Das Gleichgewicht der Tage - Therese Prokop - E-Book

Das Gleichgewicht der Tage E-Book

Therese Prokop

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Beschreibung

Beas Berliner Leben ist ganz einfach und doch kompliziert: Während sie den Roman "Der Fremde" von Albert Camus übersetzt, um dem Geheimnis und der Faszination des "Fremden" auf die Spur zu kommen, überschlagen sich in ihrem Innern Gedanken, Gefühle und Stimmungen. Eine Zeile aus dem Roman, ein Zeitungsartikel, die Cafégespräche unten bei Schulz oder eine ferne Melodie - alles berührt ihr Inneres, ruft Erinnerungen hervor oder wirft Fragen auf. Ordnung bringen da nur Rituale, zum Beispiel das Eintragen in ihr weißes Heftchen, in dem sie Gefühle zu bewerten versucht. Doch dann bricht das äußere Leben herein und es geschehen mehrere Dinge auf einmal, die Beas stilles Dahinleben und -denken zusätzlich aus der Bahn werfen.

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Der Abzug hat nachgegeben, ich habe die glatte Rundung des Griffes gespürt, und da, in dem zugleich kurzen und ohrenbetäubenden Lärm, hat alles angefangen. Ich habe den Schweiß und die Sonne abgeschüttelt. Ich habe begriffen, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war.

Albert Camus, Der Fremde

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Zweiter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

Dritter Teil

I

II

III

IV

V

Epilog

Erster Teil

I

Erst als ich das Buch fertiggelesen habe, fällt mir auf, dass „der Fremde“ in Camus’ Roman keinen Vornamen hat. Er ist einfach Monsieur Meursault, Sohn einer Madame Meursault – ein Niemand, ein Irgendwer oder ein Jedermann. Ein Fremder unter Fremden. Ich klappe das Buch zu und atme gierig die frische Luft ein, die durch die geöffnete Balkontür zu mir dringt. Die letzten Tage waren ungewöhnlich heiß, fast so, wie es in Meursaults Algier gewesen sein mag. Ein Wetter zum Schlafen, zum sich Lieben und zum Töten in der erbarmungslosen Bedrückung der Sonnenglut. Einfach und intensiv. Und doch ist die Hitze hier bei mir ganz anders. Das Problem, scheint mir, ist das Denken. Sobald man liest, schreibt oder übersetzt, ist man abgetrennt vom Leben, von der Klarheit und Einfachheit der Dinge. Ein Meursault überlegt nicht. Er handelt, beobachtet, objektiv und ohne Emotionen. Darin liegt die Entfremdung. Und die Faszination.

Auf der Straße bellt ein heiserer Hund. Ich trete auf den Balkon und sehe die dicke Frau von nebenan. Ihr Pudel bellt fast alle anderen Hunde an, was ich beim Arbeiten manchmal als störend empfinde. Ich vermute, dass der Pudel unzufrieden ist. Oder er bellt aus Angst. Die dicke Frau wirkt heruntergekommen und gleichzeitig stolz. Wenn sie mit anderen redet, schreit sie fast, in einer sehr hohen Tonlage und einer seltsam fremdartigen Melodie. Dabei wiederholt sie jede Äußerung mindestens zweimal im selben Tonfall, als ob sie sich bestätigen müsse, dass ihr Gegenüber, oder ihr Pudel, auch verstanden habe, was sie sagen will.

Als ich jetzt nach unten schaue, sehe ich, dass die dicke Frau eine andere mir bekannte Frau getroffen hat, die gelegentlich zum Friseur in unsere Straße kommt. Die andere Frau hat einen winzigen beigefarbenen Hund, der sehr struppig und sehr übergewichtig ist und sich auf den Boden fallen lässt, sobald die Frau stehen bleibt. Sogar der schwarze Pudel mag den fetten kleinen Hund, vielleicht weil er sich immer sofort unterwirft. Interessant ist, dass die andere Frau in genau demselben Tonfall und mit ebenso vielen Wiederholungen spricht wie die dicke Frau. Ich weiß allerdings nicht, welche von beiden zuerst so redete und welche es dann von der anderen übernommen hat. Dabei sind die beiden Frauen immer fröhlich und lachen viel, und sogar in ihrem Lachen hört man Wiederholungen. Manchmal, wenn ich sie in meinem Zimmer durch die offene Balkontür höre, muss ich unwillkürlich mitlachen. In solchen Momenten frage ich mich, ob es den beiden besser geht als mir. Wie wäre es wohl, eine einfach gestrickte ältere Frau zu sein, die mit einem struppigen Schoßhund ihre Tage verbringt, regelmäßig zum Friseur geht, sich über das Ordnungsamt aufregt und mit den Nachbarn lacht? Könnte ich so eine Frau werden? Und würde ich es wollen?

Ich gehe in die Küche, um meinen Tabak zu holen, beschließe dann aber, zu Schulz runterzugehen. Wenn man viel Zeit mit dem „Fremden“ Meursault verbracht hat, sehnt man sich danach, unter normale Menschen zu kommen.

Vor dem Café in der Sonne sitzen die üblichen Stammkunden und grüßen kurz, als ich mich dazusetze. Auch die anderen Tische draußen sind voll besetzt, eine Kleinfamilie, Laptopträger und stolze I-Phone-Besitzer. Schulz kommt raus und fragt, wie es geht, und ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich den Camus noch einmal gelesen habe und morgen mit der Übersetzung beginnen will. Er fragt mich zum zweiten Mal, warum ich damit so viel Zeit verschwenden will, obwohl es doch schon gute Übersetzungen gibt. Ich sage ihm, dass er mir mit der Frage auf die Nerven geht. Ich bestelle einen Milchkaffee, und er geht mit einem schiefen Lächeln wieder rein.

Die Zigarette tut gut nach der Lektüre. Neben mir unterhalten sich zwei von Schulz’ Freunden über einen Film, der mir nichts sagt. Er handelt von einem Mann, der sich für einen anderen ausgibt, nachdem er ihn getötet hat. Da er in Schwierigkeiten kommt mit seinen Lügen und der falschen Identität, muss er weiter lügen und weiter töten, immer wieder. Dabei ist er eigentlich ein netter Kerl, den alle mögen. Das kommt mir bekannt vor, und ich muss wieder an Meursault denken, auch wenn er längst nicht das Kaliber eines Mister Ripley hat. Auf dem Einband der deutschen Camus-Übersetzung, die Hannah mir geborgt hat, steht etwas von einem jungen Mann, den „ein lächerlicher Zufall zum Mörder macht“. Das hat mich sehr verwundert. Ist es wirklich möglich, aus Zufall zu töten, nicht aus Wut oder Rachelust wie der talentierte Mister Ripley? Ich glaube eigentlich nicht an Zufälle. Jede „zufällige“ Begebenheit ist eine Konsequenz nicht nur aus den eigenen Lebensumständen, sondern vor allem aus der Einstellung, die man zum Leben hat. Auf Meursault bezogen scheint sich mir die Frage in etwa folgendermaßen zu stellen: Ist es möglich aus Gleichgültigkeit, aus Entfremdung heraus zu töten?

Bei diesem Gedanken bekomme ich eine leichte Gänsehaut und streiche mir reflexartig mit den Händen über die Arme. Es ist seltsam: Wenn ich über Meursault lese, habe ich das Gefühl, über mich selbst zu lesen. Dabei habe ich niemanden getötet.

Ich habe Lust, wieder nach oben zu gehen und mit der Übersetzung anzufangen. Aber auf meinem Tagesplan steht, dass ich nur vormittags arbeiten soll, und es ist schon halb zwölf. Da Schulz viel zu tun hat, sage ich ihm „Bis später“ und gehe los in Richtung Friedrichshain. Im Weggehen frage ich mich, warum das Café so voll ist, und mir fällt ein, dass Freitag ist, was wiederum heißt, dass sich heute Abend die DA trifft. Auf meinem Plan steht auch, dass ich regelmäßig zur DA gehen soll. Ein leichter Druck in der Brust und ein taubes Gefühl im Hals sind die physischen Reaktionen meines Körpers auf diesen Gedanken. Ich bleibe stehen und hole das kleine weiße Heftchen aus der hinteren Hosentasche, in das ich Stimmungsschwankungen, zerstörerische Gedanken und körperliche Reaktionen auf negative Gedanken notieren soll. In die erste Spalte schreibe ich den Zeitpunkt (6. September, 11.35 Uhr), dahinter die neue Empfindung (Druck in der Brust, taubes Gefühl im Hals), in die dritte Spalte die Situation, welche die Empfindung ausgelöst hat (an die DA denken), und in die vierte Spalte meine Vermutung, wie andere – in Klammern normale – Menschen in dieser Situation reagiert hätten. (Ich vermute, dass den meisten Menschen beim Gedanken an die DA etwas flau im Magen geworden wäre.) Am Ende gibt es noch eine schmale fünfte Spalte, in der ich die Übereinstimmung zwischen meiner Reaktion und der vermutlichen Reaktion eines anderen – in Klammern normalen – Menschen auf einer Skala von eins bis zehn einschätzen soll. Zehn hieße so viel wie „Ich reagiere genauso wie andere Menschen auf diese Situation“. In die letzte Spalte schreibe ich eine sieben. Genau ist das schwer einzuschätzen, da in Klammern normale Menschen keinen Plan am Kühlschrank hängen haben, auf dem steht, dass sie zur DA gehen sollen. Ich stecke das Heft wieder ein und gehe weiter zum Park.

Ich will zum Märchenbrunnen und halte mich rechts, obwohl der Weg an der Straße nicht so schön ist. In der knallenden Sonne erscheinen die Straßen und Autos noch unmenschlicher als sonst, unwirklich und dröge. Die Abgase bleiben in der dicken heißen Luft stecken, und man kann förmlich spüren, wie sich die giftigen Partikel auf jedes Blatt, jeden Grashalm und jeden Millimeter der eigenen Lunge legen. Die Luft flimmert.

Beim Tennisplatz biege ich in den Park ein. Auf dem kleinen Spielplatz ist nicht viel Betrieb. Zwei Mütter sitzen in ein Gespräch vertieft auf der Bank, während ihre Kinder im Sand buddeln. Ein kleines Mädchen mit wildem blondem Lockenkopf fährt auf einem Kinderfahrrad mit Stützrädern auf dem Weg auf und ab. Ich muss zur Seite springen, damit ich nicht von ihr angefahren werde. Als sie vorbeigefahren ist, dreht sie sich nach mir um und grinst mich breit an. Ich spüre Wut in mir aufsteigen und gehe schnell weiter. Mir wird bewusst, dass die meisten anderen Frauen meines Alters beim Anblick dieses engelsgleichen Mädchens in Entzücken geraten wären. Warum sehe ich in einem Kinderlächeln Bosheit? Warum empfinde ich Kinder und junge Eltern als Feinde, die hinter meinem Rücken über mich lachen und mich durch ihre Selbstverständlichkeit und ihr Glücklichsein als Außenseiterin stigmatisieren?

Der Märchenbrunnen ist außer Betrieb. Ich frage mich, wann ich ihn das letzte Mal bewässert gesehen habe, kann mich aber nicht daran erinnern. Die Märchenfiguren auf dem Brunnenrand wurden seit meinem letzten Besuch restauriert. Sie erstrahlen jetzt in einem glatten Gelbton und sehen seltsam fremd aus neben dem verwitterten Grau des Brunnenrandes. Ich bin selten hier. Wenn ich an den Märchenbrunnen denke, sehe ich immer die Prinzessin mit der goldenen Kugel und den Froschkönig vor mir. Auch heute bilde ich mir ein, genau zu wissen, an welcher Stelle sich die Prinzessin und der Froschkönig befinden, obwohl ich von keiner anderen Figur sagen könnte, aus welchem Märchen sie stammt oder an welcher Position sie steht. Ich nehme an, dass mich schon als Kind der riesige Frosch mit der Krone fasziniert hat, dem man auf den Rücken klettern konnte. Der Frosch ist Teil meiner glücklichen Kindheitserinnerungen.

Als ich jetzt vor dem Brunnen stehe, muss ich feststellen, dass meine Erinnerung mich täuscht. Es gibt keine Prinzessin mit Kugel und Froschkönig, weder an der vermeintlichen Stelle noch an einer anderen. Wo ich den Froschkönig vermutete, steht der gestiefelte Kater. Ich gehe einmal um den Brunnen herum und schaue mir mit wachsender Enttäuschung die Figuren an: Dornröschen, Hans im Glück, Rotkäppchen. Ist meine Erinnerung so verzerrt, oder wurden die Figuren beim Restaurieren verändert?

Schließlich entdecke ich ihn doch: In der Mitte des Brunnens sitzen Frösche, die offensichtlich Wasser speien können. Einer von ihnen, der abseits, etwas weiter vorne sitzt, trägt eine kleine verwitterte Krone. Es ist der Froschkönig, dreckig grau und nicht restauriert. Als ich ihn sehe, überkommt mich das bekannte „früher“-Gefühl. Es umfasst Sonnenschein und lachende Kinderstimmen, die nun wie aus weiter Ferne zu mir dringen. Ich höre die fröhliche Stimme meiner großen Schwester Hannah, die von der anderen Seite des Brunnens her nach mir ruft: „Bea, komm, ich muss Dir was zeigen!“ Es liegt eine sehnsuchtsvolle Geborgenheit in diesem „früher“-Gefühl, der Duft und die sichere Hand meiner Mutter. Gleichzeitig umfasst es aber auch die Gegenwart: Ich bin allein hier. Nicht mehr ganz jung und nicht mehr ganz glücklich.

Ich spüre Wärme im Bauch und in der Brust aufsteigen. Es ist der Beginn eines Weinens, das weiß ich aus Erfahrung. Aber ich will hier nicht weinen. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Dann steige ich in den leeren Brunnen, setzte mich auf den Sockel des Froschkönigs und konzentriere mich darauf, das Gefühl in mein Heft einzutragen. In die letzte Spalte schreibe ich eine fünf. Also immerhin die Hälfte der zu erreichenden Punktzahl für die Fähigkeit zur Nostalgie, die ich mit allen anderen Menschen gemeinsam habe? Oder zehn volle Punkte für die glückliche Erinnerung minus fünf Negativpunkte für die Einsamkeit? Das Gefühl in meiner Magengrube spricht sich für die zweite Variante aus. Ich muss an das Gleichnis mit dem halbvollen und dem halbleeren Glas denken und überlege eine Weile vergeblich, ab wann ich mich zu den Pessimisten gezählt habe. Dann taucht vor mir das Bild unseres Schulhofs am Gymnasium auf, die alte Holzbank neben dem Eingang, auf der die coole Clique der „Großen“ in den Pausen abhing und rauchte. Ich habe lange daran gearbeitet, mit auf der Bank sitzen zu dürfen. Kurz darauf sehe ich mich mit Christiane auf dem schmalen Brett hinter der Absperrung zur S-Bahn-Brücke sitzen, mit schwarzen Klamotten, Pali-Tüchern, Tabak und einer Flasche Rotwein. Nächtelang haben wir dort gesessen und das Leben zerredet. Wir haben den Pessimismus ja quasi kultiviert. Aus irgendeinem Grund muss ich an Meursault denken. Da ist sie wieder, die fehlende, vom trüben Denken verdrängte Einfachheit des Lebens, die ein Meursault nicht kennt. Am einfachsten scheint es mir, den Ursprung meines Pessimismus auf die unspezifische Spanne der Pubertät zu schieben.

Danach ist das „früher“-Gefühl verschwunden. Es tut gut, Vergangenes als Vergangenes zu betrachten. Ich lehne mich an den Froschkönig und schließe die Augen.

II

Die DA trifft sich immer am frühen Abend in einem Klinikraum mit Sicht auf das Planetarium. Da fast niemand von ihnen voll arbeitet, stört das keinen. Mir fällt auf, dass ich immer noch von „ihnen“ rede, obwohl ich seit fast zwei Jahren regelmäßig hingehe. Ich bin nicht stolz darauf, dazu zu gehören.

Erst Schulz hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass DA bei Harry Potter für „Dumbledores Armee“ steht. Wir haben beide darüber gelacht. In der Gruppe wird selten gelacht, aber gekämpft wird auch, gegen die dunklen Mächte im Menschen. Fast hätte ich gesagt „in uns“. In Wahrheit steht D für Depressionen und A für Ängste. Die DA ist eine Selbsthilfegruppe, eine Ansammlung trauriger kränkelnder Gestalten, die versuchen, sich gegenseitig Trost zu spenden, und die sich gegenseitig bemitleiden. Die ersten Male habe ich mich ganz krank gefühlt, als ich drinsaß. Meine Augen fingen an zu brennen, mein gesamter Körper wurde schwer und schlapp, als wäre alle Kraft aus ihm gewichen. Wenn ich an der Reihe war, konnte ich nichts sagen, obwohl ich mich im Vergleich zu den anderen eigentlich gesund fühlte.

Heute sind zwei neue da. Das ist immer interessant, weil man von fremden Schicksalen erfährt, fast wie bei der Lektüre eines neuen Buches. Die beiden werden gebeten, sich kurz vorzustellen, natürlich nur, wenn sie sich stark genug dazu fühlen. In der DA wird niemand zu irgendetwas gezwungen. Wir behandeln uns wie rohe Eier.

Zwei Plätze neben mir, rechts neben Bernhard, der wie ich zu spät gekommen ist, sitzt ein Neuer, ein stämmiger, kahlköpfiger Mann um die fünfzig mit Schnauzbart, auf dessen Namensschild in krakeliger Schreibschrift „Thomas“ steht. Thomas redet für seinen Körperumfang sehr leise und nuschelig. Zuerst sagt er, wie schwer es für ihn gewesen sei, hierher zu kommen, dass er sich sehr habe überwinden müssen, und dass es wirklich nicht leicht sei, hier zu sein. Er habe schon seit Monaten kaum noch das Haus verlassen oder Kontakt zu anderen Menschen gehabt. Unwillkürlich steigt in mir das Bild einer verwahrlosten Wohnung auf, mit zugezogenen Vorhängen und überquellenden gelben Müllsäcken in den Ecken, mit vollen, stinkenden Aschenbechern und einer Sammlung von Bierflaschen auf dem Couchtisch. Gleichzeitig erinnert sich etwas in mir an meine dunklen Tage, in denen sich das Geschirr in meiner Spüle und auf allen Ablageflächen in der Küche stapelt, weil ich nicht den Elan aufbringe, abzuwaschen. Ich merke, wie das bekannte Unwohlsein in mir hochkriecht, das DA-Gefühl. Bei Thomas’ leisem, gequältem Singsang bekomme ich eine Gänsehaut und einen trockenen Mund. Ich trage diese körperliche Reaktion nicht in mein Heft ein, weil ich Thomas weiter zuhören möchte. Ich überlege, ob es unhöflich wäre, wenigstens einen Schluck Wasser aus meiner Plastikflasche zu trinken, merke aber, das es nicht geht. Niemand traut sich, auch nur einen Finger zu krümmen, wir sitzen alle angespannt da, als ob jede falsche Bewegung irgendeine fatale oder zumindest unangenehme Reaktion bei Thomas hervorrufen könnte. Vielleicht würde er einen Anfall bekommen, einen Schreikrampf, oder sich wimmernd unter dem Tisch verkriechen.

In diesem Moment bin ich froh, dass Jens da ist. Oft stört es mich, wenn er sein Pseudowissen zum Besten gibt und die Gruppe mit Theorie überschüttet, obwohl er von der Praxis nicht halb so viel Ahnung hat wie ein Betroffener. Außerdem hat er diesen etwas priesterlichen Seelsorgerton, der mir oft auf die Nerven geht. Im Fall von Thomas erscheint mir dieser aber genau richtig. Jens bedankt sich erst einmal feierlich im Namen aller dafür, dass Thomas so viel von sich erzählt hat, und beglückwünscht ihn dazu, dass er es bis zur DA geschafft hat und nun unter uns weilt. Dann stellt er noch ein paar unverfängliche Fragen: was er von Beruf gewesen sei (Kranführer), wo er wohne (zum Glück nicht weit von hier), und am Schluss sogar, was für Ängste ihn plagten, warum er nicht aus dem Haus gehen könne. Auf diese Frage weiß Thomas keine richtige Antwort. Er hat einfach oft Todesangst, auch zu Hause, aber noch mehr vor dem Unbekannten vor seiner Haustür.

Thomas verstummt abrupt. Es ist eine abwartende, bedrohliche Stille, in der jeder von uns mit seiner eigenen Bestürzung kämpft. Geht es uns denn besser? Erinnert uns Thomas’ Bericht an bestimmte Zeiten in unserem Leben, macht er uns Angst vor der Zukunft? Der Gesichtsausdruck der anderen würde sicher Bände sprechen, aber die meisten haben ihren Blick bedrückt auf die Tischplatte vor sich gesenkt, oder auf ihre vor der Brust verschränkten Arme.

Jens bricht das Schweigen, indem er sich nochmals bei Thomas für seine Offenheit bedankt. Dann ist Heidi an der Reihe. Auch sie traut sich und beginnt damit, wie schwer es gewesen sei, hierher zu kommen und wie gut sie Thomas verstehen könne. Danach bekomme ich vom Inhalt ihrer Ausführungen nicht mehr viel mit. Ich bin überfordert. Heidi hat einen unheimlich warmen, freundlichen Blick, wobei sie gleichzeitig schüchtern und demütig wirkt. Sie scheint so froh darüber zu sein, dass wir ihr zuhören, und ich versuche, jedes Mal möglichst verständnisvoll zu schauen, wenn sie den Blick über die Gesichter in der Runde gleiten lässt. Das fällt mir nicht schwer, da mich das DA-Gefühl ohnehin voll in Besitz genommen hat. Ich schwimme in Mitleid, und auch in Selbstmitleid. Ich fühle mich selbst schrecklich. Meine Augen fangen wieder an zu brennen.

Wird die Traurigkeit nicht eigentlich dadurch angestachelt, dass man sich innerhalb solch eines elenden Häufchens von Menschen mit Mitleid überschütten lässt? Dass man jede Woche aufs Neue daran erinnert wird, dass man irgendwie anders, fremd ist? Sind wir nicht alle manchmal fremd? Gehört das nicht zum Leben dazu?

Ich zwinge mich dazu, meine Gedanken wieder zurück in den Gruppenraum zu lenken. Bernhard erzählt noch von seinem neuen Ein-Euro-Job und Bärbel von ihrem Garten, in dem sie viel arbeitet, um an der frischen Luft zu sein. Schließlich werden Tipps für Therapeuten und Kurangebote ausgetauscht, bevor sich die Gruppe auflöst und ich tief aufatmend den Raum verlasse. Diesmal bin ich glimpflich, schweigend davongekommen. Vor dem Eingang der Klinik versammeln sich die Raucher zur Zigarette danach. Die Gespräche gehen auf entspannterer Ebene weiter oder laufen aus. Manchmal gehen ein paar aus der Gruppe noch zum Türken um die Ecke ein Bier trinken, aber heute wollen alle nach Hause, zum Grillabend, zur Familie, oder einfach wieder zurück in die sichere Festung ihrer Wohnung.

Ich bin mit dem Rad gekommen, habe aber Lust zurückzulaufen. Die Hitze hat endlich nachgelassen. Ich schlendere mit Bernhard bis zur Ecke, wo er Richtung Straßenbahn abbiegt. Er sagt „Dann bis zum nächsten Mal“ und zwinkert mir zu.

Die Straßen sind um diese Zeit voller Menschen, die von der Arbeit kommen, einkaufen, ins Kino oder in den Park strömen. Heute stört es mich nicht. Ich bin nach dem Treffen erschöpft genug, um mich selbst nicht als Fremdkörper zu empfinden. Ab einem bestimmten Punkt von Müdigkeit kann das menschliche Gehirn Urteile wie gut oder schlecht, gleich oder anders, eigen oder fremd kaum noch fällen. Und das ist irgendwie, als ob man das Leben austricksen würde.

Meistens ist es anders. Oft sehne ich die Einsamkeit der kalten Jahreszeit herbei mit ihrem Regen, ihren Stürmen und der Kälte. Vor allem im Winter, wenn die meisten Menschen die Abende lieber zu Hause in der warmen Stube verbringen, hat man die Straßen für sich. Ich fühle mich dann heimischer und irgendwie mehr ich selbst, als ob die Anwesenheit anderer Menschen meine Individualität mindern würde. Es ist Sartres ‚regard d’autrui‘, der ‚Blick der anderen‘. Ich muss an Meursault denken, der bei der Totenwache seiner Mutter seelenruhig entschlafen ist, trotz der bohrenden Blicke ihrer Altersheimgenossen, die ihm in einer langen Reihe gegenübersitzen und ihn mit Blicken sezieren. Der „Fremde“ Meursault fühlt sich dadurch keineswegs in seiner Individualität gemindert. Solange man sich noch fremd fühlt in der Welt, ist man vielleicht noch kein wirklich Fremder. Irgendwie ist das ein tröstlicher Gedanke.

Ich halte kurz beim Kiosk, um mir eine Flasche Bier zu kaufen. Der dicke Verkäufer ist heute nicht da, dafür bedient mich ein stark geschminktes Mädchen, das ganz cool auf einem Kaugummi herumkaut und sich sehr anstrengt, um möglichst gelangweilt und erwachsen auszusehen. Sie will als Angestellte durchgehen, dabei sieht man ihr die Ähnlichkeit zu ihrem Vater sofort an. Um sie nicht zu verärgern, frage ich nach dem „Mann, der sonst hier arbeitet“, und sie berichtet widerwillig, dass er sich beim Fußballspielen ein Bein verstaucht hat und ein paar Tage zu Hause bleiben will. Ich bestelle schöne Grüße und erschrecke sogleich über den Fauxpas, aber sie nimmt es mir nicht übel und verzieht ihren Kaugummimund zum Abschied sogar zu einem kleinen Lächeln. Vielleicht ist sie erleichtert, dass ich ihre Lüge entlarvt habe.

Zu Hause richte ich mich mit dem Bier, einer Packung Cracker und meinem Tagebuch auf dem Balkon ein. Es kann jetzt schnell gehen mit dem Kälterwerden, die Balkonsaison wird nicht mehr lange andauern. Ich reiße die Crackertüte auf und stecke mir gierig den ersten in den Mund. Ich bin hungrig, aber zum Kochen fühle ich mich zu schlapp. Die Cracker werden zwar den Hunger stillen, meinem Körper aber keine wirkliche Befriedigung geben. Trotzdem gibt es immer wieder Tage, an denen ich vor der Erschöpfung und den Kopfschmerzen kapituliere und den Crackerbetrug zulasse. DA-Tage sind oft Crackertage.

Ich nehme mir noch ein paar Cracker aus der Packung, bevor ich sie zur Seite lege und das weinrote Tagebuch mit dem Goldrand zur Hand nehme, das Hannah mir zum Abschluss meiner Therapie geschenkt hat. Auf der ersten Seite steht in engen, spitzen Hannahbuchstaben: „Für den nächsten Anfang viel Kraft und alles Liebe, Deine Hannah“. Auf Empfehlung meiner Therapeutin hin schreibe ich in das Buch jeden Abend drei Dinge ein, auf die ich stolz sein kann, zum Beispiel wenn ich jemandem einen Gefallen getan, mich zu einer ungeliebten, aber notwendigen Beschäftigung durchgerungen oder mir selbst etwas Gutes getan habe. Dabei liegt es ganz in meinem Ermessen, was ich als erachtenswert ansehe. Alle ein bis zwei Wochen soll ich dann zurückblättern und nachsehen, auf wie vieles in meinem Leben ich stolz sein konnte. Die Idee ist wohl, dass man dadurch nach und nach ein größeres Selbstbewusstsein aufbaut. Mit der Zeit findet man immer mehr Dinge beachtenswert, schon weil es schwierig ist, nicht immer das Gleiche aufzuschreiben.

Heute habe ich viel erlebt, und es fällt mir nicht schwer, etwas zu finden. Ich schreibe auf:

Freitag, 6. September:

Schulz gesagt, dass er mich mit seiner Meinung zu Camus in Ruhe lassen soll

Den Froschkönig besucht

Bei der DA gewesen

Danach öffne ich das Bier, drehe mir eine Zigarette und beobachte das Treiben auf der Straße. Schulz hat das Café schon dicht gemacht. Einige der Passanten kenne ich, andere sehe ich zum ersten Mal. Ich mag es, mir die Menschen anzuschauen und nach ihrer Kleidung und ihren Bewegungen zu überlegen, wo sie wohl wohnen, was sie arbeiten und was sie in unsere Straße führt. Oft entpuppen sich meine Vorahnungen später als falsch. Der Mann mit der Lidl-Tüte zum Beispiel, der gerade aus dem indischen Restaurant an der Ecke tritt, sieht auf den ersten Blick wie ein Obdachloser aus. Abgetragene Kordhose und -jackett, struppiger Vollbart, der fast das gesamte Gesicht überwuchert und besagte Lidl-Tüte, die er manchmal durch eine gelbe von Netto oder eine blaue von Aldi ersetzt. Der Mann ist sicher kein Obdachloser. Ich sehe ihn regelmäßig zum Friseur gehen, und auch in das indische Restaurant. Er geht nach rechts, Richtung Greifswalder, und verschwindet zwischen den Häusern.

Nach einer Weile sehe ich auch die dicke Frau mit dem Pudel wieder, die mit einem Einkaufsbeutel und einer Packung Toilettenpapier unter dem Arm angekeucht kommt. Der Pudel läuft vor ihr her und uriniert an jede Straßenlaterne. Unter meinem Balkon verliere ich die dicke Frau vorübergehend aus den Augen, und kurz darauf auch den Pudel. Die Tür fällt quietschend ins Schloss. Ich schließe die Augen und warte auf die Nacht. Morgen werde ich mit der Übersetzung beginnen.

III

Erster Teil, erstes Kapitel: „Heute ist Mama gestorben. Oder vielleicht gestern, ich weiß es nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim erhalten: ‚Mutter verstorben. Beerdigung morgen. Hochachtungsvoll.’ Das will noch nichts heißen. Es kann auch gestern gewesen sein. Das Altersheim ist in Marengo, achtzig Kilometer von Algier entfernt. Ich werde den Bus um zwei Uhr nehmen und nachmittags ankommen. So kann ich die Totenwache halten und werde morgen Abend zurückkommen.“

Fast wortwörtlich kann man die kurzen, klaren Sätze aus dem Französischen übersetzen, und doch wird der Text dadurch ein anderer. Ich versuche, das Gefühl für die Worte in meine Sprache zu übertragen, um Meursault besser zu verstehen. Dabei spricht er eigentlich eine universelle Sprache, durch sein Handeln und seine Beschreibungen. Seine Geschichte könnte in jedem Land, in jeder Sprache spielen. Und doch ist es nicht das. Er gehört nicht ganz in diese Welt. Meursault ist ein Mensch, dem die Menschlichkeit abgesprochen wird. Eine Entität, die sieht, hört und handelt. Und gelegentlich empfindet. Wie ein Tier, das die fremde Welt und sich selbst beobachtet, ohne Urteil, ohne Scham und ohne Reue. Meursaults Sprache geht über das Menschliche hinaus. Und er durchlebt, was geschehen muss, wenn man eine übermenschliche Sprache spricht: Entfremdung, Ausgrenzung und Zufälle, die keine sind. Es ist nicht meine Geschichte. Aber auf eine Art wünschte ich, sie wäre es.

Während ich übersetze, erwacht die Straße draußen zum Leben. Ich hatte mir den Wecker auf sieben Uhr gestellt, damit ich genügend Zeit zum Arbeiten habe. Spätestens um zwölf Uhr muss ich aufhören, so steht es auf meinem Plan. Um halb neun gehe ich in die Küche und mache Frühstück. Ich habe Lust auf Croissants, will die Arbeitsatmosphäre aber nicht unterbrechen, um zum Bäcker zu gehen. Es ist gut so, denke ich dann. Das Croissant sollte etwas Besonderes bleiben, eine wertvolle Erinnerung an frühere Zeiten in der Bretagne, als ich morgens niemals weniger als zwei Croissants gekauft habe. Als ich glücklich war.

Proust hatte seine Madeleine, kommt es mir in den Sinn, und ich habe mein Croissant. Die Vergangenheit sucht sich immer neue Wege, um an die Oberfläche zu gelangen. Ich schlucke den Gedanken runter und setze Kaffeewasser auf. Mir fällt etwas ein, das ich vor langer Zeit in einem Roman gelesen habe: Der Ich-Erzähler kauft jeden Montagmorgen sieben Croissants, von denen er eines zum Frühstück isst und die anderen sechs für die Woche einfriert, für jeden Tag eines. Damals fand ich das praktisch. Jetzt denke ich: wie unromantisch, ein stets verfügbares und obendrein tiefgekühltes Croissant. Das Gegenteil quasi zu meinem Madeleine-Croissant. Ich komme nicht darauf, welches Buch es war, vielleicht ist es besser so.

Statt Croissant gibt es heute nur Müsli. Ich zwinge mich dazu, in der Küche zu essen, obwohl ich die Schüssel am liebsten an den Schreibtisch mitnehmen würde. Alle östlichen Philosophien sind sich darin einig, dass es enorm zum Glücksempfinden beiträgt, sich jeder Sache ganz zu widmen, wie einfach und alltäglich sie auch sei. Das ist das Wesen von Meditation: sich einer Sache ganz hinzugeben und die mit ihr verbundenen Sinneseindrücke wahrzunehmen, ohne von Gedanken oder Stimmungen abgelenkt zu werden. Mir wird schließlich klar, dass auch diese Überlegung beim Müslikauen nichts zu suchen hat, und ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, wie meine Zähne die harten Haferflocken zermalmen, wie die Zunge dabei an den Gaumen schlägt und den Speichel verteilt, die Lippen unmerklich aufeinender reiben und der Schluckreflex immer größer wird, bis der zähe Brei schließlich die Speiseröhre hinunterkriecht. Der Geschmack des Müslis wird tatsächlich intensiver, und ich übe mich gleichzeitig im Langsam-Essen. Als die Schüssel schließlich leer ist, fühle ich mich satt, zufrieden und auch ein bisschen stolz.

Den Kaffee nehme ich mit rüber an den Schreibtisch. Meursault ist wie geplant mit dem Nachmittagsbus nach Marengo gefahren. Nachdem er mit dem Leiter des Altersheims gesprochen hat, wird er in die kleine Leichenhalle geführt, in der seine Mutter in einem Sarg mit geschlossenem Deckel aufgebahrt liegt. Der Concierge kommt herein und will den Sarg für Meursault öffnen, doch der hält ihn zurück. Er will seine Mutter nicht noch einmal sehen. Das zieht die Verwunderung des Concierge auf sich, der ihn fragt, warum. „Ich weiß nicht“, sagt Meursault nur. Und der Concierge scheint ihn zu verstehen. Die folgende Passage, so unwichtig sie auch erscheint, wird bei Meursaults Verurteilung eine entscheidende Rolle spielen. Denn auch der Richter und die Geschworenen werden, wie ich, versuchen, Meursault zu verstehen:

„[Der Concierge] hat angeboten, mir eine Tasse Milchkaffee zu bringen. Da ich Milchkaffee sehr mag, habe ich angenommen, und er ist einen Moment später mit einem Tablett zurückgekommen. Ich habe getrunken. Dann hatte ich Lust zu rauchen. Aber ich habe gezögert, weil ich nicht wusste, ob ich es vor Mama tun kann. Ich habe nachgedacht, das war überhaupt nicht wichtig. Ich habe dem Concierge eine Zigarette angeboten, und wir haben geraucht.“ Ganz einfach, denke ich. Eine Frage, ein kurzes Überlegen und eine eindeutige Entscheidung. Die ihm später zum Verhängnis werden wird.

Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, ebenfalls zu rauchen. Mein Tabak liegt noch auf dem Balkon, und ich trete in die frische Morgenluft hinaus. Es wird langsam Herbst, auch wenn manche Tage noch richtig heiß sind. Die Stadt riecht anders in der kühlen Luft, derber und irgendwie metallisch. Meine Nase und Wangen erinnern sich an die vergangenen Herbste, von denen wie immer nur das Schöne geblieben ist. Es ist ein Anflug von Waldgeruch und feuchter Erde, von dreckig-grauen Straßen, bunt gefärbten Blättern in sonnenbeschienenen Pfützen und langen Abenden zu Hause. Die Einsamkeit hat sich über den Sommer in Romantik verwandelt. Lange Herbst- und Winterabende allein zu Hause sind nur selten so besinnlich, wie man sie sich im Flirren der Sommerhitze ausmalt.

Unten lässt Schulz seine quietschende Jalousie hoch. Als er auf die Straße tritt, um Stühle und Tische hinauszutragen, pfeife ich kurz. Er lächelt und winkt zurück, und ich muss schmunzeln. Ein neuer Tag bricht an. In meinem Leben, in Schulz’ Leben und in unserer Straße. Früher, als ich mit der Schule fertig war und endlich der Enge meines Elternhauses entfliehen konnte, dachte ich immer, dass es die Veränderung sei, die mich glücklich machte. Orte wechseln, neue Menschen kennenlernen, immer wieder aus den eng werdenden Lebenssituationen und Beziehungsgeflechten zu flüchten und anderswo nach der Perfektion, der Schmerzfreiheit, dem Glück zu suchen. Heute weiß ich, dass es nicht so ist. Glücklich ist, wer sich mit seinem Leben zufriedengeben kann. Manchmal gelingt mir das.

An der Ecke hupt ein Auto und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich drücke meine Zigarette aus und gehe wieder rein. Das Herbstgefühl ist verschwunden. Es wird wieder ein heißer Tag werden.

Ich arbeite noch bis kurz vor elf, dann ruft Hannah an. Ich bin froh darüber, weil ich mich nicht mehr gut konzentrieren kann. Vielleicht liegt es am Text, Meursaults Totenwache ist anstrengend: Nach dem Abendessen kommen die Freunde seiner Mutter ebenfalls in die Leichenhalle, um über Nacht bei der Verblichenen zu wachen. Die Alten sitzen Meursault in einer Reihe gegenüber, und er hat das Gefühl, als würden sie ihn richten. Eine Frau weint. Ein Mann bekommt einen Hustenanfall. Zwischendurch sind alle eingeschlafen, auch Meursault. Ihm wird man es später vor Gericht vorwerfen, denn er ist noch jung und sollte die Kraft haben, bei seiner toten Mutter zu wachen. Bei Tagesanbruch verlassen die Alten den Raum, und alle schütteln Meursault die Hand. Es ist ein sonniger, heißer Tag, und Meursault bedauert, dass er wegen der Beerdigung keine Zeit hat, spazieren zu gehen. Stattdessen folgt ein anstrengender Marsch zum Friedhof in glühender Hitze.

Da das Kapitel nur noch ein paar Seiten hat, beschließe ich, es nach Hannahs Anruf doch noch zu Ende zu übersetzen. Der Trauerzug setzt sich in Gang. Hitze und stehende Luft, ein ewiger Trott zum Friedhof, Schweiß, der lackglänzende Wagen mit dem Sarg in der Sonne. Meursault erlebt den Tag wie in Trance und behält nur einige wenige Standbilder im Kopf. Irgendwann nimmt die Beerdigung doch ein Ende, und Meursault ist froh, als der Bus wieder in Algier einfährt. Auch ich bin froh, dass ich die bedrückende Stimmung in Marengo verlassen kann. Ich freue mich auf das Treffen mit Hannah.

IV

Da Samstag ist und schönes Wetter, haben wir uns zum Mittagessen am Spreeufer verabredet. Dort gibt es ein altes Handelsschiff, das zum Restaurant umgebaut wurde, die „Flunder“. Auf dem Deck steht ein riesiger Räucherofen, aus dem es immer gut riecht, daneben eine Handvoll Holztische mit gemütlichen Korbsesseln, die bei schönem Wetter heiß begehrt sind. Im Winter kann man in der warmen Kajüte sitzen, einem gemütlichen Schiffsbauch mit Holztafelung, Bullaugen und rustikalen Tischen.

Ich habe Glück und ergattere einen Tisch auf dem Deck, der gerade frei wird. Ich bestelle einen Milchkaffee und ein Glas Leitungswasser und warte. Hannah kommt meistens zu spät. Sie achtet sehr auf ihr Äußeres, und ich habe manchmal den Verdacht, dass sie sich mehrmals vor dem Spiegel umzieht, bevor sie irgendwo hingeht. Wenn sie kommt, ist sie immer tadellos gekleidet, elegant und trotzdem irgendwie leger, klassisch mit einem Hauch von Alternativität. Manchmal frage ich mich, wo sie die Selbstverständlichkeit ihres Chicks hernimmt und wie es kommt, dass ihr dieses Selbstbewusstsein, anders als mir, auch nach der Kindheit erhalten geblieben ist. Bei Hannah gab es keine pubertären Geschmacksverirrungen, nicht die Hässlichkeit des zur Frau werdenden Kindes und nicht den damit verbundenen Identitätsverlust. Irgendwie hat sie es geschafft, sie selbst zu bleiben, die Veränderungen in ihrem Körper anzunehmen und weiterhin den Kopf aufrecht zu halten. Im Prinzip ist es die alte Frage „Was hat sie, was ich nicht habe?“.

In der Zeitung war vor einiger Zeit ein Artikel über „Resilienz“ bei Kindern. Das lateinische Wort „resilire“ heißt zurückspringen, abprallen. Die Resilienzforschung befasst sich mit der Frage, welche Faktoren dazu führen, dass manche Kinder – und die Erwachsenen, die später aus diesen Kindern werden – stabiler sind als andere, widerstandsfähiger gegen Probleme, Konflikte, Trauer und Leid. Vieles ist dabei noch ungewiss. Sicher ist, dass elterliche Liebe und Fürsorge eine wesentliche Rolle spielen. Seltsamerweise sind Erstgeborene oft widerstandsfähiger als ihre jüngeren Geschwister, vielleicht weil sich die Eltern beim ersten Kind besondere Mühe geben. Trotzdem lassen sich damit große Unterschiede in der Resilienz von Geschwistern nicht ausreichend erklären. Ein wichtiger Faktor, der gleichzeitig vieles offen lässt, sei der Charakter des Kindes. Manche Kinder seien von Natur aus selbstbewusster, stabiler, optimistischer, hieß es in dem Artikel, andere dagegen unsicherer, emotionaler, schwächer. Dieser Punkt hat mich verwundert. Ich wollte nicht glauben, dass jeder von uns eine angeborene, unantastbare Persönlichkeit hat, die nur wenig durch äußere Faktoren beeinflusst wird. Irgendetwas daran macht mir Angst.