Das Glück nimmt andere Wege - Rike Thome - E-Book

Das Glück nimmt andere Wege E-Book

Rike Thome

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Beschreibung

Anna, die durch traumatische  Ereignisse in ihrer Kindheit geprägt ist, schafft nach dem Tod ihrer Mutter den Neubeginn. Sie schließt mit der Zeit neue Freundschaften, beginnt ihr Leben zu genießen und mit der Eröffnung ihres eigenen Buchladens erfüllt sie sich den größten Herzenswunsch.

Ihr Leben wendet sich zum Guten, scheint perfekt, bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem ER vor der Tür steht. Der Mann, der ihr schon einmal unerträgliches Leid zugefügt hat.

Eingeholt von der Vergangenheit droht sie alles zu verlieren, was sie sich mühsam aufgebaut hat. 

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Rike Thome

Das Glück nimmt andere Wege

Liebesroman

Covergestaltung: Kathy Meinen Dank dafür!BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Prolog

 

Traurig schlenderte Anna von der Schule nach Hause. Obwohl sie schon seit einigen Wochen in Merzig wohnten, fühlte sie sich immer noch als Fremde. Früher, als sie noch in Thionville gewohnt hatten, hatte sie Freundinnen gehabt, doch hier fand sie keinen Anschluss. Die Mädchen in der Schule mieden sie und wollten nichts mit ihr zu tun haben.

Als Anna die alte, verzogene Haustür öffnete, bemerkte sie, dass es heute nicht nach Alkohol stank. Also war ihr Vater wieder einmal auf Tour. Die Mutter lächelte ihr zu, als sie in die kleine Küche trat: „Hallo, Schatz. Das Essen ist fertig. Ich habe Suppe gekocht!“

Anna zwang sich, zurück zu lächeln. Sie liebte ihre Mutter viel zu sehr, um ihr zu sagen, wie sehr ihr die ständigen Suppen zum Hals heraushingen. Heute gab es wenigstens Brötchen dazu, die sie hin und wieder von einer Freundin der Großmutter bekamen, wenn sie diese nicht mehr in ihrer Bäckerei verkaufen konnte. Doch es war ein billiges Essen und zu mehr reichte das Geld einfach nicht. Sie mussten mit dem wenigen Geld auskommen, das die Mutter als Putzkraft verdiente. Denn die Sozialhilfe versoff der Vater meist. Zuhause behauptete er dann immer, er würde zu einem Vorstellungsgespräch gehen, obwohl er dann durch die Kneipen zog. Manchmal versuchte die Mutter, ihn davon abzuhalten, was ihr jedoch immer Schaden zufügte. Mal war es ein blaues Auge oder eine aufgeplatzte Lippe.

Anna begriff nicht, warum sie sich das gefallen ließ. Doch die Mutter beschwerte sich nie und versuchte auch niemals, sich von ihrem Mann zu trennen. Im Gegenteil, sie fand immer wieder Entschuldigungen und Ausflüchte für ihre Verletzungen, wenn Nachbarn sie darauf ansprachen.

 

Nach dem Essen machte sich ihre Mutter auf den Weg zur Arbeit und Anna schlurfte in ihr kleines Zimmer, um die Schulaufgaben zu machen. Sie schob die verschlissenen Vorhänge zur Seite, damit wenigstens etwas Licht durch das kleine Fenster fiel. Dennoch war es nur dämmrig. Seufzend holte Anna eine Kerze aus der Schublade des wackligen Schreibtisches. Der Strom war seit einigen Tagen wieder einmal abgestellt, da sie die Rechnungen nicht bezahlen konnten.

Doch anstatt ihre Aufgaben zu machen, legte Anna plötzlich den Kopf auf die Arme und weinte bitterlich. Manchmal wurde dieses Leben einfach zufiel für sie. Fast war sie in diesem Moment froh, keine Freundin zu haben. Denn wie sollte sie jemanden hier in dieses entsetzliche Haus einladen?

Überall nur Möbel vom Sperrmüll, die auch genauso schäbig aussahen, verschlissene Teppiche, eine Treppe, deren Stufen locker waren, kein Strom und damit auch kein heißes Wasser zum Duschen. Nur der kleine Holzofen sorgte an den kühleren Tagen für etwas Wärme. Darauf stand immer ein großer Wasserkessel, damit sie sich wenigstens waschen konnten.

Bei einer Bekannten der Mutter durften sie zum Glück die Waschmaschine mitbenutzen, so hatte Anna wenigstens saubere Kleidung, auch wenn diese weder modisch, noch neu war.

Irgendwann versiegten die Tränen. Anna schlug ihre Schulbücher auf. Sie lernte gerne und machte oftmals mehr als sie musste. Abends aß sie noch eines der inzwischen harten Brötchen und ging ins Bett. Es würde spät werden, bis ihre Mutter heimkam.

 

Anna wachte auf, als Geschirr krachend gegen die Wand flog. Sie zog die Decke über den Kopf und presste die Augen zu. Der Vater war wieder einmal stockbetrunken nach Hause gekommen.

Hilflos begann Anna wieder zu schluchzen, aber nur ganz leise, damit es niemand hörte. Sie hasste den Vater, den sie in Gedanken nur noch als Erzeuger bezeichnete. Und sie verstand auch die Mutter nicht, die dieses Leben einfach so hinnahm. Warum verließ sie diesen Mann denn nicht und ging mit Anna fort?

 

 

.

1. Kapitel

  

Wie jeden Tag um siebzehn Uhr, schloss Anna die Tür ihres kleinen Buchladens in der Innenstadt von Merzig von außen ab. Seit Tagen machte sie sich über diesen große Sorgen, denn es gab Rumoren, dass der gesamte Komplex, zu dem auch die „Rote Zora“ gehörte, von einer Baugesellschaft aufgekauft worden wäre. Nun wollten die neuen Eigentümer die Pächter rausbekommen. So, wie sie gehört hatte, sollten aus dem Komplex luxuriöse Eigentumswohnungen werden.

Wohin sollte Anna dann mit ihrem Kummer und ihren Problemen mit dem Vater entkommen? Das war nicht fair, sie hatte genug hinter sich. Soweit Anna sich erinnern konnte, gab es in ihrer Kindheit keinen Moment, wo alles harmonisch gelaufen wäre. Und jetzt sollte ihr die Buchhandlung auch noch abgenommen werden.

Sie wollte die "Rote Zora", wie Anna ihren kleinen Laden nannte, aber nicht aufgeben. Es war ihr Leben und das einzige, wofür sie lebte. Nur hier hatte Anna schöne Momente. Woanders neu anfangen, das konnte sie sich nicht leisten. Sie benötigte ein Wunder, aber Wunder waren nicht immer da, wenn man sie brauchte.

Anna erinnerte sich an die Arbeit, die sie eingesteckt hatte, um den Buchladen zu dem zu machen, wo die Kunden gerne hinkamen. Sie hatte aus diesem Geschäft eine Zuflucht für sich und für ihre Kunden gemacht. Ein Ort, wo sie ihrem wahren Leben entkommen konnten. Die Rote Zora war zur Hälfte Antiquariat, das hatte sich als sehr gut bewährt. Darauf konnte sie stolz sein. Ein Paradies, ihr Paradies. Von neun bis fünf war sie Cinderella auf dem Ball.

Ihre Liebe zu den Büchern hatte Anna von ihrer Großmutter übernommen. Diese liebte alte Bücher, den Geruch, die sie spendeten. Sie hatte ihr irgendwann einmal gesagt, dass ein Buch so gut wie das Leben sei. Zuerst wird es geliebt, gehütet und vergöttert - dann wird es auf einem Regal abgestellt und sich selbst überlassen. Die alte Dame hatte einen fatalen Drang zu Dramatik.

Doch heute konnte Anna verstehen, was sie ihr damit sagen wollte. Das Leben war kein Fest.

„Habe ich nicht genug auf meinen Schultern zu tragen", grummelte Anna erneut leidend.

Tief atmete sie die feuchte Luft ein, stieß sie gleich wieder aus und ging weiter ihres Weges. Ihre Wohnung lag nicht weit entfernt. Sie war nicht sehr groß, dafür aber gemütlich und chic. Darin hatte sich aber neuerdings ihr Vater breit gemacht. Er war nun auf Hilfe angewiesen. Doch lange würde Anna diesen Mann nicht beherbergen. Alle erforderlichen Unterlagen für einen Pflegeheimplatz hatte sie gleich am nächsten Tag seines Eintreffens eingereicht, doch die Bearbeitung lief noch.

Zum Glück bezahlte dies die Krankenkasse. Was sie sehr gewundert hatte, denn vom Arbeiten hatte dieser Faulenzer, der ihrer Mutter und ihr das Leben schwer gemacht hatte, nie etwas gehalten. Der Kerl war ein Trinker und Tyrann, und es wurde damals immer schlimmer mit ihm. Nicht selten kam es vor, dass er von der Polizei abgeführt wurde und die Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbringen musste. Oder er kam erst gar nicht nach Hause, da man ihn direkt von seiner Lieblingskneipe aus, weil er sich mal wieder mit einem anderen Gast angelegt hatte, abtransportierte. Dies waren die guten Tage. Tage ohne Angst, ohne Geschrei und ohne Schläge.

Denn jedes Mal, wenn er von seiner Tour zurückkam, fand er irgendeinen Grund, ihre Mutter zu bestrafen. Dann flog das Geschirr an die Wand, ob der Teller oder das Glas gefüllt war oder nicht. Aufbegehren durfte ihre Mutter daraufhin nicht, was ihr natürlich nicht immer gelang. Und wenn sie sich in diesem Moment ihrem Mann widersetzte, schlug er sie.

Wie oft hatte Anna die kalte Wut in seinen, vom Alkohol verschleierten Augen gesehen. Es grenzte geradezu an ein Wunder, dass er sein Kind nicht auch geschlagen hatte. Sie half ihrer Mutter dann oft auf die Beine und versorgte ihre blutende Nase, ihr geschwollenes Auge oder die aufgesprungene Lippen. Noch heute konnte Anna es nicht verstehen. Nie hatte ihre Mutter der Polizei die Wahrheit über ihre Verletzungen genannt. Mal war sie die Treppe heruntergefallen oder sie hatte sich irgendwo gestoßen.

Ja, dieser Mann ihrer Mutter trug die alleinige Schuld an ihrer extremen Scheu, Menschen gegenüber. Er war dafür verantwortlich gewesen, dass Anna sich als Kind für alles schämte. Für ihre Kleider, für ihr Zuhause, für das kalte Wasser. Nie konnte sie mit den anderen Kindern ihres Alters mithalten. Nie war genug Geld da. Immer musste sie zurück stecken. Alles hatte er zerstört, was in seinem Umkreis war. Wie gerne hätte Anna an einer Klassenfahrt teilgenommen, eine Woche in England oder zum Skifahren, nichts war mit ihm möglich. Stattdessen hatte Anna ihre freie Zeit mit Arbeit verbracht. Sie hatte als Babysitterin gejobbt, Besorgungen für ältere Menschen gemacht, oder sie zu einem Arztbesuch begleitet, als sie älter war. Sogar anderer Leute Buchführung hatte Anna manchmal getan, nur um so früh wie möglich von zuhause rauszukommen. Nach ihrem Abitur dann, hatte sie eine Ausbildung als Buchhändlerin gemacht und weiterhin Jobs angenommen, die ihre Kasse aufbessern sollte. Ihr Ziel war es gewesen, Bibliothekarin zu werden. Aber das Fernstudium war ohne gesicherte Finanzierung in der vorgegebenen Zeit für den Bachelor und Master, kaum zu bewältigen. Um es kurz zu machen, sie hatte von früh bis spät gearbeitet und jeden Cent gespart, um aus der trostlosen und heruntergekommenen Wohnung ihrer Eltern herauszukommen.

Mit hängenden Schultern, innerlich aufgewühlt, fragte Anna sich, was für einen Sinn es hatte, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen? Selbst ihre Mutter war nun seit fünf Jahren tot. Waren vier Jahre denn nicht genug, um das Traumata mit Hilfe einer Psychologin zu verarbeiten?

„Doch", sprach Anna energisch. „Ich bin längst erwachsen und er kann mich mal."

Sie hatte es geschafft, auf eigenen Beinen zu stehen. Hatte ihr Leben soweit in den Griff bekommen. Blieb noch abzuwarten, was aus ihrem Buchladen werden würde.

 

Hoch erhobenen Hauptes schritt Anna weiter. Nie wieder wollte sie in ein schwarzes Loch fallen, indem sie sich von ihrer Vergangenheit einholen ließ. Sie hatte sich lange genug als Gefangene gefühlt. Jetzt wollte auch sie etwas erleben und weiter Freundschaften knüpfen.

Durch Zurufen von der alten Frau Keller, die Besitzerin der Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wurde sie aus ihren tristen Gedanken gerissen „Hallo Annabell! Sind meine Bücher schon eingetroffen?“

„Leider ist bei der Bestellung was untergegangen. Sicher werden sie morgen bei der Lieferung dabei sein. Dann bringe ich sie Ihnen gleich rüber."

„Ich danke dir! Hauptsache, ich habe über das Wochenende etwas zum lesen. Alleine sein ist nicht schön. Merke dir das gut, Annabell."

Lächelnd antwortete Anna ihr mal wieder: „Ich werde Ihren Rat beherzigen, Frau Keller."

Anna schmunzelte, als sie weiter ging. Nur die ältere Generation sprach sie mit vollem Namen an. Die wenigen Bekannten in ihrem Alter, die sie erst in ihrer Ausbildungszeit kennen gelernt hatte, respektierten allerdings ihren Wunsch, nur Anna genannt zu werden. Wie ihre zwei besten Freundinnen zum Beispiel, die da wären: Barbara Meyer - genannt Bärbel - der sie in der Bücherei der Berufsschule begegnet war, und die, wie sie selbst, eine Leseratte ist. Dann Susanne Tippe-Wagner - genannt Susi - nun eine glücklich verheiratete junge Frau.

Sie lernte Susi kennen, als sie den kleinen Buchladen von einem älteren Herrn übernahm, der zu seiner Tochter gezogen war. Das lag nun zwei Jahre zurück. Die Miete dafür war nicht hoch und Anna hatte lange und schwer genug gearbeitet, um dahin zu gelangen, wo sie heute stand. Unabhängig und frei!

Jedes Mal, wenn Susi zu ihr kam, freute sie sich, in ihr die gleiche Romantikerin gefunden zu haben, wie sie es selbst war. Allerdings wusste niemand von ihrer Veranlagung und ihren geheimen Wünschen, einmal das pure Glück zu finden. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, wenn Dirk - Susis Mann - arbeitete.

Wehmütig seufzte Anna auf. Susi hatte so einen lieben Mann gefunden, der sie auf Händen trug, ihr alle Wünsche von den Augen ablas, der einfach perfekt war. Bei ihnen hatte sie zum ersten Mal erlebt, was es bedeutete, sich zu lieben.

Und was hatte Anna? Ihren an Alzheimer erkrankten Vater an der Backe, der ihr somit weiter das Leben zur Hölle machte. Warum hat er sich nicht das Gehirn weg gesoffen, anstatt mein Leben immer noch negativ zu gestalten, dachte sie zynisch.

Heute, ganze vier Wochen später, bereute sie, sich bereit erklärt zu haben, ihn aufgenommen zu haben, bis alles Amtsmäßig geregelt wäre. Anscheinend besaß sie die masochistische Ader ihrer Mutter. Angewidert schüttelte sie den Gedanken ab. „Nein, nein auf keinen Fall", sagte sie laut vor sich hin. „Ich habe es nur getan, weil ich zuvor Angst hatte, das für ihn mein sauer verdientes Geld draufgehen könnte."

 

 

 

 

2. Kapitel

 

Als Anna die Tür aufschloss, hoffte sie, dass ihr Erzeuger heute nicht ganz so anstrengend war. Frau Girtel - die Pflegerin, die sich am Tag um ihn kümmerte - stand mit ihren Nerven kurz vor einem Zusammenbruch und hatte ihr in den letzten Tagen oft mit der Kündigung gedroht.

Inständig hoffte Anna, dass bald die Einwilligung über die zu tragenden Kosten eines Heimes vor ihr auf dem Tisch liegen würde.

Sie räumte die Wurst und den Käse in den Kühlschrank, die sie zuvor noch schnell im Supermarkt eingekauft hatte. Danach fiel ihr erst auf, wie still es in der Wohnung war und stutzte. „Wo sind die nur?", fragte sie sich und ihr kam ein Verdacht. Sollte etwas mit ihm passiert sein? Anna verwarf die aufkeimende Hoffnung auf Erlösung aber sogleich wieder. Die Pflegerin hätte sie dann mit Sicherheit angerufen. Nicht gerne begab sie sich in das Zimmer ihres Vaters. Als Anna die beiden dort vorfand, atmete sie auf. Aus Liebe zu ihm geschah das aber sicherlich nicht. Vielmehr war es die Vermutung gewesen, die Pflegerin hätte das Handtuch geschmissen.

„Guten Tag, Frau Girtel!", begrüßte Anna die rüstige Dame, die gerade damit beschäftigt war, ihrem Vater, dem Verursacher ihrer Komplexe, den Pyjama zuzuknöpfen.

Freundlich kam es zurück: „Guten Tag, Frau Baldur!" Ihr Vater selbst sah sie nur zerstreut an. An seinen schlechten Tagen erkannte er sie nicht einmal.

„Ist etwas mit ihm? Es hat mich gewundert, wie ruhig es in der Wohnung war, als ich heim gekommen bin."

Sie schmunzelte: „Mit dem Miesepeter ist heute soweit alles bestens, denke ich. Allerdings hat es mich auch gewundert, wie gut wir heute miteinander ausgekommen sind. Keine Beleidigungen, noch nicht einmal geweigert hatte ihr Vater sich, als ich ihn gewaschen habe. Ich habe ihn auch gleich gefragt, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Er hat daraufhin nur genickt und über leichte Kopfschmerzen geklagt", teilte ihr Frau Girtel mit.

 

Mit ihrem Vater musste Anna gestern noch bei der monatlichen Routineuntersuchung erscheinen. Doch da war noch alles in Ordnung. Der Arzt hatte ihr nur gesagt, dass es nicht besser, sondern wegen seiner jahrelangen Alkoholabhängigkeit schlimmer mit dem Gedächtnisverlust werden würde und er nicht mehr so gut auf den Beinen wäre. Das hatte sie schon bemerkt. Er schwankte manchmal, als wäre er wieder besoffen. Doch hatte er scheinbar wegen seiner Krankheit lange nichts mehr zu sich genommen. Erfreuen tat es sie nicht, denn es war dafür viel zu spät.

Unsicher, was sie tun sollte, fragte Anna: „Frau Girtel, meinen Sie, ich sollte den Arzt mal anrufen?" Wegen unterlassener Hilfeleistung wollte sie keinesfalls belangt werden. Wenn auch ihre Gedanken manchmal ganz schön unverfroren waren.

„Aber Frau Baldur! Sie waren doch erst gestern bei Dr. Reinard."

Das stimmt, dachte Anna. Sie verließ mit der Pflegerin das Zimmer, damit ihr Vater sich ausruhen konnte.

In der Küche angekommen, bereitete Anna für sie beide einen Cappuccino zu und setzte sich mit Frau Girtel an den Tisch.

„Bevor Sie nach Hause gehen, möchte ich Ihnen noch sagen, wie dankbar ich für Ihre Hilfe bin."

„Ach Kindchen! Ich weiß doch, wie schwer es mit dieser Krankheit ist. Vor allem für so ein junges Ding wie Sie. Ich helfe doch gerne. Seit ich in Frührente bin, kann ich den Verdienst auch gut gebrauchen. Sie wissen doch, wie knapp die Rente geworden ist."

„Und ich bin froh, jemanden wie Sie gefunden zu haben. Ich weiß nämlich nicht, ob andere sich das Verhalten meines Vaters so lange gefallen lassen. Ich könnte ihnen das nicht einmal verübeln."

„Machen Sie sich mal keine Gedanken. Wenn ich auch oft mit einer Kündigung gedroht habe; Sie wissen doch sicher, das Hunde, die bellen, nicht beißen", erwiderte sie schmunzelnd.

Anna war dieser Frau sehr dankbar und erleichtert seufzte sie auf. Sie plauderten noch ein wenig, während sie ihren Cappuccino austranken. Dann verabschiedeten sich bis zum nächsten Tag voneinander und Anna begleitete die Pflegerin zur Tür.

 

Noch ehe Anna sich hinterher selbst etwas zum Essen machte, vergewisserte sie sich mit einem Anruf beim Pflegedienst, ob es für heute Abend mit einer Betreuungsperson klappte. Für heute hatte sie sich nämlich mit ihren Freundinnen zu einem Kinoabend verabredet. Die beiden hatten sie nach einer langen Diskussion dazu überreden können, sich mal wieder einen freien Abend von all ihren Pflichten zu nehmen. Anna wollte ihren Vater aber sich nicht sich selbst überlassen. Dafür war er bereits zu zerstreut. Einmal hätte er beinahe die Wohnung in Brand gesetzt, als er sich etwas zum Essen machen wollte, wäre sie nicht in dem Moment zur Tür herein gekommen.

Leicht genervt seufzte sie auf. „Und jetzt auch noch das mit meinem Buchladen", sprach sie frustriert auf den Weg in ihr Schlafzimmer. Dort nahm sie sich die Wäsche, die sie zum heutigen Abend anziehen wollte, aus dem Schrank und begab sich ins Bad. „Du hast schon ganz andere Schwierigkeiten gemeistert, Anna. Dann schaffst du auch das", sprach Anna sich Mut zu, während das Wasser in die Wanne lief.

 

„Oh Mann, war der Film öde!", vernahmen Anna und Bärbel die enttäuschten Worte von Susi, als sie das Kino verließen. Der Film, in den ihre Freundinnen sie geschleift hatten, war wirklich stinklangweilig gewesen. Oder aber, Anna war der Umstände wegen, nicht ganz bei der Sache.

„Ja, nicht? Sie haben die schönsten Szenen für ihre Werbung benutzt und das war's auch schon", gab Bärbel ihren Senf dazu.

„Ihr müsst halt nicht alles glauben, was die Werbung verspricht", zog Anna sie noch auf. Alle drei lachten. Es nützte Anna jetzt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Morgen würden die Probleme auch noch da sein.

Susi blickte eine nach der anderen an und fragte: „Was nun? Machen wir noch einen Abstecher und gehen etwas trinken?"

Sie musste es an ihrem Gesicht abgelesen haben, dass Anna über diese Wortwahl nicht begeistert war, als sie auch schon meinte: „Entschuldige, Anna! Das war blöd. Aber wir haben schon lange nichts mehr gemeinsam unternommen. Sag du doch auch mal etwas dazu, Bärbel!"

„Was soll ich dazu sagen? Sie weiß es doch sicher selbst."

„Hast du etwa auch keine Lust mehr?", schmollte Susi.

„Doch sicher! Aber wir können sie eben nicht zwingen", kam es von Bärbel.

Anna wollte sich mit ihnen nicht schon wieder streiten. In dieser Hinsicht gaben sich ihre Freundinnen uneinsichtig. Sie kannten das Problem mit ihrem Erzeuger, waren aber der Meinung, dass sie sich zu viel von ihren negativen Erfahrungen beeinflussen ließe. Für jemanden, der das nicht durchlebt hatte, war es auch sicherlich nicht einfach, dies nachvollziehen zu können. Sonst hätten sie bemerkt, dass es längst nicht mehr so war, wie zu Beginn.

„In Ordnung! Gehen wir uns mit einer Coke oder eben Eistee erfrischen", formulierte sie es um. Sie mochte die andere Ausdrucksweise nicht, weil es Anna stets an ihren Vater erinnerte. Zudem sah sie es nicht gerne, wenn Alkohol getrunken wurde. Dies konnte man jemandem jedoch nicht verbieten und solange die Leute wussten, wann es genug war, war dagegen auch nichts einzuwenden. Das hatte ihre Therapeutin ihr stets eingetrichtert gehabt. Anna erinnerte die beiden aber: „Aber nicht lange. Zurzeit steht mir der Kopf nicht danach, was ihr sicherlich nachvollziehen könntet, wenn jetzt auch noch eure Existenz gefährdet wäre."

Zumindest zeigten die beiden Einsicht und Susi meinte: „Okay, wir nehmen, was wir kriegen. Wir dachten nur, es würde dir mal guttun, auf andere Gedanken zu kommen."

Anna musste ihnen Recht geben und antwortete daher: „Schon gut! Sich eine Stunde weniger Gedanken über diese ganze Schweinerei zu machen, wird mir sicherlich nicht schaden."

 

Als sie sich in einem Pub einen Tisch geordert und die Getränke bestellt hatten, wollten ihre Freundinnen genauer wissen: „Wie steht es denn nun um deinen Buchladen?"

"Wie es aussieht, nicht so gut! Die Baugesellschaft hat alle Mieter für kommende Woche zu einer Besprechung geladen."

„Dann stimmt es doch, was man redet? Ich habe es nicht geglaubt, weil du uns doch sonst sicher davon erzählt hättest. Werden sie alle rausschmeißen?", fragte Susi erschrocken.

Beleidigt antwortete Anna: "Ich hätte es euch schon noch gesagt, aber gestern war ich mit meinem Anhängsel beim Arzt gewesen und hinterher war ich nur noch müde."

Ihr fiel es schwer, ihn Vater zu nennen. Daher mied sie es, wo sie nur konnte. Ihre Freundinnen wussten auch so Bescheid. Anna hatte sich ihnen nach und nach anvertraut.

„Ich weiß es auch erst seit vorgestern. Man hatte uns die Einladung schriftlich zukommen lassen."

„Was willst du nun tun? Gehst du hin?" Die Frage kam von Susi. Sie konnte am meisten nachvollziehen, wie sehr sie an dem Laden hing.

Anna verdrehte die Augen und sah ihre Freundinnen ungläubig an. „Natürlich! Was bleibt mir anderes übrig? Ich werde nichts unversucht lassen, meinen Laden halten zu können. Nicht umsonst habe ich mich so krumm dafür gemacht. Stellt euch vor ... Man hat uns Abfindungen und Hilfe bei der Suche einer neuen Wohnung zugesagt. Sie schreiben, sie hätten da ihre Beziehungen. Als wenn mir das helfen könnte! Einen so günstigen und gut gelegenen Buchladen werde ich wohl kaum ein zweites Mal finden", erzählte Anna und seufzte deprimiert auf.

„Und trotzdem läuft er nicht gut genug, sodass du dir hättest Rücklagen bilden können."

Diese Feststellung kam von Bärbel und erinnerte Anna wieder einmal daran, dass noch ein anderes Problem in der Luft lag. Egal, ob sie den Buchladen behalten oder ihn verlieren sollte. Sie musste dringend mehr verdienen. Es reichte gerade, um ihre laufenden Kosten zu decken und ab und an mit ihren Freundinnen etwas zu unternehmen. Sich eine Rücklage zu schaffen, war ebenso wichtig. Zumal ihre ganzen Ersparnisse für die Einrichtung der Wohnung und die kleine Modernisierung ihres Ladens draufgegangen waren. Ihre Mutter hatte nichts zum Erben hinterlassen.

 

Ihre Getränke wurden gerade gebracht, sodass Anna sich eine schlagfertige Antwort darauf einfallen lassen konnte.

„Wohl kaum! Dennoch hänge ich an meinem kleinen Laden und gebe ihn nur ungern auf. Das versteht ihr doch, oder?" Beide nickten. „Ich werde auf jeden Fall versuchen, sie zu überreden, wenigstens den Laden verschont zu lassen. Zudem werde ich mir einen weiteren Job suchen müssen."

„Wann willst du den ausführen? Du hast doch so schon kaum Zeit für dich und uns", klagten sie sogleich.

Anna versuchte, sie zu besänftigen. „Mein Buchladen ist doch nur bis 17 Uhr geöffnet. Ich könnte abends noch gut zwei Stunden arbeiten und auch am Wochenende. Natürlich erst dann, wenn der Alte im Heim untergebracht ist. Oder wenigstens zwei Samstage im Monat. So habe ich an den anderen beiden Wochenenden Zeit für euch", meinte sie und lächelte ihnen zu.

Von ihnen bekam Anna jedoch nur ein Naserümpfen und ein Kopfschütteln zu sehen. „Sicher doch! Dein Fleiß in Ehren, Anna, aber willst du dich zu Tode schuften? Das Einzige, was dir helfen kann, ist, diesen Mistkerl nicht mehr am Hals zu haben. Du zahlst doch momentan nur drauf. Wer zahlt dir denn den Strom und das Wasser, das er verbraucht?", sprach Susi nun das Unausweichliche aus.

 

Das zog Anna wieder runter, denn darin hatten sie recht. Den lieben, langen Tag lief der Fernseher und sie musste dieses Zimmer mehr heizen, weil ihm ständig kalt war. Nicht zu vergessen das Wasser, was man für ihn verbrauchte. Jeden Tag duschen gönnte nicht einmal sie sich. Der Mann kostete sie schon mehr, als die Krankenkasse zurzeit übernahm. Das Meiste davon ging sowieso für seine Medikamente drauf, die er der Krankheit wegen einnehmen musste. Grimmig antwortete Anna ihnen: „Soll ich ihn etwa in der Wanne ertränken? Sicher! Ich hätte ihn somit vom Hals und bekäme sogar mietfreies Wohnen. Allerdings im Gefängnis. Damit hätte ich wohl kaum mehr Freiheit, um mein Leben zu leben", antwortete sie mit trockenem Humor. Sie hätte allen Grund, darüber wütend zu sein. Es wäre aber ihren Freundinnen gegenüber nicht fair, denn sie sprachen eben nur das aus, was sie sich selbst schon ein Dutzend Mal gedacht hatte.

„Wir meinen es doch nur gut mit dir", lenkte Bärbel ein.

„An dir geht das Leben vorbei und ehe du dich versiehst, endest du als alte und noch dazu, einsame Jungfer", trat Susi ins Fettnäppchen.

Erschrocken sah Anna sich im Pub um. Hoffentlich hatte dies keiner der anwesenden Gäste mitbekommen. Doch niemand sah zu ihnen herüber. Grimmig verzog sie das Gesicht. Was konnte sie dafür, dass sie von Natur aus eher zurückhaltend war?

Leise fauchend konterte sie: „Ach, was du nicht sagst! Darf ich dich daran erinnern, wem ich es zu verdanken habe, dass mir momentan die Lust an einem Flirt fehlt? Ich sage nur Franco."

Daraufhin musste Bärbel kichern. „Das war nicht allein Susis Schuld. Ich habe ihn ihr vorgestellt und Susi meinte, er wäre perfekt für dich."

„Perfekt? Dieser Macho war so etwas von selbstherrlich und hat doch nur versucht, mich in die Kiste zu bekommen. Und wer hat überhaupt behauptet, dass ich noch Jungfrau bin?"

„Ach, komm schon Anna! Das mit Ralf in deiner Ausbildungszeit war doch ein Flop. Du selbst hast doch gesagt, es sei nicht berauschend gewesen", stichelte Susi weiter.

„Geht es noch etwas lauter? Damit auch wirklich jeder dein dummes Gespräch mitbekommen kann", schnauzte Anna ihre Freundin durch die Zähne an.

Dieses Thema war ja noch schlimmer, als das mit ihrem Vater, den sie eh bald los sein würde. Hoffentlich, dachte sie und verzog leicht das Gesicht.

 

Das hatte sie nun davon, dass sie sich den beiden anvertraut hatte. Die Mädels waren seither nicht zu bremsen. Sie glaubten ernsthaft, sie, Anna, an den Mann bringen zu müssen, weil sie zu zurückhaltend wäre.

„Nicht berauschend heißt nicht, dass da nichts gewesen ist", grinste Anna schadenfroh. Sie war längst keine Jungfrau mehr. Nur dass ihr erstes Mal mit Ralf ganz und gar nicht ihre Erwartungen traf. Eher glich es einem flotten Quickie, und das auch noch auf dem Rücksitz seines Autos.

Damals hatte sie sich dafür geschämt und schmutzig gefühlt. Als sie an dem Abend nach Hause kam, stand sie eine geschlagene halbe Stunde unter der Dusche und schrubbte sich die Haut, bis sie stark gerötet war und anfing zu schmerzen. Aber sie hatte den Zwang, sich die Berührungen und den Ekel daran abwaschen zu müssen.

Und warum das alles? Weil sie sich den anderen Mädchen gegenüber behaupten wollte. Sie sollten sehen, dass auch sie, die graue Maus, einen Mann abbekam. Zudem wollte Anna in ihren Augen nicht als alte Jungfer dastehen, wie Susi jetzt behauptete. Vielleicht wollte sie sich damit aber auch ein für allemal bestätigen lassen, das Männer Schweine sind. Durch die jahrelangen Erlebnisse mit ihrem Erzeuger, traute sie ihnen sowieso nicht über den Weg. Der Illusion, dass es einen Mann für sie geben könnte, wie sie in Liebesromanen beschrieben wurden, wagte sie sich nicht hinzugeben.

Ihre Freundinnen lachten, was Anna verärgerte. Wenn sie sie somit auf andere Gedanken bringen wollten, missglückte ihnen das gewaltig.

"Susi, du verhältst dich gerade wie ein Elefant im Porzellanladen. Was hat das alles jetzt mit meinem Problem zu tun? Sorry Leute, aber darauf habe ich heute keine Lust. Ich habe zuhause noch zu tun."

„Da muss ich Anna recht geben, Susi. Was ist los mit dir?“, fragte Bärbel.

„Tut mir leid! Ich bin wegen ihrem Alten nur gereizt. Er bestimmt doch schon wieder ihr Leben. Erneut tauchst du in Arbeit unter, Anna. Und wir waren so froh, dass du mal aus dir rausgekommen bist … Ich möchte eben nicht, dass du wieder einen Rückwärtsgang einlegst und den Spaß am Leben vergisst", entschuldigte Susi sich bei Anna.

Anna schüttelte heftig den Kopf. „Das mache ich doch gar nicht! Oh Mann, Leute! Die Themen, die ihr heute anschneidet, gefallen mir nicht. Mir steht echt nicht der Kopf danach. Außerdem übertreibt ihr maßlos.“ Sie mussten doch nicht an jedem Wochenende ausgehen. „Warum hackst du nicht auf Bärbel rum? Sie ist doch momentan auch solo", meinte Anna noch.

„Halt, Stopp! Lasst mich bitte daraus! Mir ist lediglich nur noch nicht der Richtige über den Weg gelaufen", konterte Bärbel und schmunzelte. „Du hast das Interesse am Flirten verloren, was ich nicht habe", kommentierte sie weiter.

 

Anna stöhnte auf. Ihre Freundinnen sahen sich an. Susi klopfte ihr Mitgefühl heuchelnd auf die Schulter und Bärbel umarmte sie kurz. Anna war ihnen nicht wirklich böse. Sie wusste, dass sie es nur gut meinten. Sie waren eben nicht sehr feinfühlig und packten lieber den Stier an den Hörnern.

„Okay Themenwechsel", ordnete Bärbel zu ihrer Erleichterung an.

„Genau! Geh mit deinen Belegen zur Krankenkasse und lege ihnen das mal vor", meinte Susi gnädig.

Anna sah sie an und meinte: „Daran habe ich auch schon gedacht. Doch wie soll ich den Mehrverbrauch nach nur wenigen Wochen ermitteln?" Dann grinste sie auf einmal und teilte ihnen mit: „Ich versuche es dennoch, das auf dem Amt mal vorzubringen und werde ihnen sagen, dass ich nicht mehr länger gewillt bin, ihn weiter zu beherbergen. Wenn das nicht reicht, lasse ich die wissen, wie feindselig dieser Kerl ist. Frau Girtel wird mir dazu sicher ihre Hilfe geben und ihnen das bestätigen. Ich setze ihnen sozusagen die Pistole auf die Brust, in der Hoffnung, dass sie endlich Geschick machen. So langsam habe ich nämlich das Gefühl, als wenn sie sich extra Zeit lassen würden, um Kosten einzusparen. Dafür müsste ich aber erst einmal nach Hause kommen, damit ich mich auf das Treffen vorbereiten kann."

Ihre verdutzten Gesichter darauf zu sehen, erfreute Anna. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet, dass die ruhige Anna nun aufbegehrte. Es dauerte eine Weile, bis das sie sich mit ihr darüber freuten. Kurz darauf machten sie sich auch schon auf den Heimweg.

 

 

 

 

3. Kapitel

  

Das Wochenende nutzte Anna, um die liegen gebliebenen Hausarbeiten zu erledigen. Sie bügelte die Wäsche und putzte die Fenster. Ihr Vorsprechen auf dem Amt hatte sie nicht wirklich weiter gebracht. Sie würden sich bemühen, ihr bald den Bescheid zukommen zu lassen, hieß es nur. Zum dritten Mal in dieser Woche musste das Bett ihres Vaters bezogen werden, weil er es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette geschafft hatte. Bisher war es Frau Girtel gewesen, die es machen musste, weil es in ihrer Arbeitszeit geschah. Nur heute nicht. Doch Anna konnte ihn ja wohl schlecht darin liegen lassen. Der Geruch würde sich in ihrer Wohnung ausbreiten. Lieber biss sie in den sauren Apfel und beseitigte den Schaden.

Mit ihm ging es stetig bergab, wie es schien. Heute Morgen zum Beispiel, hatte er sie wieder einmal gefragt, wer sie denn sei und wo Sophie - ihre Mutter - wäre. Anna hatte ihm daraufhin nur gesagt: „Mutter ist fort." Was hatte es für einen Sinn, ihm mehr zu sagen? Dr. Reinard hatte es ja vorausgesehen, dass er immer mehr vergessen würde.

Nachdem sie das Bett frisch bezogen hatte, schaltete Anna ihm den Fernseher an und verließ das Zimmer. Sie war nicht bestrebt, sich lange mit ihm abzugeben. Es ist bösartig, so etwas von sich zu geben, doch das hatte er sich selbst zuzuschreiben.

 

Nach getaner Arbeit, machte Anna es sich am Nachmittag auf der Couch gemütlich und sah sich die Stellenausschreibungen in der Zeitung durch. Leider kam darin nichts für sie in Frage. Entweder wurden Leute zur Festeinstellung für Vollzeit gesucht, oder es war zu weit entfernt. Ein Auto besaß sie nicht. Dieser Luxus war für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Wozu auch? Sie wohnte in der Stadt und hatte es nicht weit zur Arbeit und zu den Geschäften.

Zwei Tage war es nun her, als Anna mit ihren Freundinnen im Kino gewesen war. Der anschließende Besuch im Pub hatte fast zwei Stunden gedauert, ehe sie sich ihnen entziehen konnte. Und das auch nur, weil sie ihren Freundinnen versprach, sich kommende Woche mit ihnen zu treffen, und sie über den Verlauf der Besprechung zu informieren.

Gerne würde Anna den Laden behalten. Darin hatte sie nicht gelogen. Dennoch klang eine Abfindung im Nachhinein auch verlockend. Denn Susi hatte recht. Was brachte es ihr, wenn sie mehr arbeitete und dadurch eine zusätzliche Hilfe für ihren Laden einstellen musste?

 

„Ich habe Kopfschmerzen", sprach Ihr Laster in ihre Gedanken hinein. Anna hatte ihn gar nicht kommen gehört und sah zu ihm auf. Wie er da in der Tür steht, dachte sie. Als könnte ihn kein Wässerchen trüben. So hilflos hatte sie ihn nie erlebt. Innerlich ermahnte sie sich, jetzt bloß für ihn kein Mitleid zu empfinden. Dieses Wort hatte er auch nicht gekannt, als er seine Frau tyrannisiert hatte.

„Schon wieder? Du hast in den letzten Tagen öfter darüber geklagt. Soll ich Dr. Reinard anrufen?" Vielleicht muss er ins Krankenhaus und ich hätte ihn vorerst wieder los, ging ihr durch den Kopf.

Er schüttelte den Kopf, verzog dabei aber das Gesicht, als würde ihm diese Geste Schmerzen bereiten. Anna half ihm, zurück in sein Zimmer zu kommen, wobei sie ihn wohl oder übel stützen musste. Der Mann sah mindestens zehn Jahre älter aus, als er tatsächlich war. Was mit Sicherheit an seinem jahrzehntelangen Alkoholkonsum lag.

Sie war sich unsicher. Anna wollte Dr. Reinard ja ungern für jede Kleinigkeit behelligen. Aber was, wenn er etwas Ernstes hatte? Ihr wuchs das alles wirklich über den Kopf.

Nachdem sie sein Zimmer wieder verlassen hatte, griff sie doch zum Telefon und rief bei Dr. Reinard an. Sie erzählte ihm von den Beschwerden und dass er inkontinent geworden wäre.

Der Arzt beruhigte sie nach der Schilderung der Befindlichkeiten, indem er sie informierte, dass das alles nicht ungewöhnlich sei. Sie solle bei der Pflegestelle anrufen und sie bitten, ihr Windeln zu bringen, damit er nicht ständig das Bett einnässte. Wenn ihr Vater aber weiterhin über Kopfschmerzen klagen würde, sollte sie kommende Woche mit ihm in die Praxis kommen, damit einige Untersuchungen und verschiedene Tests gemacht werden können.

Damit ihre Pflicht getan, verabschiedete Anna sich dankend. Insgeheim hoffte sie aber, dass dies nicht nötig sein würde, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie die Labortests bezahlen sollte. Immerhin musste sie dafür erst einmal in Vorlage treten. Es interessierte die Kassen nicht, dass sie den Laden nur gemietet hatte und dieser nicht genug abwarf.

 

Am Sonntag hatte sie das Gefühl, die Decke würde über ihr einbrechen. Ihr Erzeuger war heute wieder unausstehlich und Anna war froh, als er sich endlich für seinen Mittagsschlaf ins Bett legte. Wie so oft konnte man ihren Fraß, wie er ihr Essen nannte, nicht essen. Ihre Mutter, die Schlampe, wie er sie titulierte, würde sich mal wieder mit einem Kerl amüsieren, und weitere Beschimpfungen.

Auch, wenn er nicht wusste, was er da von sich gab, war es doch zu viel des Guten gewesen. Anna hatte einfach Rot gesehen. Wutentbrannt und die Augen zu Schlitzen gepresst, hatte sie ihn angeschrien, dass er kein Recht hätte, so über ihre Mutter zu sprechen. Er wäre es doch gewesen, der seine Frau in den Tod getrieben hätte. Mit hochrotem Kopf und innerlich sehr aufgewühlt, hatte sie ihm daraufhin nur die Decke über den Kopf geworfen und die Zimmertür hinter sich zugeknallt. Dieser registrierte es nicht einmal, dass sie ihm zum ixten Mal zu verstehen gab, dass ihre Mutter tot sei.

„Oh Mama, was hast du nur an ihm gefunden", stöhnte Anna frustriert auf und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Was sollte sie nur tun? Sie stand nun selbst kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Was kann denn so lange dauern, sich ein paar Unterlagen anzusehen, dachte sie. Pokert ihr darum, ob ihr ihm das Heim bezahlt oder ihn mir aufhalst? Wütend schlug sie mit der Faust so fest auf den Küchentisch, dass ihr Teller, der noch darauf stand, in die Lüfte sprang und zu Boden glitt, wobei er zerbrach.

 

Nachdem sie sich eine Kopfschmerztablette genommen und die Schweinerei weggewischt hatte, wobei sie lautstark vor sich hin fluchte, rief sie Susi an und fragte, ob sie keine Lust hätte, bei ihr vorbei zu kommen. Ihre Freundin schien aus ihrer Stimme herausgehört zu haben, dass der Haussegen mal wieder schief hing und versprach, mit Bärbel zu kommen.

Anna war ihnen so dankbar über ihre aufopfernde Freundschaft. Sie waren für sie da, wenn sie ihre Freundinnen brauchte.

Um wieder runter zu kommen, las sie in der Zeit des Wartens die Stellenausschreibungen in der Saarbrücker Zeitung durch. Zumindest versuchte sie es. Diese hatte sie von Frau Ziegler, eine der Mieterinnen über ihrem Buchladen, am Freitag bekommen. Sie war zu ihr gekommen, um zu fragen, ob Anna am Dienstag auch bei der Besprechung dabei sein würde. Was sie ihr bejahte.

Sie fand einen Artikel, der ihre Aufmerksamkeit weckte. Darin wurde über den neuen Kindergarten in der Waldstraße geschrieben. Unter anderem hieß es dort, sie würden eine liebe Person suchen, die an zwei Wochentagen mit je zwei Stunden für die Ganztagskinder eine Lesestunde abhalten könnte.

Anna schnappte nach Luft. Könnte es ihr somit gelungen sein, einen zweiten Job gefunden zu haben? Sicher, die Zeiten waren nicht gerade nach ihrer Vorstellung. Aber mit einer geringen Umstrukturierung könnte es machbar sein.

Diese Chance wollte sie sich nicht entgehen lassen und rief sogleich die angegebene Nummer an. Nach einigen freundlich unterhaltsamen Minuten hatte Anna es geschafft, für den kommenden Donnerstag einen Termin für ein Vorstellungsgespräch zu bekommen.

Es würde eine anstrengende Woche werden. Dienstags zur Besprechung mit der Baugesellschaft, Donnerstag zum Vorstellungsgespräch und Freitag ihre Inventur im Buchladen. Aber das machte Anna nichts aus, da all das, sie von ihren Problemen ablenken würde.

 

„Warum kann ich nicht zu Hause bleiben? Ich bin doch kein Kind mehr!"

Anna setzte ihren Vater in einen Sessel und nahm ein Buch aus dem Regal, das sicher seine Aufmerksamkeit wecken würde. Der Tag fing ja schon gut an. Sie rieb sich die von seiner Nörgelei pochenden Schläfen und antwortete sichtlich bemüht, ruhig zu bleiben: „Weil Frau Girtel zum Arzt muss und dich später hier abholt."

Wegen dieses Mannes hatte sie mit einer halben Stunde Verspätung es endlich geschafft, ihren Buchladen zu öffnen. „Die Montage sollten abgeschafft werden", grummelte sie leise vor sich hin. Was konnte sie dafür, dass seine Pflegerin sich den Halswirbel ausgerenkt hatte? Anna hoffte nur, dass Frau Girtel heute überhaupt in der Lage sein würde, sich um ihn zu kümmern.

Nachdem sie den Laden geöffnet und die Tür zum Durchlüften offen stehen ließ, wandte sie sich zu diesem Nichtsnutz um. Er aber war längst vertieft in das Buch, welches reichlich bestückt mit Landschaftsfotos und Tieraufnahmen war. „Wenigstens das habe ich mal richtig gemacht", seufzte Anna auf. Den ganzen Morgen schon nörgelte der Kerl an ihr herum. Du kannst dies nicht, du machst das nicht, hättest besser deiner Mutter zuschauen sollen... Worauf sie wieder gestritten hatten.

Anna selbst spürte, dass es bald an der Zeit sein würde, wieder die Psychologin aufsuchen zu müssen, wenn nicht ein Wunder geschah und sie ihn los sein würde. Sie konnte nicht mehr sagen, wie oft sie ihn in Gedanken gewürgt, ihm etwas ins Essen gemischt oder ihm etliche Flaschen Schnaps hingestellt hatte, damit er sich tot soff.

Es schmerzte sie stets aufs Neue, dadurch immer wieder an ihre verkorkste Kindheit erinnert zu werden. Außer der Liebe ihrer Großmutter und ihrer Mutter hatte sie doch nichts bekommen. Freundschaft, Verliebtheit… All' das war ihr doch seinetwegen vergönnt gewesen. Zu sehr fürchtete sie sich vor den Konsequenzen. Keine Freundin, geschweige denn Freund, hätte sich sicherlich ein zweites Mal mit ihr verabredet, wenn er gesehen hätte, aus welchen Verhältnissen sie stammte.

Wenn dieser Taugenichts sich so gab, kam jedes Mal die Wut auf ihn hoch, dem Anna die Schuld zutrug. Noch heute Morgen würde sie wieder auf dem Amt anrufen und die Bearbeiterin wissen lassen, dass sie nicht mehr gewillt war, ihn noch länger zu beherbergen. Fünf Wochen waren schon mehr als genug für ihr Seelenheil.

 

Mit Frust im Leibe ging Anna daran, das Wechselgeld in die alte Kasse zu legen und aus dem Raum hinter ihr, die bestellten Bücher nach vorn zu bringen. Diese würden heute von ihren Kunden abgeholt werden. Darunter war auch die Bestellung von Frau Keller, die dieses Mal lange darauf warten musste. Um es wieder gut zu machen, wollte sie ihr die Bücher in der Mittagspause persönlich vorbeibringen. Bei der Gelegenheit würde sie sich ein Stück Kuchen und einen Kaffee bei ihr gönnen. Süßes war für sie reine Nervennahrung, die sie heute dringend brauchte. Sonst würde sie ihren Erzeuger eigenhändig erwürgen.

Wie erholsam war doch der gestrige Tag im Vergleich zu heute. Er hatte sich geweigert, sein Zimmer zu verlassen, weil ihre Freundinnen zum Plausch vorbeikamen. Was niemanden von ihnen störte. Sie mochten ihn sowieso nicht, was Anna ihnen nicht verübeln konnte. Sie hatte dazu selbst beigetragen, weil sie ihnen aus ihrer Kindheit und ihrem einsamen Leben erzählt hatte. Damals hatte Anna aber dringend jemanden gebraucht, bei dem sie sich ausheulen konnte. Bis zum heutigen Tag hatte sie es nicht bereut, sich den beiden anvertraut zu haben. Ganz im Gegenteil. Sie hatten sich als wahre Freundinnen entpuppt und hatten sie so zusätzlich unterstützt. Die beiden waren seither immer für sie da gewesen. Sie nahmen sie mit, wenn sie Lust auf Kino oder andere Dinge hatten, um sie so in ein soziales Leben einzugliedern und boten ihr ihre Hilfe in allen Bereichen an.

Was Anna natürlich niemals ausnutzen würde. Wenn es ihr auch an Selbstvertrauen und manchmal auch an Mut fehlte. Sturheit besaß sie, wenn es darauf ankam. Das hatte sie gestern noch gezeigt, als Susi behauptete: „Anna, was dir fehlt ist Selbstachtung."

Als sie ihre Freundin daraufhin fragte, wie sie darauf käme, antwortete sie ihr prompt: „Wann hast du zuletzt in den Spiegel gesehen? Du arbeitest dich noch kaputt. Noch nicht einmal für dich selbst, sondern für ihn. Lässt dich von ihm anbrüllen und nieder machen. Bring ihn ins Krankenhaus und mach dir ein paar schöne Tage. Wenn du denen sagst, dass er immer noch unter Kopfschmerzen leidet, behalten sie ihn da."

Auch wenn Anna sich noch heute fragte, was das mit Selbstachtung zu tun haben sollte, überlegte sie, ob nicht ein Körnchen Wahrheit darin lag.

 

Kurz vor Mittag kam Frau Girtel in den Buchladen, um ihren Vater abzuholen. Anna bereitete sie darauf vor, dass er wieder einmal schlechte Laune habe.

„Das ist fein, die habe ich auch", meinte sie schelmisch grinsend. Anna musste schmunzeln. Diese Frau war eine Kämpfernatur. Mit ihren fünfundfünfzig Jahren war sie bis auf ihre Bandscheibenprobleme sehr fit. Sie sah auch nicht schlecht aus und trug noch immer ihre natürliche Haarfarbe, das zwischen braun und rot variierte.