Schule zurück. Er sah ihr zu, wie sie vom Fuß des Hügels heraufkam und vorgebeugt mit schweren Schritten bergauf stapfte. Ein Stück unterhalb seines Hauses blieb sie stehen und schaute zur Bucht hinaus. Irgendetwas hatte scheinbar ihre Aufmerksamkeit erregt, und Magnus überlegte, ob er vielleicht nach draußen gehen und sie hereinbitten sollte. Sie fror bestimmt, die Aussicht auf einen Tee würde sie ablenken. Vielleicht konnte er sie auch mit dem Feuer und den Keksen locken. Es waren noch ein paar übrig, und in der Dose lag auch noch ein Stück Ingwerkuchen. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, ob sie wohl Kuchen für ihre Tochter backte. Vermutlich nicht. Bestimmt war auch das heutzutage anders. Warum sollte man diesen Aufwand auch noch betreiben? Zucker und Margarine in einer großen Schüssel schaumig schlagen, den Löffel drehen, wenn man ihn aus dem Topf mit dem schwarzen Sirup zog. Wozu die ganze Mühe, wenn es doch Safeway’s in Lerwick gab, wo man Teilchen mit Aprikosen und Mandeln kaufen konnte und Ingwerkuchen, der mindestens so gut war wie der, den seine Mutter früher gebacken hatte?
Über all den Gedanken zum Backen verpasste er die Gelegenheit, die Frau hereinzubitten. Sie war schon von der Straße weg querfeldein gegangen. Jetzt konnte er nichts mehr tun. Nur noch ihr Kopf war zu sehen, als sie die kleine Senke im Feld hinunterschlitterte – sie trug eine Mütze, irgendein eigenartiges handgestricktes Häubchen–, dann war sie seinen Blicken ganz entzogen. Die drei Raben flatterten auf, als hätte man auf sie geschossen, doch er war zu weit entfernt, um die Frau schreien zu hören. Als sie außer Sichtweite war, hatte er sie auch schon vergessen. Sie war nicht wichtig genug, um ihm als Bild im Kopf zu bleiben.
Jetzt fuhr der Mann der Lehrerin in seinem Landrover die Straße entlang. Magnus kannte ihn, obwohl er noch nie mit ihm gesprochen hatte. Er war heute ungewöhnlich spät dran. Normalerweise verließ er das Schulhaus früh am Morgen und kam erst zurück, wenn es schon dunkel war. Vielleicht hatte der Schneefall seine Pläne durchkreuzt. Magnus war genauestens über das Kommen und Gehen der Talbewohner informiert. Seit dem Tod seiner Mutter war dies seine einzige Unterhaltung. Aus den Gesprächen, die er zufällig auf der Post oder im Bus mit anhörte, wusste er, dass Alex Henry für die shetländische Regierung arbeitete. Irgendetwas mit Naturschutz. Magnus hatte gehört, wie die Männer sich darüber beklagten. Einer von hier sollte es doch eigentlich besser wissen, sagten sie. Für wen hielt dieser Henry sich eigentlich, ihnen Vorschriften zu machen? Die Seehunde fraßen ihnen die Fische weg, und deshalb sollte es ja wohl erlaubt sein, sie zu jagen. Leute wie Henry interessierten sich mehr für die Tiere als für das Auskommen der Menschen. Magnus sah den Seehunden gern zu, einfach drollig, wie sie die Köpfe aus dem Wasser reckten. Aber er hatte natürlich auch nie vom Fischen gelebt. Ihn störten die Seehunde nicht.
Als der Wagen hielt, durchlebte Magnus noch einmal dieselbe Panik, die er bereits verspürt hatte, als er Margaret Henry in seine Richtung kommen sah. Vielleicht hatte Sally ihren Eltern etwas erzählt, und ihr Vater kam jetzt, um Magnus zur Rede zu stellen, weil er die Mädchen in sein Haus gelassen hatte. Offenbar hatte Henry inzwischen noch mehr Anlass, wütend zu sein. Als er aus dem Wagen stieg, runzelte er die Stirn. Er war mittleren Alters, stämmig und etwas übergewichtig, trug eine Barbour-Jacke, die an den Schultern spannte, und schwere Lederstiefel. Wenn es zu einer Prügelei kam, würde Magnus gegen ihn keine Chance haben. Er trat vom Fenster weg, um nicht gesehen zu werden, doch Henry schaute gar nicht in seine Richtung, sondern kletterte über das Tor und folgte den Fußspuren, die die Frau im Schnee hinterlassen hatte. Magnus’ Neugier erwachte wieder. Er hätte gern gewusst, was sich da auf der anderen Seite des Hügels abspielte. Wenn die Frau allein gewesen wäre, wäre er sicher nach draußen gegangen, um nachzusehen. Wahrscheinlich hatte sie dem Mann der Lehrerin gewinkt, ihm zugerufen, er solle anhalten.
Dann, während Magnus sich noch auszumalen versuchte, was dort vor sich ging, kam die junge Mutter plötzlich zurück. Als sie die Straße erreichte, strauchelte sie ein wenig. Sie wirkte aufgewühlt und blickte starr und benommen drein. Magnus kannte diesen Blick. So hatte Georgie Sanderson geschaut, als er sein Boot verkaufen musste, und nach Agnes’ Tod hatte auch seine Mutter so ausgesehen. Als Magnus’ Vater gestorben war, hatte sie längst nicht so erstarrt gewirkt. Damals schien das Leben ganz normal weiterzugehen. «Jetzt sind nur noch wir zwei übrig, Magnus. Du musst jetzt ganz stark für deine Mutter sein.» Sie hatte lebhaft geklungen, fast fröhlich. Tränen hatte sie keine vergossen.
Magnus hatte allerdings den Eindruck, dass die Frau draußen geweint hatte, aber das war schwer zu sagen. Manchmal trieb einem auch der kalte Wind Tränen in die Augen. Sie setzte sich auf den Fahrersitz des Landrovers und ließ den Motor an, fuhr aber nicht weg. Wieder überlegte Magnus, ob er zu ihr hinausgehen sollte. Er würde an die Windschutzscheibe klopfen – beim Brummen des Dieselmotors würde sie ihn nicht kommen hören, und die Scheiben waren so beschlagen, dass sie ihn auch nicht sehen konnte. Er würde fragen, was passiert war. Und wenn sie dann erst mal im Haus war, könnte er ihr vorschlagen, irgendwann einmal mit ihrer kleinen Tochter wiederzukommen. Er machte Pläne, was er dem Mädchen zu essen und zu trinken anbieten würde. Vielleicht diese kleinen runden Kekse mit der rosa Zuckerglasur und Schokoladenstäbchen. Zu dritt wären sie schon eine richtige Teegesellschaft. Und im Hinterzimmer war ja noch die Puppe, die früher Agnes gehört hatte. Vielleicht würde es dem blonden Mädchen Spaß machen, damit zu spielen. Schenken konnte er ihr die Puppe natürlich nicht, das wäre nicht richtig. Er hatte Agnes’ Spielsachen alle aufbewahrt. Aber er konnte nichts Schlimmes daran finden, wenn sie die Puppe in den Arm nahm und ihr Schleifen ins Haar band.
Motorengeräusche rissen ihn aus seinem Traum. Ein weiterer Landrover, diesmal ein dunkelblauer – und am Steuer saß ein Mann in Uniform. Der Anblick der schweren Uniformjacke, der Krawatte und der Kappe, die der Mann aufsetzte, als er aus dem Wagen stieg, ließ Magnus in Panik geraten. Er erinnerte sich noch genau an das letzte Mal. Wieder saß er in dem kleinen Raum mit der glänzenden Lackfarbe an den Wänden, hörte die aufgebrachten Fragen, sah den geöffneten Mund mit den wulstigen Lippen vor sich. Damals waren es zwei Uniformierte gewesen. Sie waren am frühen Morgen gekommen, um ihn zu holen. Seine Mutter wollte mitkommen, war aufgesprungen, um ihren Mantel zu holen, doch die beiden hatten gesagt, das sei nicht nötig. Das war später im Jahr gewesen, es war nicht mehr so kalt, dafür aber feucht, ein böiger Westwind mit Regenschauern.
Hatte tatsächlich nur einer mit ihm gesprochen? Zumindest konnte er sich nur an den einen erinnern.
Die Erinnerung ließ ihn so heftig zittern, dass die Tasse in seiner Hand auf der Untertasse klapperte. Er spürte, wie sein Mund sich zu dem Grinsen verzog, das seine Mutter so verabscheute, seinem einzigen Schutz gegen die Fragen. Es hatte den Fragesteller so verärgert, dass er die Fassung verlor.
«Ist das etwa komisch?», brüllte er ihn an. «Ein kleines Mädchen ist verschwunden. Finden Sie das witzig, ja?»
Magnus fand es überhaupt nicht witzig, doch das Grinsen blieb, wie festgefroren. Er konnte absolut nichts dagegen tun. Und er konnte auch nicht antworten.
«Also?», brüllte der Mann. «Was gibt’s da zu lachen, du perverses Schwein?» Dann stand er ganz langsam auf, und während Magnus noch verwirrt zusah, wie ein unbeteiligter Beobachter, ballte der andere die Hand zur Faust und schlug ihm mitten ins Gesicht. Sein Kopf flog mit solcher Wucht nach hinten, dass er fast mit dem Stuhl umgefallen wäre. Er spürte Blut im Mund, die Splitter abgebrochener Zähne. Der Mann hätte ihn auch noch einmal geschlagen, wenn sein Partner ihn nicht davon abgehalten hätte.
Jetzt dachte Magnus daran, dass Blut nach Metall schmeckte und nach Eis. Er merkte, dass er immer noch die Tasse in der Hand hielt, und stellte sie vorsichtig auf den Tisch. Es konnte nicht derselbe Polizist sein, das wusste er. Schließlich war das Jahre her. Der Polizist von damals musste heute viel älter sein, war vielleicht längst pensioniert. Zögernd trat Magnus zurück ans Fenster und bekämpfte den spontanen Impuls, sich im hinteren Zimmer zu verstecken und die Augen fest zuzumachen. Als Kind hatte er geglaubt, wenn man die Augen zumache, könne einen niemand sehen. Seine Mutter hatte recht gehabt. Er war wirklich ein dummes Kind gewesen. Wenn er jetzt die Augen zumachte, stand der Polizist immer noch draußen vor dem Haus, die Raben flogen weiter krächzend und flügelschlagend, mit blutverschmierten Klauen, am Himmel umher. Und Catherine Ross lag weiterhin reglos im Schnee.
Alex Henry hatte gesagt, sie solle im Landrover warten. Als er sie erreichte, schrie sie immer noch, wegen der Vögel. Sie konnte Catherine nicht einfach diesen Vögeln überlassen.
«Ich passe auf, dass sie nicht wiederkommen», hatte er gesagt. «Versprochen.»
Eine Zeit lang saß Fran aufrecht auf dem Fahrersitz des Landrovers und dachte daran, wie sie Catherine zum letzten Mal gesehen hatte. Sie musste zur Jahresversammlung der Elternvertretung und hatte Catherine gebeten, solange auf Cassie aufzupassen. Sie hatten ein Glas Wein zusammen getrunken und ein bisschen geplaudert, bevor Fran zur Schule hinübergegangen war. Catherine hatte eine souveräne, selbstbewusste Art und wirkte dadurch älter, als sie eigentlich war.
«Hast du dich an der Anderson gut eingelebt?», fragte Fran sie.
Catherine hatte kurz gezögert und ein wenig die Stirn gerunzelt, ehe sie antwortete. «Ja, ganz gut.»
Trotz des Altersunterschieds hatte Fran die Hoffnung gehegt, dass sie sich vielleicht anfreunden würden. Es gab in Ravenswick nicht allzu viele junge Frauen. Und jetzt saß sie hier schwitzend in einem Landrover, dessen Heizung eifrig heiße Luft in den Innenraum pustete. Fran schloss die Augen und versuchte, das Bild des toten Mädchens im Schnee zu vertreiben. Dann fiel sie in einen ebenso plötzlichen wie tiefen Schlaf. Wahrscheinlich eine Schockreaktion, dachte sie später. Als hätte jemand den Stecker gezogen. Eine spontane Flucht.
Als sie die Augen wieder aufschlug, hatte sich ringsum einiges verändert. Schon vorher hatte sie das Schlagen von Autotüren und Stimmen wahrgenommen, die Rückkehr ins wache Bewusstsein aber so lange wie möglich hinausgezögert. Jetzt herrschte draußen plötzlich reges Treiben.
«Mrs.Hunter.» Jemand klopfte ans Fenster des Landrovers. «Ist alles in Ordnung, Mrs.Hunter?» Fran sah das Gesicht eines Mannes, oder vielmehr die impressionistische Version eines Gesichts, verschwommen hinter dem Dampf und dem Dreck auf den Autoscheiben: zerzaustes schwarzes Haar, eine markante Hakennase, schwarze Augenbrauen. Ein Ausländer, dachte sie,