Das Gewölbe des Himmels 2 - Peter Orullian - E-Book

Das Gewölbe des Himmels 2 E-Book

Peter Orullian

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Beschreibung

Er ist nicht frei. Sein Schicksal haben andere gewählt.

Der junge Bogenschütze Tahn musste seine Heimat verlassen, als ihm klar geworden war, dass die finsteren Kreaturen aus dem Born nur seinetwegen in dem Dorf aufgetaucht waren. Doch die Bar’dyn heften sich auf seine Spur. Was ist an Tahn so außergewöhnlich, dass die Schergen des Vergessenen alles tun, um ihn in ihre Klauen zu bekommen. Ihm wird klar, dass das Geheimnis um seine Herkunft eng mit seiner Zukunft verwoben ist. Nun muss Tahn sich entscheiden, ob er das Schicksal, das andere für ihn gewählt haben, annehmen möchte …

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Seitenzahl: 802

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Peter Orullian

Das Gewölbe

des Himmels

Der Unrechte

Aus dem Englischen

von Maike Claußnitzer

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Vault of Heaven 1. The Unremembered (Chapter 47 – end)«

bei Tor Books, New York.

1. Auflage

Februar 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen

der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Peter Orullian

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Blanvalet Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft, München

Illustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft, München

Karte © by Peter Orullian

Redaktion: Alexander Groß

Lektorat: Holger Kappel

Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-09630-4

www.blanvalet.de

Landkarte

Für Cheyenne,

in der Hoffnung auf mehr Tage, an denen dein Daddy

zu Hause bleiben kann

1

Die Wildnis

Der Tag wurde stetig heller, während das Hohe Licht bis in den Zenit emporstieg. Tahn und Sutter führten ihre Pferde durch Steinsberg auf die nördlichen Klippen zu. Im strahlenden Tageslicht hinterließ der Anblick der verlassenen Stadt in Tahn ein leeres Gefühl. Irgendwie wirkte der Ort im grellen Sonnenschein noch einsamer. Das Klappern der eisenbeschlagenen Hufe ihrer Reittiere auf der steingepflasterten Straße hallte laut von den Mauern wider. Aus den Fugen zwischen den Steinen sah totes Gras hervor, das von den gelegentlichen Windböen zerzaust wurde. So weit war es also gekommen – die prächtige Stadt, die Tahn sich als lebendiges Zentrum des Wissens, der Kunstfertigkeit und des Gemeinsinns vorgestellt hatte, ragte noch immer hoch auf, aber an ihrem Rand wucherte wildes Gras und verdorrte. All die Handwerkskunst war nur noch eine bloße Hülle, die zurückgeblieben war, als das Leben, das sie einst erfüllt hatte, verschwunden war, und jede Straße glich einem Knochen, der von einem verwesten Körper übrig war.

Sie überquerten eine breite Brücke in der Nähe einer Flussquelle. Tahn hatte den Eindruck, dass die verwitterten Fundamente noch so stabil waren wie an dem Tag, als man sie gelegt hatte. Am kristallklaren Wasser entlang führten Granitstufen in den Fluss hinab. Der Fremde blieb am Brückengeländer stehen und blickte auf den Flusslauf hinaus.

»Ein Ort, an dem man Zuflucht vor der Hitze findet«, sagte der geheimnisvolle Mann. »Könnt Ihr nicht geradezu die Kinder dort drüben im Wasser waten sehen, wie sie einander nassspritzen und davonlaufen, um sich hinter den Beinen ihrer Mütter zu verstecken?«

Das Bild brach mit Macht über Tahn herein. Er konnte sich keine bessere Verwendungsmöglichkeit für die langen Steinterrassen vorstellen. Entlang der Stufe lag eine Anzahl umgestürzter Krüge, manche zerbrochen, andere dagegen noch heil. Tahn stellte sich vor, wie hier Wasser geschöpft worden war, um in den Häusern von Steinsberg verbraucht zu werden. Die einfache Tätigkeit, Wasser ins Haus zu bringen, um das Abendessen zuzubereiten, erinnerte ihn an Helligtal. Obwohl sein Heimatdorf weit kleiner war und keinen so ehrgeizigen Bauplan aufwies, waren seine Bedürfnisse doch dieselben. Und dennoch hatten die Bewohner von Steinsberg dieses paradiesische Zuhause verlassen. Tahn ertappte sich dabei, sich zu fragen, was ihr seltsamer Reisegefährte wohl über das Ende der Steinsberger herausfinden würde – oder was er schon wusste, ihnen aber nicht erzählte.

Das Wasser war unwiderstehlich. Tahn stieg ab, lief voraus, bog um den letzten Brückenpfeiler und sprang die drei breiten Stufen bis zum Ufer hinab. Er konnte den Grund klar erkennen. Der Geruch der sauberen, frischen Quelle ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er griff mit der hohlen Hand in den Fluss, um seinen Durst zu stillen. Als er fertig war, nahm Tahn den Verschluss seines Wasserschlauchs ab und senkte die Öffnung in den Strom. Während er darauf wartete, dass der Schlauch sich füllte, betrachtete er das Spiegelbild des Himmels in der Wasseroberfläche: die Dächer der höchsten Gebäude westlich von ihm, den Himmel, die Brücke, Sutter und … wo war der Fremde? Tahn sah genauer hin, und ein kalter Schauer lief ihm die Arme hinauf und den Rücken hinunter. Er konnte sonst nichts in der glasklaren Wasserfläche erkennen.

Sein Schlauch war voll, aber er hielt ihn weiter unter Wasser und blickte beiläufig auf. Er sah den Mann mit raschen, mühelosen Bewegungen von der Brücke herabschreiten, ohne dass er Tahn angesehen hätte. Es war vielleicht töricht, aber Tahn hatte gedacht, der Mann hätte neben Sutter gestanden. Er wusste zwar nicht genau was, aber irgendetwas an diesem Fremden war fürchterlich falsch. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Wasserschlauch, zog ihn hoch und verkorkte ihn.

So gleichmütig er konnte, stand Tahn auf und stieg die Stufen zum Ende der Brücke empor, wo Sutter zu ihm stieß.

»Was ist los?«, fragte Sutter sofort.

Tahn schüttelte den Kopf und sah beiseite, zu dem Fremden, der ihnen noch immer den Rücken zuwandte. »Später«, flüsterte er und schluckte. »Aber wir behalten unseren neuen Freund gut im Auge, ja? Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.«

»Und das hältst du für eine Neuigkeit?«, sagte Sutter und klopfte Tahn mit den Fingerknöcheln sacht auf die Brust. »Ich vertraue nur den Dingen, die ich am Stück aus dem Boden graben kann.«

»Kommt«, rief der Mann, ohne auch nur einen Blick auf sie zu verschwenden. »Es liegt noch ein weiter Weg vor uns, und die Straßen sind von hier an schlechter. Aber keine Angst, sobald wir die Wildnis erreicht haben, könnt Ihr Euch darauf verlassen, dass ich Euch zur Nordschlucht bringe.«

Tahn hängte sich seinen Wasserschlauch um und stieß Sutter an. Er folgte dem Mann wieder, hielt aber diesmal mehrere Schritte Abstand zu ihm.

Die späte Sonne beschien noch die letzten vorgelagerten Gebäude, als sie plötzlich einen schmalen Streifen unbebauten Bodens erreichten, hinter dem ein dichtes Gewirr aus Bäumen und Büschen begann.

»Die Wildnis, Jungs«, erklärte der Mann selbstgefällig. »Ich habe Euch doch gesagt, dass ich Euch herbringen würde.«

»Es ist spät«, sagte Tahn. »Wir können in einem der Häuser in der Nähe schlafen. Es besteht kein Grund, heute Abend noch übereilt in die Wildnis aufzubrechen.«

»Unfug«, entgegnete der Mann. »Ihr könnt bereits durch die Wildnis hindurch sein, bevor das letzte Licht von den östlichen Klippen verschwindet. Außerdem schläft es sich in den Betten von Steinsberg hart. Da wärt Ihr mit einem Fleckchen Erde besser bedient.« Er grinste breit. »Achtet gar nicht auf mich«, fuhr er fort. »Ich habe die Gefahren der Wildnis übertrieben dargestellt. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob die Steinsberger sie je als Wildnis bezeichnet haben. Kommt, kommt, ich zeige Euch den Weg.«

Der Mann setzte sich mit entschlossenen Schritten rasch wieder in Bewegung. Sutter zuckte die Schultern und reihte sich hinter ihm ein. Tahn tastete nach den Stäben in seinem Umhang. Je eher sie in Decalam eintrafen, desto besser. Zwanzig Schritt später waren sie schon von hohen Bäumen umgeben.

Die dicken Hartholzbäume der Wildnis waren mit feuchten, moosigen Flechten bedeckt, und die Luft war nach dem Regen von Fäulnisgestank erfüllt. Wurzeln schlängelten sich über den Boden, als wären sie unfähig, tiefer im Erdreich Halt zu finden. Das machte den Weg uneben und das Wandern beschwerlich. Zweige wuchsen nicht, wie es natürlich gewesen wäre, auf der Suche nach Sonnenlicht in den Himmel empor, sondern reckten sich in seltsame Richtungen und schienen willkürliche Biegungen zu machen: Viele strebten zum Boden zurück, wo sie Wurzeln schlugen oder zumindest waagrecht weiterwuchsen. Tahn fragte sich, ob im Laufe der Zeit der gesamte Wald zu einer undurchdringlichen Holzwand werden würde.

Bald wurde das Licht schwächer, verdeckt von den dicht ineinander verflochtenen Zweigen über ihnen. Die Bäume trugen kleine, knospengleiche Blätter, die kaum ausreichten, um Schatten zu spenden, aber die Überfülle von Ästen, die miteinander zu wirren Knoten verwachsen waren, glich den Mangel an Laub mehr als aus.

Tahn spitzte die Ohren, um die Geräusche der Natur zu hören, an die er sich auf der Jagd in Helligtal gewöhnt hatte. Stattdessen hörte er einen dumpfen Klang tief im Wald, als würde jemand mit dem Holzhammer auf einen ausgehöhlten Baumstamm schlagen. In unregelmäßigen Abständen ertönte auch das Zirpen einer Grille, aber es hielt nie an, sondern brach immer wieder für mehrere Augenblicke ab, bevor sich die gleiche stockende Lautfolge wiederholte. Als sie tiefer in die Wildnis vordrangen, begann ein nach Moschus riechender Nebel aus dem Lehmboden aufzusteigen.

»Achtet gar nicht auf den Nebel«, sagte der Mann begütigend. »Hitze und Kälte ringen in der obersten Erdschicht miteinander; er wird sich bald wieder legen.«

»Ihr sagtet, dies sei die Verteidigung der Steinsberger gegen Angriffe gewesen?«, fragte Sutter, während er sich über das Wurzelgewirr vorantastete.

»Wirkungsvoll, findet Ihr nicht?«

»Es scheint mir eher so, als würde ein Feind hier Deckung finden, während er näher an die Front gelangt«, sagte Sutter.

»Es gibt in der Wildnis mehr als nur Bäume, Abenteurer.« Der Mann blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis und nickte, während er den Blick über die Baumwipfel über ihren Köpfen schweifen ließ. »Die Wildnis hat so eine Art, einen Mann zu verwirren und dafür zu sorgen, dass er sich selbst vergisst. Viele Gräber liegen in der Wildnis, aber keines ist als solches gekennzeichnet, denn keines war geplant. Es gibt Inschriften in der Stadt, die besagen, dass zuerst die Siedlung entstand, während anderen zufolge die Wildnis älter ist. Was auch immer zutreffen mag, dieser dunkle Hain steht hier schon lange Zeit. Ich vermute, er hat die Steinsberger ebenso sehr zur Demut gemahnt, wie er böswillige Eindringlinge ferngehalten hat.« Der Mann lächelte über seine eigene Erkenntnis. »Was für ein glorreiches Volk! Wie aufgeklärt. Ganz abgesehen vom Maß ihres Einfallsreichtums und von ihren steinernen Denkmäler haben sie diesem Hain erlaubt, ungezähmt zu wachsen, so dass sein Naturzustand eine Messlatte für die Höhe ihres Fortschritts bildete.«

Sutter starrte den Mann neugierig an.

»Vielleicht sind es auch nur Bäume«, fuhr er wenig überzeugend fort. »Vielleicht habe ich mich zu sehr in meine Dokumente und Studien vertieft, um unvoreingenommen zu bleiben.« Er sah Tahn mit funkelnden Augen an. »Wisst Ihr, genau das ist der Grund dafür, dass ich gehofft habe, Euch bis in die Nordschlucht begleiten zu dürfen. Ein guter Erforscher der Vergangenheit muss seine Schlussfolgerungen an den Empfindungen lebender, atmender … Abenteurer messen, meint Ihr nicht?«

Tahn nickte und ließ den Blick durch den Wald ringsum schweifen. Das Licht malte schwache, verschwommene Muster. Die dicht miteinander verwobenen Zweige über ihnen hinterließen in ihm den Eindruck, dass es in der Wildnis nie heller als jetzt wurde und dass die Nacht noch tiefer und dunkler sein würde, als er sie sich vorstellte.

Der Mann ließ seinen Mantel durch die Luft wirbeln, indem er sich um sich selbst drehte, bevor er noch tiefer in die Wildnis vordrang. Der Weg, den er einschlug, wand sich wie eine Schlange, und sogar Tahn, der sonst in Wäldern über einen hervorragenden Orientierungssinn verfügte, hatte bald das Gefühl, sich völlig verlaufen zu haben. Das Gelände stieg an und fiel wieder ab, und die Wurzeln wuchsen immer näher beieinander und ließen kaum Zwischenräume frei. Ringsum war Wald: Wurzeln unter ihren Füßen, dunkle Rinde an den Bäumen und ein niedriges Dach aus Ästen … eine Höhle aus Wald. In keiner Richtung konnte Tahn etwas anderes als die tiefe Dunkelheit endloser Baumstämme sehen, die im schattigen Schutz der Wildnis schwarz geworden waren. Der Geruch nach verfaulendem Holz lag drückend in der Luft.

Dann verschwand binnen eines Augenblicks alles Licht. Das schwache Halbdunkel ging in beinahe völlige Finsternis über, als die Sonne hinter den westlichen Klippen versank. Aus der Ferne hallte das seltsame Geräusch von Holz, das auf Holz traf, in tiefen Tönen herüber, die Tahn eher spürte als hörte, und seltsamerweise endete auch das Grillenzirpen und hinterließ im Hain eine Totenstille, die sogar Sutter sein angeborenes Lächeln verlieren ließ.

»Ich nehme an, wir erreichen die Nordschlucht doch nicht mehr«, sagte Sutter sarkastisch aus der Dunkelheit.

»Es ist nicht weit«, erwiderte der Mann, »aber man ist … schlecht beraten, nachts durch die Wildnis zu reisen. Macht Euch keine Sorgen. Ich bin vorsichtig und sorge schon dafür, dass Ihr durchkommt.«

»Ich werde ein Feuer entzünden«, sagte Tahn. Mit der plötzlichen Dunkelheit war auch die dazugehörige Kälte hereingebrochen.

»Wenn es sein muss«, antwortete der Mann.

Tahn glaubte, aus seiner Zustimmung einen gewissen Widerwillen herauszuhören, aber vielleicht lag das auch nur daran, dass die Feuchtigkeit der Wildnis und die Düsternis, die sie umgab, Tahn selbst in mürrische Stimmung versetzt hatten.

Er schlurfte vorsichtig voran und suchte eine Freifläche ohne Wurzeln am Boden. Sutter sammelte ein paar herabgefallene Äste auf, und bald hatten sie wieder Licht und Wärme. Tahn setzte sich auf eine bucklige Wurzel und zog ein bisschen Brot für sich und Sutter aus der Tasche. Der Feuerschein verlieh der Rinde der nahen Bäume einen düsteren Schimmer. Funken aus dem Feuer wurden von der Hitze nach oben getrieben und erloschen im dichten Geflecht der tiefhängenden Zweige. Ihr Führer saß in der Nähe, behielt das Feuer im Auge und sah abwechselnd Tahn und Sutter an. Er holte kein Essen hervor.

»Vertraut Ihr mir jetzt, nachdem wir so weit durch die Wildnis gereist sind, genug«, begann er, »um mir Eure wahre Berufung anzuvertrauen?« Er sah Tahn mit hochgezogener Augenbraue an.

Sutter legte seinen eigenen Brotkanten beiseite und musterte den Mann unverwandt mit starrem Blick, bis der Fremde den Kopf wandte, um ihm in die Augen zu sehen. »Ich baue Wurzelgemüse an«, sagte Sutter mit Nachdruck und fügte hinzu: »Oder habe das zumindest getan. Aber jetzt verbringe ich die Zeit damit, ermüdenden Geschichten zu lauschen. Ich sehne mich nach den Wurzeln zurück.«

Tahn versuchte, Sutter mit einem Blick zum Schweigen zu bringen, aber sein Freund wollte ihm nicht in die Augen sehen.

Der Mann wandte sich ungerührt wieder Tahn zu. »Und Ihr?«

»Ich bin müde«, sagte Tahn.

»Unfug«, entgegnete der Mann. »Durch die Wildnis zu spazieren ist doch nicht so anstrengend. Eure echten Berufe bedeuten mir nicht viel, aber sie sind sicher interessanter als Eure Behauptung, Abenteurer zu sein. Das Leben selbst ist doch schon abenteuerlich genug, findet Ihr nicht auch?«

Tahn musterte das ungezwungene Lächeln auf dem Gesicht des Mannes. Wahrscheinlich fehlte es dem Fremden einfach an Gesellschaft, und er war nur deshalb so aufdringlich. Seine edelsteinbesetzte Schwertscheide, sein Umhang und sein Dreispitz waren der übertriebene Aufputz eines nicht besonders selbstsicheren Mannes. Er sprach mit eleganter Gespreiztheit, auf die geschliffene Art, wie ein Händler redete. Aber er hatte nichts dabei zu gewinnen, Tahn und Sutter zu helfen, und Tahn konnte ihm das Gefühl der Einsamkeit nachempfinden.

»Doch«, antwortete Tahn. »Ich jage Wild und kümmere mich um den Wald in der Nähe meines Zuhauses.«

»Und wo liegt dieses Zuhause?«, fragte der Mann.

Nun tauschte Tahn doch einen Blick mit Sutter, und sein Freund schüttelte beinahe unmerklich den Kopf, um ihn zur Zurückhaltung zu ermahnen. »Reyal-Te«, sagte Tahn.

Der Mann nickte. »Am Rande des Malwalds. Ihr seid weit weg von zu Hause. Vielleicht steckt in Euch beiden doch etwas von Abenteurern.«

Ihr Führer saß bequem da und wirkte trotz des Tagesmarsches ausgeruht, kraftstrotzend, obwohl er kein bisschen Nahrung zu sich genommen hatte. Die Nachtluft wurde immer kühler. Tahn und Sutter rückten näher ans Feuer heran und wärmten sich Arme, Oberkörper und Wangen, während sie am Rücken vor Kälte eine Gänsehaut bekamen. Ihrem Führer schienen die sinkenden Temperaturen nichts auszumachen.

Etwas war Tahn an ihrem Weg durch die Wildnis eigenartig erschienen, und es fiel ihm wieder ein, als er sich die Hände an den Flammen wärmte. »Wie findet Ihr Euch in diesem Wald zurecht? Ihr könnt den Weg doch nicht gelernt haben, indem Ihr ihn nur ein einziges Mal gegangen seid.«

»Oh, ich bin schon sehr lange hier, mein Freund«, sagte der Mann. »Die Ironie beim Studium der Vergangenheit besteht darin, dass wir zu oft eine ganze Generation in die Fußnoten einer einzigen Seite zwängen. Wenn man sich in angemessener Form der Geschichte widmet, dann dauert die Beschäftigung damit so lange, wie andere brauchten, um sie zu durchleben, davon bin ich überzeugt. Und wenn ich herausfinden soll, was aus den Leuten hier geworden ist, was sie dazu verleitet hat, diese schöne Stadt zu verlassen, muss ich alles lernen, was einem Bürger selbstverständlich erschienen wäre: die unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter, derer man sich bediente, um zu beleidigen, zu erbauen oder Gelächter hervorzurufen; die ungeschriebenen Verhaltensregeln, die Respekt oder Intoleranz verrieten; ob die Lebenseinstellung der Bevölkerung mit der ihrer Dichter übereinstimmte oder ob die Dichter rebellisch waren und nur für sich selbst sprachen.«

»Ich sehe keinen Sinn darin«, mischte sich Sutter ein. »Bei allem Respekt«, fügte er vorsichtig hinzu, »sie sind doch verschwunden, so oder so, und das Leben ist auch ohne sie weitergegangen.«

Die Gesichtszüge ihres Führers erschlafften, und der aufgeräumte Ausdruck verschwand. Er richtete die Augen auf Sutter, ohne den Kopf zu wenden. »Ihr habt Euch Eure Frage selbst beantwortet, Rübenbauer. Wie kann Euch das entgehen? Heute haben wir auf dem hochberühmten Platz der prächtigsten Stadt gestanden, die je errichtet wurde. Vom zentralen Springbrunnen bis zum Rand der Friedhöfe ringsum seid Ihr durch die Straßen einer Stadt geschritten, in der selbst die Behausung des geringsten Bürgers nicht von Elend zeugt. Sie ist in ihrer Gesamtheit ein unvergängliches Loblied auf Einigkeit und Gleichheit. Dieses Volk zog wortwörtlich Gewinn aus dem Wissen, das es durch solch eine umfassende Gemeinschaft erworben hatte. Und dann verschwand es ohne eine Spur von Konflikten oder jeglichen Hinweis darauf, wohin es gegangen ist.« Der Mann starrte Sutter eindringlich an und war ganz eindeutig überzeugt davon, dass diese Tatsache offensichtlich war.

Sutter schüttelte den Kopf. »Vielleicht wurde die Stadt erobert. Wenn die Bewohner überrumpelt und gefangen genommen wurden, sind sie vielleicht alle irgendwohin verschleppt worden. Das würde doch erklären, warum die Stadt verlassen ist, aber keine Kriegsspuren aufweist.«

Ihr seltsamer Führer starrte eine Weile stumm vor sich hin. Dann war es an ihm, den Kopf zu schütteln. »Junge.« Er sprach es mit völligem Gleichmut aus, eine Beleidigung, die vernichtender klang als jeder Fluch. »Seht Euch doch an, fern von Reyal-Te, auf der Suche nach etwas, wie ich annehme, und darauf bedacht, Eure kleinen Geheimnisse zu bewahren, weil Ihr mir nicht vertraut, während Ihr Euch zugleich für das Leben und die Arbeit schämt, die Euch dort gehalten haben. Jetzt tragt Ihr ein Schwert und zieht auf der Suche nach mehr über die Landstraßen, tut, was auch immer Ihr wollt, überquert die Ophal’Donn-Brücke und spaziert durch die Vielstimmenschlucht, als hättet Ihr Euch ein Anrecht darauf erworben. Und doch seid Ihr außerstande, das Wunder von Steinsberg zu sehen: dass diejenigen, die hier gelebt haben, genau diese Arroganz überwunden hatten, die Euch das Gefühl verleiht, mehr verdient zu haben, als Ihr besitzt, dass sie den ewigen Wettstreit überwunden hatten, der solcher Arroganz entspringt. Dabei sind die Steinsberger über ihre eigene Stadt aus Fels und Mörtel hinausgewachsen, und als sie an einen besseren, edleren Ort weitergezogen sind, ist das Leben tatsächlich weitergegangen.« Der Mann hielt inne, und das Knistern des Feuerholzes wirkte in der Stille plötzlich sehr laut. »Ich will wissen, was sie wussten, dorthin gehen, wohin sie gegangen sind. Ich bin müde …« Er hielt inne, und das liebenswürdige Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. »Es tut mir leid – ich begeistere mich sehr für meine Studien.«

Sutters Gesicht wurde blass. Er legte die Hand an den Schwertgriff.

Mit leiser Stimme sagte ihr Führer noch ein paar Worte: »Die Übrigen sind wandelnde Erde, aufrechter Staub, unwissend vergeudeter Atem.«

Die Worte waren Tahn vertraut, aber er konnte sie nicht einordnen. Er aß sein Brot auf und schlief später ein, während er das flackernde Feuer beobachtete, die Hand auf die Stäbe in seinem Mantel gelegt.

Er konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Das konnte er nie. Aber Tahn konnte die Gestalt hinter sich spüren, bereit, jede falsche Bewegung oder jedes Nachlassen seiner Konzentration zu korrigieren.

Der Horizont erstrahlte bei Tagesanbruch zartblau. Tahn stand auf einer Felsklippe und blickte auf eine uralte Schlucht hinab, die ein langsam strömender Fluss tief in sein Tal eingekerbt hatte. Das rote Gestein und der ausgeblichene Sand wirkten im sanften Licht des frühen Morgens friedvoll. Die Gestalt verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß, und das Knirschen der Kiesel unter der Sohle unterstrich die Stille, die sich über die Schlucht gesenkt hatte. Die Luft über der Klippe, auf der Tahn stand, regte sich nicht, und er hielt den Atem an, als er über die gewaltige Schlucht hinweg zielte.

»Atme natürlich«, sagte der Mann. »Ein starrer Brustkorb schwächt die Arme und erzeugt Angst. Du musst deinen Pfeil furchtlos abschießen, um dein Ziel zu treffen. Jeder Pfeil, jeder Atemzug ist einer weniger bis zu deinem letzten. Und jeder Pfeil ist wichtig und muss ganz der Absicht deines Herzens entsprechend fliegen.«

»Aber hier gibt es nichts, worauf ich schießen könnte«, sagte Tahn. »Die Schlucht ist breit, und hier gibt es kein Wild zu jagen.«

Tahn spürte, wie der Mann den Kopf zu ihm beugte und ihm ins Ohr flüsterte: »Wir kommen in der Morgendämmerung an diese Stelle, weil du lernen musst, dich auf dich selbst und nicht auf dein Ziel zu konzentrieren, wenn du den Pfeil abschießt.« Seine Stimme klang sanft, aber bestimmt. Wenn er auf diese Art sprach, erwartete er von Tahn, zuzuhören und nichts zu vergessen. »Du erzeugst die Energie der Waffe, indem du die Sehne spannst. Du kannst die Kraft spüren, die sich in der Sehne zusammenballt, und das Nachgeben der Wurfarme. Nichts davon steht bisher dem Pfeil zur Verfügung. Das ist der Moment des Gleichgewichts zwischen Forda und Forsa, dem Bogen und der Energie, die du ihm verleihst. In diesem Moment stehst du mit der Möglichkeit bewaffnet da, ein Leben zu beenden oder es zu retten. Dein Wille ist alles, Tahn.«

»Wie soll ich wissen, wann ich schießen soll und wann nicht?«

Der Mann atmete langsam durch die Nase aus. »Du wirst dir diese Frage jedes Mal stellen, wenn du den Bogen spannst. Sie kann nicht ein für alle Mal beantwortet werden. Aber der Fähigkeit, diese Wahl zu treffen, wohnt an sich schon Kraft inne. Es gibt Leute, die nicht über diese Kraft verfügen, die aber bestrebt sein werden, von deinem Anteil daran Besitz zu ergreifen.«

Tahn war verwirrt.

Der Mann fuhr fort: »Dein Leben ist ein kostbares Geschenk, das du vor einem bestimmten Feind bewahren musst. Man kennt diese Feinde unter vielen Namen, und sie werden oft einfach als ›die Uralten‹ bezeichnet. Sie sind hierzulande heute vergessen, da sie selbst dem Gedächtnis des ältesten Vorlesers entschwunden sind. Sie werden vielleicht als Versucher an dich herantreten, sogar als Boten, aber sie sind Scharlatane, deren Stolz sie dazu verdammt hat, ein Leben des Stillstands tief im Born zu führen. In tausend Menschenaltern haben sie sich aus ihrem Gefängnis hervorgearbeitet und damit begonnen, unter den Menschen umherzustreifen und wie Diebe ein Komplott zu schmieden, um zu stehlen, was ihr eigener Ehrgeiz ihnen genommen hat: die Möglichkeit, die Vermischung von Forda I’Forsa in ihrer eigenen Brust zu spüren.«

»Und ich muss sie erschießen«, sagte Tahn naiv.

»Nein, Junge, hör zu, was ich dir zu sagen habe.« Der Mann streckte einen Arm an Tahns Gesicht vorbei und deutete auf die Leere des Himmels über der großen Schlucht. »Du musst die Kraft des Spannens selbst erlernen und daran denken, nicht an den Pfeil. Sie ist mögliche Kraft, genau wie ein Findling, der oben auf einem Hügel liegt, und wäre deine einzige Waffe gegen sie.« Der Mann hielt inne und wollte Tahn anscheinend Zeit lassen nachzuvollziehen, was er gesagt hatte. Aber Tahn hatte noch nicht verstanden, was er meinte, bevor er fortfuhr: »Du musst die Hand zum Gruß ausstrecken, um die Ehrlichkeit eines Uralten auf die Probe zu stellen. Der Uralte wird dich begrüßen wollen und sich dabei selbst vergessen. Du wirst seine Handfläche nicht in deiner spüren. Daran wirst du erkennen, dass er es darauf abgesehen hat, dich zu vernichten.«

Der Mann hörte auf zu sprechen, und Tahn wusste, dass es Zeit wurde, seinen Pfeil abzuschießen. Er blickte in die wachsende Helligkeit der Morgendämmerung und suchte sich ein Ziel: einen geschwärzten Baum tausend Schritt entfernt jenseits des Abgrunds, dann einen Berggipfel am Horizont, dann eine Wolke, die tief über die Hügel zu seiner Linken dahinglitt. Er konnte nichts von alledem treffen, und seine Finger begannen von der ununterbrochenen Belastung durch den gespannten Bogen zu schmerzen. Er holte tief Luft und atmete sofort wieder aus, wie der Mann es ihm geraten hatte. Aber seine jungen Arme konnten die Zugkraft nicht länger ertragen und begannen zu zittern. Der Schmerz, den es erzeugte, die Spannung aufrechtzuerhalten, brannte in seinen Schultern und schmerzte ihm in den Fingerknöcheln. War das die Lektion – sollte er die Kraft kennenlernen, die in der Waffe steckte? Lernen, dass ein Mensch ihr früher oder später unterliegen musste? Dass Forda I’Forsa als zwei Teile eines Ganzen gleichzeitig in einem Menschen vorhanden waren?

Er ließ die Sehne los, und als die Anspannung aus den Wurfarmen schwand, wurde ihm klar, dass er keinen Pfeil angelegt hatte. Die Bogensehne summte, aber nichts segelte ins Morgenlicht. Spöttisches Gelächter tönte aus dem Himmel herab, brandete auf Wellen aus Nebel über ihn hinweg und streifte sein Gesicht wie der Kuss eines Trauernden, voller Kummer und Verlust. Tahn wirbelte herum, um den Mann anzusehen, aber hinter ihm lag nur Leere. Das Summen seiner Bogensehne stieg auf wie das Läuten einer großen Glocke: Die Vibrationen prickelten ihm in den Fingern und ließen seine Hand taub werden. Er verlor das Gefühl im Arm und ließ die Waffe fallen. Unter ihm wurde der Erdboden weiß, und der Fleck breitete sich aus, um allem die Farbe zu entziehen. In Panik schlug Tahn mit den Fäusten auf den Fels der Klippe ein und schrie, um etwas anderes zu hören als das schreckliche Summen. Als er nichts hörte, hielt er inne. Rasch hob er zwei große Steine auf und schlug sie gegeneinander. Kein Knacken. Es gab in seinem Kopf nichts als das nachhallende Surren der gelösten Bogensehne, und vor seinen Augen war nichts als farblose Erde.

Tahn blickte auf und schrie in den Himmel empor.

Er zuckte zusammen und erwachte in der Wildnis; sein Schrei erstarb, während er noch von den Bäumen ringsum widerhallte. Sutter schlief ungerührt. Ihr Führer dagegen stocherte mit einem dünnen Stock im Feuer und hielt den Blick auf Tahn gerichtet, während er in der Glut wühlte. Die Flammen waren tief heruntergebrannt und umhüllten die Augen ihres Begleiters mit Schatten, deuteten aber durch einen roten Schimmer die dunklen Pupillen an.

Beiläufig strich Tahn mit einer Hand über seine verborgene Manteltasche … Die Stäbe waren verschwunden. Im selben Augenblick sah er, wie ihr Führer sich bückte und sie zur Hand nahm, als wollte er damit das Feuer nähren.

Beim Himmel und Allwillen, nein!

Der Mann wandte den Blick nicht ab, sondern schien den Wert der Stäbe nach Tahns Gesichtsausdruck zu bemessen. Im flackernden Licht konnte Tahn sich nicht sicher sein, ob der Mann lächelte. Er versuchte, seine Furcht zu überspielen, spürte aber, wie seine Augen sich vor Panik weiteten.

Was hatte der Mann in seinem Traum gesagt?

Die Gedanken verschwammen in seinem Verstand, als er sich auf die Stäbe konzentrierte, in denen die Botschaften verborgen waren, die Edholm ihnen anvertraut hatte. Ihr Führer hielt sich die Stäbe vor die Augen und betrachtete sie. Dann warf er sie in die Grube, in der das Feuer bis auf eine Schicht Kohle herabgebrannt war. Die Hitze versengte sie, und Flammen loderten aus ihnen empor. Tahn fuhr von seinem Lager hoch und rammte die Hand in die Kohlen, um die Stäbe herauszuholen. Der Gestank seines eigenen brennenden Fleisches stieg mit dem Rauch auf, und das sonderbare, spöttische Lachen des Fremden umfing ihn. Sosehr er sich auch abmühte, Tahn konnte die Stäbe nicht in die Hand nehmen. Sie tanzten aus seiner Reichweite davon und zwangen ihn, sich weiter in die Flammen zu recken. Dann züngelte das Feuer an ihm empor und versengte ihn heftig, und Tahn brüllte seinen Schmerz und seine Enttäuschung zum waldigen Dach der Wildnis empor.

Tahn setzte sich mit einem schwachen Japsen auf, das ihm aus seinem Traum gefolgt war.

»Sei still, Eichhörnchen«, sagte Sutter. »Ich versuche, ein bisschen Schlaf zu finden.«

Tahn drehte sich um und sah den Mann an, der sie aus Steinsberg zu den nördlichen Klippen geführt hatte. Er saß gelassen da und starrte ins Feuer, das genau wie in Tahns Traum tief herabgebrannt war. Um Unauffälligkeit bemüht, raffte Tahn seinen Mantel zusammen, so dass er sich aufsetzen konnte. Er tastete rasch nach den Stäben. Sie waren sicher in der Innentasche verstaut. Der Mann wandte sich Tahn mit einem entwaffnenden Lächeln zu; er hatte nichts mit dem verschlagenen Ränkeschmied aus Tahns Traum gemein.

Tahn kniete sich hin, sammelte mehrere kleine Holzstücke auf und warf sie ins Feuer. Der Mann sah ihn fragend an, sagte aber nichts. Als das Feuer heller leuchtete, begann die Erinnerung an einen unvollendeten Gedanken an Tahn zu nagen. Er hatte gerade versucht, sich auf etwas zu besinnen, als sein Albtraum eingesetzt hatte.

»Ihr schlaft unruhig. Euch geht etwas durch den Kopf«, sagte der Fremde.

»Uns allen geht etwas durch den Kopf«, erwiderte Tahn.

»Das ist mir auch schon aufgefallen.« Der Mann ließ den Blick nachdenklich auf Tahn ruhen. »Manche der alten Schriften besagen, dass der Schlaf unsere Vorbereitung auf den Tod ist: Auf einen Tag voller Leben und Licht folgt ein stilles, geruhsames Ende im Schlummer einer Nacht. Eine Probe, könnte man sagen – ein Muster, das wir oft genug befolgen, um es hinzunehmen, wenn unsere Zeit um ist und wir in die Erde zurückkehren müssen, die uns hervorbringt. Es ist kein Wunder, dass die Menschen damit ringen. Aber es ist ein edler Kampf, wie ich finde. Ich würde mich meinem Grabhügel nicht so leicht ergeben.«

Auf das Gesicht des Mannes war ein schmerzlicher Ausdruck getreten, während er gesprochen hatte. Tahn starrte ziellos in die Nacht und dachte an einen Gelehrten, hier in einer vergessenen Stadt, allein. Er ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, was sie gesehen hatten: die gewaltigen Springbrunnen auf dem großen Platz in der Stadtmitte, prächtige und bescheidene Gebäude, die mit gleicher Sorgfalt errichtet waren, den großen Ring aus unbebautem Land, mit vereinzelten Hainen bestanden und mit den Gräbern derjenigen übersät, die aus Steinsberg in die Erde zurückgekehrt waren, bevor es zu dem Auszug gekommen war, nachdem die Stadt auf ewig verlassen gewesen war.

Etwas durchzuckte Tahns Gedanken, etwas, das er gesehen hatte, als sie durch die Vielstimmenschlucht gekommen waren: eine Gestalt, selbst kaum mehr als ein Schatten, die sich über ein Grab gekauert hatte. Der nagende Gedanke nahm Form an, als er sich an die Worte des Mannes aus seinem Traum erinnerte: Du musst die Hand zum Gruß ausstrecken.

Ohne ihrem Führer den Rücken zuzuwenden, stand Tahn auf, tappte dorthin, wo Sutter lag, und stieß die Schulter seines Freundes mit dem Fuß an.

»Nun sag bloß nicht, dass du mich trittst, da ich doch gerade einschlafen wollte«, protestierte Sutter mit belegter, verdrießlicher Stimme.

»Steh auf«, sagte Tahn leise.

Irgendetwas an seinem Tonfall drang wohl zu Sutter durch, der sich schnell erhob und seine Decke abschüttelte.

»Seid Ihr bereit zum Aufbruch?«, fragte der Mann und erhob sich geschmeidig. »Ich spüre, dass Ihr es eilig habt, diese Wildnis hinter Euch zu lassen und dorthin aufzubrechen, wohin Euch das Schicksal als Nächstes führt.«

Tahn nahm vorsichtig seinen Bogen an sich und fing Sutters Blick auf, bevor er auf das Schwert am Gürtel seines Freundes hinabsah. Sutter verstand und legte die Hand kampfbereit auf den Griff. Falls ihr Reisegefährte ihre Unruhe bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. Seine eingefallenen Wangen wirkten im flackernden Feuerschein umschattet, aber seine Augen blickten weiter gelassen. Die edelsteinbesetzte Schwertscheide fing das Licht in bunten Prismen ein, und er schob sich den Dreispitz in den Nacken, als Tahn um das Feuer herum auf ihn zutrat.

»Wir sind nun schon so weit zusammen gereist und haben Euch Gesellschaft geleistet, ohne uns einander in aller Form vorzustellen.«

»Wie meint Ihr das?«, fragte der Mann.

»Wir kennen Euren Namen nicht«, antwortete Tahn, »wohingegen Ihr so freundlich wart, nach unseren zu fragen.«

»Ich glaube, Ihr habt recht. Wie töricht von mir.« Er sah sie mit einem ernsten, entschuldigenden Lächeln an. »Die Aussicht auf Gesellschaft hat mich unhöflich werden lassen. Vergebt mir. Ich bin Sevilla Daul.«

»Es war unbeholfen von mir, nicht zu fragen«, erwiderte Tahn. »Nehmt bitte meine Entschuldigung an.« Und damit streckte er Sevilla die Hand hin.

2

Eine Schlüsselblume

Braethen öffnete seinen Wasserschlauch und trank die letzten paar Mundvoll warmen Wassers, die kaum ausreichten, Staub und Sandkörner zwischen seinen Zähnen hervorzuspülen. Er drehte den Schlauch um, und drei Tropfen fielen in den Schmutz. Vor seinen Augen versickerte das Wasser in der Erde, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er legte eine Hand auf die Stelle, an die die wenigen Tropfen gefallen waren: Der Boden war brennend heiß.

Dann hob Braethen den Kopf, beschattete seine Augen und blickte erst nach Osten, dann nach Westen. Es war immer noch nichts von dem Mann zu sehen, den sie suchten. Es gab nur das Mal, und das Mal wandelte sich nie. Er hatte angenommen, dass sogar dieser Ort im ersten Morgenlicht schön sein würde, aber er glich nur den Brachfeldern westlich von Helligtal, wo Vogelscheuchen schlaff und vergessen an Pfählen hingen, das Füllmaterial bloß noch eine Erinnerung, die Kleider von der Sonne ausgeblichen.

Sie hatten sich bereits vor Sonnenaufgang in Bewegung gesetzt. Vendanji führte sie weiter nach Nordosten. Den ganzen Tag über wanderten sie in der drückenden Hitze. Als es schon spät war, geriet Braethen ins Taumeln. Er fing sich mit mehreren schlurfenden Schritten. Schweißperlen liefen ihm den Hals hinunter, und er wischte sie weg. Das Wasser war aufgebraucht, und auch die Pferde stolperten mit jeder Stunde häufiger.

Vor ihnen verschwand der Pfad einen Erdabhang hinunter. Miras Kopf tauchte aus der Senke auf, und die Fern kam auf sie zugelaufen und bedeutete ihnen mit erhobener Hand, haltzumachen.

Vendanji blieb stehen. Eines der Pferde legte sich sofort hin und schnaubte vor Anstrengung durch die Nüstern. Binnen eines Augenblicks hatten es ihm die beiden anderen Pferde gleichgetan. Der Gedanke daran, sich hinzusetzen, war Braethen unheimlich, und so blieb er stehen, während Mira auf sie zurannte. Es machte ihn noch müder, ihr auch nur dabei zuzusehen.

Ihre Haare und ihr Hemd waren nassgeschwitzt, und auch ihr Gesicht war schweißüberströmt, aber sie wischte es sich nicht ab.

Sie benötigte nur einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen. »Tausend Schritt, den Hügel hinunter und dann über eine zweite flache Anhöhe.«

»Hast du ihn gesehen?«, fragte Vendanji.

»Nein, und ich habe auch nicht nachgeforscht, ob das Haus bewohnt ist. Am Fuß des Hügels verlaufen, für die Bewohner des Hauses unsichtbar, seltsame Spuren über den Pfad. Sie sind weniger als einen Tag alt.« Sie sah den Weg zurück, den sie gekommen war. »Stilletreue könnten unbemerkt so weit ins Mal vorgedrungen sein. Wenn sie wissen, warum wir hergekommen sind, lauern sie uns vielleicht auf.«

»Wir haben keine Wahl.« Vendanji blickte zu ihren Reittieren. »Wir gehen den Rest der Strecke ohne die Pferde. Wenn das Haus nicht verlassen ist, müssen seine Bewohner Wasser haben, und wir können umkehren und die Pferde tränken. Wenn es dagegen unbewohnt ist, haben sie einen edlen Zweck erfüllt.« Der Sheson wandte sich an Braethen. »Halt die Hand kampfbereit am Schwertgriff, Sodale. Das schaffst du schon.«

Braethen leckte sich die trockenen Lippen.

Vendanji setzte sich in Bewegung. »Mach einen großen Bogen«, sagte er zu Mira und beschleunigte seine Schritte. »Nähere dich dem Haus von hinten. Lass dich nicht sehen. Wenn er es nicht ist, ist es besser für uns, wenn deine Anwesenheit eine Überraschung ist.«

Die Fern brach wortlos auf und rannte nach Osten. Braethen sah ihr nach und bewunderte die Leichtigkeit, mit der sie sich bewegte, die Anmut und die Geschwindigkeit, wie bei einem Rennpferd, das über die Lehmbahn dahinschoss. Sie bewegte sich, als hätte die Hitze keine Auswirkungen auf sie. Binnen Sekunden war sie über den Hügelkamm verschwunden. Braethen wappnete sich und strengte sich an, mit Vendanji Schritt zu halten. Neue Entschlossenheit schien in dem Sheson aufgeflammt zu sein, und Braethen fühlte, wie sie mit jedem Schritt, den er tat, auch in ihm wuchs.

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