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Ann Cleeves

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Beschreibung

Die Zeit heilt keine Wunden. Es sieht ganz klar wie ein Selbstmord aus, als in einer Fischerhütte in dem kleinen Ort Biddista eine Leiche gefunden wird, erhängt und mit einer Clownsmaske über dem Gesicht. Doch Shetland-Kommissar Jimmy Perez glaubt nicht daran. Er erkennt das Opfer – der Mann, der offenbar an Gedächtnisverlust litt, war am Abend zuvor bei einer Vernissage unter Tränen zusammengebrochen und dann plötzlich verschwunden. Je mehr Perez ermittelt, desto tiefer gräbt er im Morast der kleinen Gemeinschaft von Biddista. Dann wird eine zweite Leiche gefunden. Perez ahnt: Er muss so schnell wie möglich die Wahrheit herausfinden, bevor es weitere Tote gibt. Aber es ist Mittsommer, Tag und Nacht verschwimmen, und nichts ist, wie es scheint …

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Ann Cleeves

Der längste Tag

Übersetzt von Tanja Handels

Über dieses Buch

Die Zeit heilt keine Wunden.

Es sieht ganz klar wie ein Selbstmord aus, als in einer Fischerhütte in dem kleinen Ort Biddista eine Leiche gefunden wird, erhängt und mit einer Clownsmaske über dem Gesicht. Doch Shetland-Kommissar Jimmy Perez glaubt nicht daran. Er erkennt das Opfer – der Mann, der offenbar an Gedächtnisverlust litt, war am Abend zuvor bei einer Vernissage unter Tränen zusammengebrochen und dann plötzlich verschwunden. Je mehr Perez ermittelt, desto tiefer gräbt er im Morast der kleinen Gemeinschaft von Biddista. Dann wird eine zweite Leiche gefunden. Perez ahnt: Er muss so schnell wie möglich die Wahrheit herausfinden, bevor es weitere Tote gibt. Aber es ist Mittsommer, Tag und Nacht verschwimmen, und nichts ist, wie es scheint …

Vita

Ann Cleeves, geboren in Herefordshire, lebt in einem kleinen Küstenstädtchen im Nordosten von Großbritannien. Sie ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimizirkels. Für den ersten Band ihrer erfolgreichen Krimireihe auf den Shetlands, «Die Nacht der Raben», erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», den weltweit wichtigsten Preis der Kriminalliteratur. 2017 wurde Cleeves zudem für ihr Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet, der höchsten Ehrung in der britischen Kriminalliteratur. In einer zweiten Serie begeistert Cleeves mit der kantigen und eigenwilligen Kommissarin Vera Stanhope ihre Fans. Beide Krimireihen wurden verfilmt.

Für Ingrid Eunson,

mit Dank für die schöne Zeit in Gunglesund

Prolog

Die Passagiere strömten vom Kreuzfahrtschiff an Land. Sie trugen leichte Jacken und Sonnenbrillen und Pullover um die Schultern gelegt. Das Wetter, hatte man ihnen gesagt, sei so hoch im Norden unberechenbar. Von Morrison’s Dock aus betrachtet, wirkte das Schiff so gewaltig, dass die Häuser dahinter winzig klein aussahen. Zahllose Fenster reihten sich aneinander, jedes mit einem eigenen Balkon: eine Stadt auf dem Wasser. Es war Mittagszeit in Lerwick. Das Sonnenlicht brach sich in der unbewegten Wasseroberfläche, und der riesige weiße Schiffskörper erstrahlte so hell, dass man die Augen zukneifen musste. Auf dem Parkplatz wartete ein ganzes Busgeschwader, das die Touristen zu den archäologischen Ausgrabungsstätten im Süden der Insel bringen sollte. Man fuhr zu den Klippen am Meer, wo die Seevögel nisteten, um die Papageientaucher zu fotografieren, und konnte eine Führung durch die Silberbergwerke machen. Zwischendurch würde man noch einen Halt für einen typisch shetländischen High Tea einlegen.

Am Fuß des Landungsstegs wartete ein Straßenkünstler: ein bewegliches Kunstwerk, ein lebendiges Stück Theater. Es war ein schlanker Mann im Pierrotkostüm mit einer Clownsmaske vor dem Gesicht. Ohne ein Wort empfing er die durchreisenden Besucher mit einer Pantomime. Er machte eine tiefe Verbeugung, eine Hand vor dem Bauch, die andere mit ausladender Geste zu Boden gestreckt. Die Touristen lächelten. Sie waren offen für Unterhaltung. In fremden Großstädten wurde man ungern angesprochen – schließlich wimmelte es dort von Bettlern und anderen zwielichtigen Gestalten, da war es besser wegzuschauen, gar nicht erst den Blick aufzufangen. Doch hier war man ja auf Shetland, dem ungefährlichsten Ort, den man sich denken konnte. Man wollte ein paar Einheimische kennenlernen. Schließlich musste man ja irgendwie an Geschichten für die Daheimgebliebenen kommen.

Der Clown hatte eine Tasche aus rotem Samt bei sich. Sie war mit Pailletten besetzt, die bei jeder Bewegung glitzerten. Er hatte sich die Tasche quer umgehängt, wie eine ältere Frau, die sich vor Taschendieben fürchtet. Nun griff er hinein, zog einen Schwung bedruckter Zettel heraus und fing an, sie an die Touristen zu verteilen.

Diese begriffen: Das war irgendeine Werbeaktion. Am Ende unterschied sich diese Stadt ja doch nicht so sehr von London, New York oder Chicago. Aber sie ließen sich die Laune nicht verderben. Schließlich waren sie im Urlaub. Also nahmen sie die bunt bedruckten Zettel und fingen an zu lesen. Sie hatten einen freien Abend in Lerwick zur Verfügung – vielleicht gab es ja eine interessante Veranstaltung, die man besuchen konnte. Irgendetwas an diesem Burschen sprach sie an. Er brachte sie zum Schmunzeln, auch wenn seine Maske ihm etwas Unheimliches verlieh.

Als sie in die Busse stiegen, sahen sie ihn die schmale Straße entlang in die Stadt hineingehen. Er verteilte ununterbrochen weiter seine Handzettel an die Passanten.

Eins

Jimmy Perez sah den Straßenkünstler von hinten, als er durch die Stadt fuhr, doch er fiel ihm gar nicht auf. Er hatte zu viel anderes im Kopf.

Gerade war er auf dem Flugplatz in Tingwall gelandet, nach einem Kurzurlaub auf Fair Isle, wo seine Eltern ihren Hof hatten. Drei Tage lang hatte er sich von seiner Mutter verwöhnen lassen und sich die Klagen seines Vaters über den Schafspreis angehört. Und wie nach jedem Besuch daheim fragte er sich auch diesmal, warum es ihm eigentlich so schwerfiel, mit seinem Vater auszukommen. Es gab keinen Streit, keine offenen Feindseligkeiten, und doch verspürte er jedes Mal ein enervierendes Gefühlsgemisch aus Schuld und Unzulänglichkeit.

Dann war da natürlich die Arbeit. Auf seinem Schreibtisch wartete ein ganzer Stoß Unterlagen auf ihn. Sandy Wilsons Spesenrechnungen, die allein ihn vermutlich schon einen kompletten Tag Arbeit kosten würden. Und den Bericht für den Staatsanwalt über einen Fall schwerer Körperverletzung in einer Kneipe in Lerwick musste er auch noch fertig schreiben.

Und Fran. Sie hatten ausgemacht, dass er sie um halb acht in Ravenswick abholen sollte. Vorher musste er unbedingt noch kurz zu Hause vorbeifahren und duschen. Schließlich war das ja ein Rendezvous. Ihr erstes richtiges Rendezvous. Sie trafen sich schon seit einem halben Jahr hin und wieder, waren befreundet. Aber heute war er so nervös wie ein Fünfzehnjähriger.

Pünktlich auf die Minute hielt er vor ihrem Haus, mit nassen Haaren und einem neuen Hemd, in dem er sich noch nicht ganz wohl fühlte. Es wirkte steif, wie frisch gestärkt, und vorne sah man noch ganz leicht die Falte von der Verpackung. Die Kleiderfrage machte ihn immer nervös. Was zog man an zu einer Ausstellungseröffnung – vor allem, wenn eine der ausstellenden Künstlerinnen die Frau war, von der man nachts träumte und die man auch tagsüber kaum aus dem Kopf bekam? Und wenn man hoffte, sie an diesem Abend endlich ins Bett zu kriegen?

Sie war auch nervös, das sah er sofort, als sie zu ihm ins Auto stieg. Sie trug etwas enganliegendes Schwarzes und sah darin so elegant aus, dass er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, jemals eine Chance bei ihr zu haben. Dann lächelte sie dieses schiefe kleine Lächeln, bei dem ihm immer so anders wurde, als hätte er gerade drei Stunden bei stürmischem Westwind auf der Good Shepherd verbracht. Er drückte ihr die Hand. Gerne hätte er ihr gesagt, wie absolut atemberaubend sie aussah, doch ihm fiel nichts ein, was weder plump noch gönnerhaft geklungen hätte. Und so schwiegen sie den ganzen Weg bis nach Biddista.

Die Galerie trug den Namen Herring House: In früheren Zeiten waren dort die Fische getrocknet worden. Sie lag inmitten eines sanften Tals an der Westküste, direkt am Wasser. Ein Stückchen weiter den Strand entlang befand sich eine kleine steinerne Anlegestelle, wo die Fischer ihre Boote festmachten, um den Fang abzuladen. Ein paar Männer hatten immer noch ihre Boote dort liegen. Wenn man aus der Tür trat, roch man Seetang und Salz. Und Bella Sinclair erzählte, als sie das Haus übernommen habe, hätte noch ein leichter Heringsgeruch in den Wänden gehangen.

Bella war die zweite Künstlerin, die an diesem Abend ausstellte. Perez kannte sie, so wie sie im Grunde jeder auf Shetland kannte: von ein bisschen Smalltalk bei der einen oder anderen Party, hauptsächlich aber durch die vielen Geschichten, die über sie kursierten. Sie war eine echte Shetländerin, in Biddista geboren und aufgewachsen. In jungen Jahren musste sie es recht bunt getrieben haben, inzwischen war sie vor allem unnahbar und respekteinflößend. Und reich.

Perez war immer noch ganz aufgelöst von der hektischen Fahrt vom Flughafen und dem Gefühl, dass dieser Abend seine große Chance bei Fran war. Er war so ungeschickt, wenn es um die Gefühle anderer Leute ging. Was, wenn er es nun vermasselte? Als er Bella begrüßte, merkte er, dass seine Hand zitterte. Vielleicht hatte er sich auch einfach nur von Frans Lampenfieber anstecken lassen, von ihrer gespannten Erwartung, wie ihre Arbeiten wohl ankommen würden. Als sie sich unter die Gäste mischten, um die Bilder anzusehen, die an den schmucklosen Wänden hingen, spürte er, wie sich seine Anspannung noch verstärkte. Er nahm kaum wahr, was um ihn herum geschah. Er unterhielt sich mit Fran, nickte Bekannten zu, fühlte sich dabei aber seltsam unbeteiligt. Es kam ihm vor, als lastete ein immer stärker werdender Druck auf seiner Stirn, wie an einem heißen, schwülen Tag, wenn man auf das Gewitter wartete. Erst als Roddy Sinclair auftrat, um für die Gäste zu spielen, ließ Perez’ Spannung ein wenig nach. Als hätte es endlich angefangen zu regnen.

Roddy stand in Licht getaucht mitten im Raum. Es war neun Uhr abends, doch durch die Fenster in dem hohen Schrägdach fiel noch immer Sonne herein, die von den gebohnerten Holzdielen und den weißgetünchten Wänden reflektiert wurde und Roddys Gesicht erstrahlen ließ. Einen Augenblick lang stand er lächelnd und reglos da und wartete, bis die Gäste sich ihm zuwandten, in der unerschütterlichen Überzeugung, ihre Aufmerksamkeit gewinnen zu können. Die Gespräche verstummten, es wurde still im Raum. Roddy sah zu seiner Tante hinüber, die ihm ein ebenso liebevolles wie dankbares Lächeln schenkte. Er hob seine Fiddle, klemmte sie unters Kinn und hielt erneut inne. Einen Moment lang herrschte Stille, dann begann er zu spielen.

Alle wussten, was sie zu erwarten hatten, und er enttäuschte sie nicht. Er spielte wie ein Besessener, dafür war er schließlich bekannt. Für seine Show. Und für die Musik natürlich. Seine shetländische Fiddle-Musik schien einfach alle anzusprechen, sie wurde landesweit im Radio gespielt, die Talkshow-Moderatoren im Fernsehen ergingen sich in Lobeshymnen. Man konnte es kaum fassen: Klatschspalten berichteten über einen Jungen von den Shetland-Inseln, der Champagner trank und mit blutjungen Schauspielerinnen ausging. Er war quasi über Nacht berühmt geworden. Ein Rockstar hatte ihn zu seinem Lieblingsmusiker ernannt, und plötzlich war Roddy Sinclair überall, in den Zeitungen, im Fernsehen, in den Hochglanzmagazinen.

Er hüpfte und tänzelte, und die gesetzten, nicht mehr ganz jungen Besucher, der englische Kunstkritiker und die paar großen Namen, die aus Lerwick nach Norden gekommen waren, stellten ihre Weingläser ab und klatschten im Rhythmus mit. Roddy fiel auf die Knie und ließ sich ganz langsam nach hinten sinken, bis er fast flach auf dem Rücken lag, ohne auch nur eine einzige Note auszulassen. Dann sprang er wieder auf die Füße und spielte, auch jetzt ohne Unterbrechung, weiter. In einer Ecke der Galerie hakte sich ein älteres Paar unter und fing erstaunlich leichtfüßig an zu tanzen.

Roddy spielte so rasant, dass die Zuschauer den Bewegungen seiner Finger kaum folgen konnten. Dann war die Musik plötzlich zu Ende. Der Junge verbeugte sich, und die Leute jubelten. Perez hatte ihn schon oft spielen sehen, und trotzdem rührte dieser Auftritt etwas in ihm an, löste einen seltsam patriotischen Stolz aus, der ihm fast unangenehm war. Er sah Fran von der Seite an. Vielleicht fand sie das alles ja viel zu rührselig? Doch sie jubelte und klatschte wie alle anderen auch.

Bella trat aus dem Schatten zu Roddy ins Licht. Sie streckte einen Arm aus, eine bewusst theatralische Geste in Anerkennung des Auftritts.

«Roddy Sinclair», sagte sie. «Mein Neffe.» Dann ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. «Nur schade, dass er hier nicht mehr Publikum vorgefunden hat.» Und wirklich waren auffallend wenige Leute im Raum. Durch Bellas Kommentar wurde das erst richtig offensichtlich. Das fiel wohl auch ihr auf. Sie runzelte die Stirn und hätte die Bemerkung wohl am liebsten wieder zurückgenommen.

Der junge Mann verbeugte sich noch einmal, grinste und hielt dann mit der einen Hand seine Fiddle, mit der anderen den Bogen in die Höhe.

«Kaufen Sie einfach die Bilder», sagte er. «Dafür sind Sie schließlich hier. Ich bin nur die Vorgruppe. Die Hauptattraktion sind die Bilder.»

Damit wandte er sich von ihnen ab und holte sich ein Glas Wein von einem langen Tisch, der vor der einzigen völlig leeren Wand im Raum aufgebockt war.

Zwei

Fran hatte bereits ein paar Gläser Wein geleert. Sie war sehr viel nervöser, als sie selbst erwartet hatte. Als sie noch bei der Zeitschrift in London arbeitete, war sie bei Dutzenden solcher Anlässe gewesen: Theaterpremieren, Eröffnungen, Vernissagen. Sie hatte sich unter die Leute gemischt, Smalltalk gemacht, sich Namen und Gesichter gemerkt und sich dabei bemüht, nicht gelangweilt zu wirken. Aber das hier war etwas völlig anderes. Viele der Bilder an den Wänden waren von ihr. Sie fühlte sich nackt und ausgesetzt. Wenn man ihre Arbeit ablehnte, war das, als würde sie selbst zurückgewiesen. Am liebsten hätte sie diese Leute, die den Kunstwerken den Rücken zudrehten und sich gegenseitig den neuesten Inselklatsch erzählten, angebrüllt: Schaut euch die Bilder hier an den Wänden doch richtig an. Nehmt sie gefälligst ernst. Ist mir ja egal, ob ihr sie dann furchtbar findet, aber nehmt sie wenigstens ernst!

Und dann waren auch noch viel weniger Leute da als erwartet. Bellas Vernissagen waren sonst immer gut besucht, doch heute waren selbst von den Bekannten, die Fran eingeladen hatte und die sie eigentlich für Freunde hielt, viele nicht gekommen. Vielleicht wollten sie ja nur höflich sein, als sie ihnen von der Ausstellung erzählt hatte und sie versprochen hatten zu kommen. Sie hatten schon Bilder von ihr gesehen und interessierten sich nicht dafür – zumindest nicht genug, um ihnen einen schönen Sommerabend zu opfern, mit dem sich so viel Besseres anfangen ließ. Schließlich war das die Jahreszeit für Grillpartys und Bootstouren. Fran nahm sich die schlechten Besucherzahlen zu Herzen.

Perez näherte sich von hinten. Sie spürte die Bewegung und drehte sich um. Wie jedes Mal, wenn sie ihn unerwartet vor sich sah, dachte sie als Erstes, dass sie ihn zeichnen wollte. Es juckte ihr förmlich in den Fingern, sofort zum Kohlestift zu greifen. Eine weiche Zeichnung würde es werden, ohne scharfe Konturen. Sehr dunkel. Perez war Shetländer. Seine Familie war seit dem 16. Jahrhundert auf den Inseln ansässig, trotzdem hatte er kein Wikingerblut in den Adern. Sein Ahnherr war an Land gespült worden, nachdem ein Schiff der Armada vor Fair Isle gekentert war, zumindest erzählte er das selbst so. Fran fragte sich, ob er diese Legende wohl vor allem deshalb glaubte, weil sie eine Erklärung dafür bot, dass er so anders war. Und diesen seltsamen Namen hatte. Es gab auf den Inseln noch andere Leute, die genauso dunkles Haar und olivenfarbene Haut hatten wie er – «schwarze Shetländer», sagten die Einheimischen –, doch in dieser Runde stach er hervor, wirkte exotisch und fremdländisch.

«Läuft doch gar nicht schlecht», sagte er. Sein Ton klang vorsichtig. Überhaupt war er in einer merkwürdigen Verfassung an diesem Abend. Vielleicht war er ja auch nervös. Er wusste schließlich, was das für sie bedeutete. Ihre erste Ausstellung. Und sie waren ohnehin sehr vorsichtig miteinander. Fran blieb auf Distanz, wollte sich ihre Unabhängigkeit bewahren. Wenn sie etwas mit Perez anfing, würde sie sich nicht nur auf ihn einlassen, sondern auch auf seine Familie, auf die ganze Fair-Isle-Geschichte. Und er hätte eine alleinerziehende Mutter am Hals. Ein fünfjähriges Kind. Das war viel zu viel, um auch nur darüber nachzudenken. Aber natürlich dachte sie trotzdem darüber nach. In diesen langen Sommernächten, wenn es nie richtig dunkel wurde, dachte sie an ihn. Bilder blitzten vor ihr auf wie Dias, die in einen altmodischen Projektor geschoben wurden. Manchmal stand sie dann auf und setzte sich vors Haus, sah der Sonne zu, die über dem grauen Wasser nie ganz untergehen wollte, und überlegte, wie sie ihn zeichnen würde. Seinen langgestreckten Körper, von ihr weggedreht. Die Knochen, die sich unter seiner Haut abzeichneten. Die harte Wirbelsäule, die sanfte Rundung seines Hinterns. Aber das alles existierte ja nur in ihrer Phantasie. Er küsste sie auf die Wange, legte ihr die Hand auf den Arm, doch darüber hinaus bestand kein körperlicher Kontakt zwischen ihnen. Vielleicht gab es ja eine andere Frau in seinem Leben, von der er träumte, wenn er wegen der Helligkeit nicht schlafen konnte. Vielleicht wartete er auch auf ein Zeichen von ihr.

Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, war Fran für einen Monat zurück in den Süden, nach England, gegangen. Sie hatte es vor sich selbst damit gerechtfertigt, dass sie es für ihre Tochter tat. Cassie hatte ein Drama durchlebt, das selbst Erwachsene traumatisiert hätte, und Fran glaubte, es würde ihr helfen, das alles zu verarbeiten, wenn sie eine Zeitlang nicht auf Shetland war. Nach ihrer Rückkehr hatte Perez sich bei ihr gemeldet, sich erkundigt, wie es ihr und der Kleinen ging. Rein berufliches Interesse, hatte Fran sich gesagt und doch gehofft, dass mehr dahinterstecken könnte. Daraus war eine lockere Freundschaft entstanden. Fran war zurückhaltend geblieben: Sie fühlte sich immer noch als Fremde hier und war sich nicht sicher, was von ihr erwartet wurde. Das Scheitern ihrer Ehe hatte ihr Selbstbewusstsein erschüttert. Eine weitere Zurückweisung würde sie nicht ertragen.

«Es läuft total schlecht», sagte sie jetzt. «Es ist ja kaum ein Mensch da.» Ihr war klar, wie undankbar das klang, aber sie konnte einfach nicht anders. «Man sollte doch meinen, dass ein paar mehr Leute kommen, schon allein, weil der Wein umsonst ist und Roddy Sinclair spielt.»

«Aber die Leute, die hier sind, sind dafür auch richtig interessiert», sagte Perez. «Schau doch nur.»

Fran wandte sich von ihm ab und sah sich um. Perez hatte recht. Die Gäste hatten ihre Aufmerksamkeit von Wein und Musik abgewandt, sie gingen durch die Galerie, sahen sich die Bilder an, blieben hin und wieder stehen, um ein Detail genauer zu betrachten. Der Raum war zu gleichen Teilen zwischen Frans und Bellas Arbeiten aufgeteilt. Ursprünglich war die Ausstellung als Bella-Sinclair-Retrospektive konzipiert worden. Sie präsentierte Werke aus den letzten dreißig Jahren: Gemälde und Zeichnungen, die aus Sammlungen im ganzen Land zusammengetragen worden waren. Die Einladung an Fran, mit ihr auszustellen, war völlig überraschend gekommen.

«Du kannst stolz auf dich sein», sagte Perez, und Fran wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hoffte, dass er noch etwas Schmeichelhaftes über ihre Arbeiten sagen würde. Zittrig und exponiert, wie sie sich an diesem Abend fühlte, konnte sie jedes Kompliment gebrauchen.

Doch er beobachtete schon wieder die Gäste. «Der da drüben wirkt besonders interessiert.» Fran folgte seinem Blick und sah einen Mann mittleren Alters, der auf künstlerisch-lässige Weise elegant gekleidet war. Er war geradezu mädchenhaft schlank, trug ein schwarzes Leinensakko über einem schwarzen T-Shirt, dazu eine weite schwarze Hose. Gerade betrachtete er ein frühes Selbstporträt von Bella. Eine ganz besonders zügellose Bella im roten Kleid: Der Mund ein scharlachrot geschminkter Schlitz, das Haar aus dem Gesicht, wirkte sie mindestens ebenso erotisch wie verstörend. Es war ein Ölgemälde, mit dick und pastos aufgetragenen Farben und äußerst gewagter Pinselführung.

Dann ging er weiter, trat neben Roddy Sinclair und starrte auf eine Arbeit von Fran, eine Zeichnung von Cassie am Strand von Ravenswick. Irgendetwas an der Intensität seines Blicks erfüllte Fran mit Unbehagen, obwohl er Cassie anhand des Bildes niemals auf der Straße erkennen konnte. Eigentlich, dachte sie, wirkt er eher entsetzt als interessiert. Als hätte er gerade eine Gräueltat mit ansehen müssen. Oder einen Geist erblickt.

«Er ist nicht von hier», bemerkte Perez. Fran war derselben Ansicht, und das nicht nur, weil sie ihn nicht kannte. Sein ganzer Habitus entlarvte ihn als Ausländer aus dem Süden: seine Kleidung, seine Haltung, die Art, wie er die Bilder betrachtete.

«Was glaubst du, wer er ist?» Sie musterte den Mann möglichst unauffällig über den Rand ihres Weinglases hinweg, doch er war immer noch so sehr in die Zeichnung vertieft, dass er ihren Blick wahrscheinlich auch nicht bemerkt hätte, wenn er sich umgedreht hätte.

«Irgendein stinkreicher Sammler.» Perez grinste sie an. «Er wird sämtliche Bilder von dir kaufen und dich weltberühmt machen.»

Fran kicherte – ein kurzer Moment der Entspannung. «Oder der Kunstrezensent irgendeiner Sonntagszeitung. Dann komme ich in eine Artikelserie über die neuesten aufstrebenden Talente.»

«Klar», sagte Perez. «Warum denn nicht?»

Fran drehte sich wieder zu ihm um. Sie dachte, dass er immer noch scherzte, doch er hatte die Stirn leicht gerunzelt.

«Im Ernst.» Jetzt lächelte er wieder. «Du bist wirklich gut.»

Fran wusste nicht, was sie sagen sollte, und suchte noch nach einer witzigen, selbstironischen Bemerkung, da sah sie, dass der Fremde sich umgedreht hatte. Er fiel auf die Knie, wie zuvor Roddy mit seiner Violine. Dann schlug er die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

Drei

Perez dachte sich, dass um diese Jahreszeit alle ein bisschen durchdrehten. Das lag am Licht, das am Tag so intensiv war und auch nachts nie ganz verschwand. An der Sonne, die nie völlig am Horizont unterging, sodass man selbst um Mitternacht noch draußen lesen konnte. Die Winter waren hier so düster und dunkel, dass die Menschen im Sommer von einer Art Rastlosigkeit befallen wurden, einer fieberhaften Aktivität. Man glaubte, die schöne Zeit ausnutzen, draußen sein und sie genießen zu müssen, ehe die dunklen Tage wiederkamen. Die Shetländer nannten die Zeit der Mitternachtssonne «Simmer Dim». Und diesmal war es gewissermaßen noch schlimmer als sonst. Normalerweise war das Wetter unberechenbar, wechselte fast stündlich zwischen Regen und Wind und kurzen Sonnenphasen, doch in diesem Jahr war es seit fast vierzehn Tagen anhaltend schön. Auch die Leute aus dem Süden bekamen die fehlende Dunkelheit zu spüren. Manchmal reagierten sie darauf sogar noch extremer als die Einheimischen. Sie waren das einfach nicht gewöhnt. Die Vögel, die noch spät am Abend zwitscherten, die Abenddämmerung, die die ganze Nacht dauerte, die Natur, die so völlig von ihrem gewohnten Muster abwich: Das alles wirkte verstörend auf sie.

Als er den schwarzgekleideten Mann inmitten eines Flecks aus Sonnenlicht auf die Knie sinken und in Tränen ausbrechen sah, war Perez überzeugt davon, dass es sich um einen solchen Fall von Mittsommerwahn handeln musste, und er hoffte, dass sich jemand anders darum kümmern würde. Es war ein äußerst theatralischer Ausbruch. Aber der Mann war ja wohl kaum aus eigenem Antrieb hergekommen. Bella Sinclair musste ihn eingeladen haben, oder einer von den anderen Gästen hatte ihn mitgebracht. Vom Süden aus war Herring House nicht leicht zu erreichen, selbst wenn man es schon bis nach Lerwick geschafft hatte. Wahrscheinlich ging es um eine Frau, dachte Perez. Oder der Mann war selbst Künstler und wollte auf sich aufmerksam machen. Perez hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die unter ernsthaften Depressionen litten und tatsächlich ständig mit den Tränen kämpften, die Öffentlichkeit eher mieden. Sie verkrochen sich in ihrer Ecke und versuchten, sich unsichtbar zu machen.

Doch niemand kam dem Mann zu Hilfe. Die anderen Gäste hörten auf zu reden und beobachteten mit peinlich berührter Faszination, wie er weiter schluchzte, das Gesicht jetzt ins Licht gedreht, während seine Arme schlaff herunterhingen.

Perez spürte Frans stummen Vorwurf neben sich. Sie erwartete natürlich, dass er etwas unternahm. Es spielte keine Rolle, dass er nicht im Dienst war. Er musste schließlich wissen, was in so einem Fall zu tun war. Und damit nicht genug: Sie nutzte es überhaupt schamlos aus, dass er sie anbetete. Sie gab das Tempo vor. Wie lange wartete er jetzt schon auf eine solche Verabredung? Er wollte ihr um jeden Preis gefallen, deshalb hatte er sich ausschließlich nach ihr gerichtet, die ganze Zeit. Bisher war ihm gar nicht aufgefallen, wie sehr er nach ihrer Pfeife tanzte – jetzt traf ihn die Erkenntnis ganz unerwartet. Doch gleich nach diesem plötzlichen Anfall von Frustration dachte er schon wieder, wie wenig einfühlsam solche Gedanken waren. Sie hätte fast ihre Tochter verloren. Musste man ihr da nicht Zeit lassen, sich davon zu erholen? Außerdem war sie das Warten nun wirklich wert. Er ging zu dem weinenden Mann hinüber, hockte sich neben ihn, half ihm auf die Füße und führte ihn fort von den Blicken der anderen.

Sie gingen in die Küche, wo der junge Koch Martin Williamson gerade große Tabletts mit Partyhäppchen bestückte. Perez kannte ihn, er hätte seine ganze Lebensgeschichte herunterbeten können und höchstens ein paar Sekunden nachdenken müssen, bis ihm auch die Vornamen seiner Großeltern wieder eingefallen wären. Herring House beherbergte ein eigenes Restaurantcafé, das Martin führte. Natürlich stand auch an diesem Abend Hering auf dem Programm, schmale Streifen, die sich auf runden Sodabrotscheibchen kringelten. Es waren eingelegte Heringe, die einen frischen Duft nach Essig und Zitrone verströmten. Außerdem gab es einheimische Austern und shetländischen Räucherlachs. Perez hatte seit mittags nichts mehr gegessen und spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Martin hob den Kopf, als sie hereinkamen.

«Stört es Sie, wenn wir uns einen Augenblick hierhersetzen?»

«Solange Sie sich vom Essen fernhalten. Gesundheits- und Hygienevorschriften, Sie wissen schon», antwortete Martin grinsend. Perez erinnerte sich, dass er bereits als Kind immer fröhlich gewesen war. Er hatte ihn manchmal bei Hochzeiten und anderen Feiern getroffen und sah ihn in der Erinnerung immer nur lachend vor sich, mitten im Getümmel.

Martin machte sich wieder an die Arbeit und beachtete sie nicht weiter. Von draußen, aus der Galerie, drang Fiddle-Musik herein. Roddy war für einen weiteren Auftritt herbeigeholt worden, um das betretene Schweigen zu überbrücken und die Gäste wieder in die richtige Stimmung zum Geldausgeben zu bringen. Und der Fremde schluchzte immer noch. Plötzlich hatte Perez großes Mitleid mit ihm und fand sich herzlos, weil er sich vom Essen hatte ablenken lassen. Er selbst konnte sich absolut nicht vorstellen, seinen Schmerz auf diese Weise zu zeigen – es musste also etwas Furchtbares passiert sein, wenn der Mann in aller Öffentlichkeit weinte. Oder aber er war krank. Wahrscheinlich war das der Fall.

«He», sagte er. «So schlimm kann es doch gar nicht sein.» Er zog dem Fremden einen Stuhl heran, damit er sich setzen konnte.

Der Mann sah ihn an, als bemerkte er ihn erst jetzt.

Dann wischte er sich mit dem Handrücken die Augen – eine so kindliche, ungekünstelte Geste, dass Perez zum ersten Mal echte Sympathie für ihn empfand. Er kramte ein Taschentuch hervor und gab es dem Mann.

«Ich weiß gar nicht, was ich hier mache», sagte der Fremde. Er ist eindeutig Engländer, dachte Perez, wenn auch nicht aus dem Süden des Landes. Roy Taylor fiel ihm ein, ein Kollege aus Inverness, der ursprünglich aus Liverpool stammte. Klang der Akzent dieses Mannes wie der von Roy? Nicht ganz.

«Das Gefühl hat doch jeder mal.»

«Wer sind Sie?»

«Ich heiße Jimmy Perez. Ich bin Polizist. Aber ich bin nicht dienstlich hier in Herring House. Ich bin mit einer der Künstlerinnen befreundet.»

«Herring House?»

«Das Haus hier, die Galerie. Die heißt so.»

Der Mann gab keine Antwort. Es war, als wäre er wieder ganz in seinem Schmerz versunken und würde nicht mehr zuhören.

«Wie heißen Sie?», fragte Perez.

Wieder keine Antwort, nur ein leerer Blick.

«Sie werden mir ja wohl noch Ihren Namen sagen können.» Langsam verlor Perez die Geduld. Er hatte gehofft, an diesem Abend endlich seine Beziehung zu Fran klären zu können. Er hatte sich ausgemalt, die Nacht bei ihr zu verbringen, und die Phantasien, die damit einhergingen, hätten all seine Freunde bestimmt schockiert. Sie schockierten ihn ja selbst. Cassie übernachtete bei ihrem Vater, das hatte Fran ihm erzählt, und das war ja wohl ein gutes Zeichen. Sonst ließ Perez sich immer viel zu schnell von den Gefühlen anderer Leute überrollen, doch diesmal gab es etwas, was ihn anspornte, dem weinenden Fremden zu widerstehen.

Der Engländer hob den Kopf.

«Ich weiß meinen Namen nicht», sagte er schlicht. Alle Theatralik war verschwunden. «Ich weiß ihn nicht mehr. Ich habe meinen Namen vergessen, und ich weiß auch nicht, warum ich hier bin.»

«Wie sind Sie denn hierhergekommen? Nach Herring House? Oder überhaupt nach Shetland?»

«Ich weiß es nicht.» Jetzt stahl sich ein Anflug von Panik in die Stimme des Mannes. «Ich erinnere mich an gar nichts, was vor diesem Bild war. Dem Bild von der Frau in Rot, das da draußen an der Wand hängt. Es war, als wäre ich überhaupt erst zur Welt gekommen, als ich mir das Bild ansah. Als wäre das alles, was ich weiß.»

Perez fragte sich, ob das Ganze vielleicht ein Streich sein konnte. Das war genau die Sorte von Schnapsidee, die Sandy komisch finden würde. Sandy, der aus Whalsay stammte und für Perez arbeitete, hatte einen recht infantilen Sinn für Humor. Vermutlich wusste das ganze Team, dass der Chef heute mit der englischen Künstlerin hier sein würde, und Perez traute ihnen durchaus zu, dass sie versuchen würden, ihm den Abend zu verderben. Vermutlich fänden sie das unwahrscheinlich witzig.

Der Mann wies keinerlei Spuren einer Kopfverletzung auf. So elegant und gepflegt, wie er aussah, konnte man sich auch kaum vorstellen, dass er einen Unfall gehabt hatte. Aber wenn das alles tatsächlich nur Show war, dann war er sehr überzeugend. Die Tränen, das konvulsivische Zittern – das konnte man doch sicher nicht so einfach nachmachen? Und woher sollte Sandy ihn kennen? Wie hätte er den Mann zu diesem Auftritt bewegen sollen?

«Leeren Sie doch einfach mal Ihre Taschen aus», sagte Perez. «Sie haben bestimmt einen Führerschein oder eine Kreditkarte bei sich. Dann können wir Ihnen zumindest einen Namen geben, Ihre Angehörigen ausfindig machen und vielleicht auch herausfinden, was genau passiert ist.»

Der Engländer stand auf und griff in die Innentasche seines Sakkos. «Sie ist nicht da», sagte er. «Da habe ich sonst immer meine Brieftasche.»

«Daran erinnern Sie sich also?»

Der Mann geriet ins Stocken. «Dachte ich zumindest. Aber wie soll ich mir denn noch mit irgendetwas sicher sein?» Langsam und sorgfältig fing er an, die anderen Taschen zu durchsuchen, aber da war nichts. Er zog das Sakko aus und reichte es Perez. «Sehen Sie mal nach.»

Perez durchsuchte die Taschen, obwohl er genau wusste, dass er nichts finden würde. «Was ist mit den Hosentaschen?»

Mit verängstigter Miene kehrte der Mann seine Hosentaschen nach außen. Es sah fast lächerlich aus, wie er so dastand, das weiße Innenfutter der Taschen vor den schwarzen Hosenbeinen.

«Und Sie hatten gar nichts bei sich?», fragte Perez weiter. «Eine Tasche vielleicht? Oder eine Aktenmappe?» Er merkte selbst, dass er zunehmend verzweifelt klang. Der Traum von der Nacht mit Fran schien in immer weitere Ferne zu rücken.

«Woher soll ich das wissen?» Es klang fast wie ein Schrei.

«Ich gehe mal nachsehen.»

«Nein», rief der Mann. «Lassen Sie mich nicht allein.»

«Wovor haben Sie denn solche Angst? Hat Ihnen jemand etwas getan?»

Der Fremde dachte einen Augenblick nach. War vielleicht doch ein Fetzen Erinnerung zurückgekehrt? «Ich weiß es nicht genau.»

«Dann kommen Sie eben mit, wenn Sie wollen.»

«Nein, ich kann diesen Leuten nicht nochmal gegenübertreten.»

«An die Leute erinnern Sie sich also?»

«Das habe ich doch gesagt. Ab dem Bild erinnere ich mich an alles.»

«War es etwas an dem Bild, das Sie so verstört hat?»

«Kann sein. Ich weiß es nicht.»

Perez erhob sich, sodass sie einander zu beiden Seiten des Tisches gegenüberstanden. Der Koch war aus der Küche gegangen, und draußen hatte Roddy Sinclair aufgehört zu spielen. Aus der Galerie drang gedämpftes Stimmengewirr herein. «Ich werde jetzt nachsehen, ob Sie vielleicht eine Tasche bei sich hatten», sagte Perez. «Und herausfinden, ob Sie jemand kennt, ob jemand gesehen hat, wie Sie hergekommen sind. Hier kann Ihnen nichts passieren.»

«Gut», sagte der Mann. Aber er klang verunsichert, wie ein Kind, das sich einzureden versucht, es hätte gar keine Angst im Dunkeln.

In der Galerie unterhielt sich Fran angeregt mit einer fülligen Frau in einem geblümten Zelt von einem Kleid. Frans Wangen waren leicht gerötet. Als Perez an ihnen vorbeiging, bekam er mit, dass die Frau ein Bild gekauft hatte und sie jetzt besprachen, wie man es am besten nach England transportieren konnte. Eine Touristin, dachte er. Es war ja auch die entsprechende Jahreszeit. Und offenbar eine wohlhabende Touristin: Gerade erklärte sie, wie sehr sie Frans Werk bewundere und ob man vielleicht über eine Auftragsarbeit reden könne. Er war plötzlich ungemein stolz auf Fran.

Bella kam auf ihn zu und ließ auf dem Weg einen älteren Herrn abblitzen, der versuchte, sie auf sich aufmerksam zu machen. Mit ihrem kurzen grauen Haar, den langen Silberohrringen und dem grauen Seidenoberteil sah sie aus wie ein großer, silbriger Fisch. Das lag auch an ihrem Mund, fand Perez, und an den großen, hellen Augen. Sie war immer noch sehr attraktiv. In jüngeren Jahren galt sie als große, fast schon legendäre Schönheit, und sie hatte immer noch etwas an sich, dem man sich kaum entziehen konnte. «Danke, dass Sie sich um diesen bedauernswerten Mann gekümmert haben, Jimmy. Was war denn los mit ihm?» Sie sah ihn aus durchdringenden grauen Augen an.

«Das weiß ich noch nicht genau.» Wenn es nicht unbedingt nötig war, gab Perez keine Informationen weiter. Das hatte er sich schon als Kind angewöhnt. In der kleinen Dorfgemeinschaft, in der er aufgewachsen war, hatte man so wenig Privatsphäre gehabt, dass ihm jedes bisschen kostbar war. Und heute, bei der Arbeit, waren Informationen eine harte Währung, mit der man nicht leichtfertig um sich warf. Andernorts, wo es etwas anonymer zuging, spielte es keine Rolle, wenn ein Polizist etwas indiskret war. Ein Tischgespräch beim Abendessen mit der Ehefrau hier, eine lustige Anekdote in der Kneipe dort – kein Mensch würde je davon erfahren. Hier jedoch kehrten solche Geschichtchen gern zurück, um den Urheber von neuem heimzusuchen. «Wissen Sie, wer das ist, Bella? Vielleicht ein Kunsthändler oder ein Journalist? Er ist Engländer.»

«Nein. Ich war davon ausgegangen, dass Fran ihn eingeladen hat.»

«Er war sehr fasziniert von Ihrem Selbstporträt.»

Bella zuckte die Achseln. Sie fand es offensichtlich ganz natürlich, dass ihre Arbeit die Menschen faszinierte.

«Haben Sie ihn hereinkommen sehen?»

«Er kam, kurz bevor Roddy das erste Mal gespielt hat. Ich habe ja schon zahllose Auftritte von ihm gesehen, darum war ich nicht ganz so gefesselt wie alle anderen.»

«War der Mann allein?»

«Ja, da bin ich mir sicher.»

«Ihnen ist nicht zufällig aufgefallen, ob er eine Tasche bei sich hatte?»

Sie schloss für einen Moment die Augen, um sich die Szene wieder ins Gedächtnis zu rufen. Ihre visuelle Erinnerung würde sie nicht trügen. Immerhin war sie Malerin.

«Nein», sagte sie schließlich. «Keine Tasche. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und wirkte eigentlich ganz gelöst. Er ist ziemlich weit hinten stehengeblieben, bis Roddy fertig war. Dann ist er zu meinem Bild hinübergegangen und danach weiter zu der Zeichnung von Cassie. Die schien ihn sehr zu berühren, fanden Sie nicht auch?» Sie sah ihn an, wartete auf eine Antwort.

«Er macht einen etwas verwirrten Eindruck», sagte Perez. «Ich weiß auch nicht recht. Vielleicht eine Art Nervenzusammenbruch. Am besten bringe ich ihn zum Arzt.»

Doch Bella hörte schon nicht mehr richtig zu. Ihr Blick schweifte umher, um weiter das Interesse an den Kunstwerken zu verfolgen.

«Das ist Peter Wilding, der da mit Fran redet», sagte sie. «Ich hoffe, sie ist nett zu ihm. Er ist ein potenzieller Käufer.»

Die Frau in dem geblümten Kleid hatte von Fran abgelassen und ihren Platz an einen Mann mittleren Alters mit einem weißen Hemd, auffallend dunklem Haar und einem stechenden Blick abgetreten. Gerade sprach Fran, und er neigte sich zu ihr und lauschte mit leicht schräg gelegtem Kopf, als wollte er nicht ein Wort versäumen.

Bella lachte leise und entfernte sich wieder. Auf dem Weg zurück in die Küche ging Perez absichtlich an den beiden vorbei. Inzwischen hatte Wilding das Wort ergriffen. Er sprach leise, und obwohl Perez in dem allgemeinen Stimmengewirr keine einzelnen Wörter unterscheiden konnte, wusste er doch ganz genau, dass der Mann jetzt Frans Werke über den grünen Klee lobte. Fran merkte nicht einmal, dass Perez vorbeiging.

In der Küchentür blieb er stehen. Martin Williamson stand mit dem Rücken zu ihm an der Spüle und wusch seine Töpfe aus. Der geheimnisvolle Fremde war verschwunden.

Vier

Kenny Thomson schaute von oben auf Herring House hinunter. Ein Stück davor, am Strand, hatte er sein Boot liegen. Er hatte es bis hinter die Gezeitenlinie gezogen, da war es bei diesem ruhigen Wetter gut aufgehoben. Später im Jahr würde er es auf den Anhänger laden, mit einer Plane zudecken und bis aufs Gras hinaufziehen, wo es keine Flut und kein Unwetter ins Meer reißen konnte. Jetzt war es noch sehr viel einfacher, das Boot am Strand liegen zu lassen. Eigentlich, dachte er, war es kein schlechter Abend, um hinauszufahren, vielleicht ein paar Köhler zu fangen, aber das würde er wohl doch nicht machen. Er fischte gern, wenn auch längst nicht mehr so leidenschaftlich wie als Kind oder als junger Bursche. Früher, als sie noch Kinder waren, hatte Willy, einer der Alten aus Biddista, ihn und seinen Bruder oft im Boot mit hinausgenommen. Und auch als Erwachsene waren sie noch viel zusammen fischen gewesen. An schönen Abenden hatte er Lawrence angerufen: «Wie wär’s mit ein, zwei Stündchen auf dem Wasser?» Doch dann war Lawrence für immer von Shetland fortgegangen, und seither war es einfach nicht mehr dasselbe. Sicher, es gab noch andere Männer, mit denen er fischen gehen konnte und die bestimmt begeistert wären, wenn er sie fragte. Aber Kenny wusste, dass es ihn einfach zu viel Mühe kosten würde, nett zu ihnen zu sein. Er würde so tun müssen, als ob er sich für ihr Leben interessierte, für ihre Arbeit, ihre Ehefrauen. Bei Lawrence hatte er sich nie verstellen müssen.

Er wusste, dass in Herring House ein Fest stattfand. Auch wenn er nicht eingeladen war, bekam er es trotzdem mit. Es hatte Zeiten gegeben, da lud ihn Bella immer ein. Sie kam dann mit ihrem schicken Geländewagen die Straße hochgefahren – was sie mit so einem Wagen wollte, wo sie im Grunde doch nur nach Lerwick fuhr oder nach Sumburgh, um in den Süden zu fliegen, war ihm schleierhaft – und trat einfach ins Haus, ohne abzuwarten, bis er sie hereinbat.

«Du kommst doch, Kenny, oder? Und bring Edith mit. Ich will euch unbedingt dabeihaben. Ohne dich und Lawrence und eure ganze harte Arbeit gäbe es schließlich kein Herring House.»

Das stimmte sogar. Nachdem sie sich in den Kopf gesetzt hatte, dieses Haus zu kaufen und herzurichten, waren sie fast jeden Abend dort gewesen, wenn Kenny mit der Arbeit auf dem Feld oder mit den Schafen fertig war, und hatten an dem Haus gearbeitet. Fast alle schweren Arbeiten hatten sie selbst erledigt. Ein reiner Liebesdienst, sagte Lawrence damals immer. Und tatsächlich hatten sie viel zu wenig Geld dafür bekommen. Aber es war eben schwierig gewesen, sich nur mit dem Hof über Wasser zu halten; die Kinder wurden immer größer, da war ein bisschen zusätzliches Geld sehr willkommen. Bella glaubte wahrscheinlich, dass sie ihnen einen Gefallen tat. Damals konnte noch jeder Mann überall mit anpacken.

Wenn sie mit der Arbeit fertig waren, ging Kenny zu Edith nach Hause zurück, und Lawrence blieb und unterhielt sich mit Bella. Manchmal war es schon so spät, wenn Kenny die Straße zu seinem Haus hinaufging, dass er überzeugt war, Edith würde schon schlafen. Doch sie war immer noch wach und wartete auf ihn. Sie war kein Mensch, der früh ins Bett ging. Im Winter saß sie am Kamin und strickte, und er wusste, dass es spät sein musste, weil das Haus so ordentlich war. Tagsüber kam das nämlich nie vor – wie auch, mit den beiden Kindern? Und im Sommer hatte sie meistens draußen im Garten gearbeitet, bis in die frühen Morgenstunden. Wenn er dann kam, machte sie eine ihrer spitzen Bemerkungen darüber, wie Bella ihn ausnutzte, und ging mit ihm ins Haus. Das musste zu der Zeit gewesen sein, bevor Eric in die Schule kam, heute kaum noch vorstellbar. Inzwischen waren die beiden längst erwachsen, und Ingirid erwartete ein eigenes Kind. Sie arbeitete als Hebamme in der Nähe von Aberdeen, Eric hatte einen Hof auf Orkney.

Heute lud Bella Kenny nicht mehr ein. Sie wusste ja, dass er nicht kommen würde. Edith hätte sich eine Zeitlang schon noch über die Gelegenheiten gefreut, sich hübsch zu machen, um auf ein elegantes Fest zu gehen, Wein umsonst zu bekommen und all den Gesprächen über Kunst und Bücher zu lauschen. So hätten sie wenigstens auch einmal etwas von Bella zurückbekommen. Aber Kenny hatte sich jedes Mal durchgesetzt. Normalerweise stellte seine Frau die Regeln auf, aber wenn es um Bella Sinclair ging, blieb er unerbittlich. «Ohne sie wäre Lawrence vielleicht noch hier.» Einmal hätte er fast hinzugefügt: Die Frau hat ihm das Herz gebrochen. Aber dann hätte Edith ihn nur mit seiner Rührseligkeit aufgezogen. Sie hatte immer eine spitze Zunge gehabt, schon als junges Mädchen. Und so war es bis heute. Er lächelte. Über dreißig Jahre waren sie jetzt schon verheiratet, und er hatte immer noch Angst vor ihr.

Er schaute auf die Uhr. Halb zehn, später als er gedacht hatte. Um diese Jahreszeit verlor man schnell das Zeitgefühl. Jeden Abend ging er den Berg hinauf, außer wenn das Wetter so schlecht war, dass es keinen Sinn hatte. Er behauptete, nach den Schafen sehen zu wollen, aber das war nur ein Vorwand. Eigentlich flüchtete er vor Edith, die den ganzen Abend am Computer saß. Er wollte etwas Zeit für sich haben. Wenn Edith arbeitete, kam ihm das Haus wie eine Zweigstelle ihres Büros vor, dann fühlte er sich nicht mehr wohl dort. Im Winter fuhr er manchmal den Berg hinauf und ging, mit Taschenlampe und Schrotflinte bewaffnet, auf Kaninchenjagd. Wenn die Kaninchen starr vor Schreck im Lichtkegel sitzen blieben, konnte man sie gut erwischen. Er hatte einen Schalldämpfer an der Flinte, um beim Erlegen des ersten nicht zu viel Lärm zu machen und so die anderen zu verscheuchen. Eigentlich mochte er Kaninchen nicht besonders, das Fleisch war ihm zu süßlich und ein wenig zu schleimig, aber wenn man es in einer Pastete unter genügend Zwiebeln und dicken Schinkenstücken versteckte, aß er es doch hin und wieder. Meistens warf er die toten Tiere aber einfach weg.

Edith hielt das für Verschwendung. In ihrer Kindheit war das Geld knapp gewesen, und sie fürchtete immer noch, dass die schlechten Zeiten zurückkommen könnten, obwohl sie eine gut bezahlte Stelle hatte und er neben dem Hof immer irgendwelche Bauarbeiten übernahm. Geldverschwendung war ihr ein Gräuel. Dabei hatten sie jetzt sogar Ersparnisse. Sie würden im Alter weder verhungern noch ihren Kindern auf der Tasche liegen müssen.

Er rief nach Vaila, seinem Hund, und wandte sich zurück zu seinem Haus. Da stand es, auf einer kleinen Erhebung nah am Wasser, und Herring House ragte um vieles größer dahinter auf. Ein Stück weiter die Küste hinauf war der Friedhof. In früheren Zeiten, als es noch keine Straßen gab, hatte man die Toten immer per Schiff dorthin gebracht. Deshalb lagen auf ganz Shetland die Friedhöfe nah am Wasser. Kenny dachte sich, dass ihm das auch gefallen würde, wenn man ihn einmal in seinem eigenen Boot zu seiner letzten Ruhestätte brächte. Aber wahrscheinlich gab es gute Gründe dafür, dass man das heute nicht mehr machte.

Eine Bewegung unten auf der Straße lenkte ihn ab. Seine Augen waren längst nicht mehr so gut wie früher, aber es sah aus, als ob dort jemand aus der Galerie kam. Kenny blieb stehen. Auch wenn er immer tat, als würde er sich nicht für Bellas Umtriebe interessieren, war er trotzdem neugierig. So früh waren ihre Feste sonst nie zu Ende, und dieser Gast stieg auch nicht ins Auto, um an der Bucht entlang zurück zur großen Straße nach Lerwick zu fahren. Stattdessen ging er den Weg in entgegengesetzter Richtung hinauf, vorbei an dem kleinen Laden mit dem Postschalter und den drei Häusern, in Richtung Bootssteg. Von dort aus kam man nur noch zu dem alten Pfarrhaus, das Bella bewohnte, und nach Skoles, dem Hof von Kenny und Edith. Dahinter wurde die Straße zu einem schmalen Pfad, der über den Berg ins benachbarte Tal führte. Und den benutzten nur Kenny, wenn er nach den Schafen sehen wollte, oder irgendwelche Urlauber beim Wandern.

Kenny blieb stehen und sah dem Mann nach, bis er dort, wo die Straße ein wenig abfiel, aus seinem Blickfeld verschwand. Er rannte mit seltsam ungelenken Schritten, weit vorgebeugt, sodass man glaubte, er würde gleich vornüberfallen. Kenny fand das durchaus typisch für die Leute, mit denen Bella sich umgab. Künstler. Nicht mal rennen konnten die wie normale Menschen. Bella hatte schon immer ein merkwürdiges Völkchen angezogen. Früher, als sie alle noch jünger waren, hatte es sommers im alten Pfarrhaus nur so von Fremden gewimmelt, die dort in ihren seltsamen Klamotten ein und aus gingen. Man hörte merkwürdige Musik durch die offenen Fenster und ständig irgendwelches Gerede. Und trotzdem war sie jetzt ganz allein, wenn man mal von ihrem Neffen absah. Sie hätte bei Lawrence bleiben sollen.

Kenny ging wieder bergauf und zählte im Kopf grob die Schafe zusammen. Ende der Woche wollte er sie zusammentreiben und zum Scheren ins Tal bringen. Zwei Burschen von Unst wollten kommen, um ihn zu unterstützen, und Martin Williamson hatte versprochen, ebenfalls mitzuhelfen.

Als Kenny nach Hause zurückkam, war es schon nach elf, doch Edith war noch im Garten. Sie jätete Unkraut zwischen den Bohnenreihen, beseitigte die Pflänzchen mit raschen, gezielten Hackenhieben. Den Großteil des Abends musste sie allerdings am Computer verbracht haben, denn sie war noch nicht weit gekommen. Als sie seine Schritte hörte, schaute sie auf. Er fand, dass sie müde aussah. Sie hatte den ganzen Tag bei einer Besprechung in Lerwick verbracht, das nahm sie immer sehr mit.

«Komm ins Haus», sagte er. «Die Mücken fressen uns sonst noch bei lebendigem Leib.»

«Lass mich noch die Reihe hier fertig machen.» Kenny sah zu, wie sie sich wieder über ihre Arbeit beugte, und dachte bei sich, wie stur sie doch war und wie kräftig.

Als sie sich schließlich aufrichtete und die Hacke an die Hauswand lehnte, fragte er sie: «Hast du den Mann gesehen?»

«Welchen Mann?» Edith sah zu ihm auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er fand sie heute viel hübscher als früher. Als sie jünger war, sah sie oft verhärmt aus und hatte kaum etwas auf den Rippen. Was er damals für sie empfand, war keine Liebe gewesen. Zumindest nicht die Art Liebe, die man im Film sah. Nicht die Art Liebe, die Lawrence für Bella empfunden hatte. So war es weder für ihn noch für Edith je gewesen. Aber sie waren gut miteinander ausgekommen, und er war sich sicher gewesen, dass es funktionieren würde. Dass sie einander nicht unnötig auf die Nerven fallen würden. Jetzt, wo sie fünfzig war, betrachtete er sie manchmal mit Staunen. Sie hatte kaum Falten – und diese blauen Augen. Zwischen ihnen war eine Leidenschaft entstanden, für die sie schlicht nicht die Energie gehabt hatten, als die Kinder noch klein waren.

«Welchen Mann?», fragte sie noch einmal. Sie war nicht verärgert, weil sie die Frage wiederholen musste, sondern lächelte leicht, als wüsste sie, woran er dachte.

«Da ist ein Mann von Herring House weggelaufen. Er müsste hier vorbeigekommen sein.»

«Ich habe niemanden gesehen», sagte sie.

Dann stand sie auf, hakte sich bei ihm unter und ging mit ihm ins Haus.

 

Edith war eine Frühaufsteherin. Selbst wenn sie Urlaub hatten oder die Kinder besuchen fuhren, war sie meistens vor ihm auf den Beinen. Er hörte, wie sie in der Küche den Wasserkessel aufsetzte, dann klappte die Haustür. Er wusste, was sie vorhatte: Sie zog sich die Stiefel über die Schlafanzughose und ging nach draußen, um die Hühner aus dem Stall zu lassen. Im Büro musste sie erst um neun sein, sie würden also noch zusammen frühstücken, bevor sie aufbrach. Ihm fiel es sehr viel schwerer, sich morgens aus dem Bett zu quälen, aber Edith hatte um diese Jahreszeit die größten Schwierigkeiten, überhaupt zu schlafen. Wenn er nachts aufstand, um auf die Toilette zu gehen, spürte er oft, dass sie wach war und einfach nur ganz still neben ihm lag. Sie hatten dichte Vorhänge vor dem Fenster, doch irgendetwas an diesen weißen Nächten brachte ihren Biorhythmus völlig durcheinander. Manche Menschen reagierten so darauf. Wenn Kenny nicht genug schlief, fühlte er sich erschöpft und angespannt und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Edith wurde einfach immer blasser, klagte aber nie über Müdigkeit und ging auch immer ins Büro. Einmal hatte er sie überredet, zum Arzt zu gehen und sich Schlaftabletten verschreiben zu lassen, doch danach fühlte sie sich den ganzen nächsten Tag schwerfällig und verlangsamt und den Anforderungen im Zentrum nicht gewachsen. Er war immer froh, wenn die Tage wieder kürzer und sie langsam wieder sie selbst wurde.

Kenny genoss die halbe Stunde, die sie zusammen beim Frühstück verbrachten, bevor Edith dann aus dem Haus ging. Während er duschte und sich anzog, machte sie Tee, und er wurde vom Duft des Toastbrots empfangen. Danach ging Edith unter die Dusche. Er hörte, wie sich der Wassertank wieder füllte.

Sie leitete ein Tageszentrum für Alte und Behinderte. Es fiel ihm immer noch schwer, sich das vorzustellen: Seine Edith verwaltete ein Team und ein Budget und ging zu Besprechungen in Lerwick, elegant gekleidet, mit hochgestecktem Haar. Sie bildete alle Pflegekräfte auf den Inseln in den technischen Handgriffen aus, zeigte ihnen, wie sie die ihnen anvertrauten Patienten am besten bewegen konnten. Kenny bewunderte sie für ihre Kraft und Entschlossenheit. Die alten Leute wurden jeden Tag mit dem Taxi oder einem Bus aus den umliegenden Ortschaften in das Tageszentrum gebracht. Manchmal nannte Edith ihm die Namen ihrer Patienten, dann war er entsetzt zu hören, dass die Männer und Frauen, die er als Kind als tatkräftige, respekteinflößende Personen gekannt hatte, jetzt hinfällig, verwirrt und inkontinent sein sollten. Und er dachte: Wird es mit mir auch so enden? Verbringe ich meine letzten Jahre auch beim Bingospielen in diesem Tageszentrum? Einmal hatte er etwas in der Richtung zu Edith gesagt, doch sie hatte nur maliziös erwidert: «Da könntest du von Glück sagen! Wenn die Ölpreise weiter so fallen und das mit den Kürzungen sich fortsetzt, gibt es das Zentrum wahrscheinlich gar nicht mehr, wenn wir mal so weit sind.» Danach hatte er nicht mehr mit ihr über seine Ängste gesprochen. Sein einziger Trost war, dass er wohl ohnehin vor ihr sterben würde. Frauen lebten immer länger als Männer. Und er konnte sich nicht vorstellen, allein zu bleiben.

Jetzt schenkte er Tee ein und bestrich die Toastscheiben mit Butter. Edith kam herein, fertig angezogen, das Haar noch nass, aber schon zum Knoten gesteckt.

«Was hast du heute vor?», fragte sie ihn.

«Rüben vereinzeln», erwiderte er.

Sie zog ein mitleidiges Gesicht, weil sie wusste, wie langweilig und anstrengend es war, die überzähligen Setzlinge auszujäten, um den Rüben genug Platz zum Wachsen zu geben.

«Na ja», sagte sie dann. «Immerhin ist es ein schöner Tag dafür.»

Insgeheim dachte Kenny schon seit dem Abend zuvor darüber nach, heute vielleicht mit dem Boot hinauszufahren. Das sagte er Edith aber nicht. Sie arbeitete so viel, dass er sich wie ein kleiner Junge fühlte, der die Schule schwänzen wollte.

Sie aß den Toast auf ihrem Teller auf, dann verschwand sie in Ingirids altem Zimmer, das sie sich als Arbeitszimmer eingerichtet hatte, um ihre Unterlagen zusammenzusuchen. Kenny begleitete sie nach draußen, küsste sie und sah ihr nach, als sie davonfuhr.

Eigentlich hatte er sich erst ein paar Stunden lang den Rüben widmen wollen, bevor er das Boot startklar machte, aber dann fand er sich plötzlich auf dem kurzen Weg zum Strand wieder, zu dem kleinen Bootsschuppen, wo er den Außenbordmotor und seine Netze und Reusen aufbewahrte. Es ging ein leichter Wind aus Ost. Einen Moment lang fragte er sich, ob er nicht lieber jemanden mitnehmen sollte, und überlegte, wer wohl Zeit haben würde, ihn zu begleiten. Martin Williamson war ein angenehmer junger Mann, aber er half meist noch ein Stündchen im Laden aus, bevor er mit seiner Arbeit in der Küche des Galeriecafés begann. Kenny blieb stehen. In der Stille hörte er die Papageientaucher auf der Landspitze jenseits der Mole. Es waren viel weniger als früher, in seiner Kindheit, aber immer noch genug, dass man sie zetern hörte, wenn man näher kam.

Er überquerte den Kiesstreifen zwischen der Straße und dem Sandstrand. Das war eine Abkürzung, man musste nur gut aufpassen, wo man hintrat. Einmal hatte er sich dort den Knöchel verknackst, das hatte tagelang wehgetan. Als der Schatten von Herring House auf den Weg vor ihm fiel, blieb er stehen, um nachzuschauen, ob jemand da war. Es war aber keiner zu sehen. Das Café öffnete erst am späteren Vormittag, und vor der Tür standen noch keine Autos.

Der Schuppen befand sich dort, wo die Straße zum Bootssteg führte, ein paar hundert Meter vor ihm. Kenny hatte ihn zusammen mit Lawrence gebaut, es war ein recht stabiles Häuschen, auch wenn er irgendwann, nächstes Jahr vielleicht, ein paar Wellblechplatten auf dem Dach austauschen sollte. Sie machten sich nie die Mühe abzusperren: Die Männer aus Biddista, die ein Boot besaßen, teilten sich den Schuppen, und sonst verirrte sich ohnehin kaum jemand dorthin. Früher war alles, was die Leute hier zum Leben brauchten, per Schiff geliefert worden: Kohle, Getreide, Tierfutter. Inzwischen legten höchstens einmal ein paar Urlauber mit ihren Segeljachten für eine Nacht an, und selbst das war dieses Jahr bisher kaum vorgekommen. An der Tür befand sich ein schwerer Riegel, um sie von außen vor dem Wind zu sichern, der sie sonst aufriss. Heute war dieser Riegel nicht vorgelegt, die Tür nur angelehnt. Kenny überlegte, wer wohl als Letzter im Schuppen gewesen war und sich so nachlässig verhalten hatte. Ein kräftiger Windstoß konnte schon genügen, um die Tür aus den Angeln zu reißen. Roddy Sinclair wahrscheinlich, dachte er. Das sah ihm ähnlich. Der Junge nahm einfach keine Rücksicht. Einmal hatte er hier sogar eine Party gefeiert, und Kenny hatte am nächsten Tag einen Haufen leerer Bierdosen, eine leere Whiskyflasche und einen fremden jungen Mann im Schlafsack vorgefunden. Er stieß die Tür ganz auf und sog den vertrauten Geruch nach Motoröl und Fisch ein.

Weil er ohnehin gerade an Roddy Sinclair dachte, glaubte er zunächst, die Gestalt, die da von der Decke baumelte, müsse wieder einer seiner Streiche sein. Roddy hatte sich auf Bellas Fest betrunken und sich irgendwelchen Blödsinn ausgedacht. Als er näher heranging, war Kenny sich sicher, dass es sich als ein mit Stroh ausgestopfter Düngersack entpuppen würde, dem man eine schwarze Jacke und eine schwarze Hose übergestreift hatte. Der Kopf war kahl, glänzte ein wenig. Ziemlich realistisch, dachte Kenny. Er gab der Gestalt einen Schubs. Sie war erstaunlich schwer, gar nicht wie aus Stroh gemacht. Der Schatten schaukelte an der hinteren Wand der Hütte auf und ab, die Gestalt drehte sich an ihrem Strang und wandte Kenny zum ersten Mal das Gesicht zu. Es war hinter einer Clownsmaske verborgen, einem glänzenden weißen Plastikgesicht, das die Morgensonne reflektierte, die durch die Tür hereinfiel, mit einem grinsenden roten Mund und starren, ausdruckslosen Augen. Und dann sah Kenny, dass die Gestalt echte Hände hatte. Haut. Vorstehende Knöchel. Fingernägel, gepflegt und rund gefeilt wie die einer Frau. Aber das war keine Frau. Es war ein Mann mit kahlrasiertem Kopf. Ein toter Mann, der von einem der Deckenbalken herabhing, die Füße nur wenige Zentimeter über dem Boden. Neben ihm lag ein umgekippter Plastikeimer. Kenny vermutete, dass der Mann wohl daraufgestiegen war und ihn dann weggetreten hatte. Die aufsteigende Panik krampfte ihm den Magen zusammen. Am liebsten hätte er ihm die Maske abgenommen, das war so unwürdig für einen Toten. Aber er brachte es nicht über sich und griff nur nach den Armen des Mannes, um ihn ruhig zu halten. Er fand es unerträglich, ihn da hin und her schaukeln zu sehen wie eine aufgeknüpfte Vogelscheuche.

Sein erster Impuls war, zum Handy zu greifen und Edith anzurufen. Aber was hätte sie schon tun sollen? Leicht betreten und etwas wacklig auf den Beinen ging er nach draußen, setzte sich auf den Kiesstreifen und rief die Polizei an.

Fünf

Die Nachricht erreichte Perez auf dem Handy, als er gerade von Frans Haus zur Arbeit fuhr. Vor dem Anruf war er so benommen vom Schlafmangel und so versunken in die Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Nacht gewesen, dass er wie ferngesteuert fuhr und nichts um sich herum wahrnahm. Er hatte immer noch die Musik im Ohr, die Fran aufgelegt hatte, als sie hereingekommen waren: irgendeine Sängerin, die er nicht kannte, beschwingte keltische Melodien. Und er fragte sich, ob er dem, was mit Fran passiert war, wohl zu viel Bedeutung beimaß. So war er eben. Ein Grübler. Sarah, seine Exfrau, hatte ihm vorgeworfen, dass er zu viel von ihr erwarte, zu hohe emotionale Ansprüche stelle. Ich muss härter werden, dachte er, widerstandsfähiger. Männlicher. Ich mache mir viel zu viele Gedanken darüber, was Frauen von mir denken.

Dann kam der Anruf, und er musste sich zusammenreißen und konzentrieren. Die Arbeit war immerhin eine unveränderliche Größe, etwas, von dem er wusste, dass er es gut machte. Und Sandy, auch sonst nicht gerade redegewandt, wurde zunehmend konfuser, wenn er aufgeregt war oder unter Stress stand. Perez benötigte seine ganze Aufmerksamkeit, um ihn zu verstehen.

«Wir haben einen Selbstmord», berichtete Sandy. «Kenny Thomson hat ihn in dem Schuppen gefunden, wo die Jungs aus Biddista ihre Fischerausrüstung lagern.»

«Wer ist der Mann?», fragte Perez.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung ließ ihn kaum ausreden. «Kenny Thomson. Den kennst du doch. Er wohnt schon sein Leben lang draußen in Biddista. Ihm gehört das Land von der Bucht bis zum Berg rauf …»

«Nein, Sandy, ich habe dich nicht gefragt, wer der Mann ist, der ihn gefunden hat. Ich will wissen, wer der Selbstmörder ist.»

«Keine Ahnung. Kenny kennt ihn nicht. Zumindest sagt er, dass er’s nicht weiß. Ich fahre gleich hin.»

«Fass nichts an, ja?», sagte Perez. «Nur für alle Fälle.» Er wusste, dass ein solcher Hinweis eigentlich überflüssig sein sollte und dass Sandy ihn ohnehin wieder vergessen haben würde, bis er dort war. Doch ihm gab es ein besseres Gefühl, es gesagt zu haben.

Erst als er auf der Straße war, die er schon am Abend zuvor genommen hatte, fiel ihm der Mann wieder ein, der in Herring House in Tränen ausgebrochen war. Perez hatte sich keine große Mühe gemacht, ihn wiederzufinden. Er war durch die Hintertür der Küche nach draußen gegangen, hatte den Strand und die Straße zum Friedhof entlanggeschaut, aber nichts entdecken können. Und wenn er dabei überhaupt etwas empfunden hatte, dann Erleichterung. Der Mann musste wohl doch mit dem Auto gekommen sein – wie hätte er sonst so rasch verschwinden können? Vermutlich hatte er sich wieder erholt, falls er überhaupt krank gewesen war. Perez blieb noch einen Augenblick draußen stehen, bevor er in die Galerie zurückging, und überlegte, ob er irgendwem Bescheid sagen sollte. Nur wem? Und was sollte er sagen? Achten Sie auf einen Mann, der häufig in Tränen ausbricht. Er leidet womöglich an Amnesie. Er lauschte dem schmatzenden Geräusch der Wellen auf dem Kies und beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Irgendein Tourist vermutlich, verwirrt, betrunken oder sonst wie zugedröhnt. So etwas zogen die Inseln um diese Jahreszeit förmlich an. Die Leute suchten Ruhe oder das Paradies und sahen sich stattdessen mit den weißen Nächten konfrontiert, die sie nur noch mehr durcheinanderbrachten.

Und anstatt sich weiter mit dem namenlosen Fremden zu befassen, hatte er an Fran gedacht, an ihren Körper unter dem schwarzen Spitzenkleid und daran, wie es wohl sein würde, sie zu berühren.

Er war in die Galerie zurückgekehrt. Von draußen konnte er durch die hohen Fenster sehen, dass das Fest sich langsam dem Ende zuneigte. Roddy stand am Fenster und schaute aufs Meer hinaus, die Fiddle immer noch beiläufig unters Kinn geklemmt, als wäre sie Teil seines Körpers. Drinnen merkte Perez, dass die Künstlerinnen enttäuscht waren. Sie hatten zwar ein paar Bilder verkauft, hatten aber doch mit mehr Zulauf gerechnet, mit größerem Trubel. Fran nahm ihn bei der Hand und flüsterte ihm zu, dass sie jetzt gern nach Hause wolle. Trotz der Komplimente des charismatischen Mannes mit dem schwarzen Haar wirkte sie, als könnte sie eine Aufmunterung brauchen. Und ein Teil von Perez war ganz froh darüber, dass sie so niedergeschlagen war. Das gab ihm einen guten Vorwand, sie zu trösten.

Dieser Selbstmord jetzt war allerdings doch ein zu großer Zufall. Der geheimnisvolle Engländer war eindeutig verwirrt gewesen, sicherlich auch psychisch labil. Und der Tote war nur wenige hundert Meter von Herring House entfernt aufgefunden worden, wo der Fremde zum letzten Mal gesehen worden war. Perez war überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, dass er sich vielleicht etwas antun könnte. Er machte sich Vorwürfe, weil er so leichtfertig gewesen war, fühlte sich verantwortlich für einen Fremden, dem er doch nur dieses eine Mal begegnet war. Dann begann er, sich in Gedanken die Worte zurechtzulegen, mit denen er Fran die Situation erklären würde. Ob sie ihm wohl die Schuld am Selbstmord des Mannes geben würde? Und die ganze Zeit hoffte er wider besseres Wissen, dass sich, wenn er beim Bootsschuppen in Biddista ankam, herausstellen würde, dass sich dort jemand ganz anders umgebracht hatte.