Das gelobte Land - E.M. Remarque - E-Book

Das gelobte Land E-Book

E.M. Remarque

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Beschreibung

Zum ersten Mal als Taschenbuch: der letzte Roman Erich Maria Remarques – ein Vermächtnis! Er blieb Fragment und fasziniert dennoch nachhaltig: Der Roman »Das gelobte Land«, an dem Remarque bis zu seinem Tod im September 1970 arbeitete, bietet ein schillerndes Bild des New York der Vierzigerjahre, der Weltmetropole, Kunststadt und Emigrantenhochburg. Ludwig Sommer hat es geschafft: Er ist als deutscher Flüchtling dem Naziregime entkommen und mit jüdischem Pass auf Umwegen nach New York gelangt. Er findet Anschluss an die Emigrantenszene und Anstellung bei einem Kunsthändler. Binnen Kurzem steht ihm das gesellschaftliche Leben der Stadt offen, er bewegt sich zwischen rauschenden Festen, teuren Restaurants und exklusiven Appartements – und doch kann er die Unbeschwertheit nicht zurückgewinnen. Erinnerungen an die Flucht suchen ihn heim, an die Monate in einem Versteck unter einem belgischen Museum und die Gefangenschaft in einem deutschen Konzentrationslager, wo er Zeuge der Ermordung seines Vaters wurde. Während er aufgrund seines Kunstverstands und seines kaufmännischen Geschicks immer erfolgreicher wird, quält ihn die Frage, ob ein Leben im Angesicht des Holocaust moralisch überhaupt vertretbar ist. Die Nachricht von der Befreiung Paris' weckt Hoffnung auf eine Rückkehr und die Aussicht auf Rache, doch als kurz darauf Jessie Stein, eine selbstlose Unterstützerin der Emigranten, schwer erkrankt, entschließt sich Sommer zu bleiben. Und dann eröffnet sich die Möglichkeit, seiner Geliebten Maria Fiola nach Hollywood zu folgen. Das Ende bleibt offen, mehrere Skizzen Remarques sind überliefert, aber das Nachwort von Tilmann Westphalen liefert Aufschluss über die Entstehungsgeschichte und das mögliche Ende.

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Seitenzahl: 614

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Erich Maria Remarque

Das gelobte Land

Roman

Kurzübersicht

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> Inhaltsverzeichnis

> Über Erich Maria Remarque

> Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelAusgewählte Notizen zu Das gelobte LandIllusion der Emigranten: Vergessen und neu anfangen
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I

Ich sah die Stadt drei Wochen lang vor mir, als läge sie auf einem fremden Planeten. Sie war nur wenige Kilometer entfernt, getrennt durch einen schmalen Meeresarm, den ich fast hätte durchschwimmen können; aber dennoch war sie für mich so unerreichbar, als wäre sie von einer Armee von Panzern umringt. Sie war geschützt durch die stärksten Bastionen, die das zwanzigste Jahrhundert kennt: Mauern aus Papier, Passvorschriften und den unmenschlichen Gesetzen einer gleichgültigen Bürokratie. Ich war auf der Insel Ellis Island, es war Sommer 1944, und vor mir lag die Stadt New York.

 

Ellis Island war das mildeste Internierungslager, das ich je gekannt hatte. Man wurde weder geschlagen und gefoltert, noch vergast oder zu Tode gearbeitet. Es gab sogar gute Nahrung, die nichts kostete, und Betten, in denen man schlafen durfte. Zwar waren überall Wachen da, aber sie waren fast freundlich. In Ellis Island wurden die Einwanderer nach Amerika zurückgehalten, deren Papiere verdächtig oder nicht in Ordnung waren. Es genügte nämlich in Amerika nicht, das gültige Einreisevisum eines amerikanischen Konsulates in Europa zu besitzen, – vor der Einreise musste es außerdem noch einmal von der Emigrantenbehörde in New York geprüft und bestätigt werden. Erst dann wurde man zugelassen, oder, wenn man als unerwünscht erklärt worden war, mit dem nächsten Schiff zurückgeschickt. Das Zurückschicken war allerdings jetzt längst nicht mehr so einfach wie früher. In Europa war Krieg, und Amerika war im Krieg, die deutschen Unterseeboote jagten im Atlantik, und es gingen nur noch selten Passagierschiffe nach europäischen Häfen. Für die Emigranten, die zurückgewiesen wurden, hätte es ein kleines Glück sein können, – sie, die ihr Leben seit Jahren nur nach Tagen und Wochen zählten, hätten so hoffen dürfen, etwas länger in Ellis Island bleiben zu können, – aber es gab bereits zu viele Gerüchte anderer Art, um das als Trost zu empfinden, – Gerüchte von Phantomschiffen, voll mit verzweifelten Juden, die seit Monaten auf dem Ozean kreuzten und denen überall, wo sie anlegen wollten, die Einreise verweigert wurde. Manche der Einwanderer hatten vor Kuba und den südamerikanischen Häfen selbst die Reihen der schreienden und verzweifelten Gesichter gesehen, die um Erbarmen flehten und sich an den Relings der verwahrlosten Schiffe vor den verschlossenen Häfen drängten, – trostlose moderne »Fliegende Holländer«, auf der Flucht vor Unterseebooten und menschlicher Hartherzigkeit, Frachten von lebenden Toten und verdammten Seelen, deren einziges Verbrechen es war, Menschen zu sein und leben zu wollen.

 

Es gab die übliche Zahl von Nervenzusammenbrüchen. Sie waren sonderbarerweise sogar häufiger in Ellis Island als in den französischen Internierungslagern, wenn die deutschen Truppen und die Gestapo nur noch wenige Kilometer entfernt gewesen waren. Das hing wahrscheinlich mit der Anpassung durch die akute Todesgefahr in Frankreich zusammen. Sie war so groß, dass sie Zusammenbrüche verhinderte, während hier die Erschöpfung durch die so nahe Rettung, die plötzlich wieder in Frage gestellt wurde, sie eher verstärkte. Es gab allerdings hier keine Selbstmorde wie in Frankreich; dazu war die Hoffnung, obschon sie mit Verzweiflung durchsetzt war, doch noch zu groß. Zu einem Nervenzusammenbruch dagegen konnte selbst schon die Vernehmung durch einen harmlosen Inspektor führen, – das Misstrauen und die Wachsamkeit der Fluchtjahre zerbrachen dann plötzlich für einen Augenblick, und das sofort einsetzende Gegen-Misstrauen wurde zur Panik, einen Fehler gemacht zu haben. Wie immer gab es mehr Zusammenbrüche bei Männern als bei Frauen.

 

Die Stadt, die so nahe vor einem lag und so unerreichbar war, wurde zu einer Tortur, – sie quälte, lockte, höhnte, versprach und hielt nichts. Manchmal war sie nur ein nebelhaftes Monstrum, von Wolkenfetzen umflogen und vom Lärm der Schiffe umschrien wie von einer Horde stählerner Ichthyosaurier, – dann, spätnachts, verwandelte sie sich in eine abweisende weiße Mondlandschaft, mit hunderten von Türmen, ein lautloses, gespenstisches Babel, – abends jedoch, im Sturm der künstlichen Lichter, wurde sie zu einem glitzernden Teppich, der zwischen den Horizonten hing, fremdartig und bestürzend nach den dunklen Kriegsnächten Europas, – dann standen in den Schlafsälen Flüchtlinge oft auf, geweckt durch das Schluchzen, Röcheln und die Schreie der Schlafenden, die noch im Traum von Gestapo, Gendarmen und SS-Mördern gejagt wurden, und sammelten sich in kleinen, dunklen Gruppen an den Fenstern, murmelnd oder schweigend, und starrten mit brennenden Augen hinüber zu dem zuckenden Lichtpanorama des Gelobten Landes Amerika, in einer Brüderlichkeit und Gemeinsamkeit des Empfindens, wie sie nur das Elend kennt, – das Glück nie.

 

Ich besaß einen deutschen Pass, der noch für vier Monate gültig war. Er lautete auf den Namen Ludwig Sommer und war fast echt. Ich hatte ihn von einem Freunde geerbt, der vor zwei Jahren in Bordeaux gestorben war; da die Größe, die Haar- und die Augenfarbe stimmten, hatte der ehemalige Mathematikprofessor und Passfälscher Bauer in Marseille mir geraten, den Pass nicht auf meinen Namen umzuändern. Es gab zwar ausgezeichnete Lithografen unter den Emigranten, die schon manchem Flüchtling ohne Papiere wieder zu einem brauchbaren Ausweis verholfen hatten; trotzdem aber folgte ich Bauers Rat und verzichtete auf meinen eigenen Namen, von dem ohnehin so gut wie nichts mehr zu verwenden war. Im Gegenteil, er stand bereits auf den Listen der Gestapo, und es war höchste Zeit, dass er verschwand. So war mein Pass beinahe echt, nur ich und das Foto waren falsch. Der Fachmann Bauer erklärte mir die Vorzüge: ein stark veränderter Pass konnte, so gut er auch gemacht war, nur flüchtigen Kontrollen widerstehen, – in jedem besseren Polizeilaboratorium musste er sein Geheimnis preisgeben, und Gefängnis, Ausweisung oder Schlimmeres waren mir dann sicher. Ein echter Pass dagegen, mit falschem Inhaber, war schon viel zeitraubender zu prüfen; man musste bei der Behörde, die ihn ausgestellt hatte, zurückfragen, – das war aber seit dem Krieg unmöglich. Alle Verbindungen mit Deutschland waren abgebrochen. Seitdem rieten die Experten allgemein, lieber die Identität zu wechseln; Stempel waren leichter zu kopieren als Namen. Der einzige Unterschied in meinem Pass war die Religion. Sommer war Jude gewesen; ich war es nicht. Bauer fand das unwesentlich.

»Wenn die Deutschen Sie erwischen, werfen Sie den Pass weg«, erklärte er. »Da Sie nicht beschnitten sind, kommen Sie vielleicht mit einer Ausrede durch und werden nicht vergast, – andererseits kann es Ihnen auf der Flucht wiederum nützlich sein, als Jude zu gelten. Ihre Unkenntnis der Gebräuche können Sie damit begründen, dass Sie und Ihr Vater bereits Freidenker waren.«

Bauer wurde drei Monate später gefangen. Robert Hirsch, mit den Papieren eines spanischen Konsuls, versuchte, ihn aus dem Gefängnis herauszuholen. Er kam zu spät. Bauer war am Abend vorher nach Deutschland abtransportiert worden.

 

Ich traf in Ellis Island zwei Emigranten, die ich von früher flüchtig kannte. Wir waren uns ab und zu auf den Etappen der Via Dolorosa begegnet. Die Via Dolorosa war die Route der Flüchtlinge vor dem Hitlerregime. Sie lief von Holland, Belgien und Nordfrankreich nach Paris; dort teilte sie sich. Eine Richtung ging über Lyon an die Küste des Mittelmeers; die andere über Bordeaux, Marseille, die Pyrenäen nach Spanien, Portugal und zum Hafen von Lissabon. Sie hatte ihren Namen von den Emigranten erhalten, die von Deutschland her über sie flüchteten. Sie flohen nicht nur vor der Gestapo Hitlers, – sie mussten sich auch vor den Gendarmen der Länder verstecken, in die sie flohen. Die meisten hatten keine gültigen Ausweise und auch keine Visa. Wenn die Gendarmen sie erwischten, wurden sie eingesperrt, zu Gefängnis verurteilt und ausgewiesen. Viele Länder waren allerdings menschlich genug, sie wenigstens nicht über die deutsche Grenze abzuschieben; dort wären sie in den Konzentrationslagern umgekommen. Da nur wenige Flüchtlinge gültige Pässe hatten mitnehmen können, waren viele fast pausenlos auf der Flucht. Sie konnten ohne Papiere auch nirgendwo legal arbeiten. Die meisten waren hungrig, elend und einsam; deshalb nannten sie die Straße ihrer Wanderungen die Via Dolorosa. Ihre Stationen waren die Postämter in den Städten und die weißen Mauern an den Straßen. Auf den Postämtern versuchten sie postlagernde Nachrichten von Angehörigen und Freunden zu finden; die Mauern und Häuser an den Chausseen wurden ihre Zeitungen. In Kreide und Kohle fand man dort die Aufzeichnungen der Verlorenen, die sich gegenseitig suchten, Warnungen, Hinweise, Schreie ins Leere, in einer Periode der Gleichgültigkeit, der bald die Epoche der Unmenschlichkeit folgen sollte: der Krieg, in dem die Gestapo und die Gendarmen oft gemeinsame Sache machten.

 

Ich hatte einen der beiden Emigranten in Ellis Island damals an der Schweizer Grenze getroffen, wo uns Zollbeamte in einer Nacht viermal nach Frankreich hinüberschoben. Dort wurden wir von den französischen Grenzbeamten wieder zurückgehetzt. Es war sehr kalt, und schließlich gelang es Rabinowitz und mir, die Schweizer zu überreden, uns ins Gefängnis zu stecken. Schweizer Gefängnisse waren geheizt; sie galten als Paradiese, und wir hätten gern den ganzen Winter dort verbracht, aber die Schweizer waren praktisch. Sie schoben uns bald darauf über das Tessin nach Italien ab, wo wir uns trennten. Die beiden Emigranten hatten Verwandte in Amerika, die für ihren Unterhalt garantierten. Sie wurden deshalb nach wenigen Tagen aus Ellis Island entlassen. Beim Abschied versprach Rabinowitz mir, nach Bekannten der Via Dolorosa in New York zu forschen. Ich erwartete davon nichts. Es war das übliche Versprechen, das beim ersten Schritt in die Freiheit vergessen wurde.

 

Ich fühlte mich nicht unglücklich. Ich hatte einige Jahre vorher in einem Museum in Brüssel gelernt, stundenlang stillsitzen zu können, ohne in Panik zu geraten. Ich konnte mich damals in einen Zustand künstlicher Gedankenlosigkeit versetzen, der fast etwas mit Autosuggestion zu tun hatte. Dadurch geriet ich in ein mattes Außermirsein, das langes, gespanntes Warten erträglicher machte, weil es mich, in einer sonderbar schizophrenen Illusion, zum Schluss tatsächlich nicht mehr selbst zu betreffen schien. Ich wurde so nicht erdrückt von der Einsamkeit einer sehr kleinen Kammer ohne Licht, in der ich einige Monate lang versteckt war. Der Direktor des Museums hatte mich dort untergebracht, als Brüssel nach Emigranten von der Gestapo durchkämmt wurde. Ich sah ihn nur abends und morgens einen Augenblick; dann brachte er mir etwas zu essen, und abends, wenn das Museum geschlossen wurde, ließ er mich hinaus. Tagsüber war der Raum verriegelt; nur der Direktor hatte den Schlüssel. Ich musste natürlich Husten, Niesen und jede laute Bewegung unterdrücken, wenn jemand im Korridor vorüberkam. Das war einfach, aber der nervöse Reiz der Angst hätte anfangs leicht zu ratloser Panik werden können, wenn einmal wirklich Gefahr gedroht hätte. Ich ging deshalb weiter, als notwendig war, um so gewissermaßen eine geistige Schock-Reserve zu haben, und begann für einige Zeit, meine Uhr zu ignorieren, sodass ich manchmal nicht mehr immer wusste, ob es Tag oder Nacht war, besonders an Sonntagen, wenn der Direktor nicht ins Museum kam; – doch das musste ich bald aufgeben. Ich geriet dadurch zu sehr aus dem Rest meines Gleichgewichtes und zu nahe in die Sümpfe der Selbstaufgabe. Ich war ohnehin nie weit davon entfernt. Was mich rettete, war die Hoffnung auf Rache, – nicht der Glaube an das Leben.

 

Eine Woche später sprach mich ein hagerer, kadaverhafter Mann an. Er trug eine Aktentasche aus grünem Krokodilleder und sah aus wie einer der Rechtsanwälte, die wie Krähen den großen Tagessaal durchflatterten.

»Sind Sie Ludwig Sommer?«

Ich sah den Mann misstrauisch an. Er hatte Deutsch gesprochen. »Warum?«, fragte ich.

»Wissen Sie nicht, ob Sie Ludwig Sommer sind oder nicht?« Der Mann stieß ein krächzendes Gelächter aus. Er hatte ungewöhnlich weiße, große Zähne in einem zerknitterten, grauen Gesicht.

Ich hatte inzwischen überlegt, dass an meinem Namen nichts zu verheimlichen war. »Das weiß ich schon«, erwiderte ich, »aber warum wollen Sie es wissen?«

Der Mann blinkte ein paar Mal wie eine Eule. »Ich komme im Auftrag von Robert Hirsch«, erklärte er schließlich.

Ich blickte überrascht auf. »Von Hirsch? Robert Hirsch?«

Der Mann nickte. »Von wem sonst?«

»Robert Hirsch ist tot«, sagte ich.

Der Mann sah mich verblüfft an. »Robert Hirsch ist in New York«, sagte er dann. »Ich habe vor zwei Stunden noch mit ihm gesprochen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Es muss jemand anders sein. Robert Hirsch ist in Marseille erschossen worden.«

»Unsinn! Hirsch hat mich hierher geschickt, um Ihnen zu helfen, herauszukommen.«

Ich glaubte ihm nicht. Ich vermutete eine Falle der Inspektoren. »Woher weiß er denn, dass ich hier bin?«, fragte ich.

»Jemand, der Rabinowitz heißt, hat ihn angerufen und ihm gesagt, dass Sie hier sind.« Der Mann zog eine Karte aus der Tasche. »Ich bin Levin von Levin und Watson. Rechtsanwälte. Genügt Ihnen das endlich? Sie sind verdammt misstrauisch. Warum? Haben Sie so viel zu verbergen?«

Ich atmete tief auf. Ich glaubte ihm jetzt. »In ganz Marseille hieß es, Robert Hirsch sei von der Gestapo erschossen worden«, sagte ich.

»Marseille!«, erwiderte Levin verächtlich. »Wir sind hier in Amerika!«

»Sind wir?« Ich blickte in den Saal mit den vergitterten Fenstern und den Emigranten. Levin stieß wieder sein krächzendes Gelächter aus. »Na, noch nicht ganz. Wie ich sehe, haben Sie Ihren Humor noch nicht verloren. Herr Hirsch hat uns bereits einige Auskünfte über Sie gegeben. Sie waren zusammen in einem Internierungslager in Frankreich? Stimmt das?«

Ich nickte. Ich war immer noch wie benommen. Robert Hirsch lebte, dachte ich! Und er war in New York!

»Stimmt’s?«, fragte Levin ungeduldig.

Ich nickte wieder. Es stimmte nur halb; Hirsch war nur eine Stunde im Lager gewesen. Er war als SS-Offizier verkleidet dorthin gekommen und hatte von dem französischen Kommandanten die Auslieferung von zwei politischen deutschen Emigranten verlangt, die von der Gestapo gesucht wurden. Dabei hatte er mich erkannt; er hatte nicht gewusst, dass ich im Lager war. Ohne eine Miene zu verziehen, forderte er auch meine Auslieferung. Der Kommandant, ein ängstlicher Reservemajor, dem alles längst zuwider war, hatte nur darauf bestanden, eine formelle schriftliche Bestätigung zu erhalten. Hirsch gab sie ihm; er hatte immer falsche und echte Blankopapiere bei sich. Dann salutierte er mit dem Hitlergruß, packte uns in sein Auto und brauste ab. Die beiden Politiker wurden ein Jahr später wieder gefasst; sie gingen in eine Gestapofalle in Bordeaux.

»Ja, das stimmt«, sagte ich. »Kann ich das Material sehen, das Hirsch Ihnen gegeben hat?«

Levin zögerte einen Augenblick. »Ja, natürlich. Warum?«

Ich antwortete nicht. Ich wollte feststellen, ob das, was Robert erklärt hatte, mit dem übereinstimmte, was ich den Inspektoren angegeben hatte. Ich las das Schriftstück aufmerksam durch und gab es zurück.

»Stimmt’s?«, fragte Levin noch einmal.

»Ja«, sagte ich und blickte mich um. Alles um mich herum schien sich plötzlich verändert zu haben. Ich war nicht mehr allein. Robert Hirsch lebte. Eine Stimme hatte zu mir herübergerufen, von der ich geglaubt hatte, sie sei für immer verstummt gewesen. Alles war anders geworden. Nichts war verloren.

»Wie viel Geld haben Sie?«, fragte der Anwalt.

»Hundertfünfzig Dollar«, erwiderte ich vorsichtig.

Levin wiegte seinen kahlen Schädel. »Etwas wenig, – selbst für ein kurzes Visitorvisum, um nach Mexico oder Kanada weiterzureisen. Aber das lässt sich noch regeln. Verstehen Sie nicht?«

»Nein. Was soll ich in Mexico oder Kanada?«

Levin zeigte wieder seine Pferdezähne. »Nichts, Herr Sommer. Hauptsache ist, Sie erst einmal nach New York hereinzubekommen. Ein Durchreisevisum für kurze Zeit ist da am leichtesten zu beantragen. Wenn Sie dann erst im Lande sind, können Sie krank werden. Reiseunfähig. Und man kann weitere Anträge stellen. Die Situation kann sich ändern. Den Fuß in der Türe zu haben, das ist zunächst das Wichtigste! Verstehen Sie mich jetzt?«

»Ja.«

Eine laut weinende Frau ging vorüber. Levin zog eine schwarze Hornbrille aus der Tasche und sah ihr nach. »Es muss kein Spaß sein, hier zu hocken«, sagte er.

Ich hob die Schultern. »Es könnte schlimmer sein.«

»Schlimmer? Wieso?«

»Viel schlimmer«, sagte ich. »Man könnte hier sein und Magenkrebs haben. Oder Ellis Island könnte in Deutschland liegen, und man könnte Ihren Vater an den Boden nageln, um von Ihnen Geständnisse zu erpressen.«

Levin starrte mich an. »Sie haben eine verdammt makabre Fantasie«, sagte er dann.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich, »nur verdammt makabre Erfahrungen.«

Der Anwalt zog ein sehr großes buntes Taschentuch hervor und schnäuzte sich wie eine Trompete. Dann faltete er das Taschentuch sorgfältig wieder zusammen und steckte es ein. »Wie alt sind Sie?«

»Zweiunddreißig Jahre.«

»Und wie lange sind Sie auf der Flucht?«

»Seit fast fünf Jahren.«

Es stimmte nicht. Ich war schon länger unterwegs; aber Ludwig Sommer, dessen Pass ich hatte, erst seit 1939.

»Jude?«

Ich nickte.

»Sie sehen nicht gerade jüdisch aus«, erklärte Levin.

»Das mag sein. Aber finden Sie, dass Hitler, Goebbels, Himmler und Heß besonders arisch aussehen?«

Levin stieß wieder sein krächzendes Lachen aus. »Nein, wahrhaftig nicht! Ist ja auch egal. Warum sollten Sie sich als Jude ausgeben, wenn Sie keiner sind? Besonders heute! Stimmt’s?«

»Mag sein.«

»Waren Sie in einem deutschen Konzentrationslager?«

»Ja«, sagte ich widerwillig. »Vier Monate.«

»Haben Sie Papiere darüber?«, fragte Levin mit einer Art von Gier.

»Es gab keine Papiere. Ich wurde entlassen und bin später geflohen.«

»Schade! Wir hätten sie jetzt gut gebrauchen können.«

Ich sah Levin an. Ich verstand ihn; aber es widerstrebte mir, so glatt ein Geschäft daraus zu machen. Es war zu scheußlich dafür gewesen. So scheußlich, dass ich mir selbst Mühe gab, es zu versenken. Nicht zu vergessen; es nur auszutilgen in mir, solange ich es nicht benutzen konnte. Nicht hier in Ellis Island, – in Deutschland.

Levin öffnete seine Aktentasche und holte einige Blätter heraus: »Ich habe hier noch das, was Herr Hirsch mir an Zeugnissen und Erklärungen von Leuten, die Sie kennen, mitgegeben hat. Alles bereits vom Notar bestätigt. Von meinem Partner Watson, der Bequemlichkeit halber. Wollen Sie das auch noch sehen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich kannte diese Aussagen von Paris her. Robert Hirsch war ein Meister darin. Ich wollte sie jetzt nicht sehen. Mir schien merkwürdigerweise, als sollte ich, bei all dem Glück dieses Tages, etwas der Chance überlassen. Emigranten hätten mich sofort verstanden. Wer immer gegen Chancen von hundert zu eins zu kämpfen hat, will dem Glück gerade deshalb eine Gelegenheit geben. Es wäre unsinnig gewesen, das Levin klarmachen zu wollen.

Der Anwalt steckte die Papiere befriedigt zurück. »Jetzt müssen wir noch jemand finden, der für die Zeit Ihres Aufenthaltes in Amerika dafür garantiert, dass Sie dem Staat nicht zur Last fallen. Kennen Sie jemand hier?«

»Nein.«

»Aber Robert Hirsch kennt vielleicht jemand?«

»Das weiß ich nicht.«

»Er wird schon jemand finden«, sagte Levin mit sonderbarer Zuversicht. »Er ist sehr tüchtig in solchen Dingen. Wo werden Sie in New York wohnen? Herr Hirsch schlägt das Hotel Rausch vor. Er hat früher auch da gewohnt.«

Ich schwieg einen Moment. »Herr Levin«, sagte ich dann, »wollen Sie damit sagen, dass ich wirklich hier herauskomme?«

»Warum nicht? Deshalb bin ich ja hier.«

»Sie glauben das tatsächlich?«

»Natürlich. Sie nicht?«

Ich schloss einen Moment die Augen. »Ja«, sagte ich dann. »Ich auch.«

»Na also. Nie die Hoffnung aufgeben! Oder ist das bei Emigranten anders?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Na, sehen Sie! Nie die Hoffnung verlieren, – ein altes, gutes amerikanisches Prinzip! Verstehen Sie?«

Ich nickte. Ich hatte keine Lust, diesem ahnungslosen Sohn des legalen Rechtes zu erklären, wie zerstörerisch Hoffnung sein konnte. Sie konnte die Widerstandskraft eines geschwächten Herzens fressen, wie verfehlte Schläge die Reserven eines Boxers, der am Verlieren ist. Ich hatte mehr Leute an getäuschter Hoffnung eingehen sehen, als an igelhaft zusammengerollter Resignation, die alles auf bloßes Überleben konzentrierte und deshalb keinen Platz mehr hatte für irgendetwas anderes.

Levin schloss seine Aktentasche. »Ich deponiere diese Sachen jetzt bei den Inspektoren. In einigen Tagen komme ich wieder. Kopf hoch! Es wird schon klappen.« Er schnupperte umher. »Wie das hier riecht! Wie in einem schlecht desinfizierten Krankenhaus.«

»Es riecht nach Armut, Behörde und Verzweiflung«, sagte ich.

Levin setzte seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Verzweiflung«, fragte er ironisch, »kann die auch riechen?«

»Sie sind ein glücklicher Mensch, wenn Sie das nicht wissen«, erwiderte ich.

»Na, na, – Sie fangen mit dem Glücksbegriff reichlich tief an.«

Ich antwortete nicht; es hatte keinen Zweck, ihm klarzumachen, dass man damit gar nicht tief genug anfangen konnte und dass das Geheimnis des Überlebens sogar darin bestand. Levin reichte mir eine knochige, große Hand. Ich wollte ihn fragen, was das Ganze kosten würde, aber ich schwieg. Man konnte leicht zu viel fragen und dadurch alles zerstören. Hirsch hatte Levin geschickt, das war genug.

Ich stand auf und blickte dem Anwalt nach. Ich glaubte seinen Versicherungen, alles würde schon klappen, noch nicht. Ich hatte zu viel Erfahrung darin und war schon oft hereingefallen. Aber trotzdem spürte ich eine Erregung in mir aufsteigen, die rasch stärker wurde und die ich nicht meistern konnte. Es war nicht allein der Gedanke, dass Robert Hirsch in New York war und noch lebte, – es war noch etwas anderes, – das, wogegen ich mich noch vor wenigen Minuten gewehrt und das ich mit der Arroganz des Unglücks von mir gewiesen hatte: eine verzweifelte Hoffnung. Sie war plötzlich lautlos da, aufgesprungen in diesem Augenblick, eine verdrehte, ungerechtfertigte, wilde Hoffnung, eine anonyme Hoffnung, ohne Ziel beinahe, nur mit dem einen nach einer nebelhaften Freiheit; – aber einer Freiheit wofür? Wohin? Wozu? Ich wusste es nicht. Es war eine Hoffnung ohne Namen, die das, was in mir Ich sagte, ohne mich hochwarf in einer so primitiven Lebensgier, dass sie fast nichts mehr mit mir selbst zu tun hatte. Wo war meine Resignation geblieben? Wo mein Misstrauen? Wo meine jammervoll konstruierte künstliche Überlegenheit? Ich wusste es nicht mehr.

 

Ich drehte mich um und sah vor mir die Frau, die vorher geweint hatte. Sie hatte jetzt ein rothaariges Kind an der Hand, das eine Banane aß.

»Was hat man Ihnen getan?«, fragte ich.

»Sie wollen mein Kind nicht hereinlassen«, flüsterte sie.

»Warum nicht?«

»Sie sagen, es wäre –« Sie zögerte. »Es ist zurückgeblieben«, erklärte sie dann eilig. »Aber es wird sich erholen! Nach allem, was wir mitgemacht haben! Es ist kein Idiot! Es ist nur zurückgeblieben! Es wird sich erholen! Sie müssen ihm Zeit lassen! Es ist nicht geisteskrank! Aber die drinnen glauben es nicht!«

»War ein Arzt dabei?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie müssen einen Arzt verlangen. Einen Spezialarzt. Er wird Ihnen helfen.«

»Wie kann ich einen Spezialarzt verlangen?«, murmelte die Frau. »Ich bin arm.«

»Sie müssen es beantragen. Man kann das hier.«

Der Junge legte die Schalen der Banane, die er gegessen hatte, sauber zusammen und steckte sie in die Hosentasche.

»Er ist so ordentlich«, flüsterte die Mutter. »Sehen Sie nur, wie ordentlich er ist! Wie kann er da verrückt sein?«

Ich sah den Jungen an. Er schien seine Mutter nicht zu hören. Seine Unterlippe hing herunter, und er kratzte sich in den leuchtenden Haaren. Die Sonne schien durch seine Augen, als wären sie aus Glas. »Weshalb wollen sie ihn nicht hereinlassen?«, murmelte die Mutter. »Er ist doch noch ärmer als die anderen.«

Es gab keine Antwort darauf. »Sie lassen viele herein«, sagte ich schließlich. »Fast alle. Jeden Morgen werden welche entlassen. Sie müssen nur Geduld haben.«

Ich verachtete mich, während ich das sagte. Ich spürte, dass ich mich drücken wollte vor diesen Augen, die in ihrer Not zu mir aufblickten, als hätte ich wirklich einen Rat. Ich hatte keinen. Verlegen griff ich in die Tasche, holte etwas Geld hervor und drückte es dem teilnahmslosen Jungen in die Hand. »Hier, kauf dir etwas dafür!«

Es war der alte Aberglaube der Emigranten; der Versuch, das Schicksal zu bestechen durch eine törichte Geste. Ich schämte mich ihrer sofort. Eine Groschenmenschlichkeit gegen meine Freiheit, dachte ich. Was noch? Kam mit der Hoffnung bereits ihre korrupte Zwillingsschwester, die Angst? Und ihre noch schmierigere Tochter, die Feigheit?

Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Ich stand lange an den Fenstern, hinter denen das Nordlicht New Yorks zuckte und flimmerte, und dachte an mein zerbrochenes Leben. Gegen Morgen hatte ein alter Mann einen Schwächeanfall. Schatten huschten aufgeregt um sein Bett. Jemand suchte nach Nitroglycerin. Der alte Mann hatte seine Schachtel verloren. »Er darf nicht krank werden«, wisperten die Angehörigen. »Sonst ist alles verloren! Er muss morgen früh wieder aufstehen können!« Sie fanden die Schachtel nicht; aber ein melancholischer Türke mit einem langen Schnurrbart half ihnen aus. Der alte Mann konnte sich am Morgen wieder in den Tagessaal schleppen.

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II

Der Anwalt kam drei Tage später wieder. »Sie sehen miserabel aus«, krächzte er. »Was ist los mit Ihnen?«

»Hoffnung«, erwiderte ich ironisch. »Sie bringt den Menschen rascher herunter als Unglück. Das sollten Sie doch wissen, Herr Levin.«

»Sie mit Ihren Emigrantenwitzen! Sie haben keinen wahrhaftigen Grund, Trübsal zu blasen. Ich habe Neuigkeiten für Sie.«

»Was für Neuigkeiten?«, fragte ich vorsichtig. Ich fürchtete immer noch, dass etwas mit meinem Pass aufgekommen sein könnte.

Levin zeigte alle seine riesigen Zähne. Er lachte sehr oft, dachte ich. Zu oft für einen Anwalt. »Wir haben den Bürgen für Sie gefunden!«, erklärte er. »Jemand, der garantiert, dass Sie dem Staat nicht zur Last fallen werden. Einen Sponsor! Was sagen Sie nun?«

»Hirsch?«, fragte ich ungläubig.

Levin schüttelte den kahlen Schädel. »Hirsch hat längst nicht genug Geld dafür. Kennen Sie den Bankier Tannenbaum?«

Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich zugeben sollte.

»Vielleicht«, sagte ich.

»Vielleicht? Was heißt vielleicht? Sie mit Ihren Ausflüchten! Sie müssen ihn doch kennen! Er garantiert ja für Sie!«

Ein Rudel Möwen strich plötzlich dicht vor den Fenstern kreischend über das unruhig blinkende Meer. Ich kannte keinen Bankier Tannenbaum. Ich kannte niemand in New York, außer Robert Hirsch. Er musste das arrangiert haben. So wie seine Geschäfte in Frankreich als spanischer Konsul.

»Wahrscheinlich kenne ich ihn«, sagte ich. »Man trifft auf der Flucht so viele Menschen; da vergisst man oft die Namen.«

Levin sah mich skeptisch an. »Auch Tannenbaum?«

Ich lachte. »Tannenbaum auch. Warum nicht? Gerade Tannenbaum! Wer will schon heutzutage an deutsche Weihnacht erinnert werden!«

Levin schnaubte seine höckrige Nase. »Es ist auch egal, ob Sie ihn kennen oder nicht. Die Hauptsache ist, dass er für Sie bürgt! Und das tut er!«

Er öffnete seine Aktentasche. Einige Zeitungen fielen heraus. Er reichte sie mir. »Die Morgenblätter! Schon gelesen?«

»Nein.«

»Was, noch nicht? Gibt es denn hier keine Zeitungen?«

»Doch. Aber ich habe heute noch keine gelesen.«

»Merkwürdig! Man sollte glauben, gerade Sie würden sich jeden Tag darauf stürzen! Tun das nicht alle hier?«

»Wahrscheinlich.«

»Sie nicht?«

»Nein, ich nicht. Ich kann auch nicht genug Englisch.«

Levin schüttelte den Kopf. »Sie sind ein sonderbarer Kauz!«

»Das ist möglich«, sagte ich. Ich verzichtete darauf, diesem Liebhaber direkter Antworten klarzumachen, dass ich mich nicht um Kriegsberichte riss, solange ich hier eingesperrt war. Es war mir wichtiger, meine wenigen Reserven nicht durch zwecklose Emotionen unnötig zu erschüttern. Hätte ich ihm gesagt, dass ich stattdessen nachts eine Anthologie deutscher Gedichte las, die ich über die Via Dolorosa mitgeschleppt hatte, hätte er vermutlich meine Vertretung als die eines Geisteskranken aufgegeben. »Vielen Dank«, sagte ich und nahm die Zeitungen.

Levin kramte weiter in seiner Mappe. »Da sind zweihundert Dollar, die Herr Hirsch mir für Sie gegeben hat«, erklärte er. »Eine Anzahlung auf mein Honorar.« Er holte vier Scheine heraus, breitete sie fächerförmig wie ein Kartenspiel aus und ließ sie wieder verschwinden.

Ich blickte ihnen nach. »Hat Herr Hirsch Ihnen das Geld nur als Anzahlung auf Ihr Honorar gegeben?«, fragte ich.

»Das nicht gerade, aber Sie geben es mir doch, nicht wahr?« Levin lächelte wieder, diesmal nicht nur mit allen seinen Zähnen und Falten, sondern sogar mit seinen Ohren. Sie bewegten sich wie die eines Elefanten. »Sie wollen doch nicht, dass ich umsonst für Sie arbeite?«, fragte er sanft.

»Das nicht. Aber sagten Sie nicht, dass die hundertfünfzig Dollar, die ich besitze, bereits zu wenig sind, um in Amerika zugelassen zu werden?«

»Nicht mit einem Sponsor! Tannenbaum hat das alles geändert!«

Levin glänzte förmlich. Er glänzte so, dass ich jetzt noch einen Angriff auf meine eigenen hundertfünfzig Dollar erwartete. Ich beschloss, sie mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, bis ich meinen Pass mit dem Einreisevisum wieder hatte. Aber Levin schien das zu ahnen. »Ich gehe jetzt mit diesen Papieren zu den Inspektoren«, erklärte er sachlich. »Wenn alles gut geht, kommt dann in wenigen Tagen mein Partner Watson herüber. Er erledigt den Rest.«

»Watson?«, fragte ich.

»Watson«, erwiderte er.

»Warum Watson?«, fragte ich misstrauisch.

Levin wurde zu meinem Erstaunen verlegen. »Watsons Familie ist seit vielen Generationen amerikanisch. Uramerikanisch«, erklärte er. »Sie kam ins Land mit der Mayflower. Das heißt in Amerika so viel wie adelig zu sein. Ein harmloses Vorurteil, das man ausnutzen muss. Besonders in Ihrem Fall. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, sagte ich überrascht. Wahrscheinlich war Watson kein Jude. Das gab es also auch hier.

»Es verleiht dem Ganzen den richtigen Rahmen«, sagte Levin würdig. »Auch für weitere Anträge, später.« Er stand auf und reichte mir seine knochige Hand. »Alles Gute! Bald sind Sie in New York!«

Ich antwortete nicht. Alles an ihm missfiel mir. Ich war abergläubisch wie jeder, der vom Zufall lebt, und hielt deshalb die Sicherheit, mit der er die Zukunft vorwegnahm, für ein böses Omen. Er hatte das schon am ersten Tag getan, als er mich fragte, wo ich in New York wohnen würde. Man tat so etwas nicht unter Emigranten, es brachte Unglück. Ich hatte zu oft erlebt, dass dann das Gegenteil passierte. Und Tannenbaum, – was war das für eine merkwürdige und aufregende Sache? Ich glaubte sie noch nicht ganz. Das Geld von Robert Hirsch hatte dieser Anwalt auch gleich für sich beschlagnahmt! Es war sicher nicht so gemeint gewesen! Zweihundert Dollar! Ein Vermögen! Es hatte mich zwei Jahre gekostet, ehe ich meine hundertfünfzig zusammengespart hatte. Vielleicht würde Levin das nächste Mal auch sie noch verlangen! Das Einzige, worauf ich vertraute, war, dass Robert Hirsch diese Hyäne mit den zu vielen Zähnen geschickt hatte.

 

Hirsch war der einzige echte Makkabäer, den ich kannte. Er war eines Tages, kurz nach dem Waffenstillstand in Frankreich, in der Provence aufgetaucht, in der Rolle eines spanischen Vizekonsuls. Er hatte irgendwoher einen Diplomatenpass unter dem Namen Raul Tegner bekommen und trat als solcher jetzt mit erstaunlicher Frechheit auf. Niemand wusste, wie weit der Pass echt war oder nicht. Man vermutete, dass er ihn über die französische Resistance erhalten hatte. Hirsch selbst verriet nichts, aber jeder wusste, dass er während seiner kometenhaften Laufbahn auch für den französischen Untergrund arbeitete. Er hatte auf jeden Fall einen Wagen mit einer spanischen Nummer und dem Abzeichen des Corps diplomatique zur Verfügung, trug einen eleganten Anzug und hatte in einer Zeit, wo Benzin selten war wie Gold, immer genug davon. Er konnte das alles nur über Leute aus dem Untergrund bekommen haben. Er transportierte für sie auch Waffen, Flugblätter und kleine zweiseitige Pamphlete. Es war die Zeit, als die Deutschen die Verträge über die teilweise Okkupation verletzten und in den freien Teil Frankreichs einbrachen, um Emigranten zu verhaften. Hirsch versuchte zu retten, wen er konnte. Sein Wagen, sein Pass und seine Kühnheit halfen ihm dabei. Als angeblicher Vertreter eines anderen, mit Deutschland befreundeten Diktators nützte er das schonungslos aus, wenn er kontrolliert wurde. Er kanzelte Patrouillen ab, er berief sich auf seine diplomatische Immunität und drohte sofort mit Franco und dessen Beziehungen zu Hitler. Die deutschen Patrouillen ließen ihn meistens lieber laufen, als in Schwierigkeiten zu geraten. In ihrem angeborenen Untertanengefühl respektierten sie Titel und Pass, und ihr Training zum Gehorsam lief parallel mit ihrer Scheu vor Verantwortung, besonders bei den unteren Chargen. Doch selbst SS-Leute wurden unsicher, wenn Hirsch sie anschrie. Er rechnete dabei mit der Furcht, die jede Diktatur auch in ihren eigenen Reihen erzeugt, weil sie das Recht subjektiv und damit auch gefährlich für die eigenen Anhänger macht, wenn sie nicht mit den sich stets ändernden Vorschriften vertraut bleiben. Er profitierte so für das Elend von der Feigheit, die zusammen mit der Brutalität die logische Folge jeder Gewaltherrschaft ist.

 

Für einige Monate wurde er unter den Emigranten fast zu einer Legende. Er rettete einigen von ihnen das Leben mit Blankoausweisen, die er irgendwo erhalten hatte und ausfüllte. Die Leute konnten so über die Pyrenäen entkommen, obschon sie schon von der Gestapo gesucht wurden. Andere wurden in Klöstern in der Provinz versteckt, bis man sie abschieben konnte. Zwei konnte er aus einem Arrestlokal holen und entkommen lassen. Er transportierte ganze Packen von Untergrundliteratur nahezu offen in seinem Wagen. Damals holte er auch mich und die beiden Politiker aus dem Internierungslager heraus, – diesmal in der Uniform eines SS-Offiziers. Jeder erwartete, dass dieser Ein-Mann-Feldzug gegen die Gewalt nur mit einem gewaltsamen Tode enden konnte. Plötzlich hörte man dann auch nichts mehr von ihm. Es hieß, er sei von der Gestapo erschossen worden. Wie immer gab es sogar Leute, die gesehen haben wollten, wie er verhaftet wurde.

Nach meiner Befreiung aus dem Internierungslager hatte ich ihn öfter getroffen, und wir verbrachten manche Abende bis zum Morgen miteinander. Hirsch war außer sich darüber, dass die Juden von den Deutschen gefangen wurden wie Kaninchen und dass sie sich zu so vielen Tausenden ohne Widerstand in die überfüllten Viehwagen stopfen ließen, die zu den Todeslagern fuhren. Er verstand nicht, dass sie fast nie einen Versuch machten, zu rebellieren und sich zu wehren, sondern ergeben starben, ohne dass wenigstens ein Teil, im Bewusstsein, ohnehin gemordet zu werden, revoltierte, um einige der Mörder mit in den Tod zu nehmen. Wir wussten beide, dass das nicht mit den oberflächlichen Begriffen von Angst, letzter, verzweifelter Hoffnung oder gar Feigheit zu erklären war, – weit eher schon mit dem Gegenteil, – denn es schien größerer Mut dazu zu gehören, schweigend den Tod auf sich zu nehmen, als um sich zu schlagen in einer letzten Imitation teutonischer Rache. Trotzdem war Hirsch außer sich über diese zweitausend Jahre alte Resignation seit den Makkabäern. Er hasste sein eigenes Volk deswegen und verstand es mit einer schmerzlichen Liebe. Sein Privatkrieg gegen die Gewalt hatte nicht nur menschliche Gründe allein; er war auch eine Rebellion gegen sich selbst.

 

Ich nahm die Zeitungen, die Levin mir gegeben hatte. Ich verstand wenig Englisch und konnte sie nur mit Mühe lesen. Ein Syrer hatte mir auf dem Schiff eine englische Grammatik in französischer Sprache geliehen und mich einige Zeit unterrichtet; als er entlassen wurde, hatte er mir das Buch geschenkt, und ich benutzte es weiter. Die Aussprache lernte ich, so gut es ging, durch ein Reisegrammophon, das eine polnische Emigrantenfamilie nach Ellis Island mitgebracht hatte. Es hatte ungefähr ein Dutzend Platten, die zusammen einen Sprachkursus in Englisch darstellten. Das Grammophon wurde morgens aus den Schlafsälen mit in den Tagessaal heruntergebracht, und die ganze Familie hockte dann in einer Ecke davor und übte Englisch. Sie folgte ehrfürchtig und intensiv der trägen, satten Stimme des Ansagers, der langsam das Leben einer imaginären englischen Familie Brown erzählte, die ein Haus, einen Garten und Söhne und Töchter hatte, die in die Schule gingen und Aufgaben lösten, während Mister Brown ein Fahrrad besaß, auf dem er ins Büro fuhr, und Mrs. Brown die Blumen begoss, das Essen zubereitete, eine Küchenschürze trug und schwarze Haare hatte. Die verzweifelten Emigranten lebten dieses geruhsame Leben jeden Tag eifrig mit, ihre Münder öffneten und schlossen sich im Rhythmus des Sprechers im Grammophon wie in einem Zeitlupenfilm, und rundherum hockten im Kreise andere und versuchten, ebenfalls zu profitieren. Es sah in der Dämmerung manchmal aus, als säße man an einem Teich mit alten Karpfen, die langsam auftauchten, die Mäuler öffneten und schlossen und auf Futter warteten.

Es gab natürlich auch Leute, die geläufig Englisch sprachen. Ihre Väter hatten die Voraussicht gehabt, es sie in den Realschulen lernen zu lassen, anstatt Griechisch und Lateinisch, wie in den Gymnasien. Sie wurden plötzlich zu sehr gesuchten Lehrern und übten ab und zu mit den andern, die über den Zeitungen saßen und buchstabierten und die Meldungen des Massentodes dazu benutzten, zählen zu lernen, – zehntausend Tote, zwanzigtausend Verwundete, fünfzigtausend Vermisste und hunderttausend Gefangene, – das Elend der Welt wurde so für einen Augenblick zu einer Schulstunde reduziert, in der die Schüler versuchten, das th in thousand richtig auszusprechen. Die Champions machten ihn immer wieder geduldig vor, diesen schwierigen Laut th, den es im Deutschen nicht gibt und an dessen schlechter Aussprache man sofort den Ausländer erkennen konnte, – th wie in thousand, fiftythousand Tote in Berlin, in Hamburg, bis jemand plötzlich erblasste, sich verschluckte, aus der Schülerrolle fiel und erschreckt murmelte: »Hamburg? Da lebt doch noch meine Mutter!«

 

Es war mir nicht klar, was für Akzente ich mir in Ellis Island aneignete; aber ich begann zu hassen, den Krieg in Material für eine ABC-Klasse verwandelt zu sehen. Es war mir schon lieber, mich der Idiotie meiner Grammatik auszusetzen und zu lernen, dass Karl eine grüne Mütze trug, dass seine Schwester zwölf Jahre alt war, gern Kuchen aß, und dass seine Großmutter immer noch Schlittschuh lief. Diese Tiefgründigkeiten aus verschollenen Schulmeistergehirnen schufen wenigstens ein schmales, banales Idyll zwischen den blutrünstigen Lektionen der Zeitungen. Es war ohnehin trostlos, die Flüchtlinge zu sehen, wie sie sich ihrer eigenen Sprache schämten und schämen mussten, wie sie so schnell wie möglich, auch untereinander, unbeholfen ihr klobiges Englisch radebrechten, nicht nur um zu lernen, sondern um sich auch des Letzten, was sie herübergebracht hatten, zu entledigen: der Sprache der Massenmörder. Es war zwei Tage vor meiner Entlassung, dass ich den Band deutscher Gedichte, den ich bei mir hatte, vermisste. Ich hatte ihn im Tagessaal liegen lassen und fand ihn später auf dem Klosett wieder, – zerrissen in Fetzen und beschmutzt. Ich fand, mir war recht geschehen; diese zauberhafte Lyrik war hier ein entsetzlicher Hohn auf das, was diesen Leuten durch dasselbe Deutschland zugefügt worden war.

 

Watson, der Partner Levins, erschien tatsächlich ein paar Tage später. Er war ein pompöser Mann mit einem großen, fleischigen Gesicht und einem gestutzten weißen Schnurrbart. Er war, wie ich vermutet hatte, kein Jude und hatte nichts von der Neugierde Levins und auch nichts von seiner Intelligenz. Er sprach weder Deutsch noch Französisch; aber er hatte weite Gesten und ein beruhigendes, törichtes Lächeln. Wir verständigten uns, so gut wir konnten. Er fragte nach nichts, sondern bedeutete mir mit einer imperatorischen Handbewegung zu warten, während er zum Inspektorenbüro ging.

Plötzlich entstand in der Frauenabteilung ein halb unterdrückter Aufruhr. Aufseher kamen hinzu. Frauen bildeten einen Ring um eine andere, die am Boden lag und stöhnte.

»Was ist los?«, fragte ich einen alten Mann, der hinübergehastet war und zurückkam. »Ein anderer Nervenzusammenbruch?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Es scheint, dass eine Frau dort ein Kind bekommt.«

»Was? Ein Kind? Hier?«

»Es sieht so aus. Soll mich wundern, was die Inspektoren dazu sagen.« Der Mann lachte ein freudloses Lachen.

»Eine Frühgeburt!«, erklärte eine Frau in einer roten Samtbluse. »Einen Monat zu früh. Kein Wunder, bei all diesen Aufregungen!«

»Ist es schon da?«, fragte ich.

Die Frau sah mich mit ironischer Überlegenheit an. »Natürlich nicht! Dies sind die ersten Wehen. Das kann noch Stunden dauern.«

»Wird das Kind ein Amerikaner, wenn es hier geboren wird?«, fragte der alte Mann.

»Was sonst?«, fragte die Frau in der roten Bluse.

»Ich meine hier in Ellis Island. Dies ist doch nur die Quarantäne, nicht wirklich Amerika. Amerika ist drüben!«

»Dies hier ist auch schon Amerika!«, erklärte die Frau heftig. »Die Wachen sind doch Amerikaner! Und die Inspektoren!«

»Es wäre ein Glück für die Mutter«, sagte der alte Mann. »Sie hätte so gleich einen Amerikaner als Verwandten: das Kind! Man würde sie leichter hereinlassen. Emigranten, die Amerikaner als Verwandte haben, werden hereingelassen.« Der Mann sah sich vorsichtig um und grinste dann verlegen.

»Wenn es kein Amerikaner wird, ist es der erste, echte Weltbürger«, sagte ich.

»Der zweite«, erwiderte der Mann. »Den ersten habe ich 1937 auf einer Brücke zwischen Österreich und der Tschechoslowakei gesehen. Die deutschen Emigranten waren da von der Polizei beider Länder auf die Brücke gejagt worden. Sie konnten weder rechts noch links ausweichen; an beiden Enden der Brücke stand Polizei. Sie hockten so auf der Grenze für drei Tage. Damals gebar eine Frau ein Kind.«

»Was geschah damit?«, fragte die Frau mit der roten Bluse interessiert.

»Es starb, bevor zwischen den beiden Ländern deswegen ein Krieg entbrennen konnte«, erwiderte der alte Mann. »Das war noch in den menschlicheren Zeiten vor dem Anschluss an Deutschland«, fügte er entschuldigend hinzu. »Später hätte man Mutter und Kind natürlich einfach wie nasse Katzen erschlagen.«

 

Ich sah Watson aus dem Büro kommen. In seinem hellen, karierten Anzug ragte er wie ein Riese über den zusammengekauerten Flüchtlingen in den Reihen am Ausgang. Ich ging ihm rasch entgegen. Mein Herz schlug plötzlich sehr heftig. Watson schwenkte meinen Pass. »Sie haben Glück gehabt«, erklärte er. »Eine Frau bekommt scheinbar ein Kind; das hat die Inspektoren völlig verstört. Hier ist Ihr Visum.«

Ich nahm den Pass. Meine Hände zitterten. »Für wie lange?«, fragte ich.

Watson lachte. »Man wollte Ihnen nur vier Wochen zur Durchreise geben; jetzt haben Sie zwei Monate als Tourist. Sie können sich bei der Frau in den Wehen bedanken. Man wollte sie und mich rasch loswerden, glaube ich. Für die Frau ist bereits ein Motorboot angefordert. Sie wird ins Krankenhaus gebracht. Wir können gleich mitfahren. Nun, wie ist das?« Watson klopfte mir kräftig auf den Rücken.

»Bin ich jetzt frei?«

»Natürlich! Für die nächsten zwei Monate. Dann werden wir etwas Neues unternehmen.«

»Zwei Monate!«, sagte ich. »Eine Ewigkeit!«

Watson schüttelte sein Löwenhaupt. »Keine Ewigkeit! Zwei Monate! Am besten fangen wir bald an, unsere nächsten Schritte zu überlegen.«

»Wenn ich drüben bin«, sagte ich. »Nicht jetzt!«

»Gut! Aber warten Sie nicht zu lange. Da sind da noch einige Auslagen zu erledigen, Fahrkosten, Auslagen für das Visum und ein paar Dinge mehr. Zusammen fünfzig Dollar. Wir tun das am besten gleich. Den Rest unseres Honorars bezahlen Sie dann, wenn Sie sich eingelebt haben.«

»Wie viel ist der Rest?«

»Hundert Dollar. Sehr billig. Wir sind keine Unmenschen.«

Ich antwortete nicht darauf. Ich wollte plötzlich nur so rasch wie möglich aus diesem Saal herauskommen. Heraus aus der Insel Ellis Island! Ich fürchtete, dass die Tür zum Büro der Inspektoren sich noch im letzten Moment öffnen könnte und man mich zurückrufen würde. Rasch zog ich meine dünne Brieftasche hervor und nahm fünfzig Dollar heraus. Jetzt hatte ich noch neunundneunzig; außerdem bereits hundert Dollar Schulden. Wahrscheinlich würde ich in ewige Zinsknechtschaft bei diesen Rechtsanwälten kommen, dachte ich flüchtig. Doch das war mir egal; alles wurde verdrängt durch eine Welle zitternder, ungestümer Ungeduld.

»Können wir jetzt gehen?«, fragte ich.

Die Frau in der roten Samtbluse lachte. »Es kann noch Stunden dauern, bevor das Kind kommt! Stunden! Aber das wissen die drinnen nicht. Diese Inspektoren! Sie wissen alles, aber das nicht! Und ich werde mich hüten, sie aufzuklären. Jedes arme Biest, das hier rauskommt, ist eine Hoffnung für die andern. Stimmt’s?«

»Es stimmt«, sagte ich. Ich sah, wie zwei Leute die Frau stützten, die das Kind kriegen sollte. »Können wir mitgehen?«, fragte ich Watson.

Er nickte. Die Frau in der Samtbluse schüttelte mir die Hand. Auch der alte Mann kam heran und gratulierte mir. Wir gingen hinaus. Ich musste meinen Pass am Ausgang vorzeigen. Der Polizist gab ihn mir sofort zurück. »Viel Glück!«, sagte auch er und reichte mir die Hand. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mir ein Polizist die Hand schüttelte und mir Glück wünschte. Das hatte eine merkwürdige Wirkung auf mich; – jetzt erst glaubte ich, dass ich wirklich frei war.

 

Wir wurden in ein Motorboot verstaut, das einer Barkasse glich. Die schwangere Frau lag zwischen zwei Wärtern hinten im Boot; Watson, ich und einige andere Entlassene standen vorn. Das Stöhnen der Frau wurde vom Lärm des Motors und von den Schiffssirenen um uns herum übertönt. Wind und Sonne warfen unruhige Reflexe von allen Seiten gegen das Boot, sodass es schien, als schwebe es zwischen Himmel und Wasser. Ich sah mich nicht um. Ich presste den Pass in meiner Tasche an mich. Die Wolkenkratzer von Manhattan wuchsen riesenhaft in den blendenden Himmel. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten.

 

Als wir anlegten, brach einer der Entlassenen in Tränen aus. Es war ein Mann mit dünnen Beinen und einem altmodischen grünen Velourshut. Sein Schnurrbart zitterte, er warf sich auf die Knie und hob in einer ziellosen Geste die Arme. Er sah rührend und lächerlich aus im starken Vormittagslicht der Sonne. Seine Frau, eine verwitterte, nussbraune, kleine Alte, zog ihn ärgerlich hoch. »Du machst deinen Anzug schmutzig! Du hast nur den einen!«

»Wir sind in Amerika!«, murmelte er.

»Ja, wir sind in Amerika«, erwiderte sie mit schriller Stimme. »Und wo ist Josef? Und Samuel? Wo sind sie? Und wo ist Mirjam, wo sind sie alle? Wir sind in Amerika«, wiederholte sie. »Und wo sind die andern? Steh auf und achte auf deinen Anzug!« Sie sah uns alle der Reihe nach mit toten, unbeweglichen Käferaugen an. »Wir sind in Amerika! Und wo sind die andern? Wo sind die Kinder?«

»Was sagt sie?«, fragte Watson.

»Sie ist froh, dass sie in Amerika ist.«

»Das glaube ich. Das ist hier das Gelobte Land. Sie sind auch froh, wie?«

»Sehr! Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Ich sah mich um. Eine Schlacht von Autos schien auf den Straßen zu toben. Ich hatte noch niemals so viele zur gleichen Zeit gesehen. In Europa waren seit dem Kriege nur noch wenige in Betrieb gewesen; es gab dort kaum noch Benzin. »Wo sind denn hier die Soldaten?«, fragte ich.

»Soldaten? Warum?«

»Amerika ist doch im Krieg!«

Watson lächelte breit. »Der Krieg ist in Europa und im Pazifik«, erklärte Watson wohlwollend. »Nicht hier. In Amerika ist kein Krieg. Hier ist Friede.«

Ich hatte das einen Augenblick vergessen. Der Feind stand ja auf der andern Seite der Welt. Hier waren keine Grenzen zu verteidigen. Hier wurde nicht geschossen. Hier gab es auch keine Ruinen. Keine Bomben. Keine Zerstörung. »Friede«, sagte ich.

»Anders als in Europa, wie?«, fragte Watson stolz.

Ich nickte. »Ganz anders«, sagte ich.

Watson zeigte auf eine der Seitenstraßen. »Da ist ein Taxistand. Und drüben hält ein Omnibus. Sie wollen doch nicht zu Fuß gehen?«

»Doch! Ich möchte zu Fuß gehen. Ich war lange genug eingesperrt.«

»Ach so! Nun ja, wie Sie wollen. Sie können sich übrigens nicht verlaufen in New York. Fast alle Straßen hier haben Nummern. Sehr praktisch.«

 

Ich ging durch die Stadt wie ein Knabe von ungefähr fünf Jahren, – so weit etwa reichten meine Kenntnisse der englischen Sprache. Ich ging durch einen strahlenden Regen von Lärm, Worten, Fahrzeugen, Gelächter, Schreien und dem aufregenden Getöse des Lebens, das mich noch nichts anging, das aber wie ein Sturm blind auf meine Sinne einschlug. Ich verstand nur den Lärm, aber nicht den Sinn, so wie ich das Licht verstand, aber schon nicht mehr, wie es entstand, und auch nicht, wozu es da war. Ich ging durch eine Stadt, in der jeder ein unbekannter Prometheus zu sein schien, der bekannte Gebärden auf eine unbekannte Weise verrichtete und dazu Worte hatte, mit denen ich nichts anzufangen wusste. Alles konnte eine Vielfalt von Möglichkeiten haben, die ich nicht verstand, da ich die Sprache nicht beherrschte. Es war anders als in europäischen Ländern, wo es nur eine einzige Deutung gab, die mir bewusst war. Hier schien es, als schritte ich über eine gewaltige Rundbühne, auf der Passanten, Kellner, Chauffeure und Verkäufer ein unverständliches Spiel miteinander aufführten, ein Spiel, in dessen Mitte ich mich befand, von dem ich aber zur selben Zeit ausgeschlossen war, weil ich es nicht zu deuten wusste. Ich begriff, dass es ein einmaliger Augenblick war, der nie wieder kommen würde. Schon morgen würde ich dazugehören, schon heute, wenn ich das Hotel erreichte, und der Kampf würde dann wieder beginnen mit Ducken, Fälschen, Feilschen und jener Traube von Halblügen, aus denen mein Alltag bestand, – jetzt aber, in diesem Moment, hielt mir die Stadt ihr Gesicht entgegen, wild, laut, fremd und unbeteiligt, ohne mich noch aufgenommen zu haben, und deshalb klar, objektiv, gewaltig und gleichzeitig durchscheinend wie Filigran, eine strahlende gewalttätige Monstranz. Mir war, als hielte auch die Zeit für eine Minute den Atem an, in einer unbekannten Zäsur, in der alles möglich war, jede Entscheidung war plötzlich offen, alles schien ohne Schwerkraft und Richtung zu sein, als wäre es nur einem selbst anheimgegeben, ob man abstürzen würde oder nicht.

 

Ich ging sehr langsam durch die brausende Stadt; ich sah sie und sah sie nicht. Ich war so lange nur mit primitivem Überleben beschäftigt und völlig ausgefüllt damit gewesen, dass im Ignorieren des anderen Lebens gleichzeitig meine Protektion gelegen hatte. Es war ein rücksichtsloser Drang zum Überleben gewesen, wie der kurz vor der Panik bei einem Schiffsuntergang, mit keinem Ziel als nur dem: nicht zu sterben. Jetzt aber, in dieser merkwürdigen Stunde, fühlte ich, dass das Leben beginnen könne, sich erneut fächerförmig vor mir auszubreiten, dass es wieder eine Zukunft haben würde, so kurz sie auch befristet sein mochte, und dass mit der Zukunft sich auch die Vergangenheit wieder erheben könnte, mit dem Geruch von Blut und Gräbern. Ich spürte vage, dass es eine Vergangenheit war, die mich leicht erschlagen konnte, aber ich wollte es jetzt nicht wissen, nicht in dieser Stunde mit den spiegelnden Schaufenstern und dem wilden Geruch der Freiheit, dem fremden Menschengedränge und dem Mittagssturm, dem anonymen Lärm, der Gier und dem herrlichen Licht, – in dieser Stunde, in der ich wie ein illegitimer Wanderer zwischen zwei Welten einherging, zu denen beiden ich in diesem Augenblick nicht gehörte, – als wäre ich in einem Film mit einem nicht dazu passenden Tonband, aus dem mehr hervorbrach als nur eine überraschende Verzauberung durch Licht, Farbe, Nichtverstehen und der kindischen Sicherheit im Trug des Nichtverstehens. Mir schien, als wäre es das Leben selbst, das sich nach einer langen Abkapselung durch nussharte Notwendigkeit mir wieder öffnen wollte, zu Ruf und Frage, zu Blick und Einblick, über den weichen Morast der Erinnerungen hinweg, zu einer scheuen, noch unfasslichen Hoffnung. Gab es das denn?, dachte ich und starrte in einen riesigen, offenen Laden voller chromglänzender Spielautomaten, in denen es klingelte und in denen bunte Lichter aufleuchteten, – konnte das möglich sein? War nicht alles vertrocknet und abgestorben, konnte das Überleben sich in Weiterleben und Leben verwandeln? Gab es das: noch einmal anzufangen, von vorn, um so wie die Sprache, die vor mir lag, unbekannt und voller Möglichkeiten, gedeutet zu werden? Gab es das, ohne dass es Verrat würde und doppelter Mord an den Toten, die nicht vergessen werden wollten?

 

Ich ging weiter, ich folgte den Straßen mit den Nummern anstatt der Namen, sie wurden enger und schmutziger, bis ich vor einem etwas zurückliegenden Hause den Namen des Hotels Rausch fand. Die Tür war mit falschen Marmorleisten verziert, von denen eine zerbrochen war. Ich trat ein und blieb stehen. Nach dem starken Licht der Straße konnte ich wenig mehr sehen als eine Art Theke, ein paar rote Plüschmöbel und einen Schaukelstuhl, aus dem sich dunkel jemand erhob, der einem Bären glich. »Sind Sie Ludwig Sommer?«, fragte der Bär auf Französisch.

»Ja«, erwiderte ich überrascht. »Woher wissen Sie das?«

»Robert Hirsch hat uns angekündigt, dass Sie in diesen Tagen eintreffen würden. Ich heiße Wladimir Meukoff. Ich bin hier Manager, Oberkellner und Mädchen für alles.«

»Gut, dass Sie Französisch sprechen! Ich wäre sonst so stumm wie ein Fisch gewesen.«

Meukoff schüttelte mir die Hand. »Es heißt, Fische seien große Konversationalisten unter Wasser«, erklärte er. »Alles, aber nicht stumm. Neueste wissenschaftliche Forschung. Sie können auch Deutsch mit mir sprechen.«

»Sind Sie Deutscher?«

Meukoffs breites Gesicht legte sich in viele Falten. »Nein. Ich bin ein Überbleibsel aus vielen Revolutionen. Jetzt bin ich Amerikaner. Früher war ich Tscheche, Russe, Pole, Österreicher, je nachdem der kleine Ort besetzt war, aus dem meine Mutter kam. Sogar Deutscher, während der Besetzung. Sie sehen durstig aus. Wollen Sie einen Wodka?«

Ich zögerte und dachte an mein zusammengeschwundenes Geld. »Was kostet ein Zimmer bei Ihnen?«, fragte ich.

»Das billigste zwei Dollar pro Nacht. Es ist allerdings nur eine kleine Kammer.« Meukoff ging zum Schlüsselbrett. »Ohne Luxus. Aber ein Bad ist auf demselben Korridor.«

»Ich nehme es. Ist es billiger pro Monat?«

»Fünfzig Dollar, fünfundvierzig bei Vorauszahlung.«

»Gut.«

Meukoff lächelte wie ein uralter Pavian. »Der Wodka gehört zum Vertragsabschluss. Das Hotel zahlt ihn. Ich mache ihn übrigens selbst. Er ist gut.«

»Wir machten ihn in der Schweiz einmal fünfzig zu fünfzig, mit einem Cuvée von Johannisbeerknospen auf einem Stück Zucker«, erwiderte ich. »Ein Apotheker lieferte uns den Alkohol. Der Wodka kostete so viel weniger als der billigste Schnaps. Es waren glückliche Zeiten, im Winter 42.«

»Im Gefängnis?«

»Im Gefängnis in Bellinzona. Leider nur eine Woche. Wegen illegalen Grenzübertritts.«

»Johannisbeerknospen«, sagte Meukoff interessiert. »Eine gute Idee! Aber woher nimmt man Johannisbeerknospen in New York?«

»Man schmeckt sie ohnehin kaum«, erwiderte ich. »Die Idee stammte von einem Weißrussen. Dieser Wodka ist sehr gut.«

»Das freut mich. Spielen Sie Schach?«

»Gefängnisschach. Kein Meisterschach. Flüchtlingsschach, um auf andere Gedanken zu kommen.«

Meukoff nickte. »Es gibt noch Sprachenschach«, sagte er. »Wird hier viel gespielt. Schach konzentriert so abstrakt, dass man dabei gut englische Grammatik repetieren kann. Jetzt werde ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«

 

Die Kammer war klein, sie hatte nicht viel Licht und ging zum Hinterhof hinaus. Ich bezahlte die fünfundvierzig Dollar und stellte meinen Koffer ab. Das Zimmer hatte eine gusseiserne Deckenbeleuchtung und eine kleine grüne Tischlampe. Ich probierte die Lampe; man konnte sie über Nacht brennen lassen. Das beruhigte mich. Ich hasste es, seit ich im Museum in Brüssel gewesen war, in völliger Dunkelheit zu schlafen. Dann betrachtete ich mein Geld. Ich wusste nicht, wie lange man von 49 Dollar in New York leben konnte, aber es bedrückte mich nicht. Ich hatte schon oft nur noch einen Bruchteil dessen gehabt. Solange man lebte, war nie etwas ganz verloren, hatte der verstorbene Sommer, dessen Pass ich trug, kurz vor seinem Tode zu mir gesagt; – sonderbar, wie falsch und richtig das zur selben Zeit sein konnte.

»Hier ist ein Brief von Robert Hirsch«, sagte Meukoff, als ich wieder herunterkam. »Er wusste nicht genau, wann Sie eintreffen würden. Am besten gehen Sie gegen Abend hin. Tagsüber arbeitet er; – wie fast jeder hier.«

Arbeit, dachte ich. Legal! Welch ein Glück! Wenn man das auch hätte! Ich kannte nur verstohlene schwarze Arbeit, immer in Angst vor der Polizei.

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III

Ich ging schon gegen Mittag hin. Ich wollte nicht so lange warten. Ich fand ein kleines Geschäft mit zwei Fenstern, in denen Radioapparate, elektrische Bügeleisen, Haartrockner, Mixer und elektrische Kochapparate ausgestellt waren; es funkelte überall von Metall und Chrom, – aber die Tür war verschlossen. Ich wartete eine Zeit lang; dann fiel mir ein, dass Robert Hirsch wahrscheinlich zum Essen gegangen war. Etwas enttäuscht kehrte ich um. Ich spürte plötzlich selbst einen scharfen Hunger. Ratlos sah ich mich um. Ich wollte essen, aber nicht zu viel Geld ausgeben. An der nächsten Ecke sah ich einen Laden, der wie eine Apotheke aussah. Irrigationsapparate, Flaschen mit Toilettenwasser und Reklamen für Aspirin standen im Schaufenster; aber durch die offene Tür sah ich eine Art Bar, vor der Menschen hockten, sie aßen. Ich trat ein. »Was soll’s sein?«, fragte mich ein weiß gekleideter Junge ungeduldig hinter der Theke.

Ich wusste im Augenblick keine Antwort. Es war das erste Mal, dass ich in Amerika etwas bestellte. Ich zeigte auf den Teller meines Nachbarn. »Hamburger?«, bellte der Junge.

»Hamburger«, erwiderte ich erstaunt. Ich hatte nicht erwartet, dass mein erstes englisches Wort deutsch sein würde.

Das Hamburger war saftig und gut. Ich aß zwei Brötchen dazu. Der Junge bellte wieder etwas. Ich verstand sein Stakkato nicht; aber ich sah, dass mein Nachbar jetzt Eiscreme aß. Ich zeigte wieder auf seinen Teller. Eiscreme hatte ich seit Jahren nicht mehr gegessen. Aber der Junge gab sich damit nicht zufrieden. Er zeigte auf eine lange Tafel, die hinter ihm aufgehängt war, und bellte lauter.

Mein Nachbar blickte mich an. Er hatte eine Glatze und einen Walrossschnurrbart. »Welche Sorte?«, sagte er zu mir, langsam wie zu einem Kinde.

»Das Übliche«, erwiderte ich, um loszukommen.

Das Walross lächelte. »Es gibt hier 42 verschiedene Sorten Eiscreme«, erklärte er.

»Was?«

Der Mann zeigte auf die Tafel. »Wählen Sie.«

Ich entzifferte das Wort Pistazien. In Paris verkauften die wandernden Teppichhändler Pistazienkerne an den Cafétischen. Als Eis kannte ich sie nicht. »Pistazien«, sagte ich. »Und Kokosnuss.«

Ich bezahlte und ging langsam hinaus. Es war das erste Mal, dass ich in einer Apotheke gegessen hatte. Unterwegs kam ich an den Theken für Rezepte und Medizinen vorbei. Man konnte hier auch Gummihandschuhe, Bücher und Goldfische kaufen. Welch ein Land, dachte ich, als ich auf die Straße trat. Zweiundvierzig verschiedene Eiscremes, Krieg, und kaum ein Soldat zu sehen.

 

Ich ging zum Hotel Rausch zurück. Ich erkannte die schäbige Marmorfront schon von Weitem wieder, und sie erschien in all der Fremde fast wie eine Art flüchtiger Heimat. Wladimir Meukoff war nicht zu sehen. Niemand war da. Das Hotel war ausgestorben. Ich ging durch eine kleine Halle mit Plüschmöbeln und ein paar trostlosen Palmen in Kübeln. Auch hier war niemand. Ich nahm meinen Schlüssel, ging auf mein Zimmer und legte mich angezogen auf mein Bett, um einen Augenblick zu schlafen. Ich erwachte und wusste nicht, wo ich war. Ich hatte geträumt, und es war ein schwerer ekelhafter Traum gewesen. Das Zimmer war jetzt voll einer rosigen, schwebenden Dämmerung. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Zwei Neger trugen unten Abfalltonnen heraus. Einer der Deckel fiel ab und schepperte auf dem Zementboden. Ich konnte mich jetzt auch erinnern, wovon ich geträumt hatte. Ich hatte geglaubt, all das würde mir nicht über den Ozean folgen. Ich ging ins Hotel hinunter. Meukoff war jetzt da; er saß mit einer sehr zierlichen alten Frau am Tisch und winkte mir zu. Ich blickte auf die Uhr. Es war Zeit, zu Robert Hirsch zu gehen. Ich hatte länger geschlafen, als ich gedacht hatte.

 

Eine Traube von Menschen drängte sich vor dem Laden von Robert Hirsch. Ich dachte an einen Unfall oder die Polizei; das war immer das Erste, woran man dachte. Rasch schob ich mich durch die Menge, dann hörte ich eine überlaute Stimme reden. Drei Lautsprecher standen jetzt im Fenster, und die Tür zum Geschäft stand weit offen. Die Stimme kam aus den Lautsprechern. Der Laden war dunkel und leer.

Plötzlich sah ich Hirsch. Er stand draußen unter den Zuhörern. Ich erkannte seinen schmalen Kopf mit den rötlichen Haaren sofort. Er hatte sich nicht verändert. »Robert«, sagte ich leise dicht hinter ihm gegen die mächtige, dreifache Stimme aus den Lautsprechern.

Er hörte mich nicht. »Robert!«, rief ich. »Robert!«

Er fuhr herum. Sein Gesicht veränderte sich. »Ludwig! Du? Wann bist du angekommen?«

»Heute Morgen. Ich war schon einmal hier, aber niemand war da.«

Wir schüttelten uns die Hände. »Gut, dass du da bist«, sagte er. »Verdammt gut, Ludwig! Ich dachte schon, du wärst tot.«

»Ich dachte das auch von dir, Robert. In Marseille wurde das überall erzählt. Es gab sogar Leute, die gesehen haben wollten, wie du erschossen wurdest.«

Hirsch lachte. »Emigrantengeschwätz! Außerdem lebt man länger, wenn man öfter totgesagt wird. Gut, dass du da bist, Ludwig.« Er deutete auf die dreifache Batterie von Lautsprechern im Fenster. »Roosevelt!«, sagte er. »Dein Retter spricht. Lass uns zuhören.«

Ich nickte. Die gewaltige, vergrößerte Stimme überdeckte ohnehin jede Emotion. Wir waren das auch nicht gewöhnt; man verlor sich auf der Via Dolorosa so oft aus den Augen und fand sich wieder oder nicht, dass man so sachlich und schweigsam darüber wurde, als wäre es alltäglich. Man starb, man wurde gefasst oder man sah sich irgendwann wieder. Man lebte, das war genug. Es war genug in Europa, dachte ich. Hier war es anders. Ich war aufgeregt; – außerdem verstand ich fast nichts von dem, was der Präsident redete.

Ich sah, dass auch Hirsch scheinbar nicht richtig zuhörte. Er beobachtete die Leute vor dem Schaufenster. Die meisten standen unbeteiligt da und lauschten; einige machten Bemerkungen. Eine dicke Frau mit aufgetürmten blonden Haaren lachte verächtlich, zog eine Grimasse, deutete auf ihren Kopf und schaukelte dann mit wiegenden Hüften davon. »They should kill that bastard!«, knurrte ein Mann in einer karierten Sportjacke neben mir.

»Was heißt ›kill‹?«, fragte ich Hirsch.

»Töten«, erklärte er lächelnd, »Morden. Das solltest du wissen.«

In diesem Augenblick schwiegen die Lautsprecher. »Hast du deshalb alle Apparate laufen lassen?«, fragte ich. »Als eine Art Zwangserziehung zur Toleranz?«

Er nickte. »Meine alte Schwäche, Ludwig. Ich kann es immer noch nicht lassen. Aber es ist hoffnungslos. Überall!«

Die Leute verliefen sich rasch. Nur der Mann in der Sportjacke blieb stehen. »Was reden Sie da eigentlich?«, knurrte er. »Deutsch?«