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Wer überzogene Ansprüche hat, an sich oder an andere, steht sich selbst im Weg. Wer gut zu sich selbst ist, hat es im Alltag leichter. Lebenskunst kann man lernen. Lebenslust, Leichtigkeit und die Freude daran, sich auf das Leben einzulassen, offen zu sein für das Überraschende: dazu gibt Anselm Grün Anregungen.
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Seitenzahl: 248
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Anselm Grün
Das Buch der Lebenskunst
Herausgegeben von Anton Lichtenauer
Originalausgabe
6. Auflage 2010
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2002
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption und -gestaltung:
R·M·E München / Roland Eschlbeck, Liana Tuchel
Umschlagmotiv: © Micha Pawlitzki
Datenkonvertierung (E-Book): le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (Buch) 978-3-451-05700-7
ISBN (E-Book) 978-3-451-33613-3
VON ANTON LICHTENAUER
Was ist das eigentlich, ein Lebenskünstler? Jemand, der sich auf die Sonnenseite stellt und nach dem Motto lebt: Take it easy – wer Sorgen hat, ist selber schuld?
Augenzwinkernd stimmen viele darin überein: Am besten fährt noch immer, wer den lieben Gott einen guten Mann und Krummes gerade sein lässt. Wichtig ist doch: Mitnehmen, was geht. Und vor allem: Nichts anbrennen lassen. Aber hallo!
Leben light also?
„Schwerer werden. Leichter sein.“ Paul Celan hat das gesagt: Es ist alles andere als die Devise jener Lebenskünstler der Uraltmarke „Schwerenöter“ oder „Leichtfuß“. Eher ist es das Gegenprogramm dazu. Es ist – verdichtet – die präziseste Antwort darauf, was die Kunst des Lebens wirklich ausmacht.
„Schwerer werden. Leichter sein.“ Das ist tatsächlich eine Kunst: Polaritäten nicht ausschließen, sondern in der Balance leben. Beachten, was wirklichen Wert hat und damit dem Leben Gewicht geben. Und unnötigen Ballast abwerfen. Beides zusammenbringen: Bodenhaftung und Offenheit. Verwurzelt und frei leben. Erdverbunden, himmelwärts.
Paul Celans Devise ist – bis in die Bildvorstellung hinein – gar nicht so weit weg von dem, was schon die alten Mönchsväter in der ägyptischen Wüste suchten und was heute neu entdeckt wird. Anselm Grün erinnert gern an ein Wort, das von Abba Antonios überliefert wird: „Wenn du siehst, dass ein junger Mönch mit seinem eigenen Willen nach dem Himmel strebt, halte seine Füße fest, ziehe ihn nach unten, denn es hat für ihn keinen Nutzen.“
Der spirituelle weltferne Himmelsstürmer verliert sich nur in seinen eigenen Schwärmereien. Aber auch wer nur am Boden klebt, kann den Himmel nicht in sich tragen. „Geerdete Spiritualität“ nennt Anselm Grün die Alternative dazu. Es ist seine Kurzdefinition von Lebenskunst.
Dahinter steckt zunächst eine psychologische Erfahrung: Glück und Unglück haben ihre Wurzel in unserem eigenen Leben. Wer glücklich leben will, muss nicht vorher erst die Welt revolutionieren und auch nicht erst einmal die äußeren Umstände nach seinen Wünschen und Vorstellungen arrangieren. Schau in dich, erkenn dich selbst. Nach innen geht der Weg zum Glück – zunächst zumindest. Denn das, wonach wir uns sehnen und das, wovor wir Angst haben und wovor wir davonlaufen, tragen wir alles in uns. Unser eigenes Herz, unsere eigene Wirklichkeit ist der Humus für die Pflanze Glück.
Dahinter ist aber auch eine feste Überzeugung: der Glaube, dass die Sehnsucht nach dem Himmel, nach einem „ewigen Leben“, unausrottbar in uns steckt, ja dass dies die eigentliche Wahrheit ist – auch wenn sie sich versteckt oder maskiert oder zugeschüttet und verdeckt ist. Wer das Geheimnis der Transzendenz nicht wahrnimmt, verpasst die Chance seines Lebens: „Leben in Fülle“.
„Leben in Fülle“ dieses Bild steht dafür, dass man das Himmlische im Alltag wirklich finden kann, im Hier und Heute, und nicht vertröstet wird auf ein Jenseits, irgendwann. Es meint aber auch: Wir können auch unsere Begrenztheit gelassen akzeptieren. Was wir jetzt schon erfahren können, ist etwas, dessen Vollendung in Fülle wir für uns erhoffen. Die Spannung zwischen Erwartung und Erfüllung hält uns jetzt lebendig – und sie wird einmal endgültig aufgehoben sein in der Erfüllung aller Sehnsucht. Dass wir begrenzt sind, zwingt uns also keineswegs, Leben krampfhaft „als letzte Gelegenheit“ zu sehen und so viel wie möglich hastig-gierig noch schnell in uns hineinzuschlingen. Das Schwere wird leicht, wenn der Gedanke an den Tod noch das Gefühl der Dankbarkeit hervorruft, dass ich leben darf und mich achtsam dafür macht, dass ich jetzt bewusster lebe.
Glücklichsein und Unglücklichsein hat also auch eine spirituelle Wurzel. Das heißt in der Konsequenz: Achtsam sein auf die Momente, in denen Ewigkeit in die Zeit einbricht, in denen alle Hektik aufhört und alle Gegensätze auf einmal aufgehoben sind. Die Beziehung zum Transzendenten ist entscheidend. Das macht meinen eigentlichen Wert aus. Das ist der Grund, der mir Sicherheit gibt. Ohne den Himmel über uns aber verlieren wir den Boden unter uns. Mit einem Baum kann man das vergleichen, der im Boden einwurzelt, aber seine Kraft auch aus den Ästen zieht, den „Luftwurzeln“, der Ausrichtung nach oben. Dieses Ausstrecken nach der Transzendenz, so Grün, bringt in Berührung mit einer Kraft, die alles verwandelt. Das ist der alles entscheidende Punkt, denn diese Kraft ist Liebe, die mein Leben stark machen kann, heilig, unberührbar, ganz. Wer das realisiert, der kann anders leben.
Auch wenn es keine Rezepte für ein solches Leben gibt und keine systematisch ausformulierten Anweisungen, so hat diese Sicht doch ganz praktische Konsequenzen für den Alltag, für den Umgang mit uns selber, für unsere Arbeit, für Beziehungen zu anderen Menschen, für unser Verständnis und unsere Gestaltung von Zeit. Und für unsere Einstellung zum Leben überhaupt.
Der Kern des Glücks ist für Anselm Grün: Sei, der du bist – aber kreise nicht ständig um dein Ego. Mach dir nichts vor. Akzeptiere, dass du kein Held bist, und nimm dich nicht so wichtig. Arbeite an deinen Schwächen. Aber verbeiße dich nicht in sie. Lass sie los. Nimm dich an mit deinen Ungereimtheiten, deinen Gegensätzen. Denn nur wenn du es mit dir selber aushältst, kommst du weiter. Nur dann wirst du menschlich. Wer barmherzig mit sich selber ist, kann auch zu anderen gut sein.
Wer bei sich ist, kann dann auch für andere zum Segen werden. Entzieh dich also den Erwartungen, die andere an dich stellen. Lebe selbst, und lass dich nicht von äußerem Druck bestimmen. Pass dich nicht an, sondern suche den Einklang mit dem tiefsten Kern in dir – und du wirst die Harmonie nicht nur mit dir selber finden, sondern sie auch wieder ausstrahlen können. Suche tiefe Beziehungen und nimm sie als Geschenk: in der Freundschaft und in der Liebe. Trau jeder Liebe – und geh ihr auf den Grund. Nur mit dem Herzen siehst du gut.
Arbeit und Kontemplation gehörten für die Mönche immer schon zusammen. Von ihnen können wir noch heute lernen. Also sei aktiv. Gib deiner Arbeit Sinn, aber geh nicht in ihr auf. Auf die Balance kommt es an im Leben. Nütze die Zeit, um dich und andere zu finden. Verlier dich nicht im Alltagsstress. Such die Stille. Wer sich wandeln will, wer reifen und wachsen möchte, der braucht den Raum der Ruhe. Gib deiner Seele Atem. Lass dich nicht von Niederlagen und Verwundungen niederdrücken. Alles kann zur Chance werden.
Im Zentrum dieser Lebenskunst steht ein Urvertrauen, das sagen kann: Sorge dich nicht. Lebe jetzt. Sei ganz im gegenwärtigen Augenblick – und genieße ihn. Das meint nicht Hätschel-Wellness für verzärtelte Seelen. Das heißt vielmehr: Wach auf zum Leben. Sei nicht ständig woanders, sondern hier, bei dir, bei dem Menschen, der dir nahe steht, bei dem, was gerade wichtig ist. Klammere dich nicht an das, was einmal war. Lass gut sein.
„Schwerer werden. Leichter sein.“ Beides kann zusammengehen: das Loslassen und die Fülle, der Himmel und die Erde, Zeit und Ewigkeit, Menschliches und Göttliches. Die Kunst liegt darin, offen zu sein für beides und die Balance zwischen den Polen immer wieder neu zu gewinnen.
Ist diese Lebenskunst schwer? Ja und nein. Am Ende aber ist sie von einer überirdischen Heiterkeit, die die Schwebe hält zwischen Himmel und Erde. Für Anselm Grün kulminiert Lebenskunst nämlich in einem Augustinus-Wort. „Lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mir dir nichts anzufangen.“
Das erinnert – über die Zeiten hinweg – an ein Wort Friedrich Nietzsches: „Das Gute ist leicht. Alles Göttliche läuft auf zarten Füssen.“ Solche beschwingte, erlösende Leichtigkeit, hier und jetzt und im eigenen Leben, – das wäre der Himmel auf Erden.
NIMM DICH AN, SEI GUT ZU DIR
„Der Kern des Glücks: der sein zu wollen, der du bist.“ (Erasmus von Rotterdam)
In meiner Jugend habe ich berühmten Vorbildern nachgeeifert. Ich wollte unbedingt so belesen und so scharfsinnig sein wie der große Theologe Karl Rahner, und mein Traum war, so singen zu können wie der strahlende Tenor Fritz Wunderlich. Ich weiß heute natürlich: Wer sich an nur den Sternen orientiert, kann leicht die Bodenhaftung verlieren. Aber es stimmt immer noch auch dies: Vorbilder haben einen Sinn. Sie werden zwar im Lauf eines Lebens wechseln – und sollen das auch. Aber ein motivierender Ansporn geht auf jeden Fall von ihnen aus, auch wenn im Verlauf der Entwicklung die Umstände sich ändern und die Ziele andere werden – und damit auch die Vorbilder. Vorbilder fordern mich immer auch dazu heraus, an mir zu arbeiten. Und sie helfen mir dabei, auch innerlich weiterzukommen. Aber: Wenn ich nur auf sie fixiert bin, werde ich nie mit mir zufrieden sein können.
Heute bin ich dankbar für das, was ich bin. Natürlich kenne ich manchmal noch Gedanken wie: „So gut möchte ich formulieren können wie Augustinus oder wie Erhart Kästner.“ Oder: „Wenn ich im Gespräch doch ebenso klar intervenieren könnte wie mein Supervisor das macht.“ Doch wenn ich das merke, dann versuche ich, bei mir zu sein und mir vorzusagen: „Ich bin ich. Und es ist gut so, wie ich bin. Ich tue das, was für mich stimmt.“ Wenn es mir dann gelingt, ganz im Einklang mit mir selbst zu sein, und dankbar anzunehmen, was Gott mir an Fähigkeiten gegeben hat, aber auch dankbar zu sein für die Grenzen, die ich wahrnehme, dann ahne ich, was wirkliches Glück ist. Noch mehr: Dann kann ich von mir sagen, dass ich glücklich bin. Es ist gut so, wie es ist. Ich sitze da, atme ein und aus und genieße es, das Leben zu spüren, mich in meiner Einmaligkeit wahrzunehmen. Dann schmecke ich das Leben, dann koste ich das Glück. Ich muss nichts gewaltsam oder verbissen ändern, nicht ständig hart an mir arbeiten. Ich bin der, der ich bin, von Gott so geformt und gebildet, in seiner Liebe geborgen, bedingungslos bejaht. Dann ist Frieden in mir. Dann ist alles gut.
Erasmus von Rotterdam, der große Humanist und Menschenkenner, hat es in einem Satz auf den Punkt gebracht.
„Wovor du wegläufst und wonach du dich sehnst, beides ist in dir selber.“ Der indische Seelenführer Anthony de Mello hat das gesagt. Und in der Tat: Viele Menschen sind auf der Flucht vor sich selbst. Sie laufen vor ihrer Angst davon oder fliehen vor ihren Schuldgefühlen. Sie laufen vor bedrohlichen Situationen und Konflikten mit anderen davon. Doch alles, wovor sie fliehen, ist in ihnen. Sie können gar nicht vor sich selber weglaufen, denn sie nehmen alles mit.
Mich erinnert das an den Mann, der versuchte, vor seinem eigenen Schatten davonzulaufen. Er steigerte sein Tempo beim Laufen, um den Schatten loszuwerden. Doch sobald er sich umsah, erblickte er wieder den Schatten. Er konnte ihn nicht abschütteln. Er hetzte weiter und rannte, bis er tot umfiel. Genauso wenig können wir das ablegen, wovor wir davonlaufen. Wir nehmen es mit. Es ist in uns. Davonzulaufen und sich abzuhetzen bringt nichts. Wir werden es auf diese Weise nie loswerden. Es bleibt uns nur eines übrig: stehen zu bleiben und uns mit dem auszusöhnen, was in uns ist.
Der erste Schritt der Aussöhnung besteht darin, dass wir uns erlauben, dass das, wovor wir am liebsten weglaufen würden, in uns bleibt und auf diese Weise nicht abzuschütteln ist. Wir verzichten darauf, es zu bewerten. Es ist, wie es ist. Und es darf so sein.
Der zweite Schritt besteht dann darin, sich liebevoll dem zuzuwenden, was wir in uns so sehr ablehnen. Es gehört zu mir. Es ist ein Teil von mir. Und auch dieser Teil will geliebt werden.
Aber nicht nur dieser Angstreflex, auch die Sehnsucht ist in uns und treibt uns an: die Sehnsucht nach absoluter Heimat, Geborgenheit und Liebe. Die Sehnsucht können wir nicht totschlagen. Sie ist die Spur, die Gott in unser Herz gegraben hat, um uns an sich selbst zu erinnern. Die Sehnsucht ist in uns als eine Kraft, die uns über diese Welt hinausführt. Auch das, wonach wir uns sehnen, ist immer schon in uns. Wir sehnen uns nach Erfolg, nach Liebe, nach Anerkennung, nach Frieden, nach Heimat. All das ist schon in mir. In mir ist die Liebe. Ich brauche sie nur wahrzunehmen. In mir ist Heimat. Wenn das tiefste Geheimnis des Lebens selbst in mir wohnt, kann ich in mir selbst daheim sein. In mir ist Erfolg. Wenn ich ja sage zu mir, so wie ich bin, spüre ich mich, spüre ich Lebendigkeit und Weite. Was ist denn Erfolg? Es glückt mir etwas. Und wenn mir etwas glückt, bin ich glücklich. Das Glück ist also schon in mir. Ich muss es mir nicht erkaufen. Ich muss es nicht durch äußeren Erfolg erreichen. Ich brauche nur in Einklang zu kommen mit mir selbst, mich an dem freuen, was von mir ausgeht, dann werde ich diese beglückende Harmonie als Kraft wahrnehmen, die sich selbst genügt, aber auch nach außen strahlt. Die Anerkennung ist auch in mir. Wenn ich mich selber anerkenne, muss ich der Anerkennung nicht nachlaufen. Dann ist es nicht mehr so wichtig, ob die anderen mich anerkennen.
Die eingangs zitierte Erkenntnis Anthony de Mellos lädt uns ein, unsere Sehnsüchte genau anzuschauen, immer wieder innezuhalten und uns zu vergewissern: All das, wonach ich mich sehne, das ist schon in mir. Wenn ich stehen bleibe und nach innen höre, finde ich schon alles in mir. Das ist die tiefste Wahrheit meines Lebens: Gott ist in mir. Und damit ist alles, wonach ich mich sehne, in meinem Herzen. Es geht darum, vor dieser Wahrheit nicht davonzulaufen, sondern innezuhalten und sich ihr zu stellen. So paradox es klingt: Dieses Innehalten ist die Voraussetzung für jeden menschlichen und geistlichen Fortschritt.
Der heilige Benedikt sieht in der stabilitas, in der Beständigkeit, im Bleiben, das Heilmittel für die Krankheit seiner Zeit, der Zeit der Völkerwanderung, der Unsicherheit, der ständigen Bewegung. Stabilitas heißt für ihn Bleiben in der Gemeinschaft, in die man eintritt. Und sie bedeutet für ihn, dass der Baum sich einwurzeln muss, um wachsen zu können. Das ständige Verpflanzen hemmt nur seine Entwicklung.
Stabilitas heißt aber zuerst: bei sich bleiben, sich in seinem Kellion, in der Begrenztheit der eigenen Mönchszelle also, vor Gott aushalten. So sagt Abba Serapion: „Kind, wenn du Nutzen haben willst, dann halte in deinem Kellion aus, achte auf dich und deine Handarbeit. Denn das Herausgehen bringt dir für den Fortschritt nicht den Nutzen wie das Stillsitzen“ (Apo 878).
Eine alte Geschichte aus der Wüste, die auch heute aktuell ist:
„Ein Bruder kam in die Sketis zum Altvater Moses und begehrte von ihm ein Wort. Der Greis sagte zu ihm: ,Fort, geh in dein Kellion und setze dich nieder, und das Kellion wird dich alles lehren‘.“
Und eine andere Mönchsgeschichte mit einer tiefen psychologischen Weisheit:
„Jemand sagte zum Altvater Arsenios: ,Meine Gedanken quälen mich, indem sie mir sagen: Du kannst nicht fasten und auch nicht arbeiten, so besuche wenigstens die Kranken; denn auch das ist Liebe.‘ Der Greis aber, der den Samen der Dämonen kannte, sagte zu ihm: ,Geh und iss, trinke und schlafe und arbeite nicht, nur verlass dein Kellion nicht!‘ Er wusste nämlich, dass das Ausharren im Kellion den Mönch in seine rechte Ordnung bringt.“
Was sagen uns diese alten Texte?
Der Mönch kann alles tun. Er braucht gar keine Askese zu üben. Er braucht auch nicht zu beten, wenn er nur in seinem Kellion bleibt. Dann wird sich in ihm etwas verwandeln, dann wird er innerlich in Ordnung kommen. Er wird konfrontiert mit all dem inneren Chaos, das in ihm auftaucht. Und er verzichtet darauf, davor fortzulaufen.
Jammern ist heute an der Tagesordnung. Da beklagt sich der eine darüber, wie viel Arbeit man hat, der andere, wie man nicht mehr zurechtkommt mit den Erwartungen der anderen, und wieder ein anderer spricht davon, wie er sich allein gelassen fühlt, in dem, was er vorhat und leistet.
Der Alltag gibt sicher zu vielen Klagen Anlass. Aber wir sind doch mehr als nur Pflichterfüller oder Krisenmanager oder Konfliktlöser. Wir haben in uns einen Raum, zu dem die alltäglichen Probleme keinen Zutritt haben, in dem wir aufatmen können, weil Gott selbst uns darin befreit von der Macht der Menschen und von der Macht des eigenen Über-Ichs, von der Macht der Selbstbeschuldigungen und Selbstvorwürfe. In diesem Raum kann ich die Erfahrung machen: Ich habe Fehler, aber ich bin nicht meine Fehler. Ich habe Schuld, aber ich bin nicht meine Schuld. In diesem Raum wird all das, was mir zu schaffen macht, relativiert. Es hat keine letzte Macht über mich. Dieser Raum ist frei von Wut und Angst, frei von Enttäuschungen und Selbstvorwürfen. Ich kann zu allem, was in mir ist, ja sagen. Ich muss in diesem Raum meine Schwächen nicht mehr bekämpfen und besiegen und mir dabei den Kopf wundstoßen. Ich weiß, dass in diesem Raum nichts über mich Macht hat. Weil ich dort schon heil und ganz bin, darf ich sanft und gut mit mir umgehen.
„Was nützt es uns, zum Mond reisen zu können, wenn es uns nicht gelingt, den Abgrund zu überwinden, der uns von uns selbst trennt? Dies ist die wichtigste aller Entdeckungsreisen; ohne sie sind alle anderen nicht nur nutzlos, sondern zerstörerisch.“ Der Trappist und geistliche Schriftsteller Thomas Merton hat diese Warnung formuliert, unmittelbar nachdem die erste Landung eines Menschen auf dem Mond die Welt in Bann schlug und optimistische technische Utopien die Phantasie ins scheinbar Grenzenlose beflügelten.
Das liegt Jahrzehnte zurück – und ist so wahr wie damals: Neulich erzählte mir eine Frau von ihrem ehemaligen Freund, der ein erfolgreicher Unternehmer ist, aber sie als Frau verlassen hat, als sie von ihm schwanger wurde. Von vielen wird dieser Mann bewundert. Doch er merkt gar nicht, wie er Frauen behandelt, sobald sie sein Image ankratzen. Da spürt man, wie weit er von sich selbst entfernt ist. In seinem Beruf verfolgt er ehrgeizige Projekte. Er bewegt die halbe Welt. Doch den Weg zu sich selbst findet er nicht. Er ist nicht in Berührung mit seiner schwachen Seite, die er durch erfolgreiche Aktionen nach außen zudecken muss. Solange er nicht den Abgrund überwunden hat, der ihn von seinem wahren Selbst trennt, wird von ihm nie wirklicher Segen ausgehen. Er wird immer wieder Menschen verletzen. Er muss andere klein machen, um an seine Größe glauben zu können. Er muss „Bewunderungszwerge“ um sich sammeln, wie der Münchner Therapeut Albert Görres es einmal formuliert hat. Doch alles, was ihm helfen könnte, das eigene Selbst zu erkennen, lehnt er ab. So wird sein Tun, auch wenn es auf den ersten Blick noch so erfolgreich ist, immer wieder Menschen zerstören und letztlich auch keinen Segen bringen für diese Welt.
Alle Religionsstifter und die großen Weisheitslehrer aller spirituellen Traditionen der Menschheit zeigen uns ähnliche Wege wahrer Lebenskunst. Ihre Weisheit hat eine gemeinsame Quelle, aus der alle Menschen, alle Kulturen und Religionen schöpfen. „Drei Dinge im Leben sind zerstörerisch: Zorn, Gier und Selbstüberschätzung.“ Diese Einsicht hat Mohammed formuliert. Sie ist heute so aktuell wie vor nahezu eineinhalb tausend Jahren. Und sie findet ihre Entsprechung in der Psychologie christlicher Mönchsväter, die noch vor Mohammed lebten.
Die drei Dinge, die Mohammed als Lebenszerstörer versteht, entsprechen den drei Bereichen, aus denen die neun Laster entspringen, die Evagrius Ponticus, der wohl bedeutendste christliche Mönchsschriftsteller, im vierten Jahrhundert beschrieben hat. Evagrius unterscheidet im Einklang mit der griechischen Philosophie drei Bereiche im Menschen, den begehrlichen, den emotionalen und den geistigen Bereich. Und jedem Bereich ordnet er drei Leidenschaften zu, die zunächst wertfrei sind, die aber auch zu Lastern werden können, wenn der Mensch nicht bewusst und achtsam mit ihnen umgeht.
Der begehrliche Teil, von dem Evagrius spricht, entspricht in der Analyse Mohammeds der Gier. Die Gier kann sich beziehen auf das Essen (Völlerei), auf die Sexualität (Unzucht) und auf den Besitz (Habgier). Der Gierige kann nicht genießen, weder das Essen noch die Sexualität, noch den Besitz. Er muss immer mehr in sich hineinschlingen, um seine innere Leere zu verdecken. Er braucht immer neue sexuelle Kontakte, um in seiner Erstarrung überhaupt etwas Lebendigkeit zu spüren. Und er wird vom Besitz besessen. Er kann sich nicht ausruhen, sondern wird dazu getrieben, immer noch mehr zu besitzen, anstatt das, was er hat, zu genießen und sich daran zu freuen.
Im emotionalen Bereich unterscheidet Evagrius zwischen Traurigkeit, Zorn und akedia (Lustlosigkeit, Trägheit). Aber alle drei emotionalen Fehlhaltungen haben letztlich mit dem unbewältigten Zorn zu tun. Aggression kann ja auch eine positive Kraft sein. Doch wenn ich sie in mich hineinfresse, wird sie entweder zur Depression (Traurigkeit, Selbstmitleid) oder zum Groll und zur Bitterkeit. Oder aber sie lässt mich nicht zur Ruhe kommen (akedia). Sie treibt mich hierher und dorthin, weil ich nicht weiß, wie ich mit der Energie meiner Aggression auf angemessene Weise umgehen kann.
Im geistigen Bereich nennt Evagrius als die drei Gefährdungen des Menschen: Ruhmsucht, Neid und Hybris.
Mohammed fasst diese drei Laster in das der Selbstüberschätzung zusammen. Wer sich selbst überschätzt, der lebt an sich vorbei, der zerstört sich selbst. Er weigert sich, seine Wirklichkeit anzuschauen und anzunehmen. Die Selbstüberschätzung wird dazu führen, dass er irgendwann einmal vom Podest seines hohen Selbstbildes abstürzt und zugrunde geht.
Das Märchen von den drei Sprachen zeigt in einem schönen Bild, wie wir mit unseren Leidenschaften und Emotionen umgehen sollen:
In diesem Märchen schickt ein Graf seinen Sohn zu einem Meister in eine fremde Stadt, damit er etwas Sinnvolles lerne. Nach einem Jahr kommt er wieder. Er hat die Sprache der bellenden Hunde gelernt. Der Vater schickt ihn voller Wut zu einem andern Meister. Doch auch hier erfüllt er nicht die Erwartungen und Wünsche, die der Vater an ihn hat: Er lernt die Sprache der Frösche und im dritten Jahr die Sprache der Vögel. Der Vater befiehlt, ihn zu töten.
Die Diener haben Mitleid mit ihm, und so kann er fliehen. Er kommt in eine Burg und möchte dort übernachten. Aber der Burgherr kann ihm nur den Turm anbieten, in dem wilde bellende Hunde hausen. Er hat jedoch keine Angst vor ihnen und redet freundlich mit ihnen. Da verraten sie ihm, dass sie nur deswegen so wild sind, weil sie einen Schatz hüten. Sie helfen ihm, den Schatz auszugraben, und verschwinden. Der junge Mann geht weiter nach Süden und kommt an einem Teich vorbei, in dem die Frösche sich über ihn unterhalten. In Rom ist gerade der Papst gestorben. Die Kardinäle verständigen sich darauf, dass Gott durch ein Wunder anzeigen solle, wen sie zum Papst wählen. Da kommt der junge Mann in die Kirche, und zwei weiße Tauben setzen sich auf seine Schulter. Das ist für die Kardinäle das Wunder, und sie wählen ihn zum Papst. Der Papst ist hier ein Bild für die Fähigkeit, andere zum Leben begleiten zu können. Übersetzt heißt das: Wir müssen erst die Sprache unserer bellenden Hunde und die Sprache der Frösche verstehen, um die Sprache des Geistes sprechen zu können. Dort, wo die Hunde in uns bellen, dort liegt auch der Schatz. Es kommt auch in unserem Leben darauf an, die Sprache dieser elementaren Kräfte zu verstehen und den Schatz, für den sie stehen, in uns zu entdecken. Es kann sehr befreiend sein, sich nicht mehr zu genieren, dass da Aggressionen und Probleme sind. Dort, wo einer am meisten Probleme hat, dort könnte er auch mit dem Bild in Berührung kommen, das Gott sich von ihm gemacht hat.
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