Das gesprengte Korsett - die Geschichte der Henriette von S. - Ilse Trenkle-Lippl - E-Book

Das gesprengte Korsett - die Geschichte der Henriette von S. E-Book

Ilse Trenkle-Lippl

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Beschreibung

Deutschland um 1870. Henriette soll den reichen Apotheker heiraten, den blassen Mann mit den schmalen Lippen. Ihr schaudert bei dem Gedanken an die Hochzeitsnacht. Bisher genießt sie mehr Freiheiten, als es für eine junge Frau aus dem Großbürgertum üblich ist. Doch den Heiratsplänen ihrer Mutter entkommt sie nicht. Niemand ahnt, dass der frisch angetraute Ehemann bald ein perfides Spiel mit Henriette treibt ... Zur gleichen Zeit faellt in Leipzig der Startschuss für die Deutsche Frauenbewegung. Unter der Decke einer streng geordneten Gesellschaft, zwischen Doppelmoral und Intoleranz, regt sich der Kampf um Gleichberechtigung und eine neue Lust am Leben. Eine Welt, in der Männer entscheiden was gut und richtig ist und im Zweifelsfall das letzte Sagen haben. Frauen müssen sich fügen und werden grundsätzlich über den Mann definiert: Zuerst sind sie Tochter von, dann Ehefrau von und am Ende Witwe von ... Ein Entkommen aus dieser engen Welt scheint unmöglich, denn kaum eine Frau ist wirtschaftlich unabhängig, was Voraussetzung für freies Handeln wäre. Bevor sich das nicht ändert, werden Frauen nicht zu ihrem Recht kommen - das ist die Überzeugung von Louise Otto-Peters. 1865 gründet sie in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Frauenverein und setzt damit den Startschuss für die deutsche Frauenbewegung.

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Historischer Hintergrund des Romans

Deutschland um 1870: Männer entscheiden was gut und richtig ist und im Zweifelsfall haben sie das letzte Sagen. Frauen müssen sich fügen und werden grundsätzlich über den Mann definiert: Zuerst sind sie Tochter von, dann Ehefrau von und am Ende Witwe von …

Ein Entkommen aus dieser engen Welt scheint unmöglich, denn kaum eine Frau ist wirtschaftlich unabhängig, was Voraussetzung für freies Handeln wäre. Bevor sich das nicht ändert, werden Frauen nicht zu ihrem Recht kommen – das ist die Überzeugung von Louise Otto-Peters. 1865 gründet sie in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Frauenverein und setzt damit den Startschuss für die deutsche Frauenbewegung.

Der Kampf um die gesetzliche Gleichstellung von Frau und Mann wird hundert Jahre dauern!

Bis eine Frau auch ohne Heirat ein vollwertiger Mensch ist, dauert es noch etwas länger: Erst 1971 ist eine unverheiratete Frau kein Fräulein mehr.

Autorin

Ilse Trenkle-Lippl lebt seit über dreißig Jahren in der Südpfalz. In ihrer Heimat Freiburg i.B. studierte sie Germanistik und Kunstgeschichte.

Das berufliche Engagement galt Ernährungs- und Gesundheitsfragen und dem Umweltschutz. Heute ist die Autorin im Ruhestand.

Das gesprengte Korsett ist ihr Debütroman.

Dieses Buch ist den tapferen Vorkämpferinnen der Deutschen Frauenbewegung gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Frühjahr – Herbst 1870

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Dezember 1870 – April 1871

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Mai – Dezember 1871

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Teil II

Januar – Mai 1872

Kapitel 1

Kapitel 2

Juni – Dezember 1872

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Weihnachten 1872

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Januar – Juni 1873

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Dienstag, 17. Juni 1873

Kapitel 33

Juli – Herbst 1873

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Das Jahr 1874

Kapitel 37

Die Jahre 1875 – 1884

Kapitel 38

Das Jahr 1885

Kapitel 39

Die weiteren Aussichten

Kapitel 40

Unschärfen

Quellen und Recherchen

Teil I

Das absolute Veto hat der Mann sich vorbehalten. Es ist immer dieselbe Tyrannei, wenn auch unter verschiedenen Formen.

Louise Otto-Peters, 1850

Frühjahr – Herbst 1870

1

»Henriette, sei so lieb und besorge mir eine Salbe aus der Apotheke. Du weißt schon, die mit den Ringelblumen.«

Für gewöhnlich ging Mutter selbst zur Apotheke oder schickte das Hausmädchen. Seit einiger Zeit war es anders.

Der Apotheker, Herr Adrian Brielow, war vor drei Jahren Witwer geworden. Seitdem warb er heftig um Henriettes Gunst. Ein Anwärter, der sich nicht von ihrem Alter abschrecken ließ. Henriette war beinahe achtundzwanzig Jahre alt, zu alt, um noch als frische Braut zu gelten und eine glänzende Partie zu machen. Andere Bewerber waren längst abgesprungen.

In Mutters Augen galt Herr Brielow deshalb als der ideale Ehekandidat, die letzte verbliebene Partie von all den guten, die Henriette ausgeschlagen hatte.

»Vergangene Woche war es ein Pulver, heute eine Salbe. Mutter, gib dir keine Mühe, ich werde den Apotheker nicht heiraten. Schon der Name: Adrian – das klingt wie Baldrian. So stelle ich mir das Leben an seiner Seite vor, zum Einschlafen langweilig. Und wenn ich es richtig weiß, ist er siebzehn Jahre älter als ich – Mutter, siebzehn Jahre! Was soll ich mit so einem alten Mann anfangen?« Henriette schüttelte sich, als ob ihr etwas in den Kragen gefallen wäre.

Henriettes bevorzugte Buchhandlung lag gegenüber der Apotheke. Ein Plausch mit dem verständigen Buchhändler und der Kauf neuer Lektüre, waren der Lohn für den Gang zur Brautschau, oder wie sollte sie es nennen: Hengstparade?

Über der Tür zur Apotheke thronte ein großer Adler aus Stein. Wie im Sturzflug kam er herab, drohte die Kunden anzugreifen. Henriette zitterte jedes Mal, wenn sie unter dem Vogel hindurch ging.

Die helle Türglocke läutete, als sie eintrat. Henriette sah sofort, dass Herr Brielow im Kundengespräch war – Gottlob, der Gehilfe würde sie bedienen.

»Guten Tag, Fräulein von S …«

»Augenblick«, unterbrach ihn der Apotheker, kam heran, schob den Gehilfen zur Seite und zeigte mit dem Finger ans Ende der langen Verkaufstheke: »Übernehmen Sie den Kunden dort, hier bediene ich weiter.«

Jetzt stand er selbst vor Henriette, rückte sich den Kragen zurecht und begrüßte sie diensteifrig: »Gnädiges Fräulein, wie schön Sie zu sehen. Ich hoffe Sie sind wohlauf und Ihre Frau Mutter ebenso. Womit kann ich Ihnen heute dienen?«

»Guten Tag Herr Brielow. Meine Mutter verlangt nach der Ringelblumensalbe«, erklärte sie und erschauderte bei dem Anblick des blassen Mannes, der die Hälfte seines Haares schon eingebüßt hatte und nur noch einen dünnen Haarkranz aufweisen konnte. Die Augen dunkle Dreiecke, Nase spitz, Mund schmal, der sich kaum öffnet wenn er spricht, die Zähne nicht freigeben will. Er wird doch welche haben?

»Sehr wohl, sehr gerne, darf ich fragen ob es eine kleine oder große Dose sein soll?«

»Die größte, die Sie haben. Ein Vorrat kann nicht schaden.«

»Oh, diese Menge muss ich erst anmischen, das ist keine Mühe, Augenblick bitte«, lächelte Herr Brielow mit dünnen Lippen.

Hände ohne Kraft halten Pipetten, drehen Pillen, stoßen Pulver mit Stößel und Mörser. Nicht zu glauben.

Die Finger fein und lang, die Nägel gelblich blass. Fließt darunter kein Blut?

Seifenglatt, kein Mann zum Festhalten.

Riecht er gut? Nein, das möchte Henriette nicht wissen, und tritt einen Schritt zurück. Gibt es etwas Angenehmes? Er ist schlank, nicht zu klein, geschickt und flink. Schultern wohlgeformt, Ohren anliegend.

Jetzt war er fertig und füllte mit einem Spatel die Masse in eine große Dose. Die Menge wird zwei Jahre ausreichen, dachte Henriette zufrieden und bezahlte die verlangte Summe.

Herr Brielow verabschiedete sie noch nicht, stattdessen schmunzelte er bedeutungsvoll, zog eine Schublade auf und nahm diskret ein kleines Päckchen heraus.

»Hier bitte, darf ich Ihnen das kleine Präsent verehren, gnädiges Fräulein.« Er überreichte ihr eine bunte Seifenschachtel, aus der Maiglöckchenduft strömte. Henriette bedankte sich und wandte sich zum Gehen um. Im selben Moment stürzte Herr Brielow hinter der Theke vor, zog mit zwei langen Schritten an ihr vorbei und hielt ihr die Tür auf: »Herzlichen Dank, Grüße an die Frau Mutter, auf Wiedersehen.«

Seine Freundlichkeit ist beängstigend. Seine Manieren verstörend korrekt. Nein, diesen Mann kann ich nicht heiraten und einen anderen auch nicht, dachte Henriette erneut. Die Furcht, einem Mann all ihre Freiheit opfern zu müssen, war mindestens so groß wie die Furcht vor dieser einen Sache: Schon der Gedanke, dass ihr ein Mann nahe käme, sehr nahe, mit Mund und Hand und – oh Gott …

Und doch, es musste herrlich sein nach all dem, was sie in schönen Umschreibungen in ihren Liebesromanen las: Einmal in den Armen eines Mannes zu liegen.

Am Nachmittag saßen Mutter und Tochter im Damensalon. Wie jeden Tag. Jahr um Jahr. Alles dreht sich um den seidenen Faden, der an ihrem Leben hängt, an den Fingern klebt.

Heute war es besonders fürchterlich. Das feine Garn wollte nicht durch das Öhr schlüpfen, wollte sich nicht mit der Nadel zu einem Paar vereinen. Und jetzt stach die Nadel zu.

»Ich blute!«, rief Henriette erschrocken und stach zurück: Sie drückte die Nadel so fest in das Nadelkissen, dass sie sich verbog.

»Muss das sein?«, tadelte Mutter, ohne von ihrer eigenen Handarbeit aufzusehen. Du bist doch fast am Ziel. Nur noch sechs Servietten und zwei Tischdecken musst du mit deinem Monogramm H.v.S. versehen, dann kannst du heiraten.«

»Ich habe genug von der ewigen Stickerei und heiraten werde ich sowieso nicht.« Verärgert warf Henriette ihre Handarbeit in den Nähkorb zurück und sprang auf. Mit drei Sätzen umrundete sie den prächtigen Nähtisch, schon war sie bei der Tür. Kopfschüttelnd sah ihr Mutter nach und blieb alleine im Damensalon zurück, wo die weibliche Behaglichkeit zu Hause war: Die zierliche Sitzgruppe rund um den Nähtisch, der große Tisch für die Damenkränzchen und Mutters ganzer Stolz – eine Vitrine, gefüllt mit edlem Porzellan. Jedes Jahr kamen ein oder zwei Stücke hinzu.

Der Damensalon passte zu dem bescheidenen Herrenhaus der Familie, das am Rande des Städtchens Hagenwalde im Mecklenburgischen lag. Der Waldbesitz war groß. Mit ihm sicherte der Vater den Wohlstand. Zu gerne hätte er die ganze Chose in die Hand der nächsten Generation gelegt, doch das einzige Kind war Henriette und ein tüchtiger Schwiegersohn nicht in Sicht.

Der kleine Schmerz am Finger stört nicht mehr, jetzt ist alles gerade so schön, Henriette sitzt am Klavier. Das ist ihr das Liebste, außer Lesen. Beides ist beachtlich, ihr musikalisches Repertoire und der Inhalt ihrer Bücherschränke.

Heute darf es Schubert sein: Moment musicaux Nr. 3. Henriette dehnt die kleine geliebte Melodie auf mehr als drei Minuten aus. Ton für Ton gibt sie sich hin, träumt sich weg. Beim zweiten Durchgang wird sie schneller, ein wenig lauter – jetzt in erregter Unruhe.

Beim dritten Mal unterzieht Henriette die Tasten des Klaviers einer harten Prüfung, katapultiert sich in glühende Höhen der Gefühle, presto prestissimo, in einer Minute ist sie durch damit, in Variationen geht es weiter, immer weiter …

»Warum so vehement?«, rief Mutter in den großen Salon und hielt sich eine Hand an den Mund, um den Ruf zu verstärken.

»Wenn ich mehr Verve in die Musik bringe, geht mir das Herz auf, darum!«, rief Henriette ebenso laut zurück, ohne den Blick von den Tasten zu nehmen.

Ängstlich kam Mutter näher. Wie vor einem tosenden Wasserfall blieb sie in einigem Abstand zu dem Instrument stehen, wartete und knotete die Hände ineinander.

Mit geübter Hand drosselte Henriette Tempo und Lautstärke. Ein Segen für Mutters Gehör.

»Am Klavier tobst du dich aus, draußen in der Welt bist du ängstlich wie ein Rotkehlchen am Futterplatz. Nie dort, wo alle sind.«

»Wie schmeichelhaft. Rotkehlchen sind die interessantesten Vögel überhaupt, weißt du das Mutter? Sie sind Begleiter des rotbärtigen Thor, dem Starken unter den Göttern. Was ihnen an Mut fehlt, gleichen sie mit ihrer Klugheit aus.«

»Was du nicht sagst, aber ich fragte, warum du am Klavier immer so laut werden musst und nicht spielst, wie es sich gehört?«

»Musik ist wie eine Speise, ohne Pfeffer wird das nichts. Versuche, es nur ein Mal so zu hören wie ich. Ich fange nochmal an, ja?«

»Nein, nein, ich bitte dich, dreimal dasselbe Stück. Spiele etwas, das du noch üben musst. Aber bitte so, wie es der Lehrer dir angewiesen hat, hörst du?«

»Das ist langweilig. Im Steigern liegt der Reiz! Zuerst langsam und still, dann schneller, heftig, mit allen Gefühlen voran und – ja, wie soll ich sagen – wie in einer Explosion endend!«

»Gütiger Gott! Das klingt ja geradezu, ach …«

Mit einer hilflosen Handbewegung ging Mutter zur Tür zurück, drehte sich noch einmal um und schüttelte den Kopf.

Jetzt fiel der Klavierdeckel zu.

Noch erregt vom Klavierspiel sprang Henriette nach oben in ihr Zimmer, nahm dabei zwei Stufen auf einmal, das war verboten, ihr war das egal, und warf sich auf ihr Bett.

Mit geschlossenen Augen spürt sie dem feurigen Strom nach, der immer noch ihren Leib durchzieht, mal hierhin, mal dorthin, an manchen Stellen verweilt. Zu gerne möchte sie mit ihren Händen diesen Bahnen folgen, will prüfen, ob sich die geliebten Empfindungen ertasten lassen, aber auch das ist verboten, wie so vieles, das weiß sie – warum, weiß sie nicht. Es sind ungesagte Regeln, Botschaften, die sich zwischen allen Sätzen heraus zwängen. Sie bezähmt sich.

Das Bett, auf dem sie lag, war das Bett der Großeltern, ein edles Erbstück. Am Kopfende war die Jahreszahl 1805 mit Intarsien eingelassen, das Jahr, in dem Vaters Eltern geheiratet hatten. In diesem Bett wäre er gezeugt worden, gab er manchmal lachend zum Besten. Alle anderen Möbel waren weiß lackiert.

Es träumte sich gut in diesem Ambiente und Henriette folgte ihren Sehnsüchten, für die sie keine Namen kannte und schickte am Ende ein Gebet an ihre drei heiligen Wünsche, die sie dem Leben noch abtrotzen wollte, noch ist nichts verloren, dachte sie.

2

»Ein Mann kommt voran, im Leben, Beruf und Karriere. Von einer Frau wird erwartet, dass sie zurücksteht, Ich habe keine Lust, mein Leben in einer Sackgasse zu verbringen, in der ich auch noch auf der Stelle trete! Da bleibe ich lieber ledig und frei«

Längst hatte sich die übliche Harmonie im Damensalon verzogen, beide Frauen standen einander gegenüber, nur der Nähtisch hielt sie auf Abstand. Das schöne Möbel beherbergte alles, was Henriette verabscheute: Nähzeug aller Art.

»Großer Gott, so ist die Ordnung in der Welt. Warum möchtest du das nicht begreifen?«, flehte Mutter mit erhobenen Händen wie ein Priester beim Segnen, um sie resigniert wieder fallen zu lassen. An den Hüften kamen sie klatschend zum Stillstand.

»Im Hafen der Ehe muss ich all meine Sehnsüchte über Bord werfen. Ich werde mich selbst vergessen müssen, um einen Mann zufriedenzustellen. Wenn er am Ende sein Leben gelebt hat, habe ich meins dafür aufgeben.«

»Willst du dich schutzlos allen Gefahren ausliefern, die auf eine Frau lauern, draußen in der Welt?«, forderte Mutter sie heraus.

»Der Ehemann selbst ist die Gefahr! Ihm bin ich schutzlos ausgeliefert, so ist das. Wenn er mich schlecht behandelt, bleibt mir nur die Verzweiflung bis ans Ende aller Tage. Das fürchte ich.«

»Was sind das für Reden, Kind, wo nimmst du solche Vorstellungen her? Liest du so etwas in deinen Büchern? Da wäre es besser gewesen, wir hätten dir das Lesen verboten, als es noch Zeit dafür war.«

»Niemals zwänge ich mich in ein Ehekorsett.«

»Ach, mein Mädchen …«, versuchte Mutter es mit Milde.

»Ich bin kein Mädchen mehr, wenn ich das bemerken darf.«

»Das ist ja das größer werdende Hindernis, dein Alter. Es wird höchste Zeit. Bald sind alle Partien verloren, die dir ein angemessenes Leben bieten können.«

Henriette öffnete die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse, ihr war heiß. Nichts wie hinaus ins Freie!

Mit einem lauten Knall landete der Stein an einem Baumstamm. Noch war es März. Zwischen blattlosen Birken und Ebereschen oder in die andere Richtung zwischen Kiefern und Vaters Stolz dem Mammutbaum, sausten die Steine durch den kleinen Park des Herrenhauses.

Den Bogen mit dem Werfen hatte Henriette schon lange raus, sich dabei schon manchen Ärmel zerrissen. Für solche Übungen waren die eng genähten Frauenkleider nicht vorgesehen, außerdem war es unschicklich, sich als Frau derart zu bewegen.

Henriette bediente sich an dem Steinhaufen, der am Rande des Gemüsegartens aufgeschichtet war. Er bot reichlich Auswahl an Wurfgeschossen. Wieder der geliebte, tiefe Ton, als sie einen Baum traf: Das dumpfe, kurze Jaulen, der Schmerz, den der Baum wegstecken musste. Er war Stellvertreter für das, was sie gerne herausgeschrien hätte: »Ein Leben zwischen Damenkränzchen, edlem Porzellan und feinen Handarbeiten ist mir zu eng!«

3

»Ich werde bald nach Berlin fahren müssen«, meinte Vater beiläufig, als er sich zum zweiten Mal von dem guten Rehbraten auftun ließ. »Habt Ihr Wünsche, kann ich Euch etwas von dort mitbringen? Noch habt Ihr Zeit darüber nachzudenken«, schmunzelte er und zwinkerte mit dem linken Auge.

»Ich möchte gerne mitfahren, Vater. Bisher war ich dir zu jung dafür, aber jetzt gibt es keine Ausreden mehr, nicht wahr?«, zwinkerte Henriette zurück, schneller, als Vater die Gabel zum Mund führen konnte. Überrascht setzte er sie wieder ab.

Mutter senkte ebenso ihr Besteck: »Nach Berlin?«

»Ja, sicher. Warum nicht. Ich war noch nie dort und du, Mutter, kommst mit. Einmal im Leben in die Hauptstadt fahren, das wäre doch was oder nicht?«

Mutter straffte sich, als ob sie vor einem schlechten Geruch zurückweichen wollte und nahm ihr Besteck wieder auf.

»Kind, du hast vielleicht Ideen«, meinte sie und schob sich ein Stück Kartoffelkloß auf ihre Gabel. Zum Essen kam sie nicht, Henriette ließ nicht locker.

»Was spricht dagegen? Kann mir das jemand erklären?«

»Dagegen spricht, dass ich aus meiner Heimat Hagenwalde niemals weggehe, auch nicht für eine Woche.« Jetzt durfte das Stück Kartoffelkloß ihren Mund passieren, aber sehr geschmeidig ging es nicht die Kehle hinunter. Mutter war angespannt.

»Es wäre auch langweilig für dich, liebes Kind«, erklärte Vater, »vier lange Stunden Fahrt, das ist kein Vergnügen, glaube mir. Ich fahre auch nicht alleine, wie du dir denken kannst. Einige andere Waldbesitzer und ich haben geschäftlich in Berlin zu tun. Ich würde keine Zeit haben, mich um dich zu kümmern, das verstehst du doch?«

»Du musst dich doch nicht um mich kümmern!«, lachte Henriette und warf den Kopf in den Nacken. »Ich werde mich schon beschäftigen. Es wird mehr zu sehen geben, als ich in ein paar Tagen entdecken kann.« Beherzt stieß sie zweimal mit der Gabel in die Salzbohnen und aß sie mit Genuss.

Mutter wischte sich mit der Serviette den Mund und nahm einen Schluck Wasser.

»Du wirst doch nicht alleine durch Berlin gehen wollen? Glaube mir, dort ist den Menschen nichts mehr heilig, nicht Gott, nicht Ehe, nicht Pflichtgefühl. Dort rauschen Reich und Arm, Vornehm und Gering durcheinander wie ein Gebirgsbach im Sturz, reißen jeden mit, vor allem eine junge, unerfahrene Frau. Bleibe hier, nutze deine Zeit bis zur Heirat, nähe deine Aussteuer fertig und lasse dich von mir in die Geheimnisse einer guten Ehe einweihen. So gehört sich das, Kind. Und jetzt möchte ich gerne in Ruhe zu Ende essen.« Vater nickte zaghaft. Henriette schob ihren Teller beiseite und spielte mit dem Dessertlöffel.

Nach dem Essen zogen sich alle in ihren Winkel des Hauses zurück. Henriette stürmte nach oben, Mutter hatte es nicht weit zu ihrem Damensalon. Vaters Herrenzimmer lag gegenüber, an der Westseite des Hauses.

Sein Reich war ein harmonisches Ensemble gediegener Eichenmöbel. Auf dem Schreibtisch lagen immer einige Eicheln, die er im Wald aufsammelte. Im Haus trug er stets eine grüne Jacke. Sie war mit braunen Lederknöpfen verschlossen und schon etwas in die Jahre gekommen. An einem Ärmelbund war sie bereits zwei Mal ausgebessert worden, sehr zum Missfallen seiner Gattin, doch aufgeben wollte er das gute Stück nicht.

Mutter traf man entweder in einem grauen oder hellbraunen Kleid an. Einfach im Schnitt, teuer im Stoff und gut gearbeitet.

Henriettes Garderobe ließ zu wünschen übrig: zu wenig, zu abgetragen, zu schlicht. Die Schneiderin kommen zu lassen, war ihr ein Gräuel, was Mode war, interessierte sie wenig. Nur bequem musste es sein und hell, dunkle Stoffe mochte sie nicht. Der schwarze Wintermantel war in dieser Hinsicht die einzige Ausnahme. Niemand nahm Anstoß daran, dass sie zu Hause auf ein Mieder verzichtete und ihr langes Haar offen trug, nur mit einem Band zusammengehalten. Ging sie außer Haus, was selten vorkam, steckte sie es auf.

»Komm Rufus, lauf, bring das Stöckchen!«

Heute flogen keine Steine durch dichtes Grün. Es war April. Nur die zwei Nussbäume standen noch ohne Laub, wie abgestorben. Heute musste Vaters Hund herhalten, um Henriettes Glut zu kühlen.

»Brav, du bist der Beste.« Rufus wedelte mit dem Schwanz und wartete auf neue Beute. Henriette holte aus. Schon sauste das Stöckchen erneut davon, landete mitten auf dem tadellosen Grün des Rasens. Rufus jagte hinterher.

Ist es zu viel verlangt, wenn ich einmal von hier wegkommen möchte?, dachte sie und lockerte ihren Arm. Vor ein paar Jahren schmetterten die Eltern zwei ihrer heiligen Wünsche ganz ähnlich innerhalb einer Minute ab.

Einen Flügel wollte sie haben, andere Wirkungen erzeugen als auf dem Klavier.

Und nach Paris wollte sie reisen, den Zauber dieser Stadt erleben, von der sie so viel gehört und gelesen hatte.

Warum einen Flügel, fragten die Eltern, ist das nicht zu vermessen für eine Frau?

Nach Paris? Gott bewahre, in diesen Sündenpfuhl. Warum ausgerechnet dorthin, dazu noch alleine, ist das nicht zu gefährlich für eine Frau?

Rufus kam zurück. Bald würde Vater losfahren, dachte Henriette und warf das letzte Stöckchen weit davon.

4

Mutter stand vor dem Haus und winkte den beiden nach, im Gleichschritt marschierten Vater und Henriette davon. Rufus lief voraus.

Vater hatte seine Tochter am Ende doch nach Berlin mitnehmen wollen, aber Mutter war drei Tage krank vor Angst gewesen. Er gab nach und reiste alleine ab. Gestern war er zurückgekommen.

Heute war Henriette mit ihm zu einer gemeinsamen Tour in den eigenen Wald unterwegs. Wenn ihnen auf dem Weg jemand begegnete, nickte Vater freundlich und zog leicht den Hut. Einen schönen Wanderhut hätte Henriette auch gerne gehabt, aber so etwas führte das Hutgeschäft der Stadt nicht. Dagegen fertigte ihr der Schuhmacher schon vor Jahren feste Schuhe an, mit denen sie mit Vater gut Schritt halten konnte. Mit dem feinen Schuhwerk einer Dame wäre sie auf Waldwegen nicht weit gekommen.

In drei großen Sprüngen hüpfte sie jetzt wie ein Mädchen neben Vater her, um danach mit ihm wieder Tritt zu fassen. Er lachte, legte seinen Arm um ihre Schultern und zog seine Tochter für einen Moment an sich, in der hellen Nachmittagssonne inmitten des Vogelgesangs, der links und rechts aus den Hecken quoll.

Ja, Vater freute sich über Henriettes Begleitung. Sonntags spielte er auch Schach mit ihr oder diskutierte den einen oder anderen Artikel des Sonntagsblattes. Sie war ihm Tochter und Sohn zugleich.

»Wenn ich etwas fragen darf, Henriette, so ganz verstehe ich nicht, warum du einer Heirat so ablehnend gegenüber stehst. Ist es nicht der Wunsch jeder Frau, einen Mann an ihrer Seite zu haben?«, wollte Vater wissen, als sie die Felder hinter sich gelassen hatten und jetzt alleine waren, unter dem hellen Grün des Waldes.

»Nein, für mich gilt das nicht und für ein Leben als Hausfrau bin ich auch nicht geschaffen. Viel lieber möchte ich etwas Sinnvolles für die Gesellschaft leisten, gebe aber zu, dass ich noch nicht weiß, was und wie ich das anstellen könnte.«

»Du hättest ein Lehrerinnenseminar besuchen können, doch wie du dich sicher erinnern wirst, war die Aufregung vor der Aufnahmeprüfung ebenso groß, wie es Jahre zuvor bei der Prüfung für die Höhere Töchterschule gewesen war. Deine schwachen Nerven hindern dich, solche Wege zu gehen, ist es nicht so?«, fragte er ruhig weiter, im gleichen Tempo, wie sie ihre Schritte setzten. Es war seine Melodie, mit ihr zu sprechen.

»Das ist lange her, Vater. Heute fühle ich mich dem Leben gewachsen und versäumt habe ich sicher nichts. Durch den Privatunterricht den ich genießen durfte, stehe ich eher noch besser da, als andere. Ich habe doch eine gute Bildung, habe die französische Sprache gelernt und das Klavierspielen nicht zu vergessen. Für all das bin ich auch sehr dankbar.«

»Natürlich wollten wir dich damit auf eine gute Partie vorbereiten, das weißt du. In unseren Kreisen macht sich das gut, wenn eine Frau etwas Bildung hat. Für die Karriere des Mannes kann das nur nützlich sein, nicht wahr?«

»Mag sein, aber ich möchte meine Fähigkeiten für mich selbst nutzen und nicht bloß im Schatten eines Mannes eine gute Figur abgeben. Eigenständig möchte ich sein und selbst entscheiden, was ich tue oder lasse. Dazu bin ich durchaus in der Lage.«

»Wie stabil man im Leben steht erweist sich erst, wenn einem schwere Stürme entgegen blasen, mein Kind.«

»Lass uns bitte über etwas anderes sprechen oder schweigen, ja«, bat Henriette, sammelte einige Kiefernzapfen auf und schleuderte sie mit Vergnügen auf den Weg voraus. Rufus eilte hinterher, fand sie aber nicht, verweilte stattdessen an einer anderen Sache am Wegesrand.

In flottem Tempo gingen sie weiter, bis sie an drei großen Kiefern vorbeikamen, die bedrohlich schief über dem Weg hingen.

»Oh, die hätten längst gefällt werden müssen. Das kann gefährlich werden. Nicht auszudenken, wenn da jemand zu Schaden kommt. Erinnere mich daran Henriette, dass ich später noch beim Förster vorbeigehe.« Henriette versprach, daran zu denken.

Pünktlich zur Kaffeestunde waren sie zurück. Bevor die erste Tasse geleert war, zirkelte Mutter ihre Rede geschickt auf den Kandidaten.

»Ach, ehe ich es vergesse Henriette, der Herr Apotheker lässt dich grüßen. Er möchte dich einladen, wozu hat er nicht gesagt.«

»So, so.«

»Gib dir einen Ruck Henriette. Er ist eine sichere Partie, du wirst es nicht bereuen.«

»Wir treten eines Tages ab, das ist gewiss«, schaltete sich Vater vorsichtig ein. »In solch ein Haus hier gehört ein Mann, der die ganze Chose leitet. Da wirst du mir zustimmen oder nicht?«

»Gebt Euch keine Mühe, ich werde niemals heiraten. Aber hier bleiben werde ich schon. Mit einem Verwalter ist das möglich, andere stellen auch Verwalter ein.« Henriette nippte an dem heißen Kaffee, beim Absetzen wackelte die Tasse.

»So einfach ist das nicht, denk nach Henriette. Ein Verwalter soll den Besitz eines anderen erhalten und mehren. Er bekommt aber nur den kleinsten Teil des Ertrags, den er durch gute Arbeit erwirtschaftet. Es liegt auf der Hand, dass er versucht ist, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Da kannst du ihn so gut bezahlen wie du möchtest. Vor hundert Jahren mag es treue Verwalter gegeben haben, diese Zeiten sind vorbei. Du musst selbst von allen Vorgängen etwas verstehen, um seine Arbeit kontrollieren zu können und mit ihm Absprachen zu treffen. Bei aller Liebe und Respekt vor deinem Verstand – Kind, das geht nicht.«

»Dann weise mich in diese Aufgaben ein, warum nicht, Vater?«

»Einfacher wäre es, einen Ehemann zu wählen, der unseren Besitz selbst verwalten kann oder einem Verwalter gewachsen ist. Es hat vielversprechende Kandidaten gegeben, wie du weißt. Tüchtige junge Männer, die als Nachgeborene darauf angewiesen sind, durch Heirat zu solch einer Wirtschaft zu kommen. Du hast alle abgelehnt.« Mit einer ausladenden Handbewegung unterstrich er seine Feststellung.

»Ich bitte dich, Vater. Diese Bewerber mögen noch so tüchtig sein, aber das wären doch keine Ehemänner für mich gewesen. Der eine in meinem Alter und schon rund wie ein Fass, der andere zwei Meter groß und gebaut wie ein Holzfäller. Unter seinen Händen muss ich fürchten, mir alle Rippen zu brechen. Niemals kann ein Mann mit solcher Kraft einer Frau mit Zärtlichkeit begegnen – ausgeschlossen!«

»Auf Äußerlichkeiten kommt es nicht an, das wirst du noch lernen«, warf Mutter ein. »Einen Mann, der dich führen kann, wirst du lieben können, ganz gleich, wie er aussieht. Nutze was du kannst. Du spielst so wunderschön Klavier, das gefällt doch jedem Mann. Vorausgesetzt, du spielst so, wie es sich gehört und gibst dich nicht Gefühlssteigerungen hin, bis sie in einer – Gott bewahre – Explosion enden! Lerne dein Temperament und deine Gefühle zu beherrschen, zügle dein lautes Lachen, mehr verlangt kein Mann von dir. Was ist daran so schwer?«

Später am Abend bekam Vater Besuch von einigen Freunden, mit denen er hin und wieder bei Cognac und Zigarren in seinem Herrenzimmer saß. Die gute Stimmung war nicht zu überhören.

Die beiden Frauen genossen den Abend plaudernd bei einem Gläschen Likör im Damensalon. Zu guter Letzt gönnte sich Henriette eine Tasse Kakao, die sie wie immer selbst zubereitete. Das Hausmädchen war schon zu Bett gegangen, aber an den Kakao ließ Henriette ohnehin niemanden ran, das war eine Wissenschaft für sich und der einzige Luxus, den sie sich persönlich leistete.

Danach ging sie zu Bett. Ohne weitere Gedanken schlief sie ruhig ein.

5

Vater lässt die grüne Hausjacke mit den braunen Lederknöpfen über der Stuhllehne im Herrenzimmer hängen. Sie hat den gleichen Farbton wie der Ledersitz des Schreibtischstuhles. Auf dem grünen Sitz prangt seit ewigen Zeiten ein schwarzer Tintenfleck am rechten Rand. Auf dem Weg zum Fußboden, hatte die Tinte eine feine schwarze Bahn auf dem Rahmenholz gezogen. Auf immer sichtbar. Wenn man genau hinschaut, sind auch auf dem Parkettboden noch Flecken zu sehen. Drei winzig kleine und einer so groß wie eine Erbse. Damals war das ein Malheur – wert, vier Tage oder noch länger erwähnt zu werden. Mit der Zeit gewöhnte man sich an die Fehlstelle, sah sie nicht mehr, obwohl sie immer da war.

Jetzt hängt die Hausjacke über der Lehne. Vater hat sie gegen den leichten Mantel getauscht, mit dem er sich auf den Gang in den Wald begibt. In zwei Stunden möchte er zurück sein, die Jacke wieder überstreifen, sich zu Tisch setzen – Mittagszeit mit Frau und Tochter halten.

Die grüne Jacke wird über der Lehne hängen bleiben, Vater kommt nicht zurück.

Der Förster, Vaters Arbeiter und er selbst, trafen sich im Wald bei den drei großen Kiefern, um zu beraten. Es war unumgänglich die Bäume zu fällen, alle drei. Die Arbeiter legten Axt und Säge an, doch eine Kiefer fiel nicht wie gedacht. In Sekundenschnelle war es geschehen. Rufus konnte noch zur Seite springen, sein Herrchen nicht mehr …

»Wo bleibt er denn? Das Essen wird kalt.« Mutter war verärgert. Sie warteten bereits eine halbe Stunde. Das Hausmädchen trug das Essen in die Küche zurück und stellte es in die Röhre.

»Warmhalten ist nicht wie frisch gekocht, dass der Mann nicht pünktlich sein kann.« Mutter spielte mit dem Messer und schaute zum dritten Mal auf die Standuhr im großen Salon.

»Henriette, sieh doch nach, ob er im Anmarsch ist, sei so gut.« Henriette ging hinaus um nachzusehen.

»Mutter!«

Henriette schrie durch alle Wände und presste sich die Fäuste vor den Mund.

»Um Gottes Willen, Kind, was schreist du denn so?« Mutter kam ihr in die kleine Empfangshalle nach und schlug sich ebenfalls die Hand vor den Mund: Ein unbekannter Mann stütze ihre zitternde Tochter. Oh Gott!?

Der Unglücksbote wusste nicht, welche der beiden Frauen er zuerst halten sollte. Beide wankten. Die böse Botschaft – wie Schlangengift eingedrückt und nicht wieder herauszubekommen. Wie sollte man sie überleben?

Im Schmerz vereint traf es jede anders. Mutter fiel in einen Dämmerzustand, augenblicklich wollte sie ihrem geliebten Mann in die Gruft folgen, wenn Gott es nur gnädigerweise so geschehen lassen wollte. Ja, sie glaubte ihren eigenen Tod bereits zu fühlen.

Henriette fiel in ein Fieber und konnte bis zur Beerdigung das Bett nicht mehr verlassen.

Das Haus lag in steter Dämmerung. Alle Fensterläden waren geschlossen. Der strahlende Frühling musste draußen bleiben. Niemand verlor ein Wort zu viel. Jeder ging lautlos durchs Haus und nicht mehr, als notwendig.

Das war Pastor Heinrichs Stunde. Er war zur Stelle und kümmerte sich um die Formalitäten. Der Seelsorger kannte sich aus in Haus und Leben der Familie. Er hatte die Kinder getauft und wieder beerdigt. Nur Henriette überstand alle Krankheiten im Kindesalter und war von ihm konfirmiert worden. Die Einsegnung als Braut ließ noch auf sich warten. Das Unglück des Hausherrn trug er mit einem ausführlichen Kommentar in das Kirchenbuch ein.

Freunde des Vaters holten am Tage der Beisetzung die beiden Frauen ab. Henriette trug ein schwarzes Kleid der Mutter, selbst besaß sie nichts in dieser Art, schlotternd hing es an ihr herunter, war es doch auf die Figur der Mutter genäht. Ihr blasses Gesicht konkurrierte mit der Schwärze des Stoffes, man konnte nicht sagen, was trauriger stimmte. Wer sie sah, weinte auch für sie eine Träne.

Mutter versteckte ihr Gesicht hinter einem schwarzen Tüllschleier. Die Auswahl des richtigen Kleides war für sie keine Frage, ihr Kleiderschrank war voll davon, erteilte sie doch für gewöhnlich jedem Verstorbenen die letzte Ehre auf dem Friedhof ihrer Heimatstadt. Die beiden Frauen fragten sich vielmehr, wie sie diesen Tag, ja, den Rest ihres Lebens überstehen sollten – ohne den geliebten Gatten, ohne den wohlmeinenden Vater.

Das Unwiderrufliche krallte sich fest, ließ nicht mehr locker. Aushalten, einatmen, aushalten, ausatmen …

Schon zwei Tage nach der Beerdigung sprach Pastor Heinrich wieder vor. Die beiden Frauen saßen blass am Tisch und starrten ihn schweigend an. Vergebens wartete er darauf, dass man ihm Platz anbot. Er hielt den Hut in der Hand und wartete. Schließlich rückte er sich selbst einen Stuhl zurecht, nahm Platz und legte den Hut auf den Tisch.

»Es ist Zeit, Entscheidungen zu fällen. Wie geht es hier weiter, mit dem Haus, dem Waldbesitz, den Verpflichtungen?«, fragte er.

»Hier kann ich nicht bleiben. Hier, wo alles auf Schritt und Tritt an meinen geliebten Gatten erinnert«, erklärte Mutter.

»Hier kann ich nicht weg. Es ist mein Zuhause, auf immer«, stellte Henriette fest.

»Meinem nahen Ende werde ich in aller Stille entgegen gehen, aber niemals hier, nein, das geht nicht«, wiederholte Mutter.

»Hier ist mein Platz und mit Hilfe eines Verwalters kann ich an Vaters Stelle treten …«

Die Argumente flogen hin und her, nicht wie noch wenige Wochen zuvor, als es um Heiraten oder nicht Heiraten ging. Heute waren die Stimmen heißer vom Schluchzen, der Atem sperrte sich unpassend, die Laute kamen nicht, wie sie sollten. Der Pastor hatte Mühe zu vermitteln und selbst zu verstehen, was die eine oder andere wollte oder nicht wollte.

Eine halbe Stunde hörte er sich die Sache an, danach bat er um eine Pause und Kaffee.

Die Damen sprengten sich kaltes Wasser in die verweinten Augen und kamen in den Salon zurück, der Pastor trank seinen Kaffee aus. Jetzt legte er beide Hände flach auf den Tisch und nahm Henriette fest in den Blick.

»Wir müssen entscheiden«, setzte er an. »Ihre Frau Mutter möchte nicht hier bleiben, das ist zu akzeptieren, da gibt es nichts zu rütteln. Ich kenne einen Konvent, eine halbe Tagesreise von hier. Gegen eine gewisse Summe Geldes nimmt er Frauen auf, die den Rest ihres Lebens dort verbringen möchten, bis ihre Stunde gekommen ist. Vor Urzeiten war es ein Kloster, heute ist es überkonfessionell und in privater Hand. Ich habe schon manche Witwe dahin vermittelt. Es wird das Beste sein, glauben Sie mir.« Er schaute von der einen zur anderen, hob erneut beide Hände an, um sie sogleich wieder flach auf die Tischplatte fallen zu lassen und holte tief Luft. Jetzt musste ein Vorschlag für Henriette folgen, das war deutlich.

Henriette ahnt, dass das Unmögliche von ihr verlangt wird. Die Brust verengt sich. Sie schluckt die Luft wohin auch immer, sie wird zu knapp, ihr wird schwindlig, Zittern und aus.

Der Pastor musste vertagen.

Er kam wieder, dieses Mal mit dem Kirchenbuch unter dem Arm. Darin hatte er sich nach Kandidaten in Henriettes Alter umgesehen. Nicht alle Schäflein der Stadt kannte er so gut wie Henriette und ihre Eltern. Gerade die jungen Männer blieben nach der Konfirmation dem Gottesdienst fern, hatten anderes zu tun, entzogen sich dem Blick des Gottesmannes.

Vier Anwärter konnte er nennen. Nach näherer Betrachtung wies Mutter alle ab. Der Pastor stimmte ihr zu, dennoch war das Thema nicht vom Tisch.

Henriette versuchte dagegenzuhalten, aber Mutter und der Pastor wehrten ihre Argumente wie lästige Fliegen auf einem Honigbrot einstimmig ab.

Ein letzter Versuch: Henriette wies darauf hin, dass der gesamte Besitz in dritter Generation in Familienhand läge, einen ideellen Wert in sich berge, weitergeführt werden müsse, um der Familienehre Willen. Der Hinweis verpuffte wie nicht gesagt. Die Schlinge zog sich zu.

»Gutes Kind, sei vernünftig, denke an deine schwachen Nerven. Du bist nicht in der Lage an Vaters Stelle zu treten, wo denkst du hin?«

»Ihre Mutter hat Recht, Henriette. Begeben Sie sich in den sicheren Ehestand. Warum solch ein Widerstand gegen diese gottgegebene Einrichtung der Natur?«

»Weil ich nicht kann.«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Weil ich einen Mann in meiner Nähe gar nicht ertragen kann. So, jetzt ist das auch gesagt.«

»Dem kann man abhelfen …«

»Nein, kann man nicht«, unterbrach ihn Henriette heftig, verschränkte die Arme und schaute aus dem Fenster. Sie hatte genug von dieser unerfreulichen Fragerei.

»Kind, wie ungehörig. Entschuldigen Sie Herr Pastor, aber das sind ihre Nerven. Sie ist nicht immer Herr über ihre Gefühle oder wie soll ich sagen? Ein Arzt meinte, es ist eine krankhafte Nervenerregung. Henriette zeigt gefährliche Erscheinungen und fängt das Zittern an, wenn die Aufregung zu groß wird. Ein anderer Arzt meinte, es ist Hysterie und das Zittern nicht wegzubekommen. Sie schottet sich hier seit Jahren im Hause ab, geht kaum unter Menschen, von einem Verehrer hat sie nie etwas wissen wollen. Sie lebt mit ihrem Klavier und ihren Büchern in einer Traumwelt, verstehen Sie, Herr Pastor?«

»Mutter, du sprichst über mich, als ob ich nicht anwesend wäre. Ich habe gesagt was ich zu sagen habe und dabei bleibt es!«

Der Pastor dachte nach. Erst nach einer Weile gab er Antwort.

»So einfach ist das nicht. Wenn Ihre Mutter in diesen Konvent eintritt, ist es gut möglich, dass Sie einen Vormund brauchen. Haben Sie darüber schon nachgedacht?«

»Warum einen Vormund, ich bin kein Kind mehr und nicht krank«, empörte sich Henriette.

Mutter überging die Bemerkung und setzte unverzüglich da an, wo das Gespräch vor fünf Minuten eine Wendung genommen hatte.

»Herr Pastor, wir werden doch einen guten Ehemann für meine Tochter finden können? Was halten sie von Herrn Brielow? Er heiratet sie auf der Stelle, er hat es mir selbst gesagt.«

»Wenn ich mir das hier so anhöre, komme ich zu einem ganz anderen Schluss, verehrte Frau. Henriette kann nicht an irgendeinen Mann verheiratet werden, da muss ein besonders geeigneter Kandidat her. Mit dem Apotheker geht es nicht: Geld wie Heu, aber staubtrocken. Außerdem ist er zu alt. Das verdirbt die Sache, glauben Sie mir.« An Henriette gewandt setzte er fort: »Ich weiß, dass Sie Verstand haben, Temperament und vermutlich noch mehr. Sie brauchen einen Mann, der ebenfalls Verstand hat, Erfahrung und Geduld. Viel Geduld wie mir scheint. Hier in der Stadt gibt es keinen, der in Frage kommt. Aber ich kenne einen, der weiß was zu tun ist. Wenn er nicht zugreift, dann in Gottes Namen der Apotheker.«

Nichts war mehr aufzuhalten: Pastor Heinrich vermeldete Erfolg, Johann, sein Kandidat, hatte zugesagt.

Henriette brach in Tränen aus. Pastor Heinrich versuchte sie damit zu trösten, dass ihr zukünftiger Mann ebenfalls Pastor sei. Der freundlichste Mensch, den man sich denken kann. Er wäre bereits zweimal Witwer geworden aber kinderlos, da er durch eine Erkrankung in früher Jugend nicht zur Zeugung fähig sei. Mehr könne er nicht berichten, er verbürge sich aber dafür, dass Henriette eine gute Wahl getroffen hätte.

Gemeinsam fuhren Mutter und Pastor zu dem Konvent und leiteten alle Formalitäten ein, damit Mutter dort ihren Frieden finden könne. Dieser Konvent gehörte zu jenen Einrichtungen, die den Mitgliedern keine Möglichkeit geben, mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben. Diese besondere Form der inneren Einkehr war Mutter gerade recht.

Wie kann mich Mutter leichten Herzens einem unbekannten Mann an die Hand geben und sich danach auf Nimmerwiedersehen verabschieden? Henriette verstand gar nichts mehr und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Sollte sie sich in ihr Zimmer einschließen, vor dem Traualtar Nein sagen oder davonlaufen? Wohin? Zu wem? Es gab niemanden, außer einer alten Tante irgendwo im Rheinland, die sie nicht kannte. Nein, es war aussichtslos – aus diesem Lebenskorsett gab es kein Entkommen.

Schlag auf Schlag ging es weiter. In aller Eile wurde ein Käufer für das Gut gesucht, der Notar bestellt, das Erbe geregelt und die Heiratsabsichten der Brautleute drei Mal von der Kanzel herab verkündet.

6

Der unbekannte Bräutigam traf erst am Abend vor der Hochzeit ein. An der Bahnstation baute sich das Empfangskomitee auf: Henriette, Mutter und Pastor Heinrich standen bereit, um den Bräutigam und Martha, dessen Haushälterin, zu begrüßen, als die dampfende Lokomotive einfuhr.

Henriette schlug das Herz bis zum Halse. Zitternd, mit weichen Knien klammerte sie sich mit beiden Händen fest an Mutters Arm. Dicke Tränen bahnten sich den Weg über ihre Wangen, tropften am Kinn ab und landeten auf dem Ärmel.

»Beruhige dich Kindchen, alles wird zum Besten werden, du wirst sehen. Lasse dich in die Arme dieses Mannes fallen, lass ihm seinen Willen, wenn er seinen ehelichen Pflichten nachkommen möchte, du weißt schon, dann sind die Weichen für eine glückliche Ehe gestellt. Und, ach Kindchen, denk daran, dass …« Ihre letzten Worte gingen im Zischen der schwarzen Lokomotive unter, die in diesem Augenblick zum Stillstand kam.

Die Reisenden stiegen nach und nach aus den Waggons. Welcher war ihr Bräutigam? Er wird doch nicht unangenehm oder gar hässlich sein? Ein Spinnentier wie der Apotheker? Es war weder der Herr in dem dunklen Mantel noch jener, der seinen Mantel über dem Arm trug.

Ein Herr in einem hellbraunen Mantel kam auf sie zu, an seiner Seite eine ältere, flinke Frau. Mit seiner freien Hand winkte er Pastor Heinrich zu.

Der fremde Mann streckte Henriette die Hand entgegen. Der Tränenschleier nahm ihr die freie Sicht, was sie sah, war nur ein Zerrbild. Johann bot ihr den Arm. Sie musste annehmen, die Beine sackten weg, sie fand keinen anderen Halt.

Seit er am Vorabend gekommen war, brachen ihre Tränen alle Rekorde. Mutter riet zu kalten Kompressen. Es half nichts, die Augen blieben rot, zugeschwollen wie nach einem Faustkampf, den sie verloren hatte.

Um ein Brautkleid in Auftrag zu geben, war keine Zeit geblieben. Aus ihrer dürftigen Garderobe, zu der seit Jahren keine neuen Stücke mehr dazu gekommen waren, nahm Henriette ihr bestes Sommerkleid, beinahe weiß in der Farbe, selten getragen, nicht so abgenutzt wie die anderen. Mutter hatte die Idee, ein cremefarbenes Seidenband um die Taille zu schlingen, um es aufzumöbeln. Das Hausmädchen half dabei, das Haar ansprechend aufzustecken, schmückte es mit den letzten Veilchen aus dem Garten, aus denen es außerdem mit geschickter Hand noch ein kleines Brautbouquet band. Für einen Auftrag an den Blumenhändler der Stadt blieb auch keine Zeit.

Es war der achte Mai, genau vier Wochen nach Vaters Tod.

Johann stand am Altar und wartete auf Henriette. Ohne den Arm des Vaters, schritt sie alleine die Bankreihen entlang und stellte sich neben ihn. Die violetten Blüten des winzigen Veilchenbouquets nickten zitternd in ihren Händen. In schweren Stößen pumpte ihr Herz das Blut durch die Adern. Pastor Heinrich leitete die Zeremonie in gewohnter Routine und betonte in seiner Predigt, dass nicht nur Glaube, Liebe, Hoffnung drei gewaltige Säulen für jeden Christenmenschen seien, sondern Vertrauen der Kitt sei, der alles Menschliche zusammenhält.

Johann wurde zuerst gefragt, ob er Henriette zur Frau nehmen wolle. Er holte tief Luft, legte eine kurze Pause ein, dann sagte er deutlich: »Ja.«

Luft hätte Henriette auch nötig gehabt, bekam sie aber nicht in die Lunge. Dreimal räuspern half auch nicht viel. Pastor Heinrich ließ den hervorgebrachten Hauch gelten.

Der feierliche Ablauf geriet ins Stocken, als die Ringe getauscht werden sollten. Da der Bräutigam die Größe des Ringes nicht hatte wissen können, fiel ihrer zu eng aus. Vorerst musste er am kleinen Finger Platz nehmen. Der Ring, den sie ihm anstecken wollte, passte ebenfalls nicht. Er war zu groß, am Ende steckte er am Mittelfinger. Die Erlaubnis für den Brautkuss erteilte der Pastor dennoch. Johann zögerte einen Moment und küsste Henriettes Hand.

Als Trauzeugen hatte Johann seine Haushälterin bestimmt. Eine Frau als Trauzeuge? Unter seiner Ägide gibt es so etwas nicht, erklärte Pastor Heinrich und trug sich kurzerhand selbst in das Kirchenbuch ein! Für Henriette versah ein guter Freund des verstorbenen Vaters diesen Dienst.

Weder Johann noch Henriette konnte Verwandtschaft aufweisen, mit der die Zahl der Hochzeitsgäste hätte erhöht werden können. Nur Freunde der Familie waren anwesend, die alle mehr oder weniger eher in Trauer um den unlängst Verstorbenen waren, als dass sie mit gesteigerter Fröhlichkeit dem jungen Brautpaar zujubeln wollten. Der Anblick des Brautpaares ließ die Herzen auch nicht höher schlagen. Die Braut konnte kaum aus den roten Augen schauen, der Bräutigam wirkte wie ein bestellter Statist.

Bereits zwei Stunden nach der Trauung musste die Eisenbahn für den Rückweg bestiegen werden. Dem Bräutigam war es auf Grund der Eile, mit der die Hochzeit vonstatten gehen sollte, nicht gelungen, für seine Pfarrei einen Vertreter für längere Zeit zu finden. Eine Hochzeitsreise entfiel deshalb. Es musste genügen, die lange Rückreise als solche zu empfinden.

Die Zeit war knapp. Nach der Trauung gab es nur noch ein letztes Mittagsmahl in ihrem geliebten Elternhaus und eine letzte, herzliche Umarmung der Mutter. Danach ging es los in eine ungewisse Zukunft.

Der Schaffner pfiff zur Abfahrt, doch unter einem metallischen Stöhnen drehten die riesigen Räder der Lokomotive durch. Sie widersetzte sich auch einem erneutem Versuch, dann noch einem, bis sie schließlich in Schwung kam, ihrer Bestimmung folgte und die Waggons aus dem Bahnhof zog.

Henriette lehnte sich weit aus dem Fenster und winkte lange, viel zu lange. Die kleine Versammlung, die das Brautpaar zum Bahnhof begleitet hatte, war längst zu einem winzigen Punkt geworden und nicht mehr zu sehen.

7

Stunde um Stunde ratterte die Eisenbahn über die Gleise, immer weiter Richtung Osten.

Stumm saßen sich Henriette und Johann gegenüber, schauten aus dem Fenster oder auf den Fußboden. Nur wenn Henriette glaubte, dass er es nicht bemerkte, schaute sie ihn verstohlen an und fragte sich, ob er sie gleichfalls heimlich ansah, wenn sie aus dem Fenster schaute?

Die unbekannten Landschaften, die draußen bei herrlichem Maiwetter vorbei zogen, sah sie nicht. Henriette dachte nur an zu Hause: Gerne wäre sie noch ein letztes Mal vom Keller bis zum Dachboden hinauf und hinunter gegangen, gemächlich, nicht hastig in schnellem Schritt, sondern jeden Fuß mit Bedacht gesetzt, um dem Hause Lebewohl zu sagen. Wer wird in Zukunft für Rufus Stöckchen werfen? Wann werden ihr geliebtes Klavier und ihre Bücher mit der Frachtpost nachgeschickt? Oder stand in Johanns Pfarrhaus ein Klavier? Gab es dort eine Büchersammlung?

Zwei Mal mussten sie auf der langen Fahrt übernachten, bis die Eisenbahn sie siebenhundert Kilometer weit fortgebracht hatte. Henriettes Herz klopfte, wenn sie sich abends neben Johann ins Bett legte und Gute Nacht sagte.

Sie wusste nicht, wie die Sache funktioniert, was wirklich geschieht in der Hochzeitsnacht. Vor zehn Jahren, als die ersten Heiratskandidaten ins Haus kamen, hatte sie Mutter danach gefragt.

»Kind, so etwas fragt man doch nicht. Das ist Sache des Mannes, damit hast du nichts zu tun. Nimm einfach hin was geschieht, verstehst du?«, hatte Mutter erklärt.

Jetzt geschah nichts. Johann bemühte sich, ihr nicht zu nahe zu kommen.

Der Schienenstrang war zu Ende, die schwarze Lokomotive blieb stehen. Den restlichen Weg mussten sie in der Postkutsche zurücklegen, in diesem Teil der östlichen Provinz war der Fortschritt noch nicht angekommen. In der letzten halben Stunde fuhr die Postkutsche stetig eine sanfte Anhöhe hinunter, immer Görzfelde zu, Henriettes neuer Heimatstadt. Den Kirchturm sah sie schon von weitem.

Sie richtete sich ein, auf die neue Zeit, das neue Leben, versuchte Licht zu sehen, wo in die vergangenen Tage nur düstere Wolken gezogen waren. Sicher wird es in Görzfelde eine Buchhandlung geben, dachte sie und wie Mutter, würde sie selbst auf den Markt gehen und sich nach guten Waren für die Küche umschauen wollen.

Ob Johann einen Hund hielt, mit dem sie spazieren gehen konnte, wusste sie nicht, noch hatten sie sich gegenseitig nicht befragt. Es wäre nicht angemessen gewesen, ihn auszufragen, sie unterdrückte ihre Neugier. Auf seine Fragen, die er in einem freundlichen Gespräch hätte unterbringen können, wartete sie bisher vergebens. Das wird sich alles finden, dachte sie, vertrieb die letzten Sorgen und Zweifel, und war gespannt auf ihr neues Leben.

Nach drei Tagen Fahrt waren sie gegen Abend am Ziel. An der Poststation lud Johann das Gepäck auf seinen eigenen Wagen.

»Warum fährst du am Pfarrhaus vorbei?«, fragte Henriette, als Johann in einem weiten Bogen das schöne Gebäude neben der Kirche hinter sich ließ.

»Hier bin ich nur, wenn ich im Dienst bin«, antwortete er, »ich habe ein eigenes Haus.«

»Am Stadtrand?«

»Nein, draußen.«

Ihre nächste Frage ging in dem lautem Rattern des Wagens unter. Henriette drehte sich noch einmal um und sah den Kirchturm verschwinden, als Johann um die Ecke bog.

Der Weg zog sich hin. Links und rechts wogte das Getreide, noch grün, noch im Werden. Johann fuhr gemächlich. Sein leichter Wagen war beladen mit Henriettes ganzer Habe: Zwei Koffern, einer Hutschachtel und der kleinen Kirschholztruhe, in der sie ihre privatesten Dinge verwahrte: den Familienschmuck, besondere Briefe, kleine Andenken und ihr Tagebuch.

Sie hatte nur das Notwendigste mitnehmen dürfen, damit das Reisegepäck nicht zu umfangreich würde. Mutter hatte ihr noch ein Nähkörbchen gefüllt, mit dem Wichtigsten, was eine Frau braucht und es zu ihrem Handgepäck gestellt. Henriette hatte es absichtlich stehen lassen. Diese Zeiten waren vorbei. Von nun an werde ich nur noch im Notfall einen Knopf annähen und die leidigen Handarbeiten für immer sein lassen. Bei diesem Gedanken atmete sie tief durch und spürte den ersten Hauch einer neuen Zeit aufsteigen, die von nun an in Johanns Händen lag.

In seiner Hand lag auch ihr Erbe, solche Angelegenheiten waren Sache des Mannes. Wie viel Barvermögen, Aktien und andere Wertsachen ihr durch das Erbe zuteil geworden waren, wusste sie nicht.

Jetzt durchfuhren sie ein Waldstück, schattig, einsam, wie ein Riegel auf halbem Wege zur Stadt. Danach ging es in etwa derselben Länge weiter wie zuvor, wieder zwischen Feldern, dieses Mal Kartoffeln, die ihr grünes Laub schon ein wenig herausstreckten. In lockeren Erdwällen bilden sie ihre Früchte aus, vor aller Augen verborgen, bis im Herbst die Überraschung ans Licht kommt, dachte Henriette und sorgte sich ein wenig über den langen Weg.

Da! Endlich. Im letzten Schein der untergehenden Sonne kam über dem Saum einer Hecke ein Dach hervor. Mit jeder Radumdrehung des Wagens wurde es größer, drängte sich auf in seiner schlichten Erscheinung.

Noch eine Kurve. Johann hielt an. Er war am Ziel.

Totenstille. Selbst die Vögel verstummten für einen Augenblick, flogen davon, als der ratternde Wagen heran fuhr.

»Hier sind wir, dein neues Zuhause. Geh hinein, ich komme gleich nach«, sagte Johann geschäftig ohne sie anzusehen und lud das Gepäck ab.

Henriette starrte auf ein winziges Häuschen. Leblos, wie abgestellt. Fachwerk, klein und krumm. Mit Stroh gedeckt, die Fensterläden zugeklappt. Wie ein Bühnenbild eines schäbigen Theaters, das seine Pforten schon vor Jahren geschlossen hatte.

Zögerlich stieg sie vom Wagen und näherte sich dem dunklen Schlund, der hinter der geöffneten Haustür auf sie wartete.

Vorsichtig setzt sie einen Schritt in den schmalen Flur. Unter ihr ächzt der Fußboden. Von Irgendwo hört sie Martha hantieren. Henriette bleibt stehen, sieht sich um, schiebt eine Tür auf und betritt den abgedunkelten Raum dahinter. Durch die Schlitze der Fensterläden zwängen sich letzte Sonnenstrahlen, lassen Staubkörnchen schweben und tanzen. Das Haus liegt seit über einer Woche im Schlaf. Niemand ist seitdem hier gewesen. Die Luft ist trocken. Es riecht nach altem Holz, alten Büchern, verbrauchten Polstern. Henriette ringt nach Luft. Was sie riecht, möchte sie nicht in ihre Lungen lassen.

Draußen vor dem Haus klappert jemand, es ist Johann, der die Fensterläden öffnet. Licht fällt herein und lässt vier Wände hervortreten. Henriette dreht sich einmal im Kreis. Soll diese winzige Stube der Mittelpunkt meines restlichen Lebens sein?

»Willst du Martha nicht helfen, die Sachen hereinzutragen?«, rief ihr Johann zu, als er ein schweres Gepäckstück im Flur abstellte.

»Ja, natürlich«, murmelte sie und ging rasch den schmalen Flur zurück. Hinaus, hinaus ins Freie. Hecken säumten das Grundstück von dem nächst gelegenen Feld ab. Mit wenigen Schritten war sie dort und hielt sich den Magen fest.

8

In dieser Nacht lag Henriette zum ersten Mal in Johanns Ehebett. Hinter den Klappläden war es finster, kein Mond, kein Stern zu sehen. Krampfhaft hielt sie sich an dem klumpigen Daunenbett fest. Ihre Augen suchten im Dunkel einen Punkt, an dem sie haften bleiben könnten, aber sie fanden keinen.

»Johann, hier kann ich nicht bleiben«, sprach sie leise in die Dunkelheit hinein. Er drehte sich noch einmal um.

»Wir sprechen morgen darüber, ich bin müde. Gute Nacht.« Ein Knarzen, ein Rascheln, ein tiefer Atemzug und er schlief.

Einsam war es hier, direkt unheimlich. Es gab keinen Hund, noch nicht einmal eine Katze. Nur Mausefallen.

»Du wirst mich doch jeden Tag mit in die Stadt nehmen, bis wir umgezogen sind?«, wollte Henriette wissen, als sie morgens in der Küche beim Frühstück saßen.

»Umgezogen? Wie kommst du darauf? Glaubst du es hätte keine Gründe hier draußen zu wohnen? Seit drei Jahren wohne ich hier und das wird so bleiben. Du musst wissen, dass ich jede freie Stunde an einem großen Werk arbeite. Eines Tages wird es in jedem Bücherregal in deutschen Landen stehen, davon bin ich überzeugt. Wenn ich damit vorankommen will, brauche ich am Abend ungestörte Stunden, das wäre in der Stadt nicht möglich. Dort drängt es immerzu Menschen, mir bei Tag und Nacht ihre Anliegen vorzubringen und einen Gehilfen, der mir das abnehmen kann, habe ich nicht.«

»Aber deshalb kannst du mich doch trotzdem mitnehmen?«

»Das Wort aber möchte ich nicht hören. Ich muss jetzt los.« Schon sprang Johann auf und eilte hinaus. Henriette kam mit vor die Tür und sah ihm nach, als er davon fuhr.

Morgen – morgen muss mich Johann in die Stadt zurückfahren, dachte sie verwirrt, ging ins Haus zurück, betrachtete ihre Koffer und ließ sie stehen. Auspacken lohnte sich nun wirklich nicht.

Kaum war Johann abgefahren, wollte Martha ihr die Abläufe in Haus und Hof erklären. Dazu setzte sie sich auf die Bank vor dem Haus und hantierte mit einem Kartoffelkorb. Henriette hörte kaum hin, warum sollte sie sich alles merken, hier blieb sie sowieso nicht.

»Martha, es ist gar nicht notwendig, dass Sie mir hier alles zeigen. Mein Mann und ich werden sicher nicht hier draußen leben …«

»… wie kommen Sie darauf?«, unterbrach Martha sie. »Der Herr Pastor hatte seine Gründe, als er dieses Haus hier kaufte, Sie hörten es doch eben. Warum sollte er es wieder aufgeben? Im Übrigen bin ich es, die dieses Haus verlassen wird, weil ich zu alt werde, für die viele Arbeit hier«, erklärte sie ohne aufzusehen und brach nebenher die Keime der alten Kartoffeln ab. »Ich habe schon mit dem Herrn Pastor darüber gesprochen. Wenn ich nicht mehr hier bin, müssen Sie die Verantwortung für den Hausstand übernehmen. Aber ich sehe schon, viel haben sie nicht gelernt, was hier zu gebrauchen wäre. Wenn sie vorerst das Abstauben übernehmen, bringe ich Ihnen nach und nach alles andere bei.«

Diese Kränkung erreichte Henriette schneller, als die Botschaft hinter Marthas Worten und sie dachte nur daran, dass Martha wohl keine Vorstellung davon hat, was eine Tochter aus gutem Hause können muss! Wenn es darauf ankommt, kann ich französisch parlieren, am Tisch einen zarten Fisch zerteilen und servieren, den köstlichsten Kakao zubereiten und ohne zu kleckern in Meißner Tassen füllen. Ich kann lautlos umrühren, einen englischen Tee auf die Minute aufbrühen und mühelos eine Sonate nach der anderen am Klavier darbieten.

Die nächste Kartoffel platschte ins Wasser. Henriette griff sich an die Schläfen. Verstört ging sie davon.

Der Herr Pastor hatte seine Gründe, als er dieses Haus hier kaufte. Warum sollte er es wieder aufgeben, hatte Martha gesagt. Und Johann? Seit drei Jahren wohne ich hier und das wird so bleiben. Nein, nein, das ist doch nicht möglich, dachte sie, schluckte die aufsteigende Säure hinunter und begann, diesen Unglücksort näher zu inspizieren.

Zwei Räume, die Küche und ein kleiner Waschraum, der einzige Lichtblick. Er beherbergte eine Waschkommode und einen Toilettenstuhl. Das war eine angenehme, praktische Sache, sie ersparte den Gang nach draußen, wo es zusätzlich einen Abtritt in einer Ecke des Hofes gab. Nicht wie üblich mit einem Herzchen in der Tür, sondern mit einem Kreuz.

Martha hatte kein eigenes Bett. Sie schlief in der Küche auf dem Kanapee. Welch ein Zustand.

Und das Ehebett: Hatten seine beiden Frauen darin geschlafen?

Die Möbel in der winzigen Wohnstube waren ein in die Jahre gekommenes Sammelsurium. Keine guten Stücke wie in ihrem Elternhaus, die von Generation zu Generation vererbt werden konnten, weil sie grundsolide getischlert waren.

Johanns privater Schreibtisch und sein wuchtiger Bücherschrank brachten den Raum beinahe zum Bersten. Es gab kaum Platz, um sich von links nach rechts zu drehen. Ein Sofa und zwei Sessel drängten sich an Johanns Schreibtisch. Vorsichtig drückte Henriette auf die Polster: durchgesessen! Die Farbe undefinierbar – grau oder ocker?

Damit war der Platz längst am Ende, doch es folgte noch ein Esstisch, an die Wand gepresst. Umrunden konnte man ihn nicht. Henriette fuhr mit der Hand über die Tischplatte, sah alte Spuren von Talgkerzen: Fettflecken des herunter getropften Wachses und etliche kleine Brandstellen der abgeschnittenen Dochte. Diese Zeiten waren vorbei, zwei Petroleumlampen hatten die Talgkerzen abgelöst.

Die Wände waren blau gestrichen, aber so blass, wie ein Vergissmeinnicht im Verblühen. Aber das ist gleichgültig, längstens übermorgen, bin ich hier wieder weg, hoffte Henriette. Ihr schmerzte der Kopf und der Appetit war verflogen, als Martha zum Essen rief.

»Du wirst noch in die Kirchengemeinde eingeführt werden, das ist doch selbstverständlich«, meinte Johann am Abend, als sie darauf bestand, über den Umzug in die Stadt zu sprechen.

»Darum geht es nicht. Du hast mich nicht richtig verstanden, Johann. Hier kann ich unmöglich bleiben, das siehst du doch ein?«

Mit einem Lächeln antwortete Johann: »Dein Ton gefällt mir nicht. Du wirst doch nicht aufbegehren wollen? Im Übrigen bin nicht ich es, der etwas einsehen muss. Du musst begreifen, dass du die Frau eines Pastors geworden bist, der besondere Verantwortung für seine Mitmenschen trägt. Du musst es schon mir überlassen, wie ich meine Kräfte einteile und dazu gehört dieser Ort hier, der mir am Abend Erholung bietet. Niemand soll mir nachsagen können, dass ich mein Amt nicht mit aller Sorgfalt ausübe. Also, gib Ruhe, gewöhne dich hier ein, finde dich zurecht mit allem, was dir noch fremd ist. Und jetzt möchte ich nicht mehr gestört werden.«

Johann ließ sie stehen, setzte sich für den Rest des Abends an seinen Schreibtisch und arbeite an seinem großen Werk, was immer das auch war.

Dass Johann in der Lage war, unfreundliche Dinge mit einem Lächeln vorzubringen, änderte nichts an dem, was er von Henriette verlangte. Sie sollte in der Einöde ausharren, bis er nach Hause käme, nur um sie für den Rest des Abends alleine sitzen zu lassen.

Die Zeit drängte. Mutter hatte darum gebeten, von der Reise nach Görzfelde zu hören, bevor sie in den Konvent einzog. Doch viel wichtiger ist, dass Mutter hört, in welchen Umständen ich hier mein Leben fristen soll, dachte Henriette und suchte in ihren Koffern nach Briefpapier. Sie fand nur einen Bogen Papier, der wohl eher zufällig hineingeraten war. Alles andere fehlte: Umschläge, Schreibzeug und Wachs für ihren Petschaft, mit dem sie ihre Briefe versiegelte. Das Drama musste auf diesem einen Blatt Papier Platz finden, deshalb schrieb sie eng auf beiden Seiten und bat Mutter dringend um Hilfe. Wenn Johann nicht einlenkt, werde ich hier zu Grunde gehen!

»Johann, ich habe Mutter versprochen über die Reise zu berichten. Die Zeit drängt, bald zieht sie sich in den Konvent zurück. Ich habe leider keine Umschläge eingepackt und Wachs zum versiegeln fehlt mir auch. Kannst du mir bitte aushelfen?«, bat sie Johann am Abend, als er an seinem Schreibtisch saß.

»Die Mühe kannst du dir sparen, ich habe deiner Mutter telegrafiert, dass wir gut angekommen sind.«

»Ach? Aber meinen persönlichen, letzten Gruß möchte ich ihr dennoch zukommen lassen.«

»Dann gib mir den Brief«, meinte Johann lächelnd, »aber einen Umschlag brauchst du nicht, die Post besorge ich in der Stadt. Das ist kein Umstand für mich.«

»Na ja, vielleicht ist es auch schon zu spät für einen Brief, er wird sie vermutlich nicht mehr rechtzeitig erreichen«, brach Henriette die Sache ab und beschloss, selbst in die Stadt zu gehen und den Brief dort aufzugeben. Geld hatte sie allerdings keines. Ihre Geldbörse war bis auf wenige Groschen leer.

»Ach, und ehe ich es vergesse, ich habe kein eigenes Geld, wie sollen wir das regeln?«, setzte sie wie beiläufig nach und überlegte bereits, wie lange sie zu Fuß unterwegs sein würde, um in die Stadt zu kommen.

»Du brauchst kein eigenes Geld. Was fehlt, bringe ich mit und wenn wir gemeinsam in der Stadt einkaufen gehen, bezahle ich. Das ist doch keine Frage.«

»Und wenn ich ein Geschenk kaufen möchte, eine Überraschung vorbereiten? Mindestens dafür bräuchte ich doch Geld, meinst du nicht auch?«, fragte sie rasch nach und erwartete doch nur ein Gegenargument.

»Ich wüsste nicht, wem du etwas zu schenken hast, aber wenn es doch einmal der Fall sein sollte, kann ich das Gewünschte mitbringen, ich bin ja jeden Tag in der Stadt.« Über die Vorstellung, ohne eigenes Geld zu bleiben, konnte sie jetzt nicht nachdenken, die Zeit lief davon, und sie spielte den letzten Trumpf aus, denn sie noch hatte.