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Der Auftakt der englischen Krimi-Reihe um die eigenwillige Kommissarin Vera Stanhope Ein heißer Sommerabend an der Küste Northumberlands. Wie hatte sich Julie Armstrong auf ihr erstes Date seit Jahren gefreut. Doch bei ihrer Rückkehr erwartet sie ein schreckliches Bild: Ihr Sohn Luke liegt tot in der Badewanne, auf dem Wasser schwimmen Blüten. Wenig später treibt die attraktive Referendarin Lily im Teich inmitten von Blumen – ein schauriges Gemälde. Die inszenierten Morde geben Kommissarin Vera Stanhope und ihrem Kollegen Joe Ashworth Rätsel auf. Doch sie wissen: Der Mörder wird wieder zuschlagen - bis das Kunstwerk des Todes vollendet ist … «Ann Cleeves wirft einen Blick hinter die heile Fassade einer Dorfgemeinschaft, hinter der sich Abgründe auftun.» Val McDermid
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Seitenzahl: 528
Ann Cleeves
Die Blumen des Bösen
Ein heißer Sommerabend an der Küste Northumberlands. Wie hatte sich Julie Armstrong auf ihr erstes Date seit Jahren gefreut. Doch bei ihrer Rückkehr erwartet sie ein schreckliches Bild: Ihr Sohn Luke liegt tot in der Badewanne, auf dem Wasser schwimmen Blüten. Wenig später treibt die attraktive Referendarin Lily im Teich inmitten von Blumen – ein schauriges Gemälde.
Die inszenierten Morde geben Kommissarin Vera Stanhope und ihrem Kollegen Joe Ashworth Rätsel auf. Doch sie wissen: Der Mörder wird wieder zuschlagen - bis das Kunstwerk des Todes vollendet ist …
«Ann Cleeves wirft einen Blick hinter die heile Fassade einer Dorfgemeinschaft, hinter der sich Abgründe auftun.» (Val McDermid)
Ann Cleeves, geboren in Herefordshire, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für «Die Nacht der Raben», den ersten Band ihrer Krimireihe, die auf den Shetlands spielt, erhielt sie 2006 die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur: den «Duncan Lawrie Dagger Award». «Totenblüte» ist der Auftakt einer neuen Reihe um die eigenwillige Kommissarin Vera Stanhope.
Weitere Veröffentlichungen:
Die Nacht der Raben
Der längste Tag
Im kalten Licht des Frühlings
Sturmwarnung
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel «Hidden Depths» bei Macmillan, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2010
Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Hidden Depths» Copyright © 2007 by Ann Cleeves
Redaktion Elisabeth Raether
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-42201-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für die Jungs
Einen herzlichen Dank an Helen Pepper für die vielen Hinweise zu den ersten Maßnahmen der Ermittler am Tatort. Allfällige Fehler gehen wie immer auf mein Konto.
Julie taumelte aus dem Taxi und sah ihm nach, als es wegfuhr. Am Gartentor blieb sie kurz stehen, um sich zu sammeln. Eigentlich konnte sie ja schlecht sturzbesoffen nach Hause kommen, wo sie den Kindern immer Vorträge hielt. Die Sterne über ihr am Himmel fuhren Achterbahn, ihr war übel, aber das war egal. Es war ein toller Abend gewesen, das erste Mal seit Ewigkeiten, dass sie mit den Mädels um die Häuser gezogen war. Wobei das eigentlich Tolle natürlich nicht die Mädels waren, dachte sie und musste wieder grinsen wie eine Idiotin. Ein Glück, dass es dunkel war und keiner sie sehen konnte.
Vor der Haustür blieb sie noch einmal stehen und kramte zwischen den Kajalstiften, den lippenstiftverschmierten Taschentüchern und dem Kleingeld in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Dabei ertastete sie die abgerissene Ecke des Bierdeckels. Eine Telefonnummer und ein Name. Ruf mich bald an! Und darunter ein kleines Herz. Der erste Mann, den sie berührt hatte, seit Geoff ausgezogen war. Sie dachte daran, wie sich seine Rückenwirbel unter ihren Händen angefühlt hatten, als sie tanzten. Schade, dass er so früh hatte gehen müssen.
Julie machte die Handtasche wieder zu und lauschte. Nichts. Es war so still, dass ihr der Nachhall der lauten Musik noch in den Ohren rauschte. War es tatsächlich möglich, dass Luke schlief? Laura war ein richtiges Murmeltier, doch Julies Sohn hatte noch nie viel Schlaf gebraucht. Sogar jetzt, wo er nicht mehr zur Schule ging und gar nicht mehr früh aufzustehen brauchte, war er trotzdem fast immer vor ihr wach. Julie schob die Haustür auf und lauschte noch einmal, während sie die Schuhe abstreifte, die schon höllisch wehgetan hatten, als sie vor Stunden zur Metro gelaufen war. Gott, so getanzt hatte sie das letzte Mal vielleicht mit fünfundzwanzig. Im Haus war es ganz still. Keine Musik, kein Fernseher, kein piepsender Computer. Was für ein Glück, dachte Julie. Was für ein gottverdammtes Glück. Sie wollte einfach nur schlafen, vielleicht ein paar erotische Träume haben. Draußen auf der Straße wurde ein Motor angelassen.
Sie schaltete das Licht ein. Der grelle Schein tat ihr in den Augen weh und brachte ihren Magen wieder in Aufruhr. Sie ließ die Tasche fallen, rannte die Treppe hoch zum Bad und fiel dabei fast über die eigenen Füße. Bloß nicht auf den neuen Teppichboden kotzen. Die Tür zum Badezimmer war zu, Julie sah, dass drinnen Licht brannte. Aus dem Trockenschrank hörte sie das leise Gurgeln, mit dem sich der Heißwasserspeicher wieder füllte. Das war ja mal wieder typisch. Morgens musste sie Luke oft ewig zureden, zumindest unter die Dusche zu gehen, und jetzt badete er plötzlich mitten in der Nacht. Julie klopfte an die Badezimmertür, hatte es aber nicht mehr eilig. Die Übelkeit war schon wieder verflogen.
Luke gab keine Antwort. Wahrscheinlich wieder eine seiner Launen. Julie wusste, dass er nichts dafür konnte und dass sie eigentlich Geduld mit ihm haben sollte, aber manchmal wäre sie ihm doch am liebsten an die Gurgel gegangen, wenn er so komisch wurde. Sie überquerte den Flur und schaute in Lauras Zimmer. Der Anblick ihrer schlafenden Tochter machte sie plötzlich ganz sentimental. Sie musste sich mehr Mühe mit ihr geben, mehr Zeit mit ihr verbringen. Vierzehn war ein schwieriges Alter für ein junges Mädchen, und Julie war in letzter Zeit immer so mit Luke beschäftigt gewesen, dass Laura ihr fast fremd geworden war. Sie wurde erwachsen, ohne dass Julie etwas davon mitbekam. Jetzt lag sie auf dem Rücken, das stachlige Haar rabenschwarz vor dem Kissen, und schnarchte leise mit offenem Mund. Um diese Jahreszeit war ihr Heuschnupfen immer besonders schlimm. Julie sah, dass das Fenster offen stand, und schloss es trotz der Hitze, um die Pollen draußen zu halten. Mondlicht fiel auf das frisch gemähte Feld hinter dem Haus.
Sie ging zurück zur Badezimmertür und schlug mit der flachen Hand dagegen. «He, willst du etwa die ganze Nacht da drinbleiben?» Beim dritten Schlag gab die Tür nach. Sie war gar nicht abgeschlossen gewesen. Drinnen hing der schwere, süßliche Duft eines Badeöls, das Julie noch nie benutzt hatte. Auf dem Klodeckel lagen Lukes Kleider, ordentlich gefaltet.
Er war immer wunderschön gewesen, schon als Baby. Viel hübscher als Laura, was im Grunde ziemlich ungerecht war. Es lag an den blonden Haaren, den dunklen Augen, den langen, schwarzen Wimpern. Julie starrte ihn an, wie er da lag, ganz im Badewasser versunken, sein Haar, das sich wie Seegras knapp unter der Oberfläche wiegte. Den Körper sah sie kaum wegen der vielen Blumen, die auf dem duftenden Wasser trieben. Nur die Blüten, ohne Stiele und ohne Blätter. Julie sah die großen Margeriten, die immer auf den Kornfeldern blühten, als sie noch klein war. Sie sah verblühende Mohnblumen, deren rote Blütenblätter fast durchsichtig wirkten, und große, blaue Blüten, die sie schon oft in den Gärten im Dorf gesehen hatte, aber deren Namen sie nicht kannte.
Sie musste wohl geschrien haben. Der Laut klang ihr fremd in den Ohren, als käme er von jemand anderem. Doch Laura schlief immer noch, Julie musste sie richtig wach schütteln. Schließlich schlug ihre Tochter die Augen auf, sah Julie groß an. Sie wirkte verängstigt, und Julie murmelte ganz automatisch, obwohl sie wusste, dass es gelogen war: «Schon gut, Schätzchen. Es ist ja alles gut. Aber du musst jetzt aufstehen.»
Laura stieg aus dem Bett. Sie zitterte am ganzen Körper und schien noch gar nicht richtig wach zu sein. Julie legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich, und so stolperten sie gemeinsam die Treppe hinunter.
So standen sie auch kurz darauf eng umschlungen vor der Tür des Nachbarhauses, und ihr Schatten, den die Straßenlaternen an die Hauswand warfen, erinnerte Julie an zwei Leute bei einem dieser blödsinnigen Dreibeinrennen. Zwei betrunkene Studenten auf Kneipentour. Sie klingelte Sturm, bis oben das Licht anging, Schritte die Treppe herunterkamen und sie endlich jemandem von diesem Albtraum erzählen konnte.
Felicity Calvert war irritiert, weil sie nur noch Sex im Kopf hatte. Irgendwann hatte sie im Wartezimmer beim Arzt in einer Zeitschrift gelesen, dass halbwüchsige Jungen angeblich alle sechs Minuten an Sex dachten. Das fand sie damals schwer vorstellbar. Wie konnten diese jungen Männer überhaupt noch ein normales Leben führen, im Unterricht aufpassen, ins Kino gehen, Fußball spielen, wenn sie ständig so abgelenkt waren? Und was war mit ihrem eigenen Sohn? Undenkbar, dass James, der da auf dem Fußboden hockte und mit seinen Legosteinen spielte, in ein paar Jahren auch so besessen von dem Thema sein sollte. Inzwischen allerdings hielt sie einen Abstand von sechs Minuten zwischen einem erotischen Tagtraum und dem nächsten für eine recht großzügige Schätzung. Zumindest, was sie betraf. Seit einiger Zeit war sie sich bei allem, was sie tat, ihres Körpers und seiner Reaktionen bewusst, und dieses intensivere Empfinden war ihr im Alltag mal lästig, mal eine willkommene Abwechslung. Aber das gehörte sich doch nicht mehr in ihrem Alter. Es war, als würde man in Rot auf einer Beerdigung erscheinen.
Sie war im Garten, um die ersten Erdbeeren zu pflücken. Vorsichtig hob sie das Netz ein wenig an und schob die Hand zwischen Maschen und Strohunterlage. Die Früchte waren noch klein, aber es waren immerhin genug für James zum Abendessen. Felicity steckte eine in den Mund. Sie war noch warm von der Sonne und zuckersüß. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon fast Zeit für den Schulbus war. In spätestens zehn Minuten musste sie sich die Hände waschen und zur Landstraße hinuntergehen, um ihren Sohn abzuholen. Sie machte das längst nicht mehr jeden Tag. Er fand, dass er schon groß genug war, um alleine nach Hause zu kommen, und damit hatte er natürlich recht. Doch heute hatte er seine Geige dabei und würde sich sicher freuen, wenn sie kam und ihm beim Tragen half. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob der Bus heute wohl von dem älteren Mann gefahren würde oder von dem jüngeren mit den durchtrainierten Oberarmen und den ärmellosen Shirts. Dann schaute sie erneut auf die Uhr. Nur zwei Minuten seit dem letzten Gedanken an Sex. Wieder dachte sie sich, wie lächerlich das in ihrem Alter war.
Felicity war siebenundvierzig. Sie hatte einen Ehemann und vier Kinder. Sie hatte sogar schon ein Enkelkind. Und Peter, ihr Mann, wurde in ein paar Tagen sechzig. Die Lust kam immer dann, wenn sie es gerade am wenigsten erwartete. Sie hatte Peter nichts davon erzählt. Wozu auch? Er war ja schließlich nicht das Objekt ihrer Begierde. Inzwischen schliefen sie nur noch selten miteinander.
Sie richtete sich auf und ging über den Rasen zur Küche. Fox Mill, ihr Haus, stand auf dem Grundstück einer ehemaligen Wassermühle. Das große Haus war in den dreißiger Jahren erbaut worden, als küstennahes Feriendomizil eines Großstädters, der ein Boot besaß. Mit den glatten, gewölbten Wänden, neben denen der Mühlbach entlangrauschte, sah es selbst ein wenig aus wie ein Boot, ein großes Art-déco-Boot, das an diesem völlig abwegigen Ort inmitten ebenen Ackerlands gestrandet war, den Bug zur Nordsee ausgerichtet, das Heck zu den Hügelketten Northumberlands am Horizont. Auf einer Seite erstreckte sich wie ein Bootsdeck die große Terrasse, die hier, wo es fast nie warm genug zum Draußensitzen wurde, allerdings fast überflüssig war. Felicity liebte das Haus. Von Peters Professorengehalt hätten sie es sich niemals leisten können, doch kurz nachdem Felicity und er geheiratet hatten, waren seine Eltern gestorben, und er hatte ihr ganzes Vermögen geerbt.
Felicity stellte das Körbchen mit den Erdbeeren auf den Küchentisch, dann warf sie einen Blick in den Garderobenspiegel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und trug etwas Lippenstift auf. Sie war zwar älter als die Mütter von James’ Freunden, aber er sollte sich auf keinen Fall für sie schämen müssen.
An der Straße blühte der Holunder, sein Duft machte Felicity ganz benommen, sie spürte ihn hinten am Gaumen. Auf den Feldern zu beiden Seiten reifte das Korn heran. Die Ähren standen hier so dicht, dass keine Blumen mehr dazwischenpassten, doch auf ihrem eigenen Feld nahe dem Haus wuchsen Butterblumen, Klee und lila Wicken. Weiter vorn flimmerte der löchrige Asphalt in der Hitze. Die Sonne schien seit drei Tagen ununterbrochen.
Felicity überlegte, was sie an Peters Geburtstag am Wochenende unternehmen könnten. Freitagabend würden die Jungs zum Essen kommen, die Felicity für sich immer so nannte, obwohl zumindest Samuel in ihrem Alter war. Aber wenn das Wetter hielt, konnten sie am Samstag ein Picknick am Strand machen und einen Ausflug auf die Farne-Inseln, um dort die Papageitaucher und die Trottellummen zu beobachten. Das würde James sicher großen Spaß machen. Felicity blinzelte zum Himmel hinauf, um zu sehen, ob sie womöglich eine nahende Kaltfront spüren, eine noch so kleine Wolke am Horizont ausmachen würde. Aber nein: nichts. Vielleicht, dachte sie, war es sogar warm genug zum Baden; sie stellte sich die sanften Wellen an ihrem Körper vor.
Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, war vom Schulbus noch nichts zu sehen. Felicity schwang sich auf das hölzerne Podest, wo früher die Milchkannen vom Hof auf den Milchwagen warteten. Das Holz war warm und roch nach Harz. Sie stützte sich auf die Ellbogen und hielt das Gesicht in die Sonne.
In zwei Jahren würde James die Schule wechseln. Davor fürchtete sie sich schon jetzt. Peter wollte ihn auf eine Privatschule in der Stadt schicken, dieselbe Schule, die auch er besucht hatte. Felicity sah die Schüler in ihren gestreiften Blazern häufig in der Metro. Sie fand sie laut und ein bisschen zu selbstbewusst.
«Aber wie soll er denn da hinkommen?», hatte sie eingewandt, doch ihr eigentlicher Vorbehalt war ein anderer. Sie war überzeugt, dass James auf zu viel Druck nicht gut reagieren würde. Er war ein bedächtiges, verträumtes Kind. Man musste ihn in seinem eigenen Tempo arbeiten lassen. Die Gesamtschule im nächsten Dorf war sicher viel besser für ihn. Selbst das Gymnasium in Morpeth, das ihre anderen Kinder besucht hatten, würde ihn sehr fordern.
«Ich bringe ihn hin und hole ihn auch wieder ab», hatte Peter erwidert. «Es werden zahlreiche Aktivitäten nach dem Unterricht angeboten, da wird er sich schon beschäftigen können, bis ich aus dem Büro komme.»
Das gefiel Felicity nun überhaupt nicht. Ihr war die Zeit sehr kostbar, die sie mit James verbrachte, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Diese Stunden, davon war sie überzeugt, waren sehr wichtig, um ihn zu verstehen.
Sie hörte, wie der Bus den Hang hinaufschnaufte, richtete sich auf und blinzelte in die Sonne, dem näher kommenden Fahrzeug entgegen. Am Steuer saß Stan, der alte Busfahrer. Felicity winkte ihm zu, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Normalerweise stiegen an dieser Haltestelle nur drei Kinder aus: die beiden Zwillingsmädchen vom Bauernhof und James. Doch heute kletterte noch vor ihnen eine Fremde aus dem Bus, eine junge Frau in Riemchensandalen und einem rot- und goldgemusterten ärmellosen Kleid mit enganliegendem Oberteil und einem weiten, schwingenden Rock. Felicity fand das Kleid wunderschön, den Schnitt und diese leuchtenden Farben – die Jugend von heute schien sonst selbst im Sommer nur Grau oder Schwarz zu tragen. Und als sie sah, wie die junge Frau James half, seinen Ranzen und die Geige aus dem Bus zu hieven, war sie ihr gleich sympathisch. Die Zwillinge überquerten die Straße und rannten den Feldweg zum Hof hinauf, der Bus fuhr an, und sie blieben leicht verlegen zu dritt vor der Hecke stehen.
«Das ist Miss Marsh», sagte James. «Sie arbeitet bei uns in der Schule.»
Die junge Frau hatte eine große Korbtasche mit Lederriemen über die Schulter gehängt. Als sie Felicity eine sonnengebräunte Hand mit langen, schmalen Fingern hinstreckte, rutschte ihr die Tasche von der Schulter, und Felicity sah, dass einige Ordner und ein Bibliotheksbuch darin waren.
«Sagen Sie bitte Lily zu mir.» Sie hatte eine helle Stimme. «Ich bin noch an der Uni und mache gerade mein letztes Schulpraktikum.» Sie lächelte freundlich. Offenbar ging sie davon aus, dass Felicity sie erwartet hatte.
«Ich habe ihr gesagt, sie kann bei uns im Gartenhaus wohnen», verkündete James und trabte dann, von allen Lasten befreit, die Straße hinauf, ohne sich darum zu kümmern, welche der beiden Frauen seine Sachen trug.
Felicity wusste nicht, was sie sagen sollte.
«Er hat Ihnen doch hoffentlich erzählt, dass ich eine Unterkunft suche?», fragte Lily.
Felicity schüttelte den Kopf.
«Ach herrje, das ist mir jetzt aber peinlich.» Doch Lily wirkte keineswegs peinlich berührt, sondern im Gegenteil bemerkenswert selbstsicher. Sie schien die Sache eher amüsant zu finden. «Ohne Auto ist es ein Albtraum, jeden Tag von Newcastle anzureisen, deshalb hat die Direktorin vor ein paar Tagen bei der Morgenversammlung gefragt, ob jemand eine preiswerte Unterkunft für mich weiß. Wir dachten an eine Pension oder ein Zimmer zur Untermiete. Und gestern hat James mir erzählt, dass Sie Ihr Gartenhaus vermieten. Ich hatte vorhin noch versucht anzurufen, habe Sie aber nicht erreicht. James meinte, Sie seien wohl im Garten, ich solle doch einfach mitkommen. Und da ich annahm, dass er bereits mit Ihnen gesprochen hat … Ich konnte sein Angebot nicht ablehnen …»
«Das kann ich mir vorstellen», gab Felicity ihr recht. «Er ist ausgesprochen hartnäckig.»
«Aber wissen Sie, das ist wirklich nicht weiter schlimm. Es ist so ein schöner Nachmittag. Ich laufe einfach ins nächste Dorf, von dort geht um sechs ein Bus zurück in die Stadt.»
«Trinken Sie doch wenigstens noch einen Tee mit uns», sagte Felicity. «Ich muss mir das erst mal kurz durch den Kopf gehen lassen.»
Sie hatten das Gartenhaus schon gelegentlich vermietet, ein richtiger Erfolg war das aber nie gewesen. Anfangs waren sie noch ganz froh über die zusätzliche Einnahmequelle. Obwohl sie Peters Erbe hatten, war die Hypothek doch eine große Belastung. Später dann, mit drei Kleinkindern, war ihnen die Möglichkeit willkommen, ein Kinder- oder Au-pair-Mädchen dort unterzubringen. Doch die Mädchen beschwerten sich wegen der Kälte, der tropfenden Wasserhähne und der wenig modernen Ausstattung. Und auch Peter und Felicity hatten sich nie ganz wohl damit gefühlt, fremde Leute in so unmittelbarer Nähe zu haben. Die Verantwortung für die Mieterinnen war zusätzlicher Stress. Und obwohl ihnen keine je übermäßig zur Last gefallen war, waren sie doch immer erleichtert, wenn wieder jemand auszog. «Nie wieder», hatte Peter mit Nachdruck erklärt, als die letzte Bewohnerin, eine heimwehkranke junge Schwedin, wieder fort war. Felicity konnte also nicht recht sagen, wie er es finden würde, eine weitere junge Frau auf dem Grundstück zu haben, selbst wenn es nur für die vier verbleibenden Wochen bis zu den Sommerferien sein würde.
Doch als sie sich an den Küchentisch setzten und ein frischer Wind vom Meer die Musselinvorhänge vor dem offenen Fenster blähte, dachte sich Felicity Calvert, dass sie der jungen Frau das Gartenhaus trotzdem vermieten würde, falls es ihr gefiel. Peter würde sich schon damit arrangieren, vor allem, wo es nur für so kurze Zeit war.
James saß zwischen ihnen am Tisch, mit Schere, Klebstoff und diversen Papierschnipseln bewaffnet. Er trank Orangensaft und bastelte an einer Geburtstagskarte für seinen Vater, eine aufwendige Angelegenheit, für die er verschiedene Fotos von Peter aus alten Alben als Collage um eine große, aus Geschenkband und Glitzerfarbe gefertigte 60 anordnete. Lily bewunderte das Kunstwerk und stellte interessierte Fragen, und Felicity spürte, wie sehr sich James über die Zuwendung freute. Sie war der jungen Frau ausgesprochen dankbar dafür.
«Wenn Sie eine Wohnung in Newcastle haben», sagte sie, «werden Sie an den Wochenenden ja sicher gar nicht hier sein.» Ein weiteres Argument für Peter. Sie ist doch nur unter der Woche hier. Und du arbeitest ohnehin so viel, wahrscheinlich merkst du gar nicht, dass sie da ist.
Das Gartenhaus stand am anderen Ende der großen Wiese mit den wilden Blumen. Dieses Feld war neben dem Garten das einzige Land, das sie besaßen. Vom Haus aus wirkte der kleine Bau dahinter schmal und niedrig; man konnte sich nur schwer vorstellen, dass darin jemand wohnte. Über das Feld führte ein Trampelpfad, und Felicity sah, dass jemand dort gewesen war, seit das Gras wieder wuchs. Vermutlich James. Wenn er Freunde zum Spielen dahatte, nutzten sie das Gartenhaus manchmal als Spielhöhle. Allerdings war es normalerweise abgeschlossen, und Felicity konnte sich nicht erinnern, dass James in letzter Zeit nach dem Schlüssel gefragt hätte.
«Gartenhaus klingt viel großartiger, als es ist», sagte sie zu Lily. «Es hat nur zwei Zimmer, eins oben und eins unten, und hinten ein angebautes Bad. Bevor wir einzogen, wohnte der Gärtner dort, davor diente es wohl als Schweinestall oder hatte sonst etwas mit dem Hofbetrieb zu tun.»
Die Tür war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Felicity öffnete es, zögerte dann aber, weil sie sich mit einem Mal unbehaglich fühlte. Sie hätte sich im Haus vorher noch einmal umsehen sollen, bevor sie eine Fremde hereinließ. Wahrscheinlich hätte sie Lily besser gebeten, in der Küche zu warten, während sie nachschaute, wie es dort aussah.
Doch obwohl sie gleich die Feuchtigkeit roch, machte das Haus insgesamt doch einen einigermaßen ordentlichen Eindruck. Im Kamin lag keine alte Asche mehr, obwohl Felicity sich nicht erinnern konnte, ihn gesäubert zu haben, seit ihre Jüngste an Weihnachten mit ihrem Mann hier gewesen war. Die Töpfe hingen alle an ihrem Platz an der Wand, die Wachstuchdecke auf dem Tisch wirkte frisch gewischt, und bei der Hitze draußen auf der Wiese war es drinnen angenehm kühl. Felicity öffnete das Fenster.
«Drüben auf dem Hof sind sie gerade beim Mähen», sagte sie. «Man riecht es bis hierher.»
Lily stand mitten im Zimmer und sagte nichts. Felicity, die irgendwie erwartet hatte, die junge Frau würde sich auf Anhieb in das Häuschen verlieben, fühlte sich gekränkt. Es kam ihr vor, als hätte die andere ein Freundschaftsangebot ausgeschlagen. Sie zeigte ihr das kleine Bad, wies darauf hin, dass die Dusche eben erst eingebaut und die Fliesen kürzlich erneuert worden waren, und kam sich dabei vor wie eine Maklerin, die verzweifelt versucht, ihr Objekt an den Mann zu bringen. Warum führe ich mich eigentlich so auf?, fragte sie sich. Eben war ich doch noch nicht einmal sicher, ob ich sie überhaupt hierhaben will.
Schließlich fragte Lily: «Können wir nach oben schauen?» Damit stieg sie auch schon die enge Holztreppe hinauf, die direkt aus der Küche nach oben führte. Felicity verspürte wieder ein gewisses Unbehagen – sie wäre lieber als Erste oben gewesen.
Doch auch hier wirkte alles viel ordentlicher, als sie erwartet hatte. Das Bett war noch gemacht, das Federbett und die zusätzlichen Wolldecken lagen sorgfältig gefaltet am Fußende. Auf dem bemalten Bauernschrank und der Kommode mit den Familienfotos lag natürlich Staub, doch von dem üblichen Schlachtfeld aus vergessenem Kleinkram, das ihre Tochter sonst immer zurückließ, war nichts zu sehen. Auf der breiten Fensterbank stand eine Vase mit weißen Rosen. Felicity hob gedankenverloren ein abgefallenes Blütenblatt auf. Natürlich, dachte sie. Bestimmt war Mary hier, obwohl ich sie nicht ausdrücklich darum gebeten habe. Wie reizend von ihr! Sie ist immer so unaufdringlich hilfsbereit! Mary Barnes kam zweimal die Woche zum Putzen ins Haus.
Erst als sie das Vorhängeschloss schon wieder an der Haustür befestigt hatte, fiel ihr auf, dass die Rosen kaum länger als zwei, drei Tage dort stehen konnten und die eher phantasielose Mary ganz sicher nicht von sich aus auf eine solche Idee gekommen wäre.
Sie blieben einen Moment vor dem Gartenhaus stehen. «Und?», fragte Felicity. «Wie gefällt es Ihnen?» Sie hörte selbst die gezwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme.
Lily lächelte. «Es ist wunderhübsch», sagte sie. «Ganz ehrlich. Aber ich muss mir das doch noch einmal ganz genau durch den Kopf gehen lassen. Kann ich Sie nächste Woche anrufen?»
Eigentlich hatte Felicity ihr noch anbieten wollen, sie zumindest bis zur Bushaltestelle im Dorf zu fahren, doch nun drehte Lily sich einfach um und ging über die Wiese davon. Felicity brachte es nicht über sich, ihr hinterherzurufen oder gar nachzulaufen, und so blieb sie einfach stehen und sah ihr nach, bis die rot-goldene Gestalt zwischen dem hohen Gras verschwunden war.
Julie konnte nicht mehr aufhören zu reden. Sie kam sich ziemlich bescheuert dabei vor, aber die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, und die dicke Frau von der Polizei saß wie festgeklemmt in dem Sessel, den Sal letztes Jahr bei Delcor im Ausverkauf erstanden hatte, und hörte ihr zu. Sie machte sich keine Notizen, stellte auch keine Fragen. Sie hörte einfach nur zu.
«Er war so ein liebes Baby, ganz anders als Laura. Nach Luke war sie ein echter Schock für mich. Eine richtig unersättliche kleine Mamsell, wenn sie nicht gerade schlief oder schrie, hatte sie immer eine Flasche im Mund. Luke war irgendwie …» Sie hielt inne, um nach den richtigen Worten zu suchen, und die dicke Polizistin schwieg, ließ ihr Zeit zum Nachdenken. «… friedlich. Er lag den ganzen Tag nur da und hat sich die Schatten an der Decke angeschaut. Mit dem Sprechen hat er sich eher schwergetan, aber da war Laura ja schon da, und die Frau vom Gesundheitsdienst meinte, es lag daran. Laura war so lebhaft, hat meine ganze Aufmerksamkeit und Energie beansprucht, da blieb Luke ein bisschen auf der Strecke. Aber die Frau vom Gesundheitsdienst meinte, ich soll mir keine Sorgen machen, er würde schon aufholen, wenn er erst mal im Kindergarten ist. Damals war Geoff auch noch bei uns, aber er war ziemlich viel auf Arbeit unterwegs. Er ist Stuckateur. Im Süden kann man mehr Geld verdienen, deshalb hat er sich von so einer Agentur vermitteln lassen und schließlich an der Canary Wharf gearbeitet … Für mich war das alles ziemlich viel, zwei kleine Kinder und fast immer ohne Mann.»
Diesmal reagierte die Frau: Sie nickte einmal ganz leicht, um Julie zu zeigen, dass sie verstand.
«Ich habe Luke dann in den Kindergarten hier im Dorf gegeben. Erst wollte er überhaupt nicht hin, sie mussten ihn richtig von mir wegzerren, und wenn ich ihn eine Stunde später abholen kam, hat er immer noch geschluchzt. Das hat mir fast das Herz gebrochen, aber ich habe mir gesagt, es ist richtig so. Er brauchte doch Gesellschaft. Und die Frau vom Gesundheitsdienst fand es auch richtig. Irgendwann hat er sich dann auch dran gewöhnt, zumindest hat er kein Theater mehr gemacht, wenn er hinmusste. Aber er hat mich die ganze Zeit mit diesem Blick angeschaut. Gesagt hat er nichts, aber der Blick sprach Bände: ‹Mach, dass ich da nicht hinmuss, Mum. Bitte mach, dass ich da nicht hinmuss.›» Julie hockte auf dem Boden, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen. Sie sah zu der Polizistin hoch, die sie immer noch schweigend musterte, und plötzlich kam ihr der Gedanke, dass diese Frau, so breit und stabil wie ein Fels, vielleicht selbst einmal eine Tragödie durchlitten hatte. Nur deshalb konnte sie jetzt so dasitzen, ohne die ganze Zeit irgendwelche blöden, mitfühlenden Laute von sich zu geben, wie Sal und der Arzt. Diese Frau wusste, dass nichts, was sie sagen konnte, auch nur irgendetwas besser machen würde. Doch der Kummer der Polizistin war Julie im Grunde egal, und es war auch nur ein flüchtiger Gedanke. Sie sprach weiter.
«Zu der Zeit etwa kam Geoff aus London zurück. Mir hat er erzählt, es gäbe keine Arbeit mehr, aber ich wusste von seinem Kumpel, dass er sich mit dem Vorarbeiter gestritten hatte. Geoff macht gute Arbeit, er lässt sich nur nicht gern rumkommandieren. Das war eine ziemlich schwere Zeit für ihn. Er ist nicht dafür gemacht, einfach faul rumzusitzen, außerdem war er gewohnt, viel Geld zu verdienen. Er hat mir eine neue Küche eingebaut, das Bad renoviert. Sie machen sich keine Vorstellung, wie das Haus aussah, als wir hier eingezogen sind. Aber dann ist uns das Geld ausgegangen …»
Sal hatte Tee gekocht. Richtigen Tee, eine ganze Kanne voll, keine einzelnen Teebeutel im Becher, wie Julie es immer machte. Julie griff nach der Kanne auf dem Tablett und goss sich noch eine Tasse ein. Eigentlich hatte sie gar keine Lust mehr auf Tee, aber die Tätigkeit gab ihr Zeit, sich darüber klarzuwerden, was genau sie sagen wollte.
«Es war keine gute Zeit. Geoff war nicht an die Kinder gewöhnt. Als er noch in London arbeitete, war er immer nur ein langes Wochenende im Monat zu Hause. Das war dann etwas ganz Besonderes für ihn. Er machte einen Riesenzinnober, brachte Geschenke mit. Wir benahmen uns alle so gut wie möglich, und er ging jeden Abend mit seinen Kumpels saufen. Als er dann dauerhaft wieder hier war, konnte das natürlich nicht so weitergehen. Sie wissen ja, wie das ist im Alltag. Nasse Babyklamotten auf der Heizung, Spielzeug im ganzen Haus, schmutzige Windeln … Manchmal hat er da einfach die Geduld verloren, vor allem mit Luke. Laura hat immer nur gekichert und ihn um den Finger gewickelt. Aber Luke war irgendwie in seiner eigenen Welt. Natürlich hat Geoff ihn nie geschlagen, aber er hat ihn angebrüllt, und das hat Luke solche Angst gemacht, man hätte denken können, er wäre wirklich verprügelt worden. Ich habe auch viel rumgebrüllt, aber bei mir wussten sie, dass ich es nicht ernst meine und dass sie am Ende doch ihren Willen kriegen. Bei Geoff war das anders. Manchmal hatte ich sogar selber Angst vor ihm.»
Einen Moment lang schwieg sie und dachte an Geoff und seinen Jähzorn, an die gedrückte Stimmung im Haus, die auf seine Wutanfälle folgte. Aber sie konnte nicht lange still bleiben, und gleich darauf sprudelten die Worte schon wieder weiter.
«In der Grundschule war Luke nicht weiter schwierig. Er schien sogar ganz gerne hinzugehen. Vielleicht war er einfach schon daran gewöhnt, weil der Kindergarten im selben Gebäude war. Und in der ersten Klasse hatte er auch eine ganz tolle Lehrerin, Mrs Sullivan. Sie war wie eine Oma für die Kinder, nahm sie auf den Schoß, um ihnen Lesen beizubringen. Sie hat mir gesagt, Luke hätte Probleme – nichts Schlimmes, meinte sie, aber es wäre doch besser, ihn mal untersuchen zu lassen. Sie fand, er sollte zum Psychologen. Aber wir hatten nicht genug Geld, die Wartelisten waren zu lang oder was auch immer, jedenfalls kam es nie dazu. Geoff meinte, Luke wäre einfach nur faul. Und dann hat er uns verlassen. Er hat behauptet, wir gingen ihm auf die Nerven, würden ihn nur runterziehen. Aber ich wusste natürlich, dass er eine Affäre hat, mit einer Krankenschwester vom Royal-Victoria-Krankenhaus. Sie sind dann zusammengezogen. Inzwischen sind sie verheiratet.»
Wieder schwieg sie einen Moment, nicht weil ihr der Redestoff ausgegangen wäre, sondern weil sie ein paarmal tief durchatmen musste. Sie glaubte, dass Geoff immer schon geahnt hatte, mit Luke könne etwas nicht stimmen. Wie oft hatte er ihn beim Spielen misstrauisch gemustert. Und trotzdem hatte er es sich nie eingestehen wollen.
Es war inzwischen halb neun, und sie saßen immer noch im Haus der Nachbarin, in Sals Wohnzimmer. Draußen ging gerade der Postbote vorbei und beäugte neugierig den Polizisten, der vor Julies Haustür stand. Am anderen Ende der Straße brachen Kinder zur Schule auf. Kichernd alberten sie miteinander herum.
Die dicke Polizistin beugte sich vor – nicht, um Julie dazu zu bewegen, weiterzureden, sondern vielmehr, um ihr zu zeigen, dass sie Geduld und alle Zeit der Welt hatte. Julie trank von ihrem Tee. Sie hatte keine Lust, der Frau zu erzählen, wie Geoff Luke gemustert hatte.
«Das mit den Wutanfällen fing an, als er etwa sechs war. Sie kamen aus dem Nichts, er war dann gar nicht mehr zu bändigen. Meine Mutter meinte, ich bin schuld, weil ich ihn so verwöhnt habe. Damals war er zwar schon nicht mehr bei Mrs Sullivan in der Klasse, aber sie war die Einzige an der Schule, mit der ich darüber reden konnte, und sie meinte, er wäre von sich selbst enttäuscht. Er hatte Probleme mit dem Schreiben und mit dem Lesen, und das wurde ihm dann manchmal plötzlich alles zu viel. Einmal hat er auf dem Pausenhof einen anderen Jungen geschubst, weil der ihn geärgert hatte. Der Junge ist hingefallen und hat sich am Kopf verletzt. Er musste sogar ins Krankenhaus. Sie können sich ja vorstellen, wie das für mich war, als ich nachmittags kam, um die Kinder abzuholen. Die anderen Mütter standen alle da und haben geflüstert und mit dem Finger auf mich gezeigt. Luke hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Er wollte den anderen Jungen unbedingt im Krankenhaus besuchen, dabei hatte der ihn ja so provoziert. Aidan hieß er. Aidan Noble. Seine Mutter hat ganz gut reagiert, aber sein Vater stand irgendwann bei uns vor der Tür, um uns die Meinung zu geigen, und hat da draußen rumgebrüllt, dass die ganze Straße mithören konnte.
Dann hat mich der Direktor zu sich bestellt, Mr Warrender. So ein kleiner dicker Kerl mit dünnem Haar, unter dem man die Glatze sieht. Neulich habe ich ihn in der Stadt gesehen und ihn erst gar nicht erkannt, inzwischen trägt er nämlich ein Toupet. Er war sogar ganz nett, hat mir einen Tee gemacht und alles. Aber er meinte, Luke hätte Verhaltensstörungen und sie wären sich nicht sicher, ob sie dort an der Schule noch mit ihm klarkämen. Ich war völlig mit den Nerven am Ende und habe angefangen zu heulen. Und dann habe ich ihm erzählt, was Mrs Sullivan gesagt hat, dass Luke nämlich unzufrieden wäre und dass es vielleicht gar nicht so weit gekommen wäre, wenn sie sich früher darum bemüht hätten, ihm professionelle Hilfe zukommen zu lassen. Und Mr Warrender gab nach, denn kurz danach kam Luke tatsächlich zum Psychologen in der Schule. Es wurden Tests gemacht, und danach hieß es, er hätte zwar Lernschwierigkeiten, aber mit etwas Hilfe könnte er doch auf der Schule bleiben. Und so war es dann auch.»
Julie hielt wieder inne. Sie wollte der dicken Frau begreiflich machen, wie sie sich damals gefühlt hatte, wie erleichtert sie gewesen war zu erfahren, dass sie die Wutanfälle und die Stimmungsschwankungen ihres Sohnes nicht selbst verschuldet hatte. Darin zumindest hatte ihre Mutter sich getäuscht. Luke war eben einfach etwas Besonderes. Er war anders, immer schon anders, und es hatte nie in ihrer Macht gestanden, etwas daran zu ändern. Und die Polizistin schien zu verstehen, wie wichtig das für Julie gewesen war, denn schließlich sagte sie doch etwas.
«Dann waren Sie also nicht allein.»
«Sie können sich gar nicht vorstellen», sagte Julie, «wie gut mir das getan hat.»
Die Frau nickte verständnisvoll. Aber wie sollte sie das begreifen können, wo sie doch selbst keine Kinder hatte? Wie konnte das überhaupt jemand begreifen, der selbst kein Kind mit Lernschwierigkeiten hatte?
«Ich kam ganz gut damit klar, dass die Leute sich alle den Mund über uns zerrissen und die Mütter vor der Schule darüber tuschelten, dass Luke eine Sonderbetreuung bekam. Wenigstens musste ich jetzt nichts mehr verbergen Und die meisten waren auch sehr nett. Eine Aushilfslehrerin wurde extra dafür abgestellt, ihm zu helfen. Und Luke kam ganz gut mit. Er war natürlich kein Genie, aber er gab sich Mühe, er wurde besser im Lesen und Schreiben, und in manchem war er richtig gut. Zum Beispiel bei allem, was mit Computern zu tun hatte, da war er wahnsinnig schnell. Das waren gute Jahre. Laura ging inzwischen auch zur Schule, ich hatte wieder mehr Zeit für mich. Sogar eine Teilzeitstelle habe ich gefunden, im Altersheim bei uns im Dorf. Meine Freundinnen konnten nie verstehen, warum mir das so viel Spaß macht, aber ich finde es einfach toll. Wahrscheinlich, weil ich das Gefühl habe, gebraucht zu werden. Geoff hatte kein großes Interesse daran, die Kinder zu sehen, aber zumindest zahlte er regelmäßig Unterhalt. Wir konnten natürlich keine großen Sprünge machen, keine Urlaube, keine wilden Partys, aber wir kamen ganz gut zurecht.»
«Es war aber sicher nicht leicht», sagte die Polizistin.
«Nein», gab Julie zu. «Aber es ging schon. Mit Luke gab es erst wieder Ärger, als er die Schule wechseln musste. Die anderen Kinder haben schnell spitzgekriegt, was mit ihm los ist, und keine Gelegenheit ausgelassen, ihn zu hänseln. Ständig haben sie ihn zu irgendwelchen Streichen angestiftet. Und er wurde natürlich immer erwischt. Da hatte er schnell einen Ruf weg. Sie kennen so was bestimmt, das erlebt man doch immer wieder. Einmal kam sogar die Polizei und hat ihn beim Klauen auf einer Baustelle erwischt. Irgendwelche Plastikrohre. Weiß der Himmel, was er damit wollte. Jemand hatte ihm etwas Geld dafür versprochen, aber deshalb hat er es nicht gemacht: er wollte, dass die anderen ihn mögen. Sein ganzes Leben lang war er der Außenseiter. Er wollte Freunde.»
Verständlich, dachte Julie. Sie wüsste ja selbst nicht, was sie ohne ihre Freundinnen anfangen sollte. Sie hatte sie angerufen, wenn es Ärger mit Geoff gab. Sie hatte ihre Sorgen um Luke mit ihnen geteilt, als er im Krankenhaus war. Und jedes Mal waren sie gleich mit einer Flasche Wein vorbeigekommen. Klar waren sie vor allem auf neuen Klatsch und Tratsch aus – aber sie waren trotzdem für sie da.
«Einen guten Freund hatte er sogar», erzählte sie weiter. «Er hieß Thomas. Sie hatten sich kennengelernt, als Luke auf die neue Schule kam. Thomas war so ein richtiger kleiner Gauner. Er hatte immer Ärger mit der Polizei, aber wenn man seine Geschichte kannte, verstand man auch, warum. Sein Vater saß eigentlich ständig im Knast, und seine Mutter hat sich auch nicht viel um den Jungen gekümmert.
Ich hätte mir Thomas ja nicht als Freund für Luke ausgesucht, aber er war im Grunde kein schlechter Kerl. Und es schien ihm bei uns zu gefallen. Irgendwann wohnte er praktisch hier. Aber er war keine große Belastung. Die zwei saßen eigentlich immer oben in Lukes Zimmer, schauten Videos oder machten Computerspiele, und in der Zeit klauten sie zumindest nicht oder nahmen Drogen, wie ihre anderen Kumpels. Und sie haben sich richtig gut verstanden. Manchmal hörte ich sie über irgendeinen blöden Witz lachen, und dann war ich einfach froh, dass Luke endlich einen Freund hat.
Dann ist Thomas ums Leben gekommen. Er ist ertrunken. Ein paar von den Jungs haben in North Shields am Kai rumgeblödelt, und Thomas ist ins Wasser gefallen. Er konnte nicht schwimmen. Luke war auch dabei, er ist sogar reingesprungen, um Thomas zu retten. Aber es war schon zu spät.»
Julie hielt inne. Draußen fuhr ein Traktor mit einem heuballenbeladenen Anhänger vorbei. «Luke wollte nicht darüber reden. Er hat sich einfach stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen. Ich dachte, er braucht vielleicht nur Zeit, um die Geschichte zu verarbeiten. Zeit zum Trauern, wissen Sie? Er ging nicht mehr zur Schule, aber er war ja schon fünfzehn, und einen richtigen Abschluss würde er sowieso nicht machen, deshalb habe ich ihn irgendwann einfach gelassen. Ich habe mit meiner Chefin im Altersheim gesprochen, und sie meinte, sobald er sechzehn ist, kann er vielleicht dort arbeiten, in der Küche aushelfen. Ein paarmal hat er mich zur Arbeit begleitet, und die alten Leutchen mochten ihn auf Anhieb. Ich hätte natürlich merken müssen, dass er Hilfe braucht. Es war einfach nicht normal, wie er sich verhielt. Aber unser Luke war noch nie normal. Wie hätte ich da etwas ahnen können?
Irgendwann hat er sich nicht mehr gewaschen, nichts mehr gegessen. Er war die ganze Nacht wach. Manchmal hörte ich seine Stimme, als würde er mit jemandem reden, der gar nicht da ist. Da habe ich dann doch den Arzt gerufen, und der hat ihn ins St. George’s überwiesen, Sie wissen schon, die psychiatrische Klinik. Es hieß, er hätte eine schwere Depression. Posttraumatische Belastungsstörungen. Ich fand es schrecklich, ihn dort zu besuchen, aber es war schon eine Erleichterung, ihn nicht mehr zu Hause zu haben. Ich hatte natürlich ein furchtbar schlechtes Gewissen, das zu denken, aber so war es einfach.»
«Wann ist er wieder nach Hause gekommen?», fragte die dicke Frau. Ihre erste Frage überhaupt.
«Vor drei Wochen. Es schien ihm besserzugehen. Sehr viel besser. Er war natürlich immer noch traurig wegen Thomas. Manchmal fing er einfach an zu heulen, wenn er an ihn dachte. Und er war weiter ambulant in Behandlung. Aber er wirkte nicht verrückt, flippte nicht mehr aus. Gestern, das war der erste Abend, an dem ich ausgegangen bin, seit Monaten. Ich habe das wirklich gebraucht, aber wenn ich nicht sicher gewesen wäre, dass alles in Ordnung ist mit ihm, wäre ich doch niemals weggegangen. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er sich etwas antut.»
Die Frau beugte sich vor und ergriff Julies Hand, umschloss sie mit ihrer großen Pranke.
«Es war nicht Ihre Schuld», sagte sie. «Luke hat sich nicht umgebracht.» Sie sah Julie ins Gesicht, um sicher zu sein, dass sie auch zuhörte, dass sie verstand, was sie ihr sagte. «Er war schon tot, bevor er in die Badewanne gelegt wurde. Er wurde ermordet.»
Sie saßen beim Frühstück am Küchentisch. Draußen schien bereits die Sonne, das gelbe Geschirr auf der Anrichte spiegelte die Strahlen und warf sie zur Decke hinauf. Peter bestrich seinen Toast mit Butter und redete dabei ununterbrochen; er beklagte sich darüber, dass sein Bericht an die Seltenheitskommission, das British Birds Rarity Committee, erneut abgewiesen worden war. Felicity gab sich interessiert, ohne sich groß auf das zu konzentrieren, was er sagte. Darin hatte sie Übung. Als junger Mann hatte Peter sich zu Höherem berufen gefühlt; er hatte als einer der besten Nachwuchswissenschaftler gegolten. Jetzt jedoch, kurz vor der Rente, musste er feststellen, dass die einschlägigen naturgeschichtlichen Institutionen seine Qualifikationen nicht anerkennen wollten. Felicity fand die Art, wie er mit seiner Enttäuschung umging, stillos und unsouverän: Er machte abfällige Bemerkungen über seine Kollegen am Institut und ihren Mangel an wissenschaftlicher Präzision, und andere Vogelkundler jagten in seinen Augen nur blindlings seltenen Vögeln hinterher, ohne zu erkennen, wie wichtig es war, das heimatliche Gebiet in seiner Gesamtheit zu erforschen. Felicity wusste, warum er so verbittert war, und wünschte ihm von ganzem Herzen, dass sein Talent doch noch Anerkennung fand. Wie wunderbar es doch wäre, wenn er praktisch vor der Haustür einen aufsehenerregend seltenen Vogel entdeckte oder innerhalb der Universität befördert würde. Trotzdem ärgerte sie sich über seine ständigen Klagen. Mitunter ertappte sie sich sogar bei der Überlegung, ob er tatsächlich der großartige Mann war, für den sie ihn hielt, als sie ihn geheiratet hatte. Doch dann sah sie ihn an, sah die Sorgen und die Traurigkeit in seinem Gesicht und kam sich illoyal vor. In solchen Momenten strich sie ihm dann mit einem Finger über die Wange oder gab ihm mitten im Satz einen Kuss und entlockte ihm damit ein überraschtes Strahlen, das ihn gleich zwanzig Jahre jünger aussehen ließ.
«Wann kommen die anderen?» Seine Frage riss sie aus ihren Gedanken. Er schien sich zu freuen. Die schlechte Laune war anscheinend schon fast wieder verflogen. Manchmal hatte Felicity das Gefühl, dass er sich auf seine Freunde viel mehr freute als auf sie. So aufgeregt war er ihretwegen schon lange nicht mehr gewesen.
Sie hatte gerade an Lily Marsh gedacht, die junge Referendarin, und sich gefragt, ob sie das Mietangebot wohl annehmen würde. Im Nachhinein erst war ihr aufgefallen, dass sie gar nicht über Geld geredet hatten. Vielleicht war Lily ja deswegen so überstürzt verschwunden. Vielleicht hatte sie angesichts des hübschen, wenn auch recht einfachen Gartenhäuschens geglaubt, sich die Miete ohnehin nicht leisten zu können. Schließlich studierte sie ja noch. Felicity überlegte, ob sie James einen Brief mit in die Schule geben sollte, eine freundliche und doch klare Mitteilung, wie hoch der Mietpreis sein würde. Sie war gerade dabei gewesen, diesen Brief im Kopf zu formulieren, als Peter seine Frage stellte.
Peters Geburtstagsessen: ein Ritual. Jedes Jahr wurden dieselben drei Freunde dazu eingeladen. «Ich habe ihnen gesagt, dass wir um acht essen und vorher noch zum Leuchtturm gehen können.» Der Spaziergang zum Leuchtturm war ebenfalls Teil des Rituals.
Felicity hörte den Postwagen draußen, und gleich darauf fielen ein paar Umschläge durch den Briefschlitz auf den Dielenboden. Sie überließ Peter seinem Toast und stand auf, um die Post zu holen. Alle Briefe waren für ihn. Auf dreien der Umschläge erkannte sie die Schrift ihrer Kinder. Sie legte ihm die Briefe auf den Küchentisch, und er schob sie ungeöffnet in seine Aktentasche. Das machte er immer so: Seine Post öffnete er grundsätzlich erst im Büro. Früher hatte Felicity sich manchmal gefragt, ob er wohl etwas zu verheimlichen habe, hatte sich eine zweite Ehefrau ausgemalt, eine heimliche zweite Familie. Doch es war einfach nur Gewohnheit. Er dachte gar nicht weiter darüber nach.
Jetzt schloss er die Aktentasche und stand auf. Peter hatte James versprochen, ihn bis zur Bushaltestelle vorn an der Straße mitzunehmen, und rief die Treppe hoch, er solle sich beeilen. Es gab etliche Taschen zu verstauen, und in der ganzen Aufregung wurde fast noch das Pausenbrot vergessen. Und Felicity hatte nun doch keinen Brief mehr an Lily Marsh geschrieben. Fast hätte sie James, der bereits zum Auto trottete, hinterhergerufen: Sag Miss Marsh, sie sollmich wegen des Gartenhauses anrufen. Doch dann hätte Peter bestimmt wissen wollen, worum es dabei ging, und sie konnte ihn nicht noch länger aufhalten. Außerdem wäre er mit Sicherheit gleich dagegen. Sie musste ihm von dem Plan in einem weniger angespannten Moment erzählen, und so verbannte sie Lily Marsh einstweilen aus ihren Gedanken. Schließlich fuhr der Wagen los, und es war wunderbar still im Haus.
Felicity machte sich noch einen Kaffee und schrieb ihre Einkaufsliste für den Bauernladen. Sie hatte die Mahlzeiten für das Wochenende bereits ganz genau geplant. Selbstverständlich gab es einen Kuchen, der bereits gebacken und glasiert war. Ein Jammer, dass die drei älteren Kinder alle zu weit weg wohnten und nichts davon haben würden. Für den heutigen Abend hatte sie eigentlich ein provençalisches Rindsragout vorbereitet, dunkel und üppig, mit Oliven und Rotwein geschmort. Es stand bereits in der Speisekammer und brauchte nur noch einmal erwärmt zu werden. Doch jetzt hatte sie eine andere Idee. Der Tag war viel zu warm für Rindfleisch. Falls Neil, der Metzger, zwei frische Hühner hatte, würde sie dieses spanische Gericht zubereiten, mit Zitronenscheiben, Rosmarin und Knoblauch. Das war sehr viel leichter und dazu noch wunderbar aromatisch und mediterran. Samuel würde begeistert sein. Sie würde den langen Tisch auf der überdachten Terrasse decken, Reis und einen großen grünen Salat dazu servieren, und dann wäre es fast so, als säßen sie draußen zwischen Orangenbäumen und Olivenhainen.
Manchmal, wenn sie sich mit den anderen Müttern unterhielt, die ständig bei ihr vor der Tür standen, um ihre Söhne abzuliefern oder Felicitys Sohn irgendwohin mitzunehmen, fragte sie sich, ob sie nicht doch etwas verpasste, weil sie nicht arbeitete. Die anderen Frauen waren immer ganz verblüfft, wenn sie hörten, dass Felicity den ganzen Tag zu Hause war. Aber was hätte sie denn tun sollen? Vor der Heirat hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, berufliche oder anderweitige Erfahrungen zu sammeln. Sie besaß keine Qualifikationen, keine besonderen Begabungen. Und außerdem war es für Peter lebenswichtig, dass sie ihn entspannt und ausgeruht erwartete und sich um ihn kümmerte, wenn er nach den täglichen beruflichen Enttäuschungen nach Hause kam. Er konnte es unmöglich ertragen, dass sie ihm auch noch Konkurrenz machte. Völlig unvorstellbar, wenn sie eine erfolgreiche Anwältin oder Geschäftsfrau geworden wäre und sich womöglich selbst noch ein paar berufliche Meriten verdient hätte! Bei dem Gedanken musste sie lächeln.
Im Bauernladen war es kühl, die Tür zum Hof stand offen, es roch nach Kühen und nach Gras. Felicity war die erste Kundin des Tages. Neil war noch damit beschäftigt, sein Kühlregal einzuräumen. Das schwere Holzbrett, das Hackbeil und die langen, scharfen Messer waren noch sauber und unbenutzt. Er wog die Hühner aus und verstaute sie in Felicitys Einkaufstasche.
«Es sind keine Freilandhühner.» Er wusste, dass Felicity sich für solche Dinge interessierte. «Aber immerhin aus Bodenhaltung, nicht aus der Legebatterie. Man schmeckt den Unterschied gleich.»
«Das Schweinefleisch, das Sie mir letzte Woche verkauft haben, war übrigens auch ganz vorzüglich.»
«Ach», sagte Neil. «Alles eine Frage der Zubereitung, Mrs Calvert, und der Aufzucht. Ich schneide es doch nur zu.»
Auch das war ein Ritual. So wie Peter jeden Tag seine Post mit ins Büro nahm und sich jedes Jahr dieselben drei Freunde zum Geburtstag einlud, führte Felicity allwöchentlich genau dieses Gespräch mit Neil. Er trug ihr die Einkaufskiste zum Wagen und legte dann augenzwinkernd noch ein paar Würstchen dazu.
«Wie ich höre, feiert Doktor Calvert dieses Jahr einen ganz besonderen Geburtstag.»
Und wie so oft fragte sich Felicity, weshalb ihr Metzger eigentlich so gut über ihr Leben Bescheid wusste.
Als sie gerade die Tür aufschloss, klingelte drinnen das Telefon, und sie ließ die Einkäufe in der Einfahrt stehen und eilte gleich ins Haus. Es war Samuel Parr.
«Ich wollte nur fragen, ob ich heute Abend irgendetwas mitbringen kann. Einen Nachtisch vielleicht?»
«Nein», sagte Felicity. «Nicht nötig. Wirklich nicht.»
Sie ertappte sich bei einem Lächeln. Samuel machte ihr immer gute Laune. Und auch an ihn dachte sie in letzter Zeit ziemlich oft.
Später, als die Hühner bereits im Ofen schmorten und das ganze Haus nach Zitrone, Olivenöl und Knoblauch duftete, klingelte das Telefon erneut. Felicity saß mit der Zeitung und einer weiteren Kanne Kaffee draußen und genoss die letzte ruhige Stunde, ehe sie nach Hepworth fahren musste. James hatte nach der Schule noch seinen Schachclub, und sie hatte versprochen, ihn abzuholen. Über den Feldern zum Meer hin flimmerte die Hitze, und der Leuchtturm wirkte fast durchscheinend in der Ferne. Als sie das Telefon hörte, eilte Felicity ins Haus. Sie war barfuß. Die Steinplatten auf der Terrasse waren so glühend heiß, dass es fast brannte unter den Sohlen, die Fliesen in der Küche waren kühl, dass es prickelte. Vor Erregung schnappte sie kurz nach Luft.
Sicher war es eins der Kinder, doch als sie sich meldete, wurde am anderen Ende der Leitung aufgelegt. Felicity wählte 1471, um sich die Rufnummer durchgeben zu lassen, doch der Anrufer hatte seine Nummer unterdrückt. Das war in letzter Zeit häufig vorgekommen. Sie fragte sich, ob sie Peter davon erzählen sollte. In der Nachbarschaft war bereits zwei Mal eingebrochen worden. Vielleicht waren das ja Kontrollanrufe, um zu sehen, ob jemand im Haus war. Doch im Grunde wusste Felicity bereits, dass sie Peter doch nichts davon sagen würde. Sie hatte es sich schließlich zur Lebensaufgabe gemacht, Sorgen und Unannehmlichkeiten von ihm fernzuhalten.
Sie trank ihren Kaffee aus und schaute zum Meer hinüber. Sie würde ein Bad nehmen, beschloss sie, mit dem teuren Badeöl, das sie beim letzten Ausflug in die Stadt bei Fenwick’s gekauft hatte. So konnte sie noch ein wenig entspannen, bevor der Abend losging.
«Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?» Die dicke Polizistin stand auf, und Julie dachte sich, dass sie ziemlich starke Beinmuskeln haben musste, um dieses ganze Gewicht auf einmal aus dem Sessel zu wuchten. Wenn man sie so anschaute, hatte man das Gefühl, man könnte sie nur mit einem Kran bewegen, einem dieser riesigen Kräne, die unten bei Wallsend über dem Fluss aufragten. Und stark, dachte Julie, das betraf nicht nur ihren Körper. Diese Polizistin war eine starke Frau. Wenn sie einmal einen Entschluss gefasst hatte, konnte sie nichts mehr davon abbringen. Julie fand diesen Gedanken merkwürdig tröstlich.
«Ich denke, Sie brauchen etwas frische Luft», sagte die Polizistin.
Julie blickte sie wohl mindestens so verständnislos an, wie Luke manchmal geschaut hatte, wenn er so gar nicht begriff, wovon man eigentlich redete.
«Sie werden bald kommen und Luke abholen», sagte die Polizistin sanft. Vera hieß sie. Das hatte sie Julie ganz am Anfang des Gesprächs gesagt, aber es war ihr gerade erst wieder eingefallen. «Und die Nachbarn werden alle aus den Fenstern hängen. Ich dachte, da müssen Sie vielleicht nicht unbedingt dabei sein. Aber wenn Sie wollen, können Sie ihn auch verabschieden. Ihre Entscheidung.»
Julie sah den im Badewasser versunkenen Körper ihres Sohnes wieder vor sich und verspürte Übelkeit. Sie wollte nicht daran denken.
«Wo sollen wir denn hingehen?»
«Wohin Sie wollen. Ist doch ein schöner Tag für einen Strandspaziergang. Sie können Laura mitnehmen.»
«Luke war immer gern am Strand», sagte Julie. «Einmal ging er einen ganzen Sommer lang jeden Tag zum Angeln. Mein Vater hatte ihm eine alte Angel geschenkt. Er hat natürlich nie etwas gefangen, aber zumindest hat er in der Zeit keinen Blödsinn gemacht.»
«Na also.»
Sie hatten Laura dazu gebracht, sich in Sals Gästezimmer hinzulegen. Die Polizistin begleitete Julie nach oben, um das Mädchen zu fragen, ob es mit auf den Spaziergang kommen wolle. Julie hatte den Eindruck, dass diese Vera ziemlich neugierig war. Solche Leute, die ihre Nase ständig in die Angelegenheiten anderer steckten, waren ihr schon öfter begegnet. Als gute Polizistin musste man wahrscheinlich so sein. Und jetzt schien Vera sich in den Kopf gesetzt zu haben, mehr über Laura zu erfahren. Wenn sie zusammen spazieren gingen, würde sie Laura dazu bringen wollen, ihr etwas von sich zu erzählen. Bestimmt glaubte sie, Julie habe das Mädchen vernachlässigt und sich nur um Luke gekümmert.
Laura schlief immer noch. «Ich will sie nicht wecken», sagte Julie rasch. «Am besten lassen wir sie einfach hier bei Sal.»
«Ganz wie Sie wollen, Herzchen.» Veras Tonfall war gelassen und entspannt, doch Julie spürte, dass sie enttäuscht war.
Als sie aus Sals Haus kamen und zu Veras Wagen gingen, war ringsum kein Mensch zu sehen, doch Julie war überzeugt, dass alle sie beobachteten. Sie hätte es ja selbst ganz genauso gemacht, hätte sich ins Schlafzimmer geschlichen, das nach vorne rausging, und sich hinter der Gardine die Nase an der Scheibe platt gedrückt, wenn sich irgendein anderes Drama in der Straße abgespielt hätte. Irgendein Drama, an dem sie nicht direkt beteiligt war.
Vera hielt vor den Dünen von Deepden. Auf der einen Seite der Fahrbahn lag ein kleines Naturschutzgebiet: ein hölzerner Unterstand über einem kleinen Teich, zwei aus Planken bestehende Gehwege. Ein Stück weiter weg befand sich der Bungalow, wo die Vogelkundler ihren Beobachtungsposten aufschlugen; der Garten war so zugewuchert, dass man das Haus kaum erkennen konnte. Auf der dem Meer zugewandten Seite lag ein mit kleinen gelben Blumen gesprenkeltes Wiesenstück, dahinter erstreckten sich die Dünen. Manchmal, wenn Geoff Lust hatte, glückliche Familie zu spielen, waren sie mit den Kindern hierhergefahren, das hatten sie immer toll gefunden. Plötzlich stand Julie ein Bild des etwa achtjährigen Luke vor Augen, hoch in der Luft, wie er von einem Sandhügel sprang. Vielleicht gab es ja ein Foto davon. Sie sah ihn genau vor sich: die abgeschnittene, ausgefranste Jeans, das rote T-Shirt, den halb freudig, halb ängstlich aufgerissenen Mund.
Trotz des schönen Wetters standen kaum Autos hier. Es war Donnerstagvormittag, die Kinder waren noch in der Schule, und so konnten nur ein paar rüstige Rentner mit ihren Hunden die Sonne genießen. Plötzlich fiel Julie etwas ein.
«Ich muss doch zur Arbeit. Ins Altenheim. Mary wartet sicher schon auf mich.»
«Sal hat sie gleich heute früh angerufen. Mary hat schon eine Vertretung für Sie gefunden. Sie schickt Ihnen ganz herzliche Grüße und ihr Beileid.»
Julie blieb abrupt stehen und verursachte damit einen kleinen Erdrutsch. Feiner, trockener Sand rieselte ihr zwischen den Füßen hindurch. Mary Lee, die Leiterin des Altenheims, war eine pragmatische, unsentimentale Frau. Herzliche Grüße, das passte gar nicht zu ihr.
«Haben Sie meinen Eltern auch Bescheid gesagt?»
«Ja. Noch gestern Nacht, gleich nachdem ich hier eingetroffen bin. Sie wollten vorbeikommen. Aber Sie meinten, Sie wollten lieber ein bisschen allein sein.»
«Ehrlich?» Julie versuchte sich zu erinnern, aber die vergangene Nacht war hinter einem Nebel aus Gefühlen verschwunden. So ähnlich hatte sie sich damals gefühlt, als sie Bevs Junggesellinnenabschied gefeiert hatten und sie mit einer Alkoholvergiftung in der Notaufnahme gelandet war. Dasselbe unwirkliche Albtraumgefühl, zerhackte Bilder, aufblitzende Schatten.
Sie gingen weiter, erreichten den höchsten Punkt der Dünen und schlitterten hangabwärts Richtung Strand. Julie hatte ihre Turnschuhe ausgezogen und sie sich an den Schnürsenkeln zusammengebunden über die Schulter gehängt. Vera trug Sandalen, die sie anbehielt. Noch im Wagen hatte sie einen riesigen weißen Sonnenhut und eine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt. «Die Sonne bekommt mir nicht so gut», hatte sie erklärt. Eigentlich sah sie ein bisschen so aus, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Wäre Julie ihr bei einem ihrer Besuche bei Luke im St. George’s begegnet, hätte sie sie für eine Patientin gehalten. Keine Frage.
Sie befanden sich am südlichen Ende eines langen Strandstücks, das sich über gut sechs Kilometer erstreckte. Richtung Norden lief der Sand in einer schmalen Landzunge aus, wo der Leuchtturm stand, der im Hitzedunst kaum zu erkennen war.
«Das Leben mit Luke war sicher nicht leicht», sagte Vera.
Julie blieb wieder stehen. Sie spürte den salzigen Wind, den es nur direkt am Meer gab. In der Ferne erkannte sie drei winzige Gestalten: zwei alte Leutchen und ein Hund, die mit einem Ball spielten. Sie hoben sich vor dem blendend hellen Licht nur als Umrisse ab.
«Sie glauben, ich habe ihn getötet», sagte sie.
«Haben Sie das denn?» Der Gesichtsausdruck der Polizistin war hinter Hut und Sonnenbrille verborgen.
«Nein.» Plötzlich versiegten die Worte, all die Worte, die aus Julie herausgesprudelt waren, seit sie ihren toten Sohn gefunden hatte. Sie konnte der Frau nicht erklären, dass sie niemals dazu fähig wäre, Luke auch nur irgendwie zu verletzen, nachdem sie die letzten sechzehn Jahre damit zugebracht hatte, ihn vor aller Welt zu beschützen. Sie öffnete den Mund und hatte das Gefühl, am trockenen Sand zu ersticken. «Nein», sagte sie noch einmal.
«Natürlich nicht», sagte Vera. «Wenn ich auch nur den kleinsten Verdacht hätte, dass Sie es waren, säßen wir jetzt zusammen auf dem Revier, das Aufnahmegerät liefe, und Sie hätten einen Anwalt bei sich. Sonst würde ja nichts von dem, was Sie mir sagen, vor Gericht als Beweis zugelassen. Aber fragen musste ich natürlich. Sie könnten ihn nämlich durchaus umgebracht haben. Als Sie nach Hause gekommen sind, war er noch gar nicht lange tot. Und physisch wären Sie sicher dazu in der Lage gewesen. Außerdem ist der Täter in den meisten Fällen ein Familienmitglied.» Sie schwieg kurz und wiederholte dann noch einmal: «Fragen musste ich.»
«Dann glauben Sie mir also?»
«Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt. Sie könnten ihn durchaus getötet haben, weil er Sie beispielsweise bis zum Äußersten gereizt hat und Sie nicht mehr mit ihm klargekommen sind. Aber das hätten Sie uns erzählt. Außerdem waren Sie der festen Überzeugung, er hätte sich das Leben genommen. Als ich kam, dachten Sie, er hätte Selbstmord begangen, und machten sich Vorwürfe deswegen.»
Sie gingen jetzt über festen Sand, den die Flut zurückgelassen hatte. Julie krempelte die Beine ihrer Jeans hoch und ließ das Wasser über ihre Füße schwappen. Die Polizistin musste ein Stück zurückbleiben, um ihre Sandalen nicht nass zu machen, und Julie schaute aufs Meer hinaus, damit Vera ihre Tränen nicht sah.
«Aber irgendwer hat ihn umgebracht», sagte Vera. Julie konnte sie kaum verstehen. Obwohl das Meer ganz ruhig war und kaum Wellen warf, hörte man doch immer noch ein leises Schmatzen, wenn das Wasser wieder zurückwich. «Irgendwer hat ihn erwürgt und ihn anschließend nackt ausgezogen. Irgendwer hat die Badewanne gefüllt, ihn hineingelegt und die Blumen auf dem Wasser verstreut.»
Julie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, deshalb schwieg sie.
«Hatten Sie die Blumen im Haus?», fragte Vera.
Julie drehte sich wieder zu ihr um. «Ich habe nie Blumen im Haus. Laura hat Heuschnupfen. Ihr tränen die Augen davon.»
«Was ist mit dem Garten?»
«Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst. In unserem Garten wächst absolut nichts. Mein Vater kommt hin und wieder vorbei und mäht den Rasen, aber wir haben uns nie die Mühe gemacht, irgendwas zu pflanzen. Da ist ja gerade mal genug Platz für die Wäschespinne.»
«Dann hat der Mörder die Blumen also selbst mitgebracht. Wir gehen jetzt der Einfachheit halber mal von einem männlichen Mörder aus. Mörder sind meistens Männer. Was natürlich nicht heißt, dass wir irgendetwas ausschließen. Aber wieso hatte er Blumen dabei? Fällt Ihnen dazu etwas ein?»
Julie schüttelte den Kopf, doch plötzlich erinnerte sie sich doch.
«Sie haben Blumen dort verstreut, wo Thomas ertrunken ist. Sie haben die Blüten in den Fluss geworfen. Alle Nachbarn aus der Straße, wo seine Mutter wohnte, selbst die, die ihn gar nicht kannten oder ihn nicht mochten. Sie wollten damit ihr Mitgefühl ausdrücken. Dass sie wissen, was für ein schlimmer Verlust das ist, wenn jemand sterben muss, weil ein paar Jungs herumblödeln. Luke war auch dort. Ich hatte ihm bei Morrison’s ein paar Narzissen gekauft.»
«Blumen als Zeichen von Trauer und Anteilnahme», sagte Vera. «Ein universelles Symbol.»
Julie wusste nicht recht, was sie damit meinte.
«Wollen Sie damit sagen, dass es Lukes Mörder leidgetan hat?»
«Vielleicht.»
«Aber wenn es ihm leidtut … irgendwie ja schon im Voraus leidgetan haben muss, falls die Blumen das wirklich bedeuten … warum hat er ihn dann überhaupt umgebracht? Es hat ihn ja wohl keiner gezwungen, bei mir einzubrechen und ihn zu töten.»
«Es war kein Einbruch», sagte Vera.
«Wie bitte?»
«Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich jemand gewaltsam Zutritt verschafft hat. Kein eingeschlagenes Fenster oder so was. Es sieht alles danach aus, als hätte Luke ihn selbst hereingelassen. Oder Laura.»