Die andere Tote - Ann Cleeves - E-Book
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Ann Cleeves

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Beschreibung

Zwei Leichen in einem Grab Ein alter Bekannter Veras – Ex-Cop John Brace, der für Mord im Gefängnis sitzt – bietet ihr einen Deal an. Wenn sie bei seiner alleinerziehenden Tochter nach dem Rechten sieht, verrät er ihr, wo die Leiche des seit über zwanzig Jahren vermissten Robbie Marshall versteckt liegt. Sowohl Brace als auch Marshall gehörten mit Veras inzwischen verstorbenem Vater Hector und dem geheimnisvollen «Professor» zur «Gang of Four», die einen mehr als zweifelhaften Ruf genoss. Vera und ihr Team von der Northumbria Police folgen dem Hinweis und finden tatsächlich menschliche Knochen – allerdings zu viele, um zu einem einzigen Skelett zu gehören. Wer ist die Tote, die sich ihr geheimes Grab mit Robbie Marshall teilt? Bei ihren Ermittlungen stößt Vera auf den unter mysteriösen Umständen abgebrannten Nachtclub The Seagull an der Whitley Bay und wittert eine Spur …

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Ann Cleeves

Die andere Tote

Vera Stanhope ermittelt

 

 

Aus dem Englischen von Stefanie Kremer

 

Über dieses Buch

Zwei Leichen in einem Grab

 

Ein alter Bekannter Veras – Ex-Cop John Brace, der für Mord im Gefängnis sitzt – bietet ihr einen Deal an. Wenn sie bei seiner alleinerziehenden Tochter nach dem Rechten sieht, verrät er ihr, wo die Leiche des seit über zwanzig Jahren vermissten Robbie Marshall versteckt liegt. Sowohl Brace als auch Marshall gehörten mit Veras inzwischen verstorbenem Vater Hector und dem geheimnisvollen «Professor» zur «Gang of Four», die einen mehr als zweifelhaften Ruf genoss.

Vera und ihr Team von der Northumbria Police folgen dem Hinweis und finden tatsächlich menschliche Knochen – allerdings zu viele, um zu einem einzigen Skelett zu gehören. Wer ist die Tote, die sich ihr geheimes Grab mit Robbie Marshall teilt? Bei ihren Ermittlungen stößt Vera auf den unter mysteriösen Umständen abgebrannten Nachtclub The Seagull an der Whitley Bay und wittert eine Spur …

Vita

Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe, als auch Cleeves zweite Serie um das Shetland-Quartett, sind verfilmt worden.

 

Stefanie Kremer, geb. 1966 in Düsseldorf, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin für Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen und Französischen. Sie lebt südlich von München.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «The Seagull» bei Macmillan, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg // «The Seagull» Copyright © 2017 by Ann Cleeves

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-40593-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Den Stammgästen des Rockcliffe Arms in Whitley Bay gewidmet, in Dankbarkeit für ihre Gesellschaft und die Geschichten, die mich zu diesem Buch inspiriert haben.

Prolog

Juni 1995

Trotz der Dunkelheit und der Tatsache, dass es keine Straßenlaternen gab, konnte die Frau die gesamte sanft geschwungene Bucht überblicken. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihr gesamtes Leben im Halbdunkel verbracht zu haben; in ihren Träumen stand sie im Mondschein, im Neonlicht oder schwebte durch das erste Schimmern der Morgendämmerung. Noch immer fühlte sie sich nachts am wachsten.

Sie wartete auf das Geräusch von Schritten, darauf, dass die Person, mit der sie verabredet war, endlich kam. Aus weiter Ferne vernahm sie den Lärm der Stadt: Fetzen von Schlagermusik und schrilles, alkoholseliges Gelächter. Obwohl schon Sonntagabend war, feierten die Menschen einfach weiter, sie strömten aus den Bars und Clubs und trödelten auf den Gehsteigen noch etwas herum, denn es war Juni und das Wetter herrlich, schwülheiß und windstill. Der Vergnügungspark von Spanish City hatte um diese Zeit bereits geschlossen, dort war alles ruhig. An den bunten Lichterketten konnte sie die Umrisse der Fahrgeschäfte erkennen, fröhlich und farbenprächtig in der hellen Mittagssonne und nun, im Dunkeln, hinreißend schön. Der Vollmond warf sein weißes Licht auf die Kuppel des Dome, auf den Leuchtturm in ihrem Rücken und die verführerischen Art-déco-Bögen des Seagull. Wenn ihr wüsstet, dachte sie, ihr ach so Reichen und Schönen in euren Smokings und schimmernden Abendkleidern, die ihr da auf der Terrasse sitzt und Cocktails und Champagner schlürft. Wenn ihr wüsstet, was dort wirklich vor sich geht.

Ganz in Gedanken verloren, hatte sie nicht mehr darauf geachtet, ob er sich ihr näherte. Erst als sie ihn hinter sich spürte, seinen Atem an ihrem Hals, seine Hände auf ihren Schultern, wusste sie, dass er gekommen war.

Kapitel eins

Von seinem Rollstuhl aus behielt John die Tür im Auge und überlegte, wen sie wohl heute angeschleppt hatten, um vor ihnen zu sprechen. Ein Krankenpfleger brachte einen Becher Tee und stellte ihn neben ihm auf den Boden, obwohl er doch bemerkt haben musste, dass John ihn unmöglich erreichen konnte. John erwog kurz, den Pfleger anzubrüllen, er solle wenigstens ein bisschen Respekt zeigen, kam dann aber zu dem Schluss, dass es die Mühe nicht wert war. Weil Besuch erwartet wurde, stand ein Teller mit Schokoladenkeksen im Büro des Kaplans, aber die würden erst nach dem Vortrag verteilt. Die Belohnung gab es nur, wenn alle sich gut benahmen. Sie saßen in der Kapelle im Halbkreis, eine Gruppe älterer Männer, alle mit den gleichen grauen Gesichtern und den gleichen schlechtsitzenden Klamotten, und John fragte sich, wie es nur dazu hatte kommen können. Er gehörte nicht an diesen Ort. Als er damals hergebracht wurde, hatte die Wut ihn schier zerfressen, eine Wut, die ihn nachts hatte wach liegen lassen, den Kopf voller Rachepläne und Vergeltungsphantasien. Doch die tägliche Routine brachte ihn schließlich zur Ruhe, und mittlerweile lebte er von Mahlzeit zu Mahlzeit und fühlte sich die meiste Zeit über wie betäubt. Als würde er seine Tage in einem ziellosen Halbschlaf verdämmern und nur darauf warten, dass diese Episode endlich vorüber wäre und das Leben wieder anfinge, mit all den kleinen, gelegentlichen Augenblicken der Freude, derentwegen es sich zu leben lohnte. Früher hatte er sich auf diese Vorträge gefreut, sie unterbrachen die Langeweile des Alltags in seinem Trakt. Nun aber hasste er sie, weil sie ihn ans Leben draußen erinnerten.

Die Männer um ihn herum plauderten miteinander, doch ihre Stimmen spülten über ihn hinweg, und trotz des Lärms im Hintergrund hörte er die Ankunft des Besuchs vor allen anderen. Das Geräusch des Schlüssels im Schloss am anderen Ende des Flurs, der mächtige Glockenton, mit dem das Tor sich öffnete und wieder geschlossen wurde, und das leise Klirren, mit dem die Schlüssel zurück in die Gürteltasche gesteckt wurden. Früher war er selbst einmal der Besucher gewesen, den man durch die Tür geführt hatte, aber das war schon so lange her, dass er das Gefühl hatte, sich an einen ganz anderen Menschen zu erinnern. Oder an eine Figur aus einer Geschichte. Nun vernahm er Schritte auf dem frischgeputzten Linoleum, dann wurden die Schlüssel wieder hervorgezogen. Jetzt konnten auch die anderen Männer das Geräusch hören, und ein erwartungsvolles Murmeln hob an. Arme Irre. Jede Woche glauben sie, es würde jemand Interessantes kommen. Eine hübsche junge Frau vielleicht oder ein Anwalt, der eine Idee hat, wie er sie hier rausbringt. Ein Reporter, der ihnen ihre Geschichte abkauft und bereit ist, ein Vermögen dafür zu zahlen. Und jede Woche sind sie wieder enttäuscht.

Der Kaplan trat zuerst durch die Tür. Er wollte es immer allen recht machen, neigte zu nervösem Lachen und roch schlecht aus dem Mund. John hatte Ja-Sager wie den Kaplan in seinem Team gehabt und sich ihrer entledigt, sobald er damit durchkam. Ein Pfaffe musste hier eine ruhige Kugel schieben können, glaubte er. Im Gefängnis konnten einem die Zuhörer nicht weglaufen, und Menschen, die verzweifelt waren, konnte man dazu bringen, an alles zu glauben. Man brachte sie einfach mit Tee in Porzellanbechern und Schokoladenkeksen dazu, den Gottesdienst zu besuchen, und hörte sich die Geschichten von schwerer Kindheit und Unschuld an. Dann wurden sie schon fromm. Einige von ihnen meinten es wohl tatsächlich ernst, sie lasen in ihren Zellen selbst dann in der Bibel, wenn die Wärter nicht hinsahen, und gingen den Prügeleien auf den Fluren aus dem Weg. Aber John wäre jede Wette darauf eingegangen, dass das, wenn sie erst wieder draußen waren, nicht von Dauer sein würde.

Der Kaplan trat nun beiseite und ließ den Besuch ein, bevor er sich umdrehte, um die Tür wieder abzuschließen. Noch ehe John aufblickte, konnte er die Enttäuschung der wartenden Männer spüren. Der Besuch besaß offenbar nichts, was ihr Interesse weckte. Besaß keinen Glanz, der einen Hauch Farbe in ihre grauen Leben hätte bringen können. Kein junges Ding in engen Jeans und einem knappen Oberteil. Kein gut aussehender junger Mann für diejenigen, die andersrum waren. Er drehte den Rollstuhl so, dass er an den Männern vorbeischauen konnte, die ihre Aufmerksamkeit bereits wieder den jeweiligen Nachbarn zugewandt hatten. Die Frau stand gleich neben der Tür in einem Fleck farbigen Lichts; die Sonnenstrahlen, die durch das einzige Buntglasfenster fielen, ließen es aussehen, als stünde sie in einer Pfütze aus rotem Wasser. Sie war korpulent und trug ein zeltartiges, über und über mit violetten Blumen bedrucktes Kleid, jedoch keine Strumpfhose. Die Füße steckten in der Sorte Sandalen, die Wanderer und Kletterer trugen. Allein an der Art, wie sie dastand und ihrerseits die Männer anstarrte, erkannte er, dass dies der letzte Ort auf Erden war, an dem sie sein wollte. Sie war ungeduldig und wünschte sich, dass es bereits vorbei wäre.

Und da regte sich etwas in seinem Gedächtnis. Es war die Art, wie sie dastand, breitbeinig, als bräuchte es ein Räumfahrzeug, um sie vom Fleck zu bewegen; es waren diese braunen Knopfaugen, mit denen sie den Raum scannte. Auf einmal war er wieder in einem Haus in den Bergen und trank Whisky. Hier saß er, eingehüllt in den Geruch nach Zwiebeln und Desinfektionsmitteln, der jeden Winkel der Haftanstalt durchdrang, und konnte doch den Torf im Whisky schmecken und die Wärme des Feuers auf dem Gesicht spüren. Er konnte sich an eine mit Freunden geteilte Leidenschaft erinnern, die ihn seinen Job gekostet und schließlich an diesen verdammten Ort gebracht hatte, weit weg von einem der wenigen Menschen, die ihn je gebraucht hatten. Natürlich hatte er die Frau seitdem wiedergesehen, aber dies war die Erinnerung, die sich ihm eingeprägt hatte. Und da wehte ihn kurz eine Hoffnung an, der Gedanke an eine Möglichkeit zu entkommen. Dass diese Frau hier auftauchte, grenzte an ein Wunder. Er war nicht gläubig, doch gelegentlich, hier in der Kapelle, hatte er um göttliches Eingreifen gebetet, und nun waren seine Gebete offenbar erhört worden. Denn diese Frau war Vera Stanhope. Hectors Tochter, die bei der Polizei arbeitete. Und er besaß Informationen, die er ihr anbieten konnte.

Kapitel zwei

Vera stand dort im Gefängnis, weil ihr neuer Boss ein akademischer Quereinsteiger war, sehr eigenwillig und von manipulativem Charme. Er hatte da diesen Spleen von wegen Vermittlung der Opferperspektive. Vera war sich nicht sicher, ob er sich diese Maxime selbst ausgedacht hatte oder ob sie von weiter oben kam. Sie jedenfalls hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, und argwöhnte, dass er das eigentlich auch nicht wusste. Er hieß Watkins, und seit seinem Antritt wurde sie das ungute Gefühl nicht mehr los, dass er es auf sie abgesehen hatte. Dass er sich von ihr bedroht fühlte und zugleich auf sie angewiesen war. Und dass er sie nicht ausstehen konnte, weil er sie brauchte. Am Vortag hatte er sie zu sich ins Büro gerufen.

«Der Kaplan von Warkworth hat angefragt, ob wir jemanden zu einem Vortrag vorbeischicken könnten.» Warkworth war ein Gefängnis der mittleren Sicherheitsstufe. Hier warteten gewöhnliche Gauner neben Lebenslänglichen das Ende ihrer Haftstrafe ab – in einer ehemaligen Militärkaserne mit hintereinandergereihten Zellenblöcken, umgeben von einer Mauer und Stacheldraht. Im Winter versank die Anlage im Schlamm, und der Wind pfiff um die Gebäude und ließ die Insassen zu Eiszapfen erstarren. Noch aber war September, und der Sommer war warm und trocken gewesen, sodass die Wachleute und Gefangenen das Gelände vermutlich noch ohne Mantel und Gummistiefel überqueren konnten. «Er möchte, dass jemand zu den Männern im FSB spricht.»

«FSB?» Die wechselten ihre Abkürzungen mit derselben Regelmäßigkeit, mit der Joe Ashworths Frau schwanger wurde.

«Der Flügel für Senioren und Behinderte.»

Vera wusste, was das bedeutete. Es bedeutete Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs. Alte Knacker, die Vergewaltigungen begangen hatten, als sie sich mächtig fühlten und glaubten, ein Anrecht darauf zu haben, weil sie berühmt waren. Inhaftierte, die, sperrte man sie mit den anderen Insassen in einen Flügel, zusammengeschlagen würden, weil sie sich an Kindern vergangen hatten, die im Gefängnis aber mittlerweile so alt geworden waren, dass sie Pfleger brauchten, die ihnen morgens beim Aufstehen halfen. Und es bedeutete korrupte Polizeibeamte, die der Strafverfolgung so lange entgangen waren, dass sie am Ende glaubten, sie kämen damit davon; bis eine neue Generation bei der Polizei, deren Arbeitsethos ein ganz anderes war, sie schließlich doch noch hatte auffliegen lassen. Steckte man die in einen Flügel mit einem Haufen Verurteilter, von denen sie einige selbst hinter Gitter gebracht hatten, sie würden buchstäblich in Stücke gerissen.

«Ashworth können Sie nicht schicken.» Vera wusste, wie schlimm das für Joe wäre. Er hatte selbst Kinder und wurde immer ganz grün im Gesicht, wenn es um Missbrauch oder Vernachlässigung ging. «Der wird hier gebraucht.»

Angestrengt dachte sie nach. Sie musste ihrem Boss jemanden zum Fraß vorwerfen. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihm das nicht mehr ausreden. Ihn abzulenken und darauf zu hoffen, dass er die Sache dann vergessen würde, brachte auch nichts. Er hatte etwas Gnadenloses an sich; bestimmt gab er niemals auf. «Wie wär’s mit Clarke? Dabei könnte sie noch was lernen, und in ihrem Lebenslauf würde es sich auch gut machen. Schließlich wollen wir alle, dass sie mal befördert wird.» Außerdem kann das unserer Holly nur guttun. Ein paar alte Knastbrüder zu sehen. Zu erkennen, wo sie die Männer hinschickt, wenn sie wieder mal sagt, sie würde sie am liebsten einsperren und den Schlüssel wegwerfen. In jüngster Zeit war Vera zwar besser auf Holly zu sprechen als früher, doch sie fand nach wie vor, dass es ihrer Kollegin an Menschlichkeit mangelte.

«Ich habe dem Kaplan gesagt, dass Sie das übernehmen würden.» Er blickte ihr über den Schreibtisch hinweg direkt in die Augen. Eine Kampfansage. Unerbittlich. «Eine leitende Ermittlerin sendet genau die richtige Botschaft aus.»

Sie hätte sich eine Entschuldigung ausdenken können, aber er wusste, dass sie zurzeit nicht viel zu tun hatten. Und außerdem war ihr klar, dass er ihre ganze Woche umorganisieren würde, nur um seinen Willen zu bekommen. Nur um zu beweisen, dass er das konnte. Früher hätte sie auf stur geschaltet, doch mittlerweile war sie alt und erfahren genug, um zu wissen, dass es sinnlos war, einen Krieg vom Zaun zu brechen, den man nicht gewinnen konnte. Wie einen solchen Machtkampf. Mit einem so eiskalten Menschen wie ihrem Boss. Im Stillen sagte sie sich, dass er einen ziemlich kleinen Pimmel haben müsse, wenn er jemanden wie sie als Bedrohung empfand, und nickte. «Warum nicht?», meinte sie. «Ein Nachmittag fern vom Büro und ein kleiner Ausflug die Küste hoch. Warum nicht?» Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln und verließ das Büro.

 

Die Schulferien waren gerade zu Ende gegangen, und auf der Küstenstraße Richtung Norden war nichts los. Im Drift Café in der Druridge Bay legte Vera Halt für einen frühen Lunch ein. Krabbensandwiches und hausgemachte Zitronenlimonade. Ein Zipfelchen Glückseligkeit. Sie hatte dasselbe Gefühl wie als Kind, wenn sie hin und wieder die Schule geschwänzt hatte, und plötzlich kam ihr der Gedanke, ob sie nicht in Frührente gehen sollte. Dann bräuchte sie keine Schuldgefühle mehr zu haben, wenn sie mal einen Tag für sich wollte. Sie war jetzt Mitte fünfzig und hatte immer Vollzeit gearbeitet, konnte also in Rente gehen, wann sie wollte. Natürlich würde niemand sie drängen, früh zu gehen, aber vielleicht wollte ihr Boss sie ja sowieso schnell loswerden, und dass er sie gezwungen hatte, einen Vortrag vor betagten Knackis zu halten, war womöglich Teil seiner Botschaft. Scheiß auf den! Da bin ich in meinem Job schon mit härteren Typen fertiggeworden. Ich gehe, wann ich will. Sie war versucht, noch ein Eis zu essen, beschloss dann aber, das auf dem Rückweg zu machen. Schließlich gab es im Büro nichts, weswegen sie sich beeilen musste.

Auf dem Gefängnisparkplatz verstaute sie Handy und Geldbeutel im Handschuhfach ihres Wagens und schlenderte zur Pforte. Vor dem Besuchereingang stand eine Schlange. Junge Frauen mit Babys in Kinderwagen, für die sie viel zu jung aussahen und denen sie kaum Beachtung schenkten, während sie an ihren Handys herumfummelten, bevor sie sie an der Pforte abgeben mussten. Frauen, die vor der Zeit gealtert waren und ihre nichtsnutzigen Söhne besuchten. Für die Alten und Behinderten war wohl kein Besuch darunter, glaubte Vera. Die Ehefrauen dieser Insassen brauchten mittlerweile vermutlich schon ein Gehwägelchen, und die Kinder hatten sich bestimmt vor Jahren von ihren Vätern losgesagt, weil sie sich für sie schämten. Vera zeigte der Wache am Empfang ihren Dienstausweis, durchschritt eine automatische Tür und wartete im Niemandsland darauf, dass die zweite aufging.

Der Kaplan quasselte den ganzen Weg vom Empfangstor bis zur Kapelle. Nichtiges Geplapper, an dem sie die Nervosität des Mannes erkannte, was allerdings kein bisschen Mitgefühl bei ihr hervorrief. Das eine, was sie – abgesehen von dem Haus in den Bergen und einer Kühltruhe voller Tierkadaver – von Hector geerbt hatte, war ein gesundes Misstrauen gegenüber allem Religiösen. Dann aber drang das Wort «Erlösung» an ihr Ohr, und sie stutzte kurz.

«Glauben Sie wirklich, dieser Ort hier wird sie erlösen?»

«Es sind alte Männer», sagte er. «Einige von ihnen sind dem Tod schon so nahe, dass sie Bilanz ziehen wollen.»

Was Veras Frage zwar nicht beantwortete, doch sie hatte bereits beschlossen, ihren Vortrag runterzureißen und den alten und behinderten Insassen ein bisschen was darüber zu erzählen, was ihre Taten bei den Opfern angerichtet hatten, um dann früh die Fliege zu machen und, nach einem Eis im Drift Café, gleich nach Hause zu fahren. Die Männer würden ihr ohnehin nicht zuhören, und ihr war es auch egal. Es war nur Theater. Sinnlos, sich näher mit ihnen, dem Kaplan oder den Wärtern zu befassen. In einer Stunde wäre sie hier wieder weg.

Sie überquerten einen betonierten Hof und näherten sich einem neueren Gebäude. Dem Ausbildungs- und Verwaltungstrakt. Darin war es angenehmer für die Zivilangestellten als in den zugigen, ungemütlichen Gebäuden der alten Kaserne. Gesichert wurde der Trakt mit einem Tor, das dröhnend wie eine Kirchenglocke hinter ihnen zuschwang, und einer verriegelten Tür. Der Kaplan ging Vera nun voran, er wies auf die Bibliothek und die Klassenzimmer hin und lobte die Einrichtung in höchsten Tönen. Vor einem Grüppchen aus vier Männern stand eine Frau mit kurzem grauem Haar und las aus einem Buch vor. Ihre Zuhörer wirkten überraschend interessiert. «Das ist Hope, die Leiterin unserer Ausbildungsstelle, mit der Abschlussklasse in Literatur. Wir haben bemerkenswerte Erfolgsquoten bei den Prüfungen.» Der Kaplan war eine wandelnde Reklame für das Gefängnis und dessen Direktor. Dann erreichten sie eine weitere Tür. Der Kaplan sperrte auf und trat beiseite, um Vera zuerst einzulassen, die von dem Schwall Sonnenlicht, der nach dem dunklen Flur völlig unerwartet kam, kurz geblendet war.

In der Kapelle standen keine Kirchenbänke, stattdessen waren etwa ein Dutzend gepolsterte Stühle in einem Halbkreis arrangiert. Vera war zwar auf alte Männer vorbereitet gewesen, nicht aber auf Männer mit einer solchen Vielfalt an Beeinträchtigungen, wie sie nun hier vor ihr saßen. Zwei Häftlinge waren im Rollstuhl. Ein bis aufs Skelett abgemagerter Mann sah aus, als sollte er eigentlich im Krankenhaus liegen. Sein Gesicht war ganz eingefallen, und die Hand, die sich um die Armlehne des Stuhls krallte, bestand nur noch aus Haut und Knochen. Einige Männer waren bereits eingenickt. Nur wenige sahen etwas munterer aus, kaum älter als Vera, gepflegter als die anderen und frisch rasiert. In einem glaubte sie den Leiter einer Privatschule zu erkennen, der dafür verurteilt worden war, dass er vor über dreißig Jahren die Jungen in seiner Obhut missbraucht hatte. Ein anderer war Reporter bei den Lokalnachrichten im Fernsehen gewesen und hatte auf diversen Wohltätigkeitsveranstaltungen der Polizei Spenden gesammelt – ein fröhlicher, geistreicher Mann, den sie bei Galadinners und Versteigerungen als Conférencier eingesetzt hatten. Bis sich dann die ersten Frauen meldeten und berichteten, dass er sie vergewaltigt hatte, als sie noch minderjährig waren. Sich aus dem Skandal herauszuwinden war für den Polizeipräsidenten nicht einfach gewesen.

Vera fragte sich, was all die Opfer wohl vom Konzept der Erlösung halten mochten.

Dann musterte sie die zwei Männer in den Rollstühlen genauer. Einer von beiden schlief mit dem Kinn auf der Brust, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, das schütter werdende graue Haar war gesprenkelt mit Schuppen. Hin und wieder schnarchte er auf und gab ein lautes Prusten von sich, wie ein Hund, der von Kaninchen oder einem weitläufigen Strand voller Möwen träumt. Der Mann im anderen Rollstuhl aber erwiderte ihren Blick. Nicht mit demselben unbestimmt-höflichen Interesse, das ihre übrige Zuhörerschaft, soweit sie bei Bewusstsein war, an den Tag gelegt hatte, als sie sich dem Stuhlkreis zur viel zu enthusiastischen Vorstellung durch den Kaplan genähert hatte, sondern mit einer geradezu grimmigen Eindringlichkeit. Er wollte, dass sie ihn bemerkte.

Sie erkannte ihn sofort, trotz seiner verkümmerten Beine und des aufgedunsenen Gesichts. John Brace. Ehemaliger Superintendent bei der Kriminalpolizei, bis Vera geholfen hatte, ihn hinter Gitter zu bringen. Leidenschaftlicher Sammler von Vogeleiern und Verkäufer von illegal gefangenen Raubvögeln. Brace hatte Anwälte bestochen und arme Jungs vom Land zu seinen Handlangern gemacht. Er war Hectors Stellvertreter und Mitglied von dessen Viererbande gewesen, Hectors «Du kommst aus dem Gefängnis frei»-Karte. Er war der Grund, weshalb ihr Vater zu Hause gestorben war und nicht an einem Ort wie diesem.

Vera hielt ihren Vortrag. Sie schilderte die nachgewiesenen Spätfolgen erlittener sexueller Gewalt, die Schuldgefühle und die Scham. Sie erklärte, dass schon ein einfacher Raubüberfall ein Gefühl von Demütigung beim Opfer auslösen konnte. Ihre Zuhörer nickten an den richtigen Stellen, jedenfalls diejenigen, die noch klar genug im Kopf waren, um ihr zu folgen, doch sie glaubte, dass gerade die Möglichkeit, andere zu demütigen, viele von ihnen angetrieben hatte. Dieses Gefühl von Macht. Am Ende gab es noch einige Fragen aus dem Publikum, allerdings nur von solchen, die sich gern reden hörten. Wäre sie dazu aufgelegt gewesen, hätte sie die Männer gebeten, von der Zeit zu erzählen, als sie selbst sich machtlos gefühlt hatten. Sie hätte fünfzig Mäuse darauf verwettet, dass die meisten von ihnen als Kinder missbraucht worden waren. Aber sie war Polizistin, keine Sozialarbeiterin, und ihre Aufgabe war es, Kriminelle vor Gericht zu bringen, nicht sich den Kopf darüber zu zerbrechen, weshalb sie zu dem geworden waren, was sie waren. Davon abgesehen wünschte sie sich sehnlichst, dass die ganze Sache endlich vorbei wäre. Sie wollte raus aus dem Gefängnis, diesen Anstaltsgeruch nach Desinfektionsmitteln und zerkochtem Gemüse hinter sich lassen, den verdammten John Brace wieder vergessen und eine Kugel Rum-Rosinen-Eis essen, während sie den Ausblick über die Druridge Bay genoss und ein frischer Wind ihr übers Gesicht strich.

Schließlich machte der Kaplan dem Frage-und-Antwort-Spiel ein Ende. Ein Krankenpfleger brachte Tee, und es gab ein unwürdiges Gerangel um die Schokoladenkekse. Vera wollte sich gerade verabschieden, als John Brace vor ihr auftauchte und ihr den Weg abschnitt. Obwohl seine Beine ihm von keinem großen Nutzen mehr waren, war er doch immer noch ein gewaltiger Kerl, mit breiten Schultern und einem Stiernacken. Immer noch ein Schlägertyp. «Wir müssen reden.»

«Bitte?» Denn vor Gericht war sie nicht aufgetreten. Sie hatte die Kollegen in die richtige Richtung gewiesen und ihnen geholfen, Beweismaterial zusammenzutragen, doch die Staatsanwälte waren zu dem Schluss gekommen, dass ihre Aussage vor Gericht dem Fall nur schaden könne. Auch wenn Hector bereits tot war, als Brace angeklagt wurde, war er doch jahrelang mit dem Superintendent verbandelt gewesen.

Brace rief hinüber zum Kaplan: «Könnten wir vielleicht Ihr Büro benutzen, Pater? Inspector Stanhope und ich würden gern ein bisschen über die alten Zeiten plaudern.»

«Natürlich.» Kurzes Schweigen. «Dann sind Sie vermutlich alte Freunde?»

«Nicht wirklich, Pater.» Ganz der alte Brace. Aalglatt und selbstsicher. So hatte er auch seine Vorgesetzten stets davon überzeugt, dass sie ihm vertrauen könnten. «Aber ich kannte den Vater von Inspector Stanhope und habe ein paar Informationen, die sie sicher gern erfahren möchte.»

Damit hatte er Vera am Haken, und das musste ihm klar sein. Schon als Kind war ihr die Neugier immer wieder zum Verhängnis geworden. Und sie hegte nach wie vor ein fatales Interesse an Hector und all seinen Missetaten. Brace rollte in seinem Stuhl voran in ein enges, überfülltes Büro, wobei er nicht einmal einen Blick zurück warf, um zu sehen, ob sie ihm auch folgte.

Vera räumte einen Stapel Gesangsbücher beiseite, lehnte sich gegen den Schreibtisch und blickte auf Brace hinunter. Draußen in der Kapelle warteten die Männer auf die Wärter, die sie in ihren Flügel zurückbringen sollten. Auch die Lehrerin mit dem kurzen Haar war inzwischen gekommen und unterhielt sich mit einigen Anwesenden. Durch die angelehnte Bürotür drang das Geräusch gedämpfter Stimmen. Nur der Kaplan schien an ihnen beiden interessiert, doch der stand zu weit weg, um ihr Gespräch mit anhören zu können.

«Was haben Sie für mich, John?»

Er neigte den Kopf und sah schräg zu ihr hoch. Seine Zähne waren ganz gelb. «Ich habe MS. Wusstest du das schon?»

Sie schüttelte den Kopf. «Mit der Krankheit müssen schon Ihre Anwälte argumentieren, um Sie hier rauszubekommen. Ich kann da nichts tun.»

Darauf erwiderte er ein Weilchen lang nichts, als wäre ihre Antwort es nicht wert, weiter darüber nachzudenken. «Hast du dich eigentlich nie gefragt, was aus Robbie Marshall geworden ist?», fragte er dann.

Der hatte auch zu Hectors Viererbande gehört. Robbie hatte bei Swan Hunter’s gearbeitet, der Werft am Tyne. Als mittlere Führungskraft war er für die Materialbeschaffung zuständig gewesen. Genauso gut hätte man einem Kind die Verantwortung für einen Süßwarenladen übertragen können, und so machte er sich einen Namen. Lokale Unternehmen steckten ihm Schmiergelder zu, und er hatte Zugang zu Werkzeug und Material, das er weiterverkaufen konnte. Er trieb junge Burschen auf, die für ein paar Pfund buchstäblich alles gemacht hätten. So ging jedenfalls das Gerücht. «Ich nahm immer an, er hätte sich aus dem Staub gemacht, als Sie verhaftet wurden», sagte Vera.

«Nein, der verschwand schon Jahre vorher.» John Brace grinste. «Es heißt, jemand hätte ihn verschwinden lassen.»

«Was wollen Sie damit sagen?»

«Ich sitze im Knast, Vera. Knackis geben für lau keine Informationen preis.»

«Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt – ich kann nichts für Sie tun.»

«Ich will ja auch nichts für mich, Inspector.» Die Betonung ihres Rangs war reinster, bitterster Sarkasmus. «Aber ich habe eine Tochter. Patricia Keane. Patty.» Seine Stimme wurde weich. «Sie hat so ’nen Verrückten geheiratet, und der hat das Weite gesucht. Hat sie sitzengelassen, mit drei Kindern und ’ner angeknacksten Psyche. Ich will nicht, dass sie an einem Ort wie dem hier landet und die Kinder in Pflege kommen. Vor allem will ich nicht, dass die Kinder in Pflege kommen. Du bist ein hartnäckiges Biest, Vera. Wenn ihr jemand die Hilfe beschaffen kann, die sie braucht, dann du.»

«Und was bekomme ich dafür?»

«Dann sage ich dir, wo die Leiche liegt.»

«Robbie Marshall ist tot?» Vera hatte gar nicht gemerkt, dass sie lauter geworden war, doch jetzt blickte der Kaplan zu ihnen herüber und runzelte die Stirn. Vielleicht hielt er ja sie für die Gewalttätige von beiden, die einen armen, hilflosen Krüppel anbrüllte.

Brace senkte langsam den Kopf.

«Haben Sie etwas damit zu tun, John?» Das fragte sie leise, wobei sie sich so weit nach vorn beugte, dass sie ihn fast berührte. «Sie wissen, unsere Abmachung ist hinfällig, wenn ich rauskriege, dass Sie in Robbies Tod verwickelt waren.»

«Hältst du mich etwa für einen Mörder, Vera?» Sein Entsetzen war gespielt. «Mich, einen Hüter des Gesetzes?»

«Ihnen traue ich so gut wie alles zu», sagte sie.

«Ich habe damit nichts zu tun. Aber ich habe immer so einiges erfahren, weißt du. Ich habe vor, dieses Wochenende mit Patty zu sprechen. Wenn sie mir erzählt, dass du bei ihr warst, gebe ich dir einen Hinweis. Du kannst den Ruhm dafür allein absahnen, Vera. Meine Freunde bei der Polizei haben mir erzählt, dass du das immer noch gern machst. Du stehst immer noch am liebsten allein im Rampenlicht.»

Kapitel drei

Erst als sie fast schon wieder in Kimmerston war, fiel Vera das Eis wieder ein, doch sie empfand nur einen kurzen Hauch des Bedauerns über die entgangene Leckerei. In Gedanken war sie bereits ganz woanders. Auf der Ringstraße waren wieder Bauarbeiten im Gange, und als sie endlich im Revier ankam, war bereits Feierabendzeit. Auf der Treppe begegnete sie Joe Ashworth, der die Autoschlüssel schon in der Hand hielt. In letzter Zeit hatte sie mitunter den Eindruck, er sei mehr Chauffeur als Ermittler. Ständig musste er dringend heim, um die Kinder zu den Musikstunden zu fahren oder zum Fußballtraining. Es fehlte ihr, nach der Arbeit noch ein Bier mit ihm trinken zu gehen und zu plaudern. Als die Kinder noch kleiner waren, war es einfacher gewesen; er war zwar ein moderner Vater, aber selbst Sally hatte eingesehen, dass er die Babys nicht stillen konnte.

«Können die Kinder nicht einfach draußen spielen?», hatte sie einmal gefragt. «So wie wir früher?» Obwohl es in der Nähe des Hauses in den Bergen, wo sie aufgewachsen war, kaum andere Kinder gegeben hatte. Sie hatte meistens allein gespielt, und später, als sie alt genug war, hatte Hector sie auf seine Unternehmungen mitgeschleift, wo sie Schmiere stehen musste oder auf Bäume gehoben wurde, um an Vogeleier für seine Sammlung zu kommen, weil er wusste, dass die Äste sein Gewicht nicht aushalten würden.

Joe hatte sie angesehen, als wäre sie verrückt geworden. «Man kann Kinder heutzutage doch nicht einfach so nach draußen lassen. Die Welt hat sich verändert. Da draußen ist es nicht sicher.»

Doch Vera glaubte, dass die exklusive Wohnanlage, in der er mit seiner Familie lebte, wahrscheinlich der sicherste – und langweiligste – Ort auf Erden war. Davon abgesehen, war sie selbst zu einer Zeit auf die Welt gekommen, als die berüchtigten Moormörder ihr Unwesen trieben, was auch keine panischen moralischen Diskussionen darüber ausgelöst hatte, ob Kinder draußen spielen durften. Aber was wusste sie schon von den Anforderungen des Elternseins?

Jetzt blieb Joe kurz stehen, die Füße auf zwei verschiedenen Treppenstufen, eine Körpersprache, die deutlich machte, dass er keine Zeit für ein langes Gespräch hatte, auch wenn er sie gut genug kannte, um zu sehen, dass sie in helle Aufregung versetzt war. «Ich dachte, Sie wollten vom Gefängnis aus direkt nach Hause fahren.»

«Aye, na ja, mir ist etwas dazwischengekommen.»

Einen Augenblick lang zögerte er. Sie spürte, wie die Loyalität zu den beiden Frauen in seinem Leben ihn in entgegengesetzte Richtungen zog. «Wenn es wichtig ist, kann ich Sally bitten, Jess vom Jugendorchester abzuholen.»

«Ach nein, Herzchen, Sie sollten sie jetzt nicht mehr aus dem Haus jagen. Momentan ist es ja erst mal nur ein Hauch von einer Möglichkeit. Und wenn Holly noch da ist, kann sie ja schon mal damit anfangen.»

Das gab den Ausschlag für ihn. «Nein, ich rufe Sally schnell an. Die Kleinen müssen schließlich noch nicht ins Bett. Sie kann sie einfach ins Auto setzen und mitnehmen, wenn sie Jess abholt. Das versteht sie schon.»

Was Vera zwar bezweifelte, sie aber nicht daran hinderte, sich ein kleines triumphierendes Lächeln zu gönnen, als sie die Treppe weiter hochstieg, um Joe den Anruf in Ruhe führen zu lassen. Gleich darauf dachte sie, wie kindisch sie sich benahm. Sie waren hier doch nicht mehr auf dem Pausenhof, wo man sich um den beliebtesten Mitschüler stritt.

Auch Charlie saß noch an seinem Schreibtisch, und dort versammelten sie sich nun, der Kern ihres Teams: Holly Clarke, intelligent und ehrgeizig, doch sozial nur wenig kompetenter als ein Computerfreak, dazu genauso einzelgängerisch wie Vera selbst. In jüngster Zeit hatte Vera sie mehr und mehr zu schätzen gelernt und fand, dass sie immer besser miteinander auskamen. Charlie, der derselben Generation angehörte wie Vera und vor einiger Zeit zu verlottern und zu vereinsamen drohte, dem die Rückkehr seiner Tochter zu ihm nach Hause aber wieder neuen Lebensmut gegeben hatte. Und Joe, ihr Liebling. Ihr Wunderknabe.

«Wie Sie ja alle wissen, hat der Boss mich heute nach Warkworth rausgeschickt.» Sie nannten ihn alle Boss, in mit Ironie getränktem Ton. Es gab Tage, da wusste Vera nicht einmal mehr seinen richtigen Namen und musste, wenn sie ihm eine E-Mail schreiben wollte, angestrengt in ihrem Gedächtnis kramen. «Ich habe Häftlingen im FSB einen Vortrag gehalten.» Sie blickte ihre Leute an und alle nickten. Offenbar waren sie über die neuen Abkürzungen auf dem Laufenden. «Unter den Zuhörern war auch ein gewisser John Brace.» Kurze Pause. «Ex-Superintendent Brace.» Keiner fiel ihr ins Wort, doch sie wusste, dass ihr Interesse geweckt war. Brace war acht Jahre zuvor für Straftaten verurteilt worden, die er während der zurückliegenden zwanzig Jahre verübt hatte. Nur Charlie hatte auch mit ihm zusammengearbeitet, aber die anderen wussten alles über den Fall, der dem Ruf der Polizei im Nordosten Englands schwer geschadet hatte. Sie alle hatten lernen müssen, mit den Konsequenzen umzugehen. Trotzdem hielt Vera es für besser, die Einzelheiten zu erläutern und klarzumachen, welche Rolle sie selbst bei Brace’ Verurteilung gespielt hatte. Manchmal überholten die Mythen die Fakten, und es gab Beamte, die Brace für einen Helden hielten, der lediglich ein paar läppische Regeln gebrochen, dafür während seiner Laufbahn aber jede Menge Schurken dingfest gemacht hatte.

«Brace war ein Freund meines Vaters. Sie teilten dieselben Interessen, dieselben Leidenschaften.» Vera war auf die Füße gesprungen, hatte aufs Dozieren umgeschaltet und gab ihrer Eitelkeit nun hemmungslos nach. «Es gibt ja die These, wonach auf dem Land keine Verbrechen begangen werden. Also keine richtigen Verbrechen. Ab und zu ein paar geklaute Schafe. Oder jemand, der mit Agrardiesel durch die Gegend fährt. Aber keine Großdiebstähle oder gar Mord. Mein Vater und drei seiner Kumpels allerdings schafften es, sich mit vermeintlich salonfähigen Aktivitäten einen angemessenen Lebensunterhalt zu sichern. Sie handelten mit den Eiern seltener Vögel und verkauften für beträchtliche Summen Raubvögel, die sie in der Wildnis gefangen hatten. Offenbar werden Falken aus Großbritannien im Nahen Osten hoch geschätzt. Zudem stopfte mein Vater auch ein paar Wildtiere aus. Nichts davon war legal. Das wusste ich natürlich alles, während ich aufwuchs, aber als ich dann mit sechzehn von zu Hause auszog, um auf die Polizeiakademie zu gehen, kam ich damit nicht mehr in Berührung. Damals trank Hector schon zu viel und hatte an Macht im Kreis seiner Kumpels verloren. Und später konzentrierte sich die Viererbande anscheinend auf andere Geschäfte, da hatte er dann überhaupt nichts mehr zu sagen.» Sie behielten ihn als eine Art Glücksbringer. Und weil er dazugehörte. Der jüngste Spross einer Familie aus dem Landadel. Zwar das schwarze Schaf, aber es war der Stammbaum, der zählte. Der Stammbaum war ihnen immer das Wichtigste, egal, ob es sich um Wanderfalken, Menschen oder Hunde handelte.

«Viererbande?» Das kam von Holly. Sie machte sich Notizen auf so einem komischen neumodischen Gerät auf ihrem Schoß.

«So haben sie sich genannt. Wirklich erbärmlich.» Als junges Mädchen hatte Vera diese ganze Heimlichtuerei eingeschüchtert. Inzwischen aber war Hector tot, und John Brace saß im Rollstuhl. Und Robbie Marshall war vielleicht auch nicht mehr am Leben.

«Auf was für Geschäfte konzentrierten sie sich denn dann?» Joe wollte, dass sie beim Thema blieben. Möglicherweise war Sally ja doch nicht so wild darauf gewesen, die Rolle des Chauffeurs zu übernehmen, und er hatte versprochen, nicht allzu spät nach Hause zu kommen.

«Sie führten so eine Art Personalvermittlung. Üble Schlägertypen zum Vermieten. Wenn jemand zum Beispiel eine Demo von militanten Jagdgegnern auflösen oder Einheimischen eine Warnung zukommen lassen wollte, denen der Gedanke nicht gefiel, dass Wildhüter bestimmte Greifvögel vergifteten. Oder wenn man die Reihen bei einem Marsch gegen das Verbot von Fuchsjagden verstärken wollte. Sie lasen junge Burschen auf, die aus den Sozialsiedlungen von Newcastle kamen oder aus Orten näher an der Küste, wo das Grubensterben schon begonnen hatte. Kräftige junge Burschen, die schnelles Geld brauchten und Spaß an Prügeleien hatten. Und alles aus sicherer Entfernung organisiert. Die Schläger konnten nie mit der Bande in Verbindung gebracht werden. Jedenfalls nicht bevor sie dann anfingen, den Mund aufzumachen.»

«Super.» Holly klang beinahe, als wäre sie von dem Geschäftsmodell beeindruckt.

Vera warf ihr einen strengen Blick zu. «Super? Nicht ganz so super für die Frau des Wildhüters, die nach Hause kam und ihren Mann im Sterben vorfand, weil ihn zwei Schlägertypen derart verprügelt hatten, dass ihm die Milz gerissen war.»

«Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, die Schläger wären zur Unterstützung der Wildhüter da gewesen, wenn sie …», Holly zog ihre Notizen zurate, «… Greifvögel töteten.»

«Ach, Herzchen, nicht alle Wildhüter stehen auf der Seite des Bösen. Glen Fenwick war ein wunderbarer Mann. Sanft und gutmütig. Es gefiel ihm nicht, in welche Richtung die Dinge sich entwickelten, weshalb er den Entschluss fasste, sich an uns zu wenden.» Bei der Erinnerung an die Vorwürfe, die ihr die Witwe des Wildhüters entgegengeschleudert hatte, als sie ihr nach der Beerdigung kondolieren wollte, hielt Vera inne. Die alten Schuldgefühle kamen wieder hoch. «Er fasste den Entschluss, sich an mich zu wenden.» Sie holte tief Luft. «Aber auch wenn diese Bastarde ihn umgebracht haben, hatte er mir genug Informationen gegeben, die ich weiterleiten konnte, und damit wurden die Ermittlungen zu Brace’ Verstrickungen in diese Vorfälle aufgenommen. Eigentlich hätte ich diejenige sein müssen, die das Ganze auffliegen lässt. Und zwar als ich noch jünger war. Ich hätte mehr darauf achten müssen, was da vor sich ging – und mehr Mut zeigen.»

Sie brach kurz ab. Ihre Leute hüteten sich davor, etwas zu sagen. «Damals war ich schon wieder zurück zu meinem Vater gezogen. Er hatte einen Schlaganfall, und der führte zusammen mit dem Alkohol schließlich zur Demenz. Unsere Finanzexperten hatten genug in der Hand, um die Verbindung zu John Brace herzustellen. Zu der Zeit war Brace schon gar nicht mehr im Dienst, er hatte sich zum frühestmöglichen Zeitpunkt pensionieren lassen und lebte in einem schönen großen Haus in Ponteland behaglich vor sich hin. Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein, als auf einmal die Polizei bei ihm an die Tür klopfte.» Vera gönnte sich einen Moment, um die Vorstellung zu genießen. Sie selbst war natürlich nicht dabei gewesen. Alle hatten gemeint, sie wäre persönlich zu stark in die Sache verstrickt. Damals hatte Hector noch gelebt. Gerade noch so. Aber es war ihr eine Freude gewesen, sich Brace’ Gesicht vorzustellen, als er die Tür aufmachte.

«Brace wurde also weggesperrt.» Die Ungeduld hatte Joe wieder am Wickel. «Die Kerle, die er angeheuert hatte, um Glen Fenwick Angst einzujagen, kriegten selbst einen Heidenschreck, als der Wildhüter starb, und bestätigten, was er gegen Brace vorgebracht hatte. Die Ermittlungen und der Prozess zogen sich ewig hin, aber 2009 wurde Brace schließlich wegen der Planung des Überfalls auf Fenwick, Falschaussage und Behinderung der Justiz verurteilt. Außerdem hatten die Finanzexperten aufgedeckt, dass er sich seine gesamte Laufbahn über hatte bestechen lassen. Mir ist nur nicht klar, was daran neu sein soll.»

«Wie schon gesagt, sie nannten sich die ‹Viererbande›», erklärte Vera. «Da waren Hector, Brace, jemand, den ich nie kennenlernte und den sie den ‹Professor› nannten, und Robbie Marshall. Robbie war derjenige, den sie losschickten, um die Burschen aus den Sozialsiedlungen anzuheuern. Er ist in Wallsend aufgewachsen, hat sich auf der Swan-Hunter-Werft bis zur mittleren Führungskraft hochgearbeitet und sprach dieselbe Sprache wie die Schlägertypen, was Brace natürlich nicht tat. Aber dann verschwand Robbie. Ich hatte immer angenommen, er hätte sich etwa um die Zeit, als Brace verhaftet wurde, vom Acker gemacht, aber in Wirklichkeit verschwand er früher. Er wurde schon 1995 als vermisst gemeldet. Das habe ich auf der Herfahrt überprüft. Er wohnte mit seiner Mutter in demselben Haus, in dem er auch aufgewachsen ist. All sein Geld hat er offenbar für Reisen ausgegeben. Er war geradezu besessen vom Sammeln seltener Vogeleier und bereiste die ganze Welt, um neue Exemplare zu finden.» Sie hätte noch einiges über Robbie zu erzählen gehabt, allerdings machte sich Joes Unruhe nun so stark bemerkbar, dass sie beschloss, das zu verschieben. «Jedenfalls teilte John Brace mir heute mit, dass Robbie Marshall tot ist.» Vera blickte von einem zum anderen. «Er meinte, er würde mir sagen, wo die Leiche zu finden ist.»

«Und wo soll das sein?» Charlie war skeptisch. Das konnte sie ihm nicht verdenken. Er war ja nicht dabei gewesen im Büro des Kaplans.

«Tja», meinte sie. «Natürlich will er für die Information etwas haben. Er will, dass ich seine Tochter und ihre drei Kinder aufsuche und ihnen ein wenig unter die Arme greife. Offenbar macht sie gerade eine schwierige Zeit durch.»

Sie vernahm ein unterdrücktes Kichern, aber als sie in die Runde schaute, erwiderten alle ihren Blick mit Unschuldsmienen.

«Sie glauben wohl nicht, dass ich das kann, was? Einer alleinerziehenden Mutter ein wenig unter die Arme greifen?»

Niemand antwortete.

«Er hat mir ihre Handynummer gegeben, aber keine Adresse. Wer von Ihnen heute Abend also noch etwas Zeit erübrigen kann …» Vera warf Ashworth einen strafenden Blick zu – auch wenn er ihr Wunderknabe war, musste er hin und wieder daran erinnert werden, wer hier das Sagen hatte –, «… kann ja schon mal damit anfangen, so viel wie möglich über sie herauszufinden. Bevor ich mit meinen riesigen Gummistiefeln bei ihr ins Haus stapfe und Mutter Teresa spiele. Brace will sie dieses Wochenende anrufen und fragen, ob ich ihr helfen konnte. Sie heißt Patricia Keane und war mit einem Kerl verheiratet, den Brace als ‹Verrückten› bezeichnet hat. Wie der heißt, weiß ich nicht, aber für Ermittler Ihres Kalibers sollte es ein Kinderspiel sein, ein Dossier über ihn zusammenzustellen.» Wieder musste Vera eine Atempause einlegen. «Holly – Keane und ihren Mann überlasse ich Ihnen.»

Holly nickte, hockte, noch bevor Vera überhaupt hatte weitersprechen können, bereits an ihrem eigenen Schreibtisch und klapperte auf der Computertastatur. Das Ding mit Holly war, dass sie immer glaubte, sich beweisen zu müssen. Als junge Polizistin hatte Vera dasselbe Problem gehabt, aber sie war damals die einzige Frau in ihrem Team gewesen, übergewichtig und Zielscheibe aller Witze ihrer Kollegen. Holly dagegen hatte studiert, bevor sie zur Polizei gekommen war, und stach in jedem Sinne des Wortes heraus: Sie war blitzgescheit, und zur Arbeit erschien sie immer gekleidet wie die Chefsekretärin eines internationalen Medienkonzerns. Ihre Eltern lebten noch und liebten sie offenbar sehr. Holly war nicht von Hector Stanhope großgezogen worden. Vera verstand einfach nicht, weshalb ausgerechnet Holly glaubte, kämpfen zu müssen.

Nur kurz abgelenkt, verteilte sie jetzt ihre restlichen Anweisungen. «Charlie, Sie besorgen mir alles über Robbie Marshall, was Sie auftreiben können.» Ihr schoss ein Gedanke durch den Kopf. «Vielleicht sind Sie ihm ja sogar mal persönlich begegnet?» Charlie war ein Arbeitstier, zäh und phantasielos, aber mit dem Gedächtnis eines Elefanten. Er antwortete nicht sofort, und sie sah ihm dabei zu, wie er sich im Kopf durch seine langen Jahre im Polizeidienst wühlte, wobei sie das Gefühl hatte, alles ebenso klar vor sich zu haben wie er. Die Alltäglichkeiten im Leben eines Polizisten: ein paar Glas Bier mit Informanten in muffigen Pubs, die besoffenen Frischverheirateten, die man voneinander trennen muss, wenn das Hochzeitsessen in eine Schlägerei ausgeartet ist, und die ewigen Gespräche mit verstockten Ganoven in seelenlosen Verhörräumen.

«Verhaftet wurde er nie», sagte Charlie nun, «aber am Anfang meiner Zeit bei der Polizei bin ich ihm ein paarmal über den Weg gelaufen. Damals ging ich noch Streife in Wallsend, und er war zu der Zeit ein ganz junger Kerl, der bei der Werft arbeitete. Einmal habe ich ihn mit Sachen erwischt, die ihm nicht gehörten. Dass er die bei der Arbeit hatte mitgehen lassen, lag auf der Hand. Aber er schaute einen immer an, als könnte er kein Wässerchen trüben. War immer gut angezogen. Sehr höflich. Die Werft hat nie Anzeige gegen ihn erstattet.»

«Warum nicht?» Das kam von Holly, die von ihrem Computer aufsah. Anscheinend beherrschte sie zusätzlich zu all ihren anderen Tugenden auch das Multitasking. Es hieß ja immer, das sei eine weibliche Fähigkeit, aber Vera war sich nicht sicher, ob sie selbst je darüber verfügt hatte.

«Er hatte einen Kumpel, der ein hohes Tier in der Gewerkschaft war», erwiderte Charlie. «Die Werft war wohl der Ansicht, ein bisschen Materialschwund hier und da besser verkraften zu können als eine Arbeitsniederlegung durch die ganze Belegschaft.»

«Soweit ich mich erinnere, war er immer gut darin, Kumpels zu finden, die auf ihn aufpassten. Wie unseren alten Freund Superintendent Brace. Eine sehr vorteilhafte Gabe.» Vera fühlte sich so gut wie seit Monaten nicht mehr. Der Sommer war ruhig gewesen, und sie waren alle nicht so recht von der Stelle gekommen. Sie selbst war von einer schrecklichen Lethargie ergriffen worden und hatte angefangen, ihr Alter zu spüren. Vielleicht muss ich mich ja einfach nur nützlich fühlen. Vielleicht ist es das, worum es hier wirklich geht.

«Und was haben Sie für mich?» Joe war mittlerweile aufgestanden. Er hatte noch immer den Mantel an, genau wie vorhin, als sie ihm auf der Treppe begegnet war.

«Ich dachte, Sie müssten los.»

«Dafür kann ich morgen ja früher kommen.» Dann hatte Sally ihm an diesem Abend also nur eine begrenzte Atempause zugestanden.

Plötzlich tat er Vera leid. Das Gefühl, nicht selbst über das eigene Leben verfügen zu können, musste schwer zu ertragen sein. «Sie graben alles aus, was es über John Brace zu wissen gibt. Er behauptet, nichts mit Marshalls Tod zu tun zu haben, und das nehme ich ihm auch ab, denn ich glaube nicht, dass ihm so viel an seiner Tochter liegt, dass er ihretwegen riskieren würde, lebenslänglich im Knast zu sitzen. Immerhin könnte er in weniger als einem Jahr vorzeitig entlassen werden. Aber bestimmt weiß er, wer Marshall tatsächlich umgebracht hat, also sollten wir die Akten gründlich durchkämmen und alles über seine Partner, Freunde, Verwandten und Seitensprünge in Erfahrung bringen.»

«Brace könnte das alles auch erfunden haben», warf Charlie ein. «Um Aufmerksamkeit zu bekommen oder um Sie dazu zu bringen, nachsichtig mit seiner Tochter zu sein. Oder vielleicht auch nur, um Verwirrung zu stiften und sich auf unsere Kosten zu amüsieren.»

«Nun, es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszukriegen, denken Sie nicht auch? Wir müssen Robbie Marshall finden. Tot oder lebendig.» Bevor ihre Leute sich nun in alle Richtungen zerstreuten, bat Vera noch ein letztes Mal um Aufmerksamkeit. «Eine Sache noch. Wir sollten das hier erst mal diskret behandeln. Der Boss muss ja nicht wissen, dass wir ein bisschen in der Vergangenheit graben. Nicht bevor wir ihm etwas Handfestes präsentieren können.»

Alle nickten. Ihr Team. Sie hätte vor Freude singen mögen.

Kapitel vier

Patty Keane wurde davon wach, dass ihr sechsjähriger Sohn unten im Wohnzimmer den Fernseher einschaltete. Irgendwie hatte er herausgefunden, wie man Netflix startet, und dort lief eine Zeichentrickserie, nach der er ganz verrückt war. Es gab immer etwas, wonach er ganz verrückt war, aber das mit der Serie dauerte nun schon mehrere Monate an, und von der Musik, zu der das Superheldenkaninchen seine Abenteuer erlebte, brummte ihr der Schädel, bis sie am liebsten laut geschrien hätte. Sie wusste, eigentlich sollte sie aufstehen, den Fernseher leiser stellen, damit die Nachbarn sich nicht wieder beschwerten, dafür sorgen, dass die Kinder ihre Schuluniformen anzogen, und die Schulbrote schmieren. Genau wie gestern Abend, als sie gewusst hatte, sie sollte eigentlich dafür sorgen, dass die Kinder vor dem Zubettgehen badeten, dass Archies Bettlaken nicht mehr nach Urin stanken und Jenny sich die Zähne putzte. Sie hatte die perfekten Familien im Fernsehen gesehen und beobachtete die perfekten Eltern auf dem Pausenhof, die sich über Schwimmunterricht und Immobilienpreise unterhielten. Aber ihr Leben war nun mal anders. Es war, als lebte sie in einem vollkommen anderen Universum. Sie wusste, mit denen würde sie niemals mithalten können. Nicht im Moment. Nicht ohne Gary.

Als sie zum zweiten Mal aufwachte, war es halb neun, und Jenny stand neben dem Bett, bereits in ihrer Schuluniform. Der Kragen der Bluse war schon ein wenig grau, doch das fiel einem nur auf, wenn man ganz genau schaute. Allerdings war Jenny mittlerweile zwölf und ging nun auf die Gesamtschule, weshalb sie angefangen hatte, auf diese Dinge zu achten.

«Ich habe die Schulbrote für die Kleinen geschmiert, aber jetzt muss ich los. Diese Woche habe ich schon einen Eintrag fürs Zuspätkommen gekriegt. Du schwingst also besser mal deinen Arsch aus dem Bett und bringst sie zur Schule.»

«Ist ja gut.» Hätte Patty sich besser gefühlt, dann hätte sie ein Wörtchen zur Ausdrucksweise ihrer Tochter zu sagen gehabt. Schließlich war sie anständig erzogen worden. Aber heute war ihr selbst das zu anstrengend. Sie wälzte sich aus dem Bett, zog sich ein Sweatshirt über und schlüpfte in eine Jogginghose. Gerade wollte sie Jenny noch bitten, den Wasserkessel aufzusetzen, doch da hörte sie das Mädchen schon die Haustür hinter sich zuschlagen.

Unten fing jetzt eine neue Folge der Zeichentrickserie an. Die Kinder hatten sich in der Küche irgendwas zum Frühstück zusammengesucht. Gestern hatte Patty sich etwas besser gefühlt und es geschafft, einkaufen zu gehen. Jonnie war fast fertig angezogen, nun aber völlig in die Welt seines Tablets vertieft. Sie musste es sich gar nicht erst ansehen, um zu wissen, dass er ein YouTube-Video schaute, in dem junge Amerikaner schimpften und fluchten. Jonnie war nach seinem Großvater benannt worden, der ihnen dieses Haus in der neuen Eigenheimsiedlung am Stadtrand von Kimmerston gekauft hatte. Zu der Zeit war Patty schon ein paar Monate mit dem Jungen schwanger gewesen, und sie und Gary hatten geglaubt, am Ziel ihrer Träume angelangt zu sein. Der Kauf war über die Bühne gegangen, kurz bevor der Alte dann ins Gefängnis musste, aber es gelang ihm immer noch, ihnen genug Geld zukommen zu lassen, um den Laden am Laufen zu halten.

Archie saß völlig fasziniert in Unterhosen vorm Fernseher und bewegte lautlos die Lippen zum Titelsong.

Patty schaltete den Fernseher aus und brachte die beiden mit vielen guten Worten dazu, die Schuluniformen anzuziehen, wobei sie im letzten Moment doch noch die Geduld mit Jonnie verlor, der versuchte, sich den Pullover über den Kopf zu ziehen, während er noch die Kopfhörer in den Ohren hatte. Keine Sekunde zu spät verließ sie mit ihnen das Haus und verspürte einen kurzen Triumph, als sie es gerade noch vor dem Läuten der Schulglocke zum Pausenhof schafften. Solche Augenblicke konnten ihr einen halben Tag lang Auftrieb geben. Oft legte sie sich wieder hin, nachdem sie die Kinder zur Schule gebracht hatte, aber heute wollte sie ein Bad nehmen und dann im Haus etwas aufräumen. Vielleicht sollte sie eine Ladung Wäsche in die Maschine stecken. Bei dem schönen Wetter konnten die Sachen draußen auf der Leine trocknen. Doch als sie zurück nach Hause kam, entdeckte Patty die eingepackten Schulbrote der Jungs auf der Arbeitsplatte in der Küche, und mit einem Mal schien die Welt um sie herum wieder zu bröckeln. Eine Sekunde lang dachte sie, sie wäre stark genug, noch einmal zurück zur Schule zu gehen. Sie könnte die Brote doch im Sekretariat abgeben. Die Sekretärin war immer sehr nett. Aber sie sahen so armselig aus, so erbärmlich. Steckten nicht mal in richtigen Brotboxen, sondern in Plastiktüten aus dem Supermarkt. Außerdem würde man ihr sicher wieder einen Vortrag darüber halten, dass sie sich für das Gratismittagessen an der Schule bewerben sollte, und sie würde wie immer lächeln und nicken und dabei wissen, dass sie nie dazu kommen würde, die nötigen Formulare auszufüllen. Und überhaupt, würden sie dann nicht rauskriegen, dass jeden Monat wie von Zauberhand Geld auf ihrem Konto erschien? Sie wusste, dass es von ihrem Vater kam, und der saß schließlich im Gefängnis, oder? Es handelte sich also vermutlich um Schwarzgeld, und am Ende landete sie noch vor Gericht, nur weil sie es angenommen hatte. Patty stand in der Küche auf dem dreckigen Boden, in der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr, und sie fing an zu weinen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie nichts anderes mehr tat als weinen.

Als die Tränen schließlich versiegt waren, fiel ihr ein, dass sie ihre Tablette noch gar nicht genommen hatte. Oben im Badezimmer drückte sie die Tablette aus dem Blister und spülte sie hinunter. Dann nahm sie noch eine, weil sie sich so scheußlich fühlte. Der Arzt hatte zwar gesagt, dass sie nur abends zwei nehmen sollte, aber manchmal konnte sie sich dem vor ihr liegenden Tag ohne diese leichte Benommenheit, die zwei Tabletten ihr schenkten, einfach nicht stellen. Dafür würde sie heute Abend nur eine nehmen, und vielleicht wachte sie morgen dann ja ein wenig frischer auf. Sie setzte den Wasserkessel auf, um sich einen Tee zu machen, wischte die Arbeitsplatte ab und dachte, dass sie ja noch Zeit genug hätte, neue Schulbrote zu schmieren und rechtzeitig zur Schule zu bringen. Nur noch nicht jetzt.

Mit dem Tee schleppte sie sich ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Gerade überlegte sie, ob wohl irgendwo eine Folge von The Real Housewives lief, als es an der Tür läutete. Sie beachtete es gar nicht. Höchstwahrscheinlich waren es wieder mal Nachbarn, die sich über die Kinder beschweren wollten. Sie verstand ja, dass es schwer für sie sein musste. Patty würde selbst nicht neben einer Familie wie ihrer eigenen wohnen wollen. Aber dann läutete es wieder, und sie spähte durch die Gardine. Manchmal träumte sie davon, dass Gary wieder auftauchen würde, mit einem Strauß Blumen oder einer Flasche Champagner in der Hand, und dann würde er sagen, dass es ein schrecklicher Fehler war, sie und die Kinder zu verlassen, und fragen, ob sie nicht noch mal von vorn anfangen könnten.

Aber das war nicht Gary. Es war eine übergewichtige Frau, die ein schauderhaftes Kleid und darüber eine grüne Fleecejacke trug. Bestimmt sammelte sie für wohltätige Zwecke. Oder war aus der nahegelegenen Irrenanstalt ausgebüxt. Wenn sie sich nicht zusammenriss, könnte Patty in zwanzig Jahren genauso aussehen. Eine überraschende Erkenntnis, die ernüchternd wirkte. Nun zog die Frau ein Handy aus der Tasche ihrer Jacke und wählte eine Nummer. Pattys Handy, ein billiges Prepaid-Ding, lag auf dem Kaminsims. Als es klingelte, geriet Patty vollends in Panik. Sie ging dran. «Hallo?»

«Spreche ich mit Patricia Keane?» Dem Dialekt nach kam die Frau von hier, und verrückt klang sie auch nicht.

Da hatte Patty einen Geistesblitz. «Sind Sie vom Sozialamt?» Manchmal statteten die Sozialarbeiter einem nämlich unangemeldete Besuche ab. Normalerweise kam Freya, eine nette junge Frau, aber manchmal kamen eben auch Leute, die sie nicht kannte.

«Großer Gott, nein.» Die Frau klang geradezu entsetzt. Sie machte einen Schritt auf das Fenster zu. Offenbar wusste sie, dass Patty durch die Gardine spähte. «Sehe ich etwa aus wie eine Sozialarbeiterin?»

«Nein.» Patty mochte der Frau nicht sagen, dass sie eher aussah, als würde sie die Hilfe einer Sozialarbeiterin nötig haben.

«Ich bin eine alte Kollegin Ihres Vaters. Ihres leiblichen Vaters. Könnten Sie mich nicht reinlassen? Ich komme mir irgendwie dämlich vor, durch die Wand mit Ihnen zu sprechen. Außerdem könnte ich für eine Tasse Tee jetzt glatt jemanden umbringen.» Damit drehte sie sich zum Fenster und winkte Patty freundlich zu.

Also ging Patty und machte die Tür auf. Sie hatte es schon immer einfacher gefunden zu tun, was man ihr sagte. Oder vorzugeben zu tun, was man ihr sagte. Außerdem wirkte die fette Frau dadurch, dass sie so ungepflegt aussah, nicht so einschüchternd. Zwar war sie im richtigen Alter, um zu den Großmüttern zu gehören, die immer am Spielplatz saßen, aber sie hätte nicht besser zu ihnen gepasst als Patty selbst.

Patty führte sie in die Küche, zum Teil, weil es dort nicht ganz so unaufgeräumt war – das Geschirr hatte sie zwar noch nicht gespült, aber wenigstens die Arbeitsplatte abgewischt –, und zum Teil, weil die Frau um Tee gebeten hatte. Hinsetzen allerdings konnte man sich hier nicht. Diese Küche war anders als die im Haus ihrer Adoptiveltern mit dem saubergeschrubbten Tisch aus Kiefernholz und dem Sofa an der einen Wand. Also blieben sie beide stehen und warteten darauf, dass das Wasser kochte. Die Frau hatte sehr große braune Augen.

«Ihr Dad hat mich gebeten, mal nach Ihnen zu sehen», sagte sie nun. Dann lächelte sie abbittend. «Aber Sie wissen ja noch gar nicht, wer ich bin! Sie müssen mich für bescheuert gehalten haben, wie ich da ganz ohne Vorwarnung vor Ihrer Tür aufgetaucht bin. Ich heiße Vera – Vera Stanhope.»

Patty war um keinen Deut schlauer. Die Tabletten hatten jetzt ihre volle Wirkung entfaltet, und das ganze Gespräch kam ihr unwirklich vor. Als das Wasser kochte, goss sie den Tee auf, froh, dass die Kinder noch einen Rest Milch im Kühlschrank übrig gelassen hatten. Dann lehnten sich beide gegen die Arbeitsplatte, und Vera trank einen Schluck. Die Sozialarbeiterinnen verzichteten meistens, als könnten sie sich von ihrem Aufenthalt in Pattys Haus Keime einfangen. Oder sie taten, als würden sie trinken, und schütteten den Tee in den Ausguss, wenn sie dachten, Patty würde nicht hinsehen. Das war sogar noch schlimmer.

«Ihr Vater macht sich Sorgen um Sie und die Kinder», sagte Vera. «Er möchte wissen, ob Sie gut zurechtkommen.» Worauf sie eigentlich keine Antwort erwartete. «Hören Sie, ich weiß ja nicht, wie’s Ihnen geht, aber ich habe noch nicht gefrühstückt und wette, Sie hatten auch noch keine Zeit, was Vernünftiges zu essen, wo Sie doch drei Kinder rechtzeitig zur Schule bringen müssen. Auf dem Weg hierher habe ich ein Café gesehen. Wollen wir da hingehen? Dabei können wir auch gleich ein bisschen frische Luft schnappen. Ich lade Sie ein.»

Und so zog Patty sich ihre Turnschuhe an und marschierte über die kleine Grünfläche, auf der die Kinder nach der Schule spielten, wobei sie Vera zuhörte, die sich darüber ausließ, wie schön der Sommer doch gewesen sei. Das Café war leer, die Frühstückszeit war vorüber, und der Ansturm zum Mittagstisch hatte noch nicht begonnen. Irgendwie wirkte es fehl am Platz am Rande der neuen Siedlung, ein altmodisches Café für Arbeiter, nicht für die hübsch zurechtgemachten Mütter und eleganten Frauen, die zum Lunch gingen. Vera fragte Patty, was sie gern hätte. «Ich selbst nehme ein Bacon-Sandwich. Mein Arzt kriegt wahrscheinlich einen Anfall, wenn er davon erfährt, aber was weiß der schon?»

«Ich bin Vegetarierin», sagte Patty. Ihre Adoptiveltern waren Vegetarier gewesen, und sie brachte es noch immer nicht über sich, Fleisch zu essen.

«Wie wär’s dann mit Rühreiern auf Toast?» Vera gab die Bestellungen bei dem Jungen in der dreckigen Schürze auf, der hinter dem Tresen stand. «Und eine Kanne Tee für zwei.» Offenbar hatte sie erkannt, dass Patty nicht in der Verfassung war, eigene Entscheidungen zu treffen.

Sie hatten das Café für sich allein und setzten sich ans Fenster. Patty machte sich keine Sorgen, dass jemand sie sehen könnte. Von den anderen Eltern kam keiner je auf diese Seite der Grünfläche, wo die Sozialbauten standen. Die Kinder, die hier wohnten, gingen auf eine andere Schule.

«Haben Sie Lust, mir ein wenig über sich zu erzählen?» Der Tee war bereits gebracht worden, und Vera hatte die Hände um ihren dicken Porzellanbecher gelegt. «Ich wusste gar nicht, dass Ihr Vater eine Tochter hat.»

«Ich glaube, das wusste er selbst nicht. Jedenfalls nicht mit Sicherheit. Nicht bevor ich ihn mit achtzehn ausfindig gemacht hatte.» Plötzlich war Patty mittendrin in der Geschichte, wie sie als kleines Mädchen adoptiert und in das große Haus an der Küste gebracht wurde, wo sie immer das Gefühl hatte, nicht richtig hinzugehören. «Meine Mutter und mein Vater waren wirklich schrecklich nett, wissen Sie, aber ich hatte immer das Gefühl, sie zu enttäuschen. Sie waren beide Lehrer und wollten, dass ich gute Noten heimbringe, aber ich war keine besonders gute Schülerin.»

«Halten sie die Verbindung zu Ihnen aufrecht?»

Diesmal ließ Patty sich Zeit mit der Antwort, denn nun wurde das Essen gebracht, und als der Teller mit dem Rührei vor ihr stand, merkte sie plötzlich, wie hungrig sie war. Vera spritzte sich Ketchup auf ihr Sandwich und schien keine Eile zu haben.

«Als ich sagte, dass ich meine leiblichen Eltern ausfindig machen will, merkte ich gleich, dass sie verletzt waren, aber sie waren natürlich einverstanden. Sie haben versucht, die Verbindung aufrechtzuerhalten, ganz ehrlich, aber Gary ist nie so recht mit ihnen ausgekommen, und irgendwie sind wir uns fremd geworden. Vor kurzem sind sie in den Ruhestand gegangen und in den Süden gezogen – sie stammen beide aus Surrey und haben sich hier nie so richtig heimisch gefühlt.» Und sie wollten weg von mir und den Kindern. Wahrscheinlich wären sie nie auf den Gedanken gekommen, dass es ihnen darum ging, aber sie brauchten eine Ausrede, um den Kontakt einschlafen lassen zu können. Das war Patty nie so klar in den Sinn gekommen, aber jetzt glaubte sie, dass es stimmte. «Sie rufen an und schicken den Kindern Geschenke. Zu den Geburtstagen und an Weihnachten.» Trotzdem fand Patty noch immer, dass sie ihnen für alles dankbar sein musste, und wollte nicht schlecht über sie reden. Immerhin hatten sie sie adoptiert, oder? Sie hatten sie vor dem Heim gerettet.

«Wie haben Sie John, Ihren Vater, gefunden?»