Die tiefste Nacht - Ann Cleeves - E-Book

Die tiefste Nacht E-Book

Ann Cleeves

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Beschreibung

Für Fans von Agatha Christie und «Inspector Barnaby» Die dunkelsten Nächte verbergen die tödlichsten Geheimnisse … Der ungeduldig erwartete neue Fall für die schrullig-sympathische Ermittlerin Vera Stanhope, die sich unvermindert großer Beliebtheit erfreut. Als Vera Stanhope sich während eines Wintersturms im Schneegestöber verfährt, stößt sie auf ein verlassenes Fahrzeug – mit offener Fahrertür quer über die Straße geparkt, auf der Rückbank ein Kleinkind. Um das Kind vor dem sicheren Erfrieren zu retten, nimmt Vera es kurzerhand mit. Zum Glück erreicht sie schon bald Brockburn, das heruntergekommene Herrenhaus eines entfernten Familienzweigs, in dem ihr Vater aufwuchs. Auf Brockburn ist eine Vorweihnachtsfeier in vollem Gange, die jedoch zu einem jähen Ende kommt, als man draußen im Schnee eine junge Frau findet – tot. Könnte sie die Mutter des Kindes sein? Und ist es Zufall, dass sie ausgerechnet in der Nähe von Brockburn zu Tode gekommen ist?

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Seitenzahl: 552

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Ann Cleeves

Die tiefste Nacht: Vera Stanhope ermittelt

 

 

Aus dem Englischen von Stefanie Kremer

 

Über dieses Buch

DIE DUNKELSTEN NÄCHTE VERBERGEN DIE TÖDLICHSTEN GEHEIMNISSE …

 

Als Vera Stanhope sich während eines Wintersturms im Schneegestöber verfährt, stößt sie auf ein verlassenes Fahrzeug – mit offener Fahrertür quer über die Straße geparkt, auf der Rückbank ein Kleinkind. Um das Kind vor dem sicheren Erfrieren zu retten, nimmt Vera es kurzerhand mit. Zum Glück erreicht sie schon bald Brockburn, das heruntergekommene Herrenhaus eines entfernten Familienzweigs, in dem ihr Vater aufwuchs. Auf Brockburn ist eine Vorweihnachtsfeier in vollem Gange, die jedoch zu einem jähen Ende kommt, als man draußen im Schnee eine junge Frau findet – tot. Kann es Zufall sein, dass sie ausgerechnet in der Nähe von Brockburn zu Tode gekommen ist?

Vita

Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied der «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe als auch Cleeves’ zweite Serie um das Shetland-Quartett sind verfilmt worden.

 

Stefanie Kremer, geb. 1966 in Düsseldorf, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin für Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen und Französischen. Sie lebt südlich von München.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «The Darkest Evening» bei Macmillan/Pan Macmillan, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Darkest Evening» Copyright © 2020 by Ann Cleeves

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Die Zitate auf S. 241/242 stammen aus Robert Frost, Promises to keep. Übersetzt von Lars Vollert, C.H. Beck 2011

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke

Coverabbildung miguel sobreira/plainpicture; Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01506-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Meinen neuen Freunden im Norden

KAPITEL EINS

Lorna hob Thomas aus seinem Hochstuhl und behielt ihn einen Augenblick auf den Knien. Sie konnte immer noch kaum glauben, dass es ihn wirklich gab. In den finstersten Tagen ihrer Krankheit hatte man sie gewarnt, dass sie möglicherweise nie eigene Kinder bekommen könnte. Und da war er nun, ein gutes Jahr alt, und machte bereits die ersten Schritte: der Mittelpunkt und die Liebe ihres Lebens. Sie kitzelte ihn am Bauch, um ihn zum Lachen zu bringen, und nahm ihn dann fest in die Arme. Für ihn würde sie kämpfen, mit allen Waffen, die sie hatte. Sie hatte die Krankheit besiegt und war gestärkt daraus hervorgegangen, sie hatte es allein geschafft, und das jetzt war noch viel wichtiger.

Draußen war es fast dunkel, und im Licht der Straßenlaternen sah sie Schneeflocken fallen. In einem Haus weiter unten an der Straße stand ein Baum im Fenster, ein künstlicher, rundum behängt mit bunten Christbaumkugeln. Bald war die Wintersonnenwende, die längste Nacht des Jahres. Sie spürte die Versuchung, hierzubleiben, die Heizung aufzudrehen und das Zimmer für Weihnachten zu schmücken. Sie hatte festes Buntpapier gekauft, um altmodische Papierketten zu basteln, und Silberfolie, um Sterne daraus zu falten. Vielleicht würde sie ihre Eltern einladen, zu Punsch und Weihnachtsgebäck. Schließlich war dies die Jahreszeit für Versöhnungen.

Doch sie wusste, dass alle Gedanken ans Fest noch warten mussten. Sie zog dem Kleinen, den sie dazu auf den Knien behielt, seinen Schneeanzug und die winzigen roten Gummistiefel an und setzte ihn auf den Fußboden, während sie sich selbst warm einpackte. Von einem Haken am Küchenbrett nahm sie den Schlüsselbund, blickte sich noch einmal, kurz abgelenkt von ihren Überlegungen für die Dekoration, die Geschenke, die sie noch für Thomas kaufen musste, im Zimmer um und trat dann hinaus in die Kälte.

KAPITEL ZWEI

Es war dunkel und eiskalt, und langsam bekam Vera Panik. Etwa auf halber Strecke war ihr klar geworden, dass es ein Fehler gewesen war loszufahren. Sie hätte auf ihre Leute hören und die Nacht in Kimmerston verbringen sollen, um dort darauf zu warten, dass der Sturm sich verzog, aber sie hatte geglaubt, es besser zu wissen. Sie hatte ihre Kollegen damit aufgezogen, dass sie sich Sorgen machten, und erklärt, dass Extremwetterlagen so früh im Winter äußerst unwahrscheinlich seien, sogar hier oben in den Hügeln von Northumberland. Und überhaupt, wann hatte die Wettervorhersage schon mal recht?

Sie hatte das Revier bei leichtem Schneegestöber verlassen, das ein böiger Wind von der Straße geweht und zu kleinen Haufen an den Bordsteinen und in den Eingängen der Geschäfte zusammengetrieben hatte. Jetzt allerdings, in höheren Lagen, war das Gestöber zu einem Schneesturm geworden; die Flocken waren so dick und dicht, dass sie sich nach vorn beugen und durch die Windschutzscheibe spähen musste, um zu sehen, wo sie langfuhr. Nirgends war Licht, und trotz des Allradantriebs fürchtete sie, von der schmalen Straße abzukommen. Seit sie den letzten Ort hinter sich gelassen hatte, hatte sie kein anderes Auto mehr gesehen, und sie fühlte sich mutterseelenallein, kannte sich nicht mehr aus. Sie fuhr diese Strecke beinahe täglich und hatte ihrem Sergeant Joe Ashworth gesagt, sie würde auch blind nach Hause finden, aber nun hatte sie die Orientierung verloren und war konfus und verängstigt.

Als sie sich jetzt einer Kreuzung näherte, ließ sie den Land Rover ausrollen, um nicht bremsen zu müssen und dabei womöglich ins Schleudern zu geraten. Es gab zwar einen Wegweiser, doch der war zugeschneit. Einen Moment lang packte Vera die nackte Angst, sie erkannte einfach überhaupt nichts mehr wieder. Im Licht der Scheinwerfer sah sie Bäume auf der einen Straßenseite, dicht an dicht gepflanzte Fichten. Sie musste an ihrem Abzweig vorbeigefahren sein. Sie ließ den Motor laufen und stieg aus dem Wagen, um den Wegweiser frei zu wischen. In die eine Richtung ging es nach Sawley Bridge, in die andere nach Kirkhill. Kirkhill lag näher an ihrem Zuhause, deshalb bog sie rechts ab. Auf der leicht ansteigenden Straße drehten ihre Reifen durch. Der Schnee lag so hoch, dass sie schon befürchtete, stecken zu bleiben, doch nun sah sie Reifenspuren vor sich, denen sie folgen konnte. Offenbar war bereits ein anderes törichtes Wesen kurz vor ihr hier entlanggefahren und tatsächlich durchgekommen.

Vera gelangte auf eine kleine Anhöhe und konnte in der Ferne einen durch den Schneesturm fast unsichtbar gemachten Lichtschimmer erkennen. Der Ortsrand von Kirkhill vielleicht. In Kirkhill gab es einen Pub, in dem man, soweit sie wusste, zu Abend essen und sich ein Zimmer nehmen konnte. Es gab schlimmere Orte, um eine Nacht zu verbringen. Dann mussten ihre Leute es auch nicht erfahren, dass sie sich zum Affen gemacht hatte. Schon setzte die Entspannung ein; sie konnte spüren, wie die Wärme des Kaminfeuers ihr bis in die Knochen drang, und schmeckte den ersten Schluck Bier auf der Zunge. Aber als sie nun um die nächste Kurve bog, fuhr sie beinahe auf einen Wagen auf, der von der Straße geschliddert und kurz vor dem Zusammenstoß mit einem Gatter zum Stehen gekommen war. Ein weißer Wagen, fast perfekt getarnt im Schnee. Das törichte Wesen war also doch nicht durchgekommen. Vera fuhr langsam an dem Wagen vorbei und hielt an. Die Fahrertür stand offen. Sie kramte eine Taschenlampe hinter dem Armaturenbrett hervor und stieg aus dem Land Rover. Der Wind hatte sich kurz gelegt, und alles war ruhig und sehr still.

Der Schnee hatte alle Spuren unter sich begraben, doch anscheinend hatte der Fahrer – oder die Fahrerin – die Unfallstelle zu Fuß verlassen können. Nichts wies darauf hin, dass jemand verletzt worden wäre, und jetzt, aus der Nähe, konnte Vera auch sehen, dass der Wagen unbeschädigt war. Sie wollte schon wieder in den Land Rover steigen und weiterfahren, als sie etwas hörte. Ein Weinen. Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf die Rückbank des Wagens und erblickte ein Kleinkind in einem Kindersitz. Es war in einen roten Schneeanzug eingemummelt und trug rote Gummistiefelchen. Unmöglich, Geschlecht oder Alter zu erraten. Veras Erfahrungen mit Kleinkindern waren äußerst überschaubar.

«Na du?» Sie hoffte, fröhlich zu klingen, freundlich, doch nun fing das Kind an zu wimmern. «Wie heißt du denn?»

Das Wimmern brach ab, und das Kind starrte sie an.

«Wo steckt denn deine Mam, Herzchen?»

Nichts. Vera zog ihr Handy aus der Tasche. Kein Netz. Das war hier oben in den Hügeln nicht ungewöhnlich. Vermutlich war die Fahrerin des Wagens auf der Suche nach Empfang losmarschiert, um Hilfe rufen zu können. Denn Vera war mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um eine Fahrerin handeln musste. Eine Frau, und zwar eine kleine Frau. Der Fahrersitz war ganz nach vorn zum Lenkrad gezogen. Bestimmt hatte sie das Kind, das Vera vom Rücksitz aus unverwandt anstarrte, zurückgelassen, weil sie wusste, dass sie es nicht weit würde tragen können. Denn selbst wenn es schon alt genug wäre, um laufen zu können, lag der Schnee doch so hoch, dass es niemals durchgekommen wäre. Die roten Gummistiefel waren winzig, mehr Modeaccessoire als praktisches Schlechtwetterschuhwerk.

Dennoch machte Vera sich Sorgen. Hätte eine Mutter nicht wenigstens die Autotür zugemacht, um den bitterkalten Wind auszusperren? Sie spürte die Aussicht auf Kaminfeuer und Bier schwinden, hob die Autoschale mitsamt Kind aus dem Wagen und befestigte sie neben sich im Land Rover, wobei es ihr einige Mühe bereitete, den Gurt so zu schließen, dass die Schale nicht verrutschte. Eine komplizierte Technik, wie es schien. Elternschaft war heutzutage wohl wirklich eine herausfordernde Sache.

Vera notierte sich das Nummernschild des weißen Wagens auf der Rückseite eines Kassenzettels, den sie zufällig in der Tasche hatte, und kramte ein zweites, sauberes Stück Papier hervor. Sie schrieb eine Nachricht, die sie in den Wagen aufs Armaturenbrett legte. «Ihr Kind ist bei mir. Es ist in Sicherheit.» Dazu ihre Handynummer. Dann, nach kurzer Überlegung, platzierte sie daneben noch ihre Visitenkarte. Einer Kindesentführung beschuldigt zu werden, konnte sie echt nicht brauchen.

Sie fuhr weiter, sogar noch langsamer als vorher, in der Hoffnung, im Licht ihrer Scheinwerfer eine Frau einzufangen, die sich durch den Schnee kämpfte. Allerdings, dachte sie, müsste sie sie doch inzwischen längst eingeholt haben? Vera fluchte leise vor sich hin. Das Ganze würde offenbar länger dauern als erwartet. Wenigstens war das Kind neben ihr ruhig, es war eingeschlafen und atmete sanft.

Der Schnee wurde immer feiner und setzte schließlich ganz aus. Die Wolken brachen auf, und am Himmel erschien eine schmale Mondsichel. Vera fuhr um eine Kurve, und plötzlich wusste sie genau, wo sie war. Eine lange, mit vereistem Efeu überwucherte Mauer, zwei Pfeiler, die den Durchlass zu einer Auffahrt markierten, die früher einmal prächtig gewesen sein musste, ein Schild mit einem Wappen, ausgebleicht und schneebedeckt. Doch Vera wusste, was dort stand. Ein Wort: Brockburn. Und darüber das Familienwappen der Stanhopes.

Das Licht, das sie von der Anhöhe aus gesehen hatte, musste von hier gekommen sein. Vor den Pfeilern hielt sie kurz an, und die Erinnerungen stürzten auf sie ein. Hector, ihr Vater, hatte sie so manches Mal hierhergeschleppt, wenn er mal wieder vollkommen abgebrannt gewesen war und von der Familie verlangt hatte, seinen Anspruch auf einen Platz an der Sonne anzuerkennen. Alljährlich waren sie uneingeladen bei der Neujahrsjagd aufgetaucht. Da war Hector in seinem Element gewesen, hatte mit den hiesigen Landwirten geplaudert, die ihn schon als Kind gekannt hatten. Das schwarze Schaf war in den Schoß der Familie heimgekehrt, um Whisky aus einem kleinen Plastikglas zu trinken, während die Jagdhunde unruhig wurden und die gestriegelten Pferde vor dem Herrenhaus auf und ab schritten. Um zu beweisen, dass auch er Traditionen respektierte.

Die Familie war ihm ausnahmslos höflich begegnet. Diesem Zweig der Familie diente die Höflichkeit als Waffe zur völligen Vernichtung. Und Hector hatte jedes Mal gedemütigt und wütend wieder abziehen müssen. Vera, die sich ihrem Vater gegenüber nie zur Loyalität verpflichtet gefühlt hatte, hatte den Standpunkt der Familie verstanden. Hector war immer grob aufgetreten und hatte Forderungen gestellt, und bei seinen letzten Besuchen war er halb betrunken gewesen. Vera hatte sich in Grund und Boden geschämt, und zu ihr war die Familie immer freundlich gewesen.

Bei ihrem letzten Besuch war Vera ein Teenager gewesen, fünfzehn Jahre vielleicht, schon ein wenig übergewichtig, linkisch und verhuscht. Heute wusste sie nicht einmal mehr, weshalb sie dort gewesen war. Hector hatte niemals Skrupel gehabt, sie allein zu Hause zu lassen, nicht mal, als sie noch ganz klein war. Vielleicht hatten diese Zusammenstöße ihn ja doch nervöser gemacht, als sie gemerkt hatte, und er hatte eine Art Schutzschild in ihr gesehen. Oder vielleicht hatte er gedacht, dass die Familie mehr Mitgefühl an den Tag legen würde, wenn sie sahen, dass er für seine Tochter sorgen musste. Jedenfalls war es an einem Sommernachmittag gewesen, eine strahlende, warme Sonne hatte das Anwesen mit ihrem Licht geflutet. Sie hatten draußen auf der Terrasse gesessen, Tee getrunken und winzige Sandwiches gegessen, die mit ein, zwei Happen verschwunden waren. Es hatte Baisers gegeben. An die Baisers konnte Vera sich sogar jetzt noch erinnern – knusprig und weich zugleich, die intensive Süße, die so herrlich mit der geschmeidigen, kühlen Schlagsahne kontrastierte –, besser als sie sich an die anderen erinnern konnte, die mit am Tisch gesessen hatten. Im Hintergrund ertönten die Rufe von Ringeltauben und, von einem Radio im Haus her, die schwachen Klänge einer Bachsonate.

Es waren drei Generationen Frauen der Familie dabei gewesen: Elizabeth, weißhaarig und sehnig, die Frau von Hectors älterem Bruder Sebastian; Harriet, die überaus glamouröse Frau von Hectors Neffen Crispin; und deren Tochter Juliet, ein kleines Mädchen mit blonden Locken und wissendem Blick. Die Männer mussten sich ins Haus zurückgezogen haben. Das Gespräch der Frauen hatte sich wohl um Geld gedreht, doch ihre Ausdrucksweise war so reich ausstaffiert und ausgeschmückt gewesen, dass Vera nicht herausbekam, worum es tatsächlich ging. Davon abgesehen hatte all ihre Aufmerksamkeit den Baisers gegolten; sie hatte angestrengt überlegt, ob es wohl unhöflich wäre, das letzte auf der Tortenplatte verbliebene Stück zu nehmen. Wie stets hatte Hector mit leeren Händen abziehen müssen und auf der Heimfahrt Rache geschworen.

Inzwischen waren Sebastian und Elizabeth lange tot. Selbst Hectors Neffe Crispin war schon gestorben. Vera hatte die Anzeige in der Lokalzeitung gesehen, war aber nicht zur Trauerfeier gegangen; sie hatte gewusst, dass es recht theatralisch werden würde, und ohnedies wäre sie wohl auch nicht willkommen gewesen. Nur die beiden Frauen Harriet und ihre Tochter Juliet waren noch übrig, und Juliet musste nun auch schon erwachsen sein und auf die vierzig zugehen.

Das Kind neben Vera zuckte im Schlaf, was sie in die Gegenwart zurückbrachte. Die Heizung im Land Rover hatte noch nie gut funktioniert, und langsam wurde ihr kalt. Sie bog in die Auffahrt ein, wo der Schnee von Reifenspuren zerwühlt war; hoffentlich bedeutete das nicht, dass ihre hochherrschaftlichen Verwandten das Haus verlassen hatten. Beim Gedanken, sie wiederzusehen, wurde ihr seltsam mulmig zumute, aber womöglich hatte sich die Mutter des Kindes zu ihnen durchgeschlagen. Immerhin war es die dem verlassenen Wagen nächstgelegene Behausung. Und überhaupt, dachte Vera, wenn sie sich Mördern und Vergewaltigern stellen konnte, würde sie sich doch nicht von ein paar Angehörigen des niederen Adels mit fliehendem Kinn einschüchtern lassen.

Auf der langen Auffahrt standen mehr Autos, als sie erwartet hatte. Einige waren schneebedeckt, waren also schon ein Weilchen hier, bei anderen war die Windschutzscheibe noch frei. Offenbar hatten die Stanhopes Gäste. Vera warf einen Blick auf das schlafende Kind, hob die Autoschale aus dem Land Rover und stapfte zum Haus.

Der Anblick wirkte wie aus einem Märchen. Magisch. Das Schneegestöber hatte sich verzogen, der Mond schien, und am Himmel flimmerten Sterne. Neben der indirekt beleuchteten Steintreppe stand eine gewaltige Zeder. Der Baum war mit Lichterketten geschmückt, Hunderte Birnchen, alle weiß, die funkelten und blinkten. Die Vorhänge im Erdgeschoss waren zurückgezogen, und Vera sah einen riesigen Weihnachtsbaum, ganz in Silber dekoriert. Vor einem offenen Kamin hatte sich eine Handvoll Menschen versammelt, die meisten jung bis zu bestens erhaltenen Mittvierzigern, in festlicher Kleidung und mit Gläsern in den Händen. Vera schaute auf ihre Uhr. Erst sieben. Noch viel zu früh für eine Party, oder? Der Aperitif vor dem Abendessen vielleicht. Das Haus war groß genug, um sämtliche Gäste zu beherbergen, und bestimmt war dieser Zweig der Familie auch wohlhabend genug, um sich verschwenderische Einladungen leisten zu können. Woher sollte sie das wissen? Zwar war Juliet bei Hectors Beerdigung aufgetaucht, doch seither hatte Vera keinen Kontakt mehr zu ihren entfernten Verwandten gehabt. Sie zögerte einen Augenblick, Aschenputtel, das durchs Fenster spähte: wieder das fünfzehnjährige Mädchen, von allem ausgeschlossen. Dem sich plötzlich ein anderes, glanzvolleres Leben zeigte, das nie ihres sein würde.

KAPITEL DREI

Als die Türglocke ertönte, scheppernd und unmelodisch, konnte Juliet sich nicht vorstellen, wer das sein sollte. Ihre Gäste waren früh gekommen, aufgeschreckt durch den Wetterbericht. Zwei Paare hatten abgesagt, doch sechs Personen hatten die Fahrt gewagt, alle handverlesen von Mark aufgrund ihres Vermögens und beruflichen Ansehens und dazu, des Lokalkolorits wegen, die Pastorin und ihr Mann. Hatten sie etwa noch jemanden eingeladen? Und sie hatte es vergessen? Sie spürte die Panik, die schon den ganzen Tag in der Luft gelegen hatte, wieder in sich aufsteigen, obwohl sie während der letzten Stunde so erfolgreich dagegen angekämpft hatte: mit Champagner aus dem Supermarkt und damit, dass sie sich einredete, am Ende würde alles weniger schrecklich als befürchtet. Der frühe Nachmittag war ein regelrechter Albtraum gewesen, wenn sie ehrlich war, denn ihre Gäste waren noch vor dem Abschluss aller Vorbereitungen nach und nach eingetrudelt, aus Angst vor dem angekündigten Schneesturm. Voller Entschuldigungen: «Es tut uns ja so leid, Liebes! Kümmere dich nicht um uns, wir wollen nicht stören.» Aber natürlich wollten sie es bequem haben und Tee serviert bekommen und konnten ihr Entsetzen darüber, dass es in den Gästezimmern so kalt war, nicht verbergen.

Sie hatten es geschafft, die Salons im Erdgeschoss zu heizen – Holz aus den eigenen Wäldern war umsonst, und hier unten funktionierte der uralte Boiler gerade noch so –, oben aber herrschte eine verdammt arktische Kälte. So drückte jedenfalls Mark es aus, der das Problem mit einem Lachen wegwischte, weil dieses ganze Gutsherrending immer noch neu für ihn war. Wenn sie besonders depressiv aufgelegt war, dachte Juliet manchmal, dass das Anwesen samt Herrenhaus der Hauptgrund für seinen Antrag vor drei Jahren gewesen war. Trotzdem, das wusste sie, gab es Zeiten, in denen er sich nach seinem Leben als Single zurücksehnte, nach der schicken Wohnung am Hafen von Newcastle, die er behalten hatte, seiner Arbeit am Live Theatre und den fußläufig erreichbaren Bars und guten Restaurants. Als sie heirateten, hatte sie Mark so sehr geliebt. Doch inzwischen kam ihr die Beziehung schwierig und angespannt vor, und sie war sich nicht sicher, wie es mit ihnen weitergehen würde. In gewisser Weise, glaubte sie, hatte sie ihn wohl enttäuscht.

Als die Türglocke erklang, entschuldigte sie sich bei ihren Gästen und ging ins Vestibül. Dorothy hatte mit den Vorbereitungen fürs Abendessen ohnehin schon alle Hände voll zu tun, und Harriet, Juliets Mutter, die gerade in ein Gespräch mit Jane, der hiesigen Pastorin, vertieft war, glaubte offenbar immer noch, dass sie Dienstboten hätten, um die Tür zu öffnen. Nach dem Tod ihres Mannes war Harriet aufgeblüht, sie war mit Aplomb in die Rolle der Alleinherrscherin des Hauses geschlüpft und schien Crispin nicht im Geringsten zu vermissen. Nach der Wärme vor dem Kamin im Salon fühlte sich das Vestibül sehr kalt an. Erneut dachte Juliet an die Gästezimmer und machte sich eine Notiz im Kopf, dass sie Dorothy an Wärmflaschen erinnern musste, die, wie sie hoffte, ihre Freunde aus der Stadt ebenso wie die Heizdecken, die sie auf einige Betten gelegt hatte, reizend finden würden, unentbehrliche Bestandteile des Lebens in einem Herrenhaus auf dem Lande. Dorothy war eine echte Perle und würde die Wärmflaschen bestimmt nicht vergessen, doch es waren die Kleinigkeiten, die zählten. Hier ging es ums Geschäft, weniger um Freundschaft.

Juliet öffnete die Eingangstür, und ein Schwall eisiger Kälte schlug ihr entgegen. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Frost hatte eingesetzt. Der Mond schien und ließ den Park prachtvoll aussehen, eine Kulisse wie aus dem Märchen mit dem schwarzen Halbkreis des Waldes als Hintergrund. Plötzlich, ganz unvorbereitet, fühlte sie sich beschwingt, verliebt in diesen Ort. Doch, Mark hatte recht: Es war der Mühe wert. Auf der Schwelle stand eine Frau. Eindeutig keine verspätete Freundin, die sie vergessen hatte. Diese Frau hier vor ihr war korpulent und ungepflegt. Sie trug Gummistiefel und eine Strickmütze und ließ Juliet an die Obdachlosen denken, die sie manchmal vor der Newcastle Central Station betteln sah, eingehüllt in fadenscheinige Decken. Dann aber blitzte eine Erinnerung in ihr auf. An ein Begräbnis. Das Begräbnis ihres Großonkels Hector, des jüngeren Bruders ihres Großvaters. Hector war ein geheimnisumwittertes schwarzes Schaf gewesen, über den in ihrer Kindheit und Jugend im Flüsterton erzählte Geschichten kursiert waren. Am Tag des Begräbnisses war es trüb und regnerisch gewesen, um sie herum nur Fremde. Sie war gesandt worden, um ihren Zweig der Familie zu vertreten, denn im Tode konnte Hector vergeben werden. Nun war er ja nicht mehr da, um Ärger zu machen.

«Vera, dich haben wir gar nicht erwartet!» Sofort wurde ihr klar, dass sich ein erschreckter Ton in ihre Stimme geschlichen hatte. Wie grob das geklungen haben musste! War es möglich, dass ihre Mutter, die immer exzentrischer wurde, Vera eingeladen hatte, ohne Juliet oder Mark davon zu unterrichten? «Bitte entschuldige, komm doch herein, ins Warme.»

«Hallo, Herzchen.» Vera trat ein und stampfte ein paarmal auf der Matte auf, um den Schnee von ihren Stiefeln zu lösen. «Ich wollte euch nicht überfallen, ganz ehrlich. Ich stecke da nur in einer gewissen Klemme.»

«Was denn für eine Klemme?»

«Tja, da wäre zunächst mal das hier.» Vera blickte nach unten, und jetzt sah auch Juliet das schlafende Kind in seiner Schale. «Meinst du, ich kann es mit reinnehmen? Da draußen friert es Stein und Bein. Momentan schläft es.» Sie schaute Juliet an, als wäre deren Meinung von Bedeutung.

Juliet verspürte ein Ziehen in der Magengrube. Seit sie denken konnte, hatte sie sich Kinder gewünscht, doch bis jetzt hatte es nicht geklappt, und mittlerweile kam sie in ein Alter, wo es das vielleicht nie mehr würde. Manchmal überfiel sie ganz unwillkürlich ein erdrückender Neid, wenn die Rede auf Kinder kam. Wenn es nicht meins ist, kann es ruhig erfrieren. Und manchmal überkam sie eine leisere Sehnsucht, die ebenso zum Verzweifeln war. «Aber sicher, nur herein mit ihm. Oder ihr? Was ist es denn?»

«Gute Frage», sagte Vera. «Das weiß ich gar nicht.»

Juliet, die heimlich die Mütterforen im Internet besuchte und sich dafür schämte, als wären es Pornoseiten, glaubte, dass es etwa zwölf Monate alt sein musste, vielleicht gerade angefangen hatte zu laufen und wahrscheinlich noch nicht richtig sprechen konnte. Aber was wusste sie schon? Aus dem großen Salon ertönten Stimmen, ein plötzliches schrilles Auflachen. Dort vermisste sie jedenfalls niemand. Mark und Harriet unterhielten die Gäste auch ohne sie. Sie sah das Kind erneut an und war auf einmal in die Hocke gegangen, löste die Gurte der Babyschale, hob es heraus und hielt es im Arm. Es roch nach Weichspüler und Babyöl. Und voller Windel. «Ich glaube, es braucht eine frische Windel. Kann sein, dass wir irgendwo welche haben. Dorothy, unsere Haushälterin, hat ein kleines Kind.»

Duncan. Vierzehn Monate alt. Weiches dunkles Haar und rosige Wangen.

«Du musst Juliet sein», sagte Vera. «Du warst auf Dads Beerdigung. Da konnten wir gar nicht richtig miteinander sprechen.»

«Nein.» Plötzlich fühlte Juliet sich angegriffen. In letzter Zeit fühlte sie sich oft angegriffen. «Tut mir leid. Ich musste schnell weg.» Dann, im Versuch, die Situation unter Kontrolle zu bringen: «Was hat es mit diesem Kind überhaupt auf sich? Was führt dich zu uns?»

«Im Schneesturm ist ein Wagen von der Straße gerutscht», sagte Vera. «Und auf dem Rücksitz habe ich das Kleine da gefunden. Keine Spur von der Fahrerin. Ich brauche euer Telefon, um die Eltern zu ermitteln.»

«Oh, natürlich. Unbedingt.»

«Ich will aber nicht stören.» Vera wies mit dem Kinn in Richtung Gelächter.

«In der Küche ist auch ein Anschluss.» Juliet spürte Tatkraft in sich aufsteigen. «Nimm den. Da ist es ohnehin wärmer. Und wir können Dorothy um eine Windel bitten, um es ihm ein bisschen gemütlicher zu machen.» Denn ungeachtet der geschlechtsneutralen Farben seiner Sachen hatte Juliet entschieden, dass es ein Junge war.

In der Küche duftete es herrlich; sie hatten sich auf Fasan geeinigt, geschmort in Rotwein und Schalotten. Reichlich Fasan, denn der war spottbillig hier draußen, und ihre Freunde aus der Stadt fänden das sicher toll und exotisch, oder wenigstens authentisch. Plus einen Gemüseauflauf für die Veganer und Vegetarier. Dazu Bratkartoffeln mit Pastinaken und Rosenkohl, immerhin war bald Weihnachten. Eine große Auswahl an Desserts, warm und kalt, denn selbst die dürrsten Frauen aßen gern Süßes, und auf diese Weise würde niemand hungrig zu Bett gehen. Dorothy schwang hier das Zepter, ruhig und tüchtig, und Juliet verspürte eine Welle der Dankbarkeit. Sie wusste nicht, was sie ohne diese Frau machen würde.

«Dorothy, wir haben da eine kleine Krise.»

Dorothy drehte sich nur kurz von dem Topf weg, in dem sie gerade rührte. Echter Vanillepudding mit Eiern und Sahne. «Eine Minute. Ich will nicht, dass mir das anbrennt oder gerinnt.» Und sie brauchte auch nur exakt eine Minute, dann war sie für Juliet da. «Bitte entschuldige. Was kann ich für dich tun?» Sie trug Jeans und einen selbst gestrickten Pullover. Die langen Haare hatte sie mit einem roten Tuch aus Baumwolle zurückgebunden. Dorothy brauchte sich nicht fein zu machen, da sie nie mit den Gästen zusammentraf, außer im Notfall. Das gehörte zur Abmachung.

«Das ist Vera, meine Cousine. So was in der Art. Sie hat ein kleines Kind gefunden, in einem leeren Auto, das von der Straße abgekommen ist. Jedenfalls muss er dringend frisch gewickelt werden. Hast du vielleicht eine Windel übrig, die wir ausborgen könnten?»

«Im Schrank vorn im Vestibül.» Und weil Dorothy praktisch veranlagt war, fanden sich dort auch eine Wickelunterlage, Babylotion und Feuchttücher. Juliet kam mit einer Tasche in die Küche zurück. Das Kind trug sie immer noch auf ihrer Hüfte. Dorothy lächelte. «Soll ich das machen?»

«Nein», sagte Juliet. «Du hast genug zu tun. Ich schaffe das schon. Ich nehme ihn nur schnell mit nach oben.» Plötzlich merkte sie, dass Vera sie musterte.

Dann wandte diese sich an Dorothy. «Dürfte ich bitte Ihr Telefon benutzen? Ich muss auf dem Revier Bescheid geben, dass ich ein herrenloses Kind im Schlepptau habe. Und versuchen, die Eltern ausfindig zu machen.»

«Aber natürlich!» Dorothy wies mit dem Kinn auf den Apparat auf der Kommode.

Auf einmal sah Juliet, dass das Kind wach geworden war und sie anblickte. «Ich bin gleich wieder da.»

Als sie an der Tür zum großen Salon vorbeikam, hatte dort offensichtlich noch immer niemand ihre Abwesenheit bemerkt. Mark hatte die Menge um sich geschart, und sie hörte, wie er plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach. Entweder hatte jemand einen wirklich guten Witz gemacht, oder er versuchte mit aller Macht, Eindruck zu schinden. Juliet warf einen Blick auf ihre Uhr. Eine halbe Stunde noch, dann würden sie zum Abendessen übergehen.

Oben breitete sie die Wickelmatte auf ihrem und Marks Bett aus und legte das Kind darauf ab. Wieder wünschte sie, es wäre nicht gar so kalt, denn am liebsten hätte sie sich nun viel Zeit genommen. Sie zog dem Kind die Stiefel und den Schneeanzug aus, dann den Strampler und schließlich die Windel. Sie hatte recht gehabt, es war ein Junge. Nachdem sie ihn wieder angezogen hatte, blieb sie noch eine Weile mit dem Kleinen im Arm am Fenster stehen und sah hinaus. Es hatte von Neuem angefangen zu schneien, lautlos und unnachgiebig. Ihr kam der Gedanke, dass Vera jetzt wohl nicht mehr wegfahren könnte, nicht mal mit dem Land Rover, und dass das Kind diese eine Nacht ihr gehören würde.

«Jules! Wo steckst du, Liebling?» Das war Mark, der von unten die Treppe hochrief. Mit dieser unechten liebevollen Stimme, die er vor anderen immer aufsetzte. Der Schauspieler in ihm konnte es vor dem lauschenden Publikum vollkommen glaubhaft klingen lassen, doch sie kannte ihn gut genug, um die Verärgerung herauszuhören. Dann schob sie den Gedanken beiseite. Mark stand unter Druck, das war alles. Er hatte so viel Mühe in diesen Abend gesteckt, der ihm so wichtig war, und sie durfte es ihm nicht verderben.

«Bin schon da! Wir haben einen ziemlich geheimnisvollen Gast bekommen. Seht her!» Sie war auf halbem Weg nach unten, und alle starrten sie durch die offen stehende Tür an, sie und das Kind in ihren Armen.

«Wo hast du das denn her?» Diese Frage war nicht von Mark gekommen, sondern von Harriet. Juliets Mutter hatte sich aus ihrem Sessel erhoben und hinaus ins Vestibül begeben. Selbst mit Ende sechzig war sie noch die schönste Frau der Abendgesellschaft. Silbergraues Haar, tadellos geschnitten. Die Augen eisig und blau. Die Anmut einer Tänzerin und der Instinkt eines Models für das, was ihr am besten stand. Sie blickte zu Juliet hinauf. «Gibt es da etwas, das du uns verschwiegen hast, Darling?» Der schlechte Witz nahm ihrer ersten Frage die Schärfe, und die Anspannung löste sich.

«Nope.» Das war Vera, die aus der Küche gekommen war und jetzt am Rand der mittlerweile im Vestibül versammelten Gästeschar stand. «Das gehört zu mir. Irgendwie.»

«Der.» Juliet wandte sich an Vera und lächelte. «Es ist eindeutig ein Junge.»

«Gut, dann gib ihn mir doch einfach wieder, Herzchen. Du willst sicher nicht, dass er euch das Abendessen verdirbt. Dorothy und ich, wir kümmern uns um ihn. Ich habe meine Leute verständigt. Die sollten den Eigentümer des Wagens im Nullkommanichts ermittelt haben, und schon wäre das Geheimnis gelöst.» Damit drehte Vera sich zu Harriet. «Du erkennst mich vermutlich nicht. Als ich zuletzt hier war, war ich selbst noch ein Kind oder jedenfalls beinahe.» Vera lächelte. «Vera Stanhope. Die Tochter von Hector.»

Harriet blieb eine Sekunde lang vollkommen reglos. Juliet begann sich sogar schon zu fragen, ob es wohl gleich zu einer Szene kommen würde oder zumindest zu etwas, das einer Szene so nahekam, wie ihre Mutter es gerade noch in Betracht ziehen könnte. Eine schnippische, abfällige Bemerkung über Hector zum Beispiel oder ein Kommentar über Veras Aufmachung. Doch stattdessen hatte Harriet offenbar beschlossen, Großmut an den Tag zu legen, und streckte die Hand aus. «Vera, was für eine reizende Überraschung. Nein, ich habe dich nicht wiedererkannt, obwohl ich das natürlich hätte tun müssen. Eine Familienähnlichkeit ist definitiv vorhanden. Man sieht es am Kinn und an der Stirn. Möchtest du mit uns zu Abend essen?»

Juliet glaubte kurz, dass Vera das Unverzeihliche tun und die Einladung annehmen würde, rein aus Bosheit, doch die schüttelte den Kopf. «Ich muss herausfinden, was mit der Mutter von diesem Hosenmatz passiert ist. An einem Abend wie diesem sollte niemand da draußen rumspazieren.» Sie klang aufrichtig besorgt.

Worauf wieder Mark übernahm und die Gäste ins Esszimmer führte, wo ebenfalls ein Feuer im Kamin brannte. Juliet übergab Vera das Kind und folgte den anderen. Das Esszimmer sah wirklich prachtvoll aus. Kerzenlicht und Feuerschein warfen Schatten, in denen die abgewohnten Ecken verborgen blieben, und die schweren Vorhänge hielten die Zugluft draußen, die selbst an den wärmsten Tagen den Weg durch die schlecht isolierten Schiebefenster ins Haus fand. Die weiße Tischdecke war gestärkt, und das wuchtige Silber schimmerte. Dorothy hatte zwei Mädchen aus der Oberstufe angeheuert, Töchter eines Pächters, die bei Tisch servieren sollten, schlanke junge Frauen in schwarzen Kleidern und schwarzen Ballerinas. Dorothy zufolge hingen sie in ihrer Freizeit der Gothic-Szene an, weshalb die schwarzen Klamotten kein Problem gewesen seien, doch an diesem Abend wirkten sie biegsam und anmutig, beinahe unwirklich, mehr Gespenster als Vampire. Juliet dachte wieder an den Schnee; vielleicht brauchten die beiden auch noch ein Bett für die Nacht. Dem Himmel sei Dank für Dorothy. Bestimmt hatte sie auch schon daran gedacht und wahrscheinlich sogar bereits die Eltern angerufen. Ohne sie wäre dieser Abend ein logistischer Albtraum geworden.

Mit der Werbung begann Mark erst kurz vor Ende des Abendessens. Auf dem Tisch standen eine Karaffe Portwein und die Überreste einer Platte mit Käsespezialitäten aus Northumberland. Sie hatten beschlossen, so viel Lokales aufzutischen wie möglich. Hätte die Wylam Brewery auch Portwein im Angebot, hätten sie jetzt den getrunken. Alle waren gelöst und entspannt. Mark stand auf und warf noch ein paar Scheite Holz ins Feuer. Juliet beobachtete ihn vom anderen Ende des Tisches aus und staunte wieder, wie leicht er in die Rolle des Landedelmannes gefunden hatte. Schwer zu glauben, dass er in einer bescheidenen Doppelhaushälfte in einem Vorort von Newcastle aufgewachsen und auf eine öffentliche Schule gegangen war. Selbst sein Äußeres wirkte vollkommen standesgemäß, Hose und Sakko leicht abgetragen, aber dazu elegante, handgenähte Schuhe. Er hatte schon immer schnell gelernt und wusste sich die Rollen anzueignen.

Seine Stimme war tief und melodisch; sie war das Erste gewesen, was Juliet an ihm angezogen hatte. «Zunächst ein herzliches Dankeschön an all unsere Freunde, dafür, dass ihr euch trotz des scheußlichen Wetters hier herausgewagt habt. Sicher ist euch schon aufgefallen, wie wunderschön Brockburn ist, selbst mitten im Winter. Deshalb sind wir auch zu dem Schluss gekommen, dass es unfair wäre, das Haus nur für uns allein zu nutzen. Dieser ganze Platz für gerade mal drei Menschen, wie könnten wir das rechtfertigen?»

Vier, dachte Juliet, wenn man Dorothy mitzählt. Sie fand es reichlich ungerecht von Mark, ihre Haushälterin nicht mitgezählt zu haben, dann wurde ihr klar, dass sie etwas zu viel getrunken hatte, denn natürlich hatte Dorothy ihre eigene Familie.

Mark sprach unterdessen weiter. «Und so kam uns der Gedanke, etwas ganz Neues ins Leben zu rufen, wodurch mehr Menschen diesen Ort und die herrliche Landschaft genießen können. Wir dachten dabei an ein Theater, hier im Herzen von Northumberland. Der Süden hat das Opernhaus von Glyndebourne, was also spricht dagegen, dass wir hier oben im Norden auch ein künstlerisches Zentrum bekommen?»

«Dass es hier oben die ganze verdammte Zeit regnet!» Dazwischengerufen von einem seiner Freunde aus Collegezeiten, schon leicht gelallt.

«Wir sprechen hier nicht von Open-Air-Aufführungen.» Mark lächelte, aber wieder konnte Juliet seine Verärgerung heraushören. Er war kein Stand-up-Comedian, den man mit Zwischenrufen aufziehen konnte. «Nicht zwingend jedenfalls, obwohl es sich mit dem Park natürlich grundsätzlich anböte. Wir denken an einen Vortragssaal im Haupthaus sowie Räume zum Arbeiten und Proben. Wir wollen gute Wanderbühnen anlocken und junge Autorinnen und Autoren aus der Umgebung unterstützen. Gegenwärtig prüfen wir, welche Fördermittel für uns in Betracht kämen, aber natürlich brauchen wir darüber hinaus weiteres Kapital. Und an der Stelle kommt ihr ins Spiel. Ihr habt jetzt die Gelegenheit, in das Projekt zu investieren, Sponsoren zu werden und euch mit eurem Namen oder dem Namen eurer Organisation daran zu beteiligen.» Er legte eine Pause ein und blickte in die Runde. «Ihr habt doch nicht etwa geglaubt, wir laden euch nur ein, weil wir euch so gern um uns haben, oder?» Sein Grinsen wurde breiter. «Natürlich nicht! Wir wollen, dass ihr uns euer Geld gebt!»

Er hatte sie am Haken. Das sah Juliet gleich. Jetzt zog er um den Tisch, ging in die Hocke, um auf derselben Höhe mit seinen Gesprächspartnern zu sein, die Miene zugleich ernst und leidenschaftlich, die Arme in ständiger Bewegung, während er seine Vision, seine große Idee beschrieb. Er wickelte ihre Gäste um den kleinen Finger, ließ sie glauben, sie wären etwas Besonderes und könnten sich ein kleines Stück von alldem erkaufen: dem herrschaftlichen Haus, der herrschaftlichen Familie, ein Stück der jahrhundertealten Geschichte der Northumberland Reivers, jener Plünderer entlang der englisch-schottischen Grenze. Natürlich hatte er wirklich eine Vision; die Vision für ein Theater fernab der Stadt. Doch seine Bemerkung, sie seien vor allem hinter dem Geld ihrer Gäste her, war die Wahrheit gewesen. Schon nach wenigen Monaten im Herrenhaus hatte er gesehen, dass es ihnen unter den Füßen wegbröckelte, und zu dem Zeitpunkt hatte er es schon ebenso lieben gelernt wie Juliet.

Harriet stand auf und winkte unbestimmt in den Raum hinein. «Ich fürchte, ich spüre mein Alter. Wir sehen uns dann morgen früh.»

Juliet blickte ihr hinterher. Ihre Mutter hatte noch immer die Kondition einer Marathonläuferin. Harriet wusste, dass sie etwas unternehmen mussten, um das Haus vor dem Verfall zu bewahren, doch dieses ganze Gerede über Geld war ihr zu vulgär, und daran wollte sie nicht teilnehmen. Mark schrieb unterdessen Namen in sein Notizbuch. Die Resonanz auf seine kleine Rede schien ihn zufriedenzustellen. Juliet schlüpfte unauffällig aus dem Zimmer und ging zurück in die Küche.

KAPITEL VIER

Vera saß am Küchentisch und begutachtete den Haufen Fasanenknochen vor sich, die Überreste ihres Abendessens. Der Kleine lag beim Herd in seiner Babyschale, wach, aber schläfrig. Hielt die Augen nur noch mühsam offen. In einem Korb hatten sich zwei schwarze Labradore aneinandergeschmiegt. Ab und zu hoben sie die Köpfe, dann nickten sie wieder ein. Vera fragte sich, was Hector wohl dazu gemeint hätte, dass sie hier saß, im Dienstbotentrakt, mit der Haushälterin und den Hunden. Wahrscheinlich wäre er beleidigt gewesen und hätte um ihretwillen eine Szene gemacht. Vera war sich nicht mal sicher, was sie selbst davon halten sollte. Vielleicht hätte sie Harriets Einladung annehmen und sich zu den fröhlichen jungen Leuten in dem prächtigen Esszimmer gesellen sollen, aber dann hätte sie es nicht so warm und gemütlich gehabt wie jetzt. Stolz nur um des Stolzes willen, das hatte sie noch nie verstanden. Davon abgesehen hatte sie ohnehin die meiste Zeit telefoniert und hätte nicht gewollt, dass all diese Leute mithörten. Schlimm genug, dass sie vor Dorothy hatte sprechen müssen.

Dorothy weckte ihre Neugier. Die Haushälterin hatte einen vornehmen Akzent, klarer und majestätischer als Juliet. Sie war hochgewachsen, mit einem länglichen Pferdegesicht und großen Füßen, strahlte aber einen gewissen Stil und Selbstvertrauen aus. Was es vielleicht auch so schwer machte, ihr Alter zu schätzen. Ende dreißig? Jedenfalls nicht viel älter, trotz des antiquierten Namens. Vera trug ihren Teller zum Abfalleimer und warf die Knochen weg. Dorothy war bereits dabei, die Teller vom ersten Gang in den Geschirrspüler zu räumen. Die zwei jungen Mädchen hatten den Hauptgang im Esszimmer serviert und standen jetzt draußen vor der Küche, wo sie eine verbotene Zigarette rauchten. Vera wies mit dem Kinn auf die geschlossene Tür. «Die müssen sich doch den Arsch abfrieren.»

«Die sind jung. Die merken das gar nicht.»

«Juliet sagte, Sie hätten auch ein kleines Kind. Junge oder Mädchen?» Das eine, was Vera über Eltern zu wissen glaubte, war, dass sie gern über ihren Nachwuchs sprachen.

«Junge. Duncan.»

«Und was haben Sie jetzt mit ihm angestellt?»

«Karan passt auf ihn auf, mein Freund.» Kurzes Schweigen. «Wir wohnen in einem Cottage hier auf dem Anwesen.»

«Haben Sie den denn schon mal gesehen?» Vera deutete auf den Kleinen. «Keine Ahnung, in der Spielgruppe oder der Mutter-Kind-Gruppe? Gut möglich, dass er hier aus der Gegend kommt. Bei so einem Wetter fährt doch niemand mit dem Auto rum, außer man ist auf dem Heimweg.»

«Nein», sagte Dorothy. «Den habe ich noch nie gesehen. Aber ich komme auch nicht viel unter Leute. Wenn überhaupt, könnte Karan ihn schon mal gesehen haben. Er geht mit Duncan in die Krabbelgruppe und kümmert sich meistens um ihn.»

Damit beugte sie sich wieder übers Doppelspülbecken, bis zu den Ellbogen im Wasser, und schrubbte die riesigen Pfannen. Die beiden Mädchen strömten von draußen herein, die Arme um die Oberkörper geschlungen. Sie hatten in einem überdachten Vorbau gestanden, sodass ihre Füße trocken geblieben waren, doch in dem Moment, in dem die Tür aufging, wehte eine eisige Böe herein, und Vera sah im Licht, das aus der Küche fiel, dass das Schneegestöber wieder so dicht und heftig war wie vorhin.

«Könnt ihr bitte die Teller abräumen gehen, Mädels?» Dorothy wandte den Blick kurz vom Spülbecken ab, behielt Vera aber den Rücken zugekehrt. Ganz augenscheinlich war sie nicht in Stimmung für eine Unterhaltung mit dieser fremden Frau, die mit einem kleinen Kind hereingeschneit war. «Und danach sind die Desserts dran. Die könnt ihr einfach so auf den Tisch stellen, damit die Leute sich selbst bedienen. Der Käse kommt bitte auf die Anrichte. Darum kümmern sich dann Juliet oder Mark. Danach könnt ihr nach Hause.»

«Schaffen es die beiden denn bis nach Hause?» Noch mehr Dramen, dachte Vera, kann ich heute Abend nicht brauchen.

«Ihr Vater bewirtschaftet das Land um Brockburn. Die Home Farm. Das ist hier ganz in der Nähe, und er kommt mit dem Traktor. Die Mädchen können sich zu ihm in die Fahrerkabine quetschen. Er ist schon unterwegs. Deswegen habe ich ihnen auch gesagt, dass sie Mark und Juliet das Servieren der Käseplatte überlassen sollen.»

Das Telefon läutete. Vera blickte Dorothy an, ob sie abheben dürfe. Die Haushälterin nickte. «Vera Stanhope.»

Holly war dran, ihre Detective Sergeant. Vera hatte sie noch im Revier erwischt und ihr eine Liste mit Anweisungen durchgegeben. «Ich habe einen Namen für Sie. Die eingetragene Eigentümerin des Wagens.»

«Moment.» Vera kramte in ihrer Tasche und förderte Zettel und Stift zutage. «Okay, jetzt.»

«Constance Browne. Siebenundsechzig Jahre alt. Eine Adresse in Kirkhill.»

Das war das Letzte, was Vera erwartet hätte. Nicht die Adresse. Kirkhill lag hier gleich hinter dem Hügel. Aber das Alter. War dieses Kind, dem die Augen zufielen und das fast schon wieder am Einschlafen war, ein Enkelkind? Und lief da draußen eine ältere Frau im Schnee herum? In dem Alter war man doch sicher viel zu vorsichtig, um bei so einem Wetter das Auto zu nehmen. Zu vernünftig. «Der Wagen ist nicht zufällig als gestohlen gemeldet?»

«Nein, da ist nichts eingetragen.»

«Haben Sie auch die Telefonnummer der Frau?»

«Einen Augenblick.» Holly rasselte eine Festnetznummer herunter, und Vera kritzelte mit.

«Könnten Sie noch ein Weilchen im Revier bleiben? Ich weiß ja nicht, wie das Wetter da unten bei Ihnen ist, aber hier ist es der reinste Albtraum, und der Gedanke an eine ältere Dame ganz allein da draußen gefällt mir ganz und gar nicht. Unter Umständen müssen wir eine Suchaktion in die Wege leiten. Vielleicht sogar die Bergrettung alarmieren. Leute, die sich hier auskennen.»

Am anderen Ende der Leitung blieb es kurz still. Holly glaubte immer, ihre Leistungen im Team würden ganz selbstverständlich hingenommen und Vera würde, wenn es um Überstunden ging, immer nur Rücksicht auf die anderen nehmen, weil Joe Familie und Charlie in der Vergangenheit mit Depressionen zu kämpfen hatte. Holly fühlte sich immer ungerecht behandelt.

«Wenn Sie heute Abend schon etwas vorhaben», sagte Vera, «schalte ich das Bereitschaftsteam ein.» Sie wusste, dass das unfair von ihr war. Holly hatte nur äußerst selten mal etwas vor. Die Arbeit war ihr Leben.

Weiterhin Schweigen. Holly war nicht dumm. Sie wusste, dass sie gerade ausgetrickst wurde. Aber sie war wie Vera: eine geborene Ermittlerin. Neugierig. Es täte ihr leid, die Sache unerledigt abzugeben, und falls es sich zu einem interessanteren Fall entwickeln sollte, würde sie unbedingt von Anfang an dabei gewesen sein wollen.

«Nichts Besonderes», sagte Holly. «Ein bisschen kann ich noch bleiben. Hier unten schneit es nicht so heftig, und die Räumfahrzeuge sind schon unterwegs und halten die wichtigsten Straßen frei.»

«Ich möchte diese Frau nur mal schnell anrufen. Wenn sie es bis nach Hause geschafft hätte, hätte sie sich doch wegen des Kindes bei uns gemeldet, denken Sie nicht? Sie würde doch sichergehen wollen, dass es ihm gut geht. Ich rufe Sie gleich zurück.»

«Ja, in Ordnung. Soll ich sonst noch was erledigen, wo ich schon mal hierbleibe?»

Hätte Dorothy nicht mitgehört, hätte Vera Holly vielleicht gebeten, etwas über sie und ihren Freund herauszufinden. Im Grunde interessierte sie alles, was es über diesen Zweig der Familie Stanhope zu wissen gab. In Brockburn zu stranden, hatte sich angefühlt wie der Eintritt in eine vollkommen fremde Welt – abgesehen von den gelegentlichen Besuchen mit Hector hatte Vera mit diesem Familienzweig nie etwas zu tun gehabt –, trotzdem war es ein Teil ihrer eigenen Geschichte, und sie war wie gebannt. Fasziniert. Stattdessen sagte sie nun: «Rufen Sie bei den Krankenhäusern an. Fragen Sie nach, ob jemand mit Unterkühlung eingeliefert wurde, irgendjemand, nicht nur unsere gute Constance.» Sie konnte sich immer noch nicht von dem Eindruck lösen, dass die Kindsmutter in dem Wagen gesessen hatte.

Gerade als sie auflegte, kamen die beiden Serviermädchen in die Küche zurück, dick eingepackt in Daunenjacken jetzt, worin sie aussahen wie ganz normale junge Frauen. Aus Fleisch und Blut. An der Tür schlüpften sie in ihre Stiefel.

«Euer Dad sollte jeden Moment hier sein», sagte Dorothy. «Er hat gesagt, dass er zur Hintertür kommt, ihr könnt also hier nach ihm Ausschau halten und braucht euch nicht draußen alles abzufrieren.» Sie trocknete sich die Hände an einem Spültuch ab, das am Ofengriff hing, und zog dann für jede von beiden einen Umschlag mit Geld aus einer Schublade. «Wenn’s Trinkgeld gibt, sage ich euch Bescheid.»

Vera wandte sich wieder dem Telefon zu. Sie wählte Constance Brownes Nummer. Auf dem Fensterbrett draußen türmte sich der Schnee, doch die Scheiben darüber waren nicht verschneit, und sie konnte Scheinwerfer sehen; offenbar nahte der Traktor.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine ältere Frau. «Hallo?»

«Spreche ich mit Constance Browne?»

«Wer spricht denn da?» Die Stimme klang etwas geziert, aber fest und unbeugsam.

«Mein Name ist Vera Stanhope. Ich bin von der Polizei Northumberland.»

Kurze Stille. «Ja, Sie sprechen mit Miss Browne.» Ein Zögern. «Ist etwas passiert?»

«Es geht um Ihren Wagen, Miss Browne. Er wurde verlassen in der Nähe von Brockburn aufgefunden. Ist offenbar von der Straße abgekommen.»

«Wie bitte?»

«Wurde er gestohlen?» Vera wünschte, sie wäre mit der Frau im selben Raum. Es war ihr schon immer schwergefallen, die Reaktion eines Menschen übers Telefon einzuschätzen. «Oder haben Sie ihn jemandem geliehen?»

Keine Antwort, und Vera fuhr fort. «Im Wagen war ein kleines Kind. Ein Junge. Es geht ihm gut. Er ist jetzt hier bei mir im Herrenhaus von Brockburn. Allerdings mache ich mir Sorgen um die Fahrerin, die den Wagen offenbar verlassen hat, um Hilfe zu holen. Da draußen gibt es keinen Handyempfang, wissen Sie.»

Nachdem ein weiterer Moment der Stille verstrichen war, sagte Constance Browne endlich etwas. «Hin und wieder leihe ich Lorna meinen Wagen. Lorna Falstone. Sie hat mir versichert, dass sie einen Führerschein hat und fahren darf.» Was die ältere Dame zu beunruhigen schien. «Es tut mir leid. Das hätte ich vielleicht überprüfen sollen.»

«Sie sind nicht in Schwierigkeiten, Miss Browne, und Lorna auch nicht. Wir machen uns nur Sorgen um sie. Hat sie denn ein kleines Kind?»

«Ja, Thomas. Ein ganz entzückender kleiner Kerl. Aber Lorna hat mich heute nicht um den Wagen gebeten, und sie würde ihn niemals ohne meine Erlaubnis nehmen.»

«Könnten Sie denn vielleicht einmal nachschauen, ob Ihr Wagen noch da ist, Miss Browne?» Langsam verlor Vera die Geduld. Mit Zeugen wie dieser Frau konnte ihr Kollege Joe Ashworth viel besser umgehen.

«Einen Moment, bitte.» Miss Browne war beinahe sofort wieder zurück. «Ich habe nur schnell einen Blick aus dem Fenster geworfen. Sie haben recht, Inspector. Der Wagen steht nicht da, wo ich ihn abgestellt habe.»

«Wer ist Lorna?»

«Eine Nachbarin. Ihre Eltern sind Landwirte. Ich habe sie in der örtlichen Grundschule unterrichtet und kenne die Familie schon seit Jahren.»

«Gibt es einen Ehemann? Einen Freund? Jemanden, den wir wegen Thomas informieren sollten?»

Dieser Frage folgte ein erneutes Schweigen, das sich diesmal derart in die Länge zog, dass Vera schon glaubte, Constance Browne hätte aufgelegt.

Endlich aber sprach sie wieder. «Lorna hat ein unglückliches Händchen, was die Wahl ihrer Partner betrifft, Inspector. Sie ist so ein sanftes Geschöpf.»

«Können Sie mir denn sagen, wie Lornas letzter Freund hieß? Und wo er wohnt?» Vera fragte sich, ob am Ende noch jemand mit Lorna in dem Wagen gesessen hatte. Möglicherweise steckte mehr hinter dem Ganzen als nur ein beklagenswerter Unfall. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass eine fürsorgliche Mutter ihr Kind bei dieser Kälte in einem Auto mit weit offen stehender Tür zurücklassen würde.

Anscheinend empfand die Dame am anderen Ende der Leitung diese Frage als zu direkt. «Das ist am Telefon sehr schwer zu beantworten. Aber nein, ich kann Ihnen leider keine genaueren Einzelheiten über den Kindsvater sagen.»

«Wie sieht es bei Ihnen auf den Straßen aus?», erkundigte sich Vera. «Wenn man mit dem Auto durchkommt, kann ich einen meiner Beamten bitten, mit Ihnen persönlich zu reden.»

«Oh nein! Das wäre absolut unvernünftig. Wir wurden alle angewiesen, zu Hause zu bleiben.»

«Wenn Lorna in Schwierigkeiten stecken würde», fragte Vera, «an wen würde sie sich da wenden? Ihre Eltern? Könnte sie auf dem Weg zu ihren Eltern gewesen sein?»

Wieder herrschte zunächst Stille, aber nun hatte Constance anscheinend begriffen, dass hier Offenheit gefragt war. «Nein, das glaube ich eigentlich nicht, Inspector. Sie hat kaum etwas mit ihren Eltern gemein. Robert Falstone ist ein unnachgiebiger Mann, und seine Frau hat offenbar Angst, für sich selbst einzustehen. Ich denke, dass Lorna zu mir kommen würde, wenn sie in Schwierigkeiten steckt.»

«Ist sie aber nicht. Jedenfalls nicht heute.»

«Aber ich war ja auch den ganzen Nachmittag unterwegs! Im Gemeindesaal fand die Weihnachtsfeier für den Mittagstisch der Senioren statt. Ich bin Mitglied des Ausschusses und war natürlich dort, um zu helfen. Vielleicht war sie ja bei mir, und ich war nicht da für sie.» Jetzt klang Constance verstört.

Veras Aufmerksamkeit wurde von den Scheinwerfern des Traktors abgelenkt, der nun direkt vor dem Fenster stand. Sie hatte erwartet, dass die beiden Mädchen in Schwarz zu ihrem Vater hinauslaufen und in der Dunkelheit verschwinden würden, doch noch bevor die zwei sich in Bewegung setzen konnten, wurde die Tür aufgerissen, und ein Mann in Overall und dicker Jacke stürzte herein, die Stiefel knallten auf den Fußboden. Er zog sich die Sturmmütze vom Kopf, und Vera konnte sein Gesicht sehen. Es war rot vor Kälte. Er erfüllte die Küche mit der Kälte von draußen, und die Wärme des Ofens und das fröhliche Geplauder der beiden Mädchen schienen darunter begraben zu werden, ihre Stimmen erstarben in einem Zischen, wie heiße Kohlen, über die Wasser gegossen wurde. Sie blickten auf ihren Vater, als wäre er ein Fremder. Normalerweise, das erkannte Vera, benahm er sich nicht so. Er starrte die Ermittlerin an. «Ich muss telefonieren.»

«Tut mir leid, Herzchen. Das hier ist wichtig.»

«Da draußen liegt eine Frau. Eine Tote. Ich bezweifle, dass das, was Sie zu sagen haben, wichtiger sein könnte. Ich muss die Polizei rufen.»

Vera richtete sich wieder an die ältere Dame am anderen Ende der Leitung. «Constance? Bitte entschuldigen Sie. Ich muss Sie später noch einmal anrufen.» Damit legte sie auf und wandte sich an den Mann. «Ich bin die Polizei.» Sie bemerkte seine Skepsis, gönnte sich einen winzigen Moment der Freude und stellte sich dann ordentlich vor, worauf sie sich ihre Jacke anzog und ihm hinaus in die Nacht folgte. Er hatte den Traktor so hingestellt, dass die Scheinwerfer bis in den Park hineinschienen. Ein fähiger Mann, umsichtig. Und praktisch veranlagt, nicht zu Schockreaktionen neigend, obwohl sie genau spürte, wie aufgewühlt er war.

«Ich hätte sie gar nicht bemerkt, wenn ich sie nicht beinahe überfahren hätte. Sie war fast ganz zugeschneit. Aber ich konnte einen Teil des Gesichts sehen.»

Sie befanden sich jetzt hinter dem Haus. Als Vera vorhin aus dem Land Rover gestiegen und zu der imposanten Eingangstür gegangen war, hätte ihr die Leiche gar nicht auffallen können, selbst wenn sie zu der Zeit schon dagelegen hätte. Von der Straße nach Kirkhill ging ein Abzweig ab, nicht annähernd so prächtig wie die offizielle Auffahrt. Hier musste der Traktor langgefahren sein. Vera erinnerte sich, dass dieser Abzweig nur durch zwei Cottages angezeigt wurde, die zu Brockburn gehörten und früher Arbeiter beherbergt hatten. Heute, vermutete Vera, wohnten wahrscheinlich Dorothy und ihr Freund in einem der beiden. Das andere war vielleicht verkauft worden oder wurde vermietet, um etwas Geld einzunehmen. War die Tote dort entlanggelaufen? Falls ja, musste sie das Herrenhaus und die Gegend hier gekannt haben.

Der Schnee war jetzt so fein und pulvrig, dass der Wind die winzigen Flocken aufwirbeln konnte, und lag so hoch, dass er in ihre Stiefel drang. Dem Himmel sei Dank für fette Waden, so war der Spalt wenigstens nicht so groß. Der Mann vor ihr blieb stehen.

«Verzeihung», sagte Vera. «Ich weiß noch gar nicht, wie Sie heißen.»

«Neil Heslop.» Ein Brummeln. Er konzentrierte sich auf die verschneite Erhebung vor ihnen.

«Können Sie jetzt bitte da weggehen? Ich würde mir die Sache gern einmal genauer ansehen.»

Heslop nickte und trat zurück, ging auch ein Stück zur Seite, um nicht im Scheinwerferlicht zu stehen.

«Sind Sie vom Traktor abgestiegen, um einen Blick darauf zu werfen?»

«Aye. Ich konnte es einfach nicht glauben und musste doch auch nachsehen, ob sie noch lebt.»

«Und?»

«Ich bin ehrenamtlicher Ersthelfer. Wir haben alle eine Ausbildung bekommen und wissen, wo wir den Puls messen müssen. Und da, sehen Sie die Wunde an ihrem Kopf? Bestimmt hatte sie keine Chance.»

Vera ging nicht näher an die Leiche heran. Das würde sie später machen, wenn sie allein war. Von Heslops Stiefelabdrücken war nichts mehr zu sehen. Wind und Schnee hatten seine Spuren schon wieder gelöscht. So wie alle anderen Spuren, die davor dort gewesen waren. Jeder Versuch herauszubekommen, ob die Frau mit ihrem Mörder hergekommen war oder bereits tot an diese Stelle geschleppt wurde, war zum Scheitern verurteilt.

«Haben Sie sie wiedererkannt?»

«Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte die Tochter von Robert Falstone sein.»

Natürlich. Schließlich sind heute Nacht ja wohl kaum zwei junge Frauen verschwunden. Vera fragte sich, wie sie das Constance Browne beibringen sollte. Die alte Dame hatte bereits Schuldgefühle und war bekümmert, und nun war ihre Nachbarin, das «sanfte Geschöpf», offenbar tot. Vera drehte sich zu Heslop um. «Gehen Sie zurück ins Warme und warten Sie dort mit Ihren Töchtern. Ab jetzt übernehme ich. Aber können Sie den Motor bitte laufen und die Scheinwerfer eingeschaltet lassen? Damit ich sehe, was ich tue?»

Heslop nickte und wandte sich ab. Der Schneefall hatte mittlerweile wieder aufgehört, und die Nacht war klar. So eiskalt, dass Vera jeder Atemzug schwerfiel. Sie machte ein paar Schritte auf die Tote zu und ging dann ein Stück um sie herum, damit sie im Licht der Traktorscheinwerfer keinen Schatten auf die Leiche warf. Wie Heslop gesagt hatte, war nur ein Teil des Gesichts zu sehen; auf Stirn und Kinn der Toten funkelte eine Schicht Raureif.

Sie erinnerte Vera an ein im Sand eingebuddeltes Kind, aber an einem Strand wäre es laut und lebendig gewesen, und die Szene hier vor ihr war schwarz-weiß, jeder Farbe, jedes Tons beraubt. Vera machte ein paar Fotos mit ihrem Handy. Heslop hatte von einer Schädelverletzung gesprochen, und da war sie, direkt über dem linken Ohr. Viel brutaler, als Vera erwartet hätte: Knochen und Hirnmasse lagen frei. Blut. Vera fragte sich, ob sie unter der jüngsten Schicht Schnee wohl Blutspritzer finden würden, die ihnen verraten könnten, ob die Frau hier getötet wurde. Sie war froh, dass sie das nicht selbst herausfinden musste. Paul Keating, der Gerichtsmediziner, und Billy Wainwright, der Leiter der Spurensicherung, mussten dringend herkommen, bevor alle Beweise weggeschmolzen waren. Der Gedanke, wie die beiden bei diesem Wetter nach Brockburn gekarrt werden sollten, lenkte sie kurz ab.

Aus dem Herrenhaus wehte leise Musik herüber. Eine satte Basslinie. Die Gäste feierten, vielleicht würden sie tanzen bis zum Morgengrauen. Das schien respektlos, schamlos, aber woher sollten sie wissen, dass hier eine Leiche lag? Außer natürlich, es befand sich ein Mörder unter ihnen.

KAPITEL FÜNF

Joe Ashworth war bereits zu Hause, als der Anruf kam. Die beiden Kleinen lagen schon im Bett, und Jess hing in ihrem Zimmer am Handy. In letzter Zeit kapselte sie sich immer öfter von ihnen ab. Sal meinte, Jess sei jetzt fast ein Teenager und habe in wenigen Wochen Geburtstag, was könnten sie da erwarten? Sie glaubte, das Alter sei auch schuld an Jess’ Verhalten: dem Augenrollen, dem verdrossenen Schweigen, dem Türenschlagen. «Die Hormone tanzen Samba in ihr. Das wird schon wieder.» Aber Joe vermisste die alte Jess. Die Tochter, die seine Hand nahm und ständig kicherte und alles um sich herum vergaß, wenn sie Harry Potter las.

Sie hatten beschlossen, spät zu Abend zu essen, nur sie beide, und eine Flasche Wein dazu zu trinken. Er hatte ihnen gerade das erste Glas eingeschenkt. Sal hatte einen Auflauf zubereitet, der den ganzen Tag im Slow Cooker gegart hatte, aber erst wollten sie noch ein halbes Stündchen entspannen, bevor sie ihn auftischte. Im Fernsehen kam ein Film, den sie sich ansehen wollten. Als sein Diensthandy klingelte, konnte er die Nummer auf dem Display nicht zuordnen.

«Wenn das deine verdammte Vera ist …» Sal sprach den Satz nicht zu Ende.

Joe schüttelte den Kopf. «Das ist eine Festnetznummer, die ich nicht kenne. Ich sollte besser drangehen.»

Nur dass es natürlich doch Vera war, die brüllte, als wäre das Telefon nie erfunden worden und sie müsste so schreien, damit er sie hörte. Sodass Sal, die sich vor dem Kamin ausgestreckt hatte, jedes Wort mithören konnte.

«Wir haben eine Leiche. Ich brauche Sie hier. Brockburn House, kurz vor Kirkhill.»

Er hätte gern gewusst, was Vera schon am Tatort machte, doch als er Sals Gesicht sah, verkniff er sich die Frage. «Ich bin heute Abend nicht im Dienst.»

Die Chefin tat, als hätte sie das nicht gehört.

«Bei dem Wetter könnte es nicht ganz leicht werden, hier rauszukommen, deshalb habe ich einen Traktor organisiert, der Sie in Kirkhill aufliest. Sie und Holly.» Sie schnaufte. «Paul Keating hat gemeint, er kommt schon durch mit seinem Schicki-Micki-Allradwagen und den Winterreifen, und er bringt Billy Wainwright mit.»

Joe setzte zu einer Erwiderung an, doch Vera ignorierte ihn. «Die Einzelheiten machen Sie dann mit Holly aus, ja? Sie hat alle Kontaktdaten und weiß, was los ist.»

Und noch ehe er überhaupt etwas hatte sagen können, hatte Vera aufgelegt.

Er wusste, er sollte eigentlich wütend sein, dass sie ihn so behandelte, doch tief im Innern glaubte er, dass sie ihm gerade einen Gefallen getan hatte. Sie wusste, was sie tat. Hätte sie ihn gefragt, ob es ihm etwas ausmache, eine Sonderschicht einzulegen, hätte er sagen müssen, ja, das mache ihm sehr wohl etwas aus, denn das Essen war beinahe fertig und Sal war ohnehin schon sauer auf ihn wegen der ganzen Überstunden, die er diesen Monat bereits geleistet hatte. Jetzt aber hatte er gar keine Wahl, und der Schwarze Peter lag bei Vera, nicht bei ihm. Im Grunde nämlich fror er sich lieber bei einer Mordermittlung in nächtlicher Eiseskälte alles ab, als hier in seinem gemütlichen Vororthäuschen bei seiner Familie zu hocken. Eine Erkenntnis, die ihm Angst einjagte – was für ein Ungeheuer machte das aus ihm? –, weshalb er sie, während er seine Gummistiefel aus dem Schrank unter der Treppe hervorzerrte und versuchte, seine Frau zu besänftigen, weit von sich schob. «Es tut mir so leid, aber du weißt ja, wie sie ist.»

«Wird Zeit, dass du das Team wechselst», sagte Sal, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, eingeschnappt wie ihre fast dreizehnjährige Tochter, «und einen Vorgesetzten bekommst, der deine Arbeit zu schätzen weiß.»

Aber Joe war klar, dass er das Team niemals wechseln würde, solange Vera Stanhope es leitete. Weil sie seine Arbeit nämlich sehr zu schätzen wusste, weshalb sie ihn auch auf diese Weise zum Tatort zitiert hatte: indem sie sich selbst in die Schusslinie stellte. Und außerdem brauchte sie ihn; ohne ihn, der sie immer wieder zur Vernunft brachte, würde sie eines Tages überschnappen. Der Unterschied zwischen ihrem eigenen Moralempfinden und den Grenzen des Gesetzes hatte ihr noch nie recht eingeleuchtet.

Joe marschierte die Straße hoch bis zur Hauptstraße, wo der Schnee bereits geräumt war, um auf Holly zu warten. Er fühlte sich mies, weil er Sal im Stich gelassen hatte, die den Abend schon seit mehreren Tagen geplant hatte, doch zugleich genoss er den Rausch aus Aufregung und Nervenkitzel, der die Langeweile des Familienlebens aufwog und ihm die Rolle als verantwortungsvoller Ehemann und Vater zu Hause überhaupt erst ermöglichte.

 

Als sie in Brockburn ankamen, war es bereits Mitternacht. Die letzten paar Meilen waren gespenstisch und verwirrend gewesen. Keine Straßenbeleuchtung. Ein sternenübersäter Himmel, der immer wieder von darüber hinwegjagenden Wolken oder leichtem Schneegestöber verdeckt wurde. Das einzige Geräusch war das Knirschen der riesigen Traktorreifen, die den Schnee unter sich begruben. Die Fahrerkabine war zu beiden Seiten offen. Holly hatte sich neben den Fahrer auf den Sitz gequetscht, und Joe hockte auf einem Radkasten. Die Kälte kroch durch seine Daunenjacke und die Handschuhe, schien jede Lücke aufzuspüren, die zu seiner nackten Haut führte: seinen Handgelenken, dem Hals. Holly trug einen Skianzug mit Kapuze. Als er ihr vorhin beim Hineinschlüpfen zugesehen hatte, hatte er sich noch lustig über sie gemacht. «Hast du vor, den Mount Everest zu besteigen?» Jetzt beneidete er sie darum.