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Die grüne Revolution der Wirtschaft – warum die nächsten Jahre über die Zukunft der deutschen Unternehmen entscheiden
Unsere Wirtschaft steht vor der größten Transformation seit der industriellen Revolution: Für den Umbau zur Klimaneutralität müssen bis 2030 die Weichen gestellt sein. Viele Unternehmen haben das erkannt und steuern bereits um. Sie investieren Milliarden, um Jobs und ihre Zukunft zu sichern. Horst von Buttlar, Chefredakteur von »Capital«, betrachtet erstmals die Auswirkungen der Klimakrise auf die heimische Wirtschaft: Anhand zahlreicher Beispiele – von Konzernen wie BASF oder Thyssenkrupp bis zu jungen Firmen wie Northvolt oder Climeworks, die an innovativen Technologien forschen – zeigt er, welche Strategien Unternehmen verfolgen, welche Risiken und Herausforderungen es gibt. Klar ist: Wer keine Nachhaltigkeitsstrategie hat, hat keine Zukunft. Aber wir sind nicht ohnmächtig, und auf Firmen, die umdenken, warten große Chancen.
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Seitenzahl: 402
Die grüne Revolution der Wirtschaft – warum die nächsten zehn Jahre über die Zukunft der deutschen Unternehmen entscheiden
Unsere Wirtschaft steht vor der größten Transformation seit der industriellen Revolution: Für den Umbau zur Klimaneutralität müssen bis 2030 die Weichen gestellt sein. Viele Unternehmen haben das erkannt und steuern bereits um. Sie investieren Milliarden, um Jobs und ihre Zukunft zu sichern. Horst von Buttlar, Chefredakteur von »Capital«, betrachtet erstmals die Auswirkungen der Klimakrise auf die heimische Wirtschaft: Anhand zahlreicher Beispiele – von Konzernen wie BASF oder Thyssenkrupp bis zu jungen Firmen wie Northvolt oder Climeworks, die an innovativen Technologien forschen – zeigt er, welche Strategien Unternehmen verfolgen, welche Risiken und Herausforderungen es gibt. Klar ist: Wer keine Nachhaltigkeitsstrategie hat, hat keine Zukunft. Aber wir sind nicht ohnmächtig, und auf Firmen, die umdenken, warten große Chancen.
Horst von Buttlar ist Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins »Capital« und Chefredakteur »ntv, Wirtschaft und Wissen« bei RTL News. Daneben ist er Moderator des erfolgreichen Wirtschaftspodcasts »Die Stunde Null«. Er studierte Slawistik, Geschichte und Politikwissenschaften und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. 2004 ging er als Redakteur zur »Financial Times Deutschland« (FTD) und übernahm 2007 die Leitung des Reporterteams, 2009 wurde er Ressortleiter bei den G+J Wirtschaftsmedien (»FTD«, »Capital«, »Impulse«, »Business Punk«). 2005 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 2008 bekam er den Herbert-Quandt-Medien-Preis für Wirtschaftspublizistik verliehen, 2019 wurde er als »Wirtschaftsjournalist des Jahres« ausgezeichnet.
www.penguin-verlag.de
HORST VON BUTTLAR
DAS GRÜNE
JAHRZEHNT
Wie die Klimakrise
die Wirtschaft revolutioniert
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: total italic / Thierry Wijnberg
Umschlagabbildung: Shutterstock/rangizzz
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
Grafiken: Katharina Noemi Metschl
ISBN 978-3-641-29320-8V003
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Für meine Kinder Jakob, Benjamin und Caspar –
und ihre Generation
Vorwort
Kapitel 1 Green Vibrations: Etwas ist in Bewegung geraten
Das neue Betriebssystem
Die neue Vermessung der Welt
Das grüne Jahrzehnt beginnt verspätet
Kapitel 2 Woher wir kommen: Die Dekade des Booms, der Krisen und die Pandemie
Deutschlands goldenes Jahrzehnt und das Ende des Auenlandes
Die ewige Energiewende: Warum Deutschland nie ein Vorbild wurde
Die Pandemie und das Klima
Unwucht und Ungleichzeitigkeit: Es gibt nicht nur ein Tempo
Kapitel 3 Der Giga Green New Deal
Das historische Investitionsprogramm – oder warum wir alle etwas mehr Tesla werden müssen
Der Umbau von Schlüsselindustrien – oder warum Porsche jetzt auch Honig herstellt
Die neue Symbiose zwischen Staat und Markt – oder warum Thyssenkrupp von »grünem Stahl« träumt
Hoffentlich ist es nicht Beton – oder warum der Klimaschutz hinter unserer Haustür anfängt
Kapitel 4 Ohne grün wird’s schwarz: Neue Strategien für Unternehmen
Warum ein Unternehmen ohne Nachhaltigkeits-strategie gar keine Strategie mehr hat
Das neue »Change or Die«
Die Welle der Klimaklagen
CO2-Messung und CO2-Illusion:Wenn Emissionen nur scheinbar verschwinden
Die Ära der Klimaallianzen und Klimacluster
Klimaschulden, Klima-Bailout und Klimatod
Kapitel 5 Was wird aus unseren Jobs?
Träume und Traumata der Transformation
Neue Jobs: Visionen für Millionen
Kapitel 6 Geld passt sich an – oder?
Warum es ohne Kapital keine Klimaneutralität geben wird
Neu mischen heißt auch sich einmischen
Das Problem des »Greenwashings«
Kapitel 7 Die grüne Gründerzeit
Gesucht: 1000-mal Biontech!
Cleantech, Greentech, Climate Tech: Da wächst etwas
Energiespeicher – oder warum schon eine Taschenlampe uns das ganze Problem erklärt
Batterieproduktion – oder warum die Revolution in Europa am Polarkreis begann
Ladeinfrastruktur – oder warum ein Geistesblitz schon an einer Straßenlaterne beginnt
Die Zukunft der Ernährung – oder warum wir künftig auch Fleisch aus dem Labor essen
CO2 einfangen und speichern – oder warum eine Revolution im Gewächshaus beginnen kann
Kapitel 8 Politik ohne Verheißung – oder die unermessliche Kunst des Durchhaltens
Das neue Wohlstandsversprechen: Was heißt hier mehr?
Endlicher Spaß – oder die Frage, ob man das Oktoberfest nicht gleich ganz abschafft
Kapitel 9 Risiken, Reibungen und Rückschläge
Zeit und Geld
Trägheit und Komplexität
Massen und Megatrends
Willen und Widerstand
Kriege und Krisen
Kapitel 10 Aufbruch in eine neue Zeit: Ein Fazit
Dank
Anmerkungen
Dieses Buch ist eine Entdeckungsreise. Sie führt zu Pionieren und Gründerinnen, Managern und Vordenkerinnen, zu Unternehmen, deren Namen Sie schon oft gehört, und Firmen, von denen Sie vermutlich noch nie gehört haben. Sie alle sind Vorhut, Taktgeber und Kraftzentrum, aber auch Suchende, Lernende, Getriebene der größten Umwälzung, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft derzeit erleben und noch vor sich haben: den Umbau zur Klimaneutralität bis 2050, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius oder zumindest deutlich unter 2 Grad zu begrenzen.
Es ist eine neuartige grüne Revolution, weil sie die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft betrifft. Bis 2030 müssen die entscheidenden Weichen gestellt und einige Meilensteine erreicht sein, um die international vereinbarten Ziele zu erfüllen. Viele Pläne müssen deshalb bis Ende 2030 geschmiedet werden. 2030 ist keine ferne Zukunft, sie ist sehr, sehr nah. Deshalb heißt dieses Buch »Das grüne Jahrzehnt«, weil sich zentrale und elementare Entscheidungen um diesen Umbau drehen werden.
Ich glaube, dass in den vergangenen Jahren einiges passiert ist, überall gab es kleine und große Kipp- und Wendepunkte: Das Thema Klimaneutralität und Nachhaltigkeit ist nicht nur in den Köpfen angekommen, es wird vielerorts in die Tat umgesetzt. Das bedeutet nicht, dass wir überall auf einem guten Weg sind. Aber wir sind oft weiter, als wir vermuten.
Dieses Buch befasst sich nicht mit dem Klimawandel und seinen speziellen Szenarien, sondern mit den Strategien, Technologien und den Menschen, die den Umbau umsetzen. Wir schauen daher weniger auf Politiker und Wissenschaftler, sondern auf Unternehmer, Macher und Gründerinnen, auf Akteure, die an zentralen Stellen diese epochale Transformation vorantreiben.
Dieser Umbau unterscheidet sich von allen anderen Umwälzungen, die unsere Wirtschaft seit der industriellen Revolution erlebt hat – und da gab es von der Automatisierung über die Globalisierung bis zur Digitalisierung eine ganze Menge. Der Umbau zur Klimaneutralität gleicht eher der Installierung eines neuen Betriebssystems.
Es geht in diesem Buch mehr um Aufbruch als um Apokalypse, was aber keine Entwarnung bedeutet: Beim Schreiben hat mich oft die Hoffnung verlassen, dass die Menschheit es schaffen wird, schnell und genügend CO2 zu reduzieren, um die globale Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. Dann wieder bin ich Menschen mit so viel Energie und fantastischen Ideen begegnet, dass ich dachte: All diese Probleme sind lösbar. Wir haben es in der Hand, wir sind nicht machtlos. Und wenn wir so schnell und entschlossen sind wie bei der Suche nach einem Impfstoff gegen Covid-19, wie beim »Projekt Lightspeed« von Biontech, dann haben wir eine Chance. Sie ist klein, die Zeit verdammt knapp, aber anpacken müssen wir den Umbau auf jeden Fall. Denn mit jeder Tonne CO2 weniger, mit jedem Schritt von gut 36 Gigatonnen auf null, begrenzen wir den Temperaturanstieg, selbst wenn wir nie auf netto null Emissionen kommen.
Der Fokus dieses Buches liegt auf Deutschland, aber viele Beispiele sind prototypisch. Denn zahlreiche Unternehmen sind weltweit vernetzt, ihre Probleme und Lösungen sind übertragbar. Und die neuen Start-ups, nun, die denken ohnehin meist länderübergreifend.
Ich werde zu Beginn dieses Buches kurz zurückschauen, woher wir kommen und wo unsere Wirtschaft steht, denn nur dann wird uns klar, was auf dem Spiel steht und was wir leisten können. Ich werde die Größe dieser gewaltigen Aufgabe skizzieren, die ich »Giga Green New Deal« nenne, anhand zahlreicher Studien und Beispiele, vom Stahlproduzenten bis zum Autohersteller. Ich beleuchte die historische Umlenkung der weltweiten Kapitalströme, die Geldgeber und Investoren, ohne die es nicht gehen wird, ihre Absichten und Handlungen. Außerdem schaue ich auf die Jobs, die entstehen und verschwinden – und ich begebe mich auf die Spuren einer »grünen Gründerzeit«. Wir besuchen zahlreiche Start-ups, Erfinderinnen und Macher, die an Lösungen für Batterien, Ladesäulen, Wasserstoff oder Fleisch aus dem Labor tüfteln – wir erfahren, wie weit sie sind und was sie antreibt. Jede ihrer Geschichten gibt Hoffnung, macht Mut, jede ist ein Puzzlestück auf dem Weg durch dieses »grüne Jahrzehnt«.
Ich beleuchte zudem die epochale Aufgabe der Politik, diesen Umbruch zu gestalten, und die neue Kunst des Durchhaltens bei dieser Transformation – und natürlich schaue ich auf die Risiken und Rückschläge, die wir trotz allem erleben werden. Denn dieser Umbau ist komplex; auch wenn vieles zentral gesteuert wird, beruht er auf einer riesigen Zahl einzelner Entscheidungen, unterschiedlichen Willenskräften und Ideen. Aber eines werden wir lernen: Die Probleme sind gewaltig; die Fähigkeit des Menschen, Probleme anzupacken, aber auch.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine brach aus, als ich längst am Recherchieren und Schreiben war. Natürlich habe ich mich gefragt, ob dieser Krieg nicht auch dem »grünen Jahrzehnt« einen furchtbaren Strich durch die Rechnung macht. Die vorläufige Antwort ist: jein. Krieg ist immer schrecklich, dieser öffnet einen Abgrund aus dem 20. Jahrhundert, dabei wollten wir alle Kräfte auf die Transformation im 21. Jahrhundert werfen. Der Konflikt bindet Kraft, Geld und Ressourcen, er sendet Schockwellen durch die Energieversorgung, die wir eigentlich gezielt umbauen wollten. Er macht uns noch mehr zu Getriebenen. Der Umbau zur Klimaneutralität setzt zudem auf eine Welt, die vernetzt ist und kooperiert. Das ist ein großes Problem.
Auf der anderen Seite hat dieser Konflikt die Entschlossenheit vieler Länder gestärkt, sich von fossilen Energien zu verabschieden. Der Krieg macht den Umstieg auf erneuerbare Energien noch komplizierter, noch herausfordernder, als er ohnehin schon ist. Keiner der Menschen in diesem Buch, die die grüne Revolution vorantreiben, wird aber von seiner Mission ablassen. Ich werde an einigen Stellen auf Russland eingehen.
Dieses Buch möchte weder auf jeder Seite warnen noch Entwarnung geben. Es will zeigen, was geht und was nicht. Es zeigt, wo es hakt und wo wir scheitern könnten. Wo Risiken liegen und Illusionen existieren, wo Chancen sind und wo sich großartige neue Möglichkeiten auftun.
GREEN VIBRATIONS: ETWAS IST IN BEWEGUNG GERATEN
Diese Geschichte könnte in Island beginnen, auf einer Hochebene südlich von Reykjavik, auf dem Gebiet eines großen Vulkansystems, wo seit September 2021 eine wundersame Anlage steht. Sie nennt sich Orca, was im Isländischen für Energie steht, errichtet hat sie das Schweizer Unternehmen Climeworks, und sie hat nur eine Aufgabe: CO2 aus der Luft zu filtern, zunächst 4000 Tonnen pro Jahr.
Die Geschichte könnte auch in Ludwigshafen beginnen, wo der Chef der BASF, Martin Brudermüller, emsig darüber nachdenkt, wie er bis 2030 ein Viertel seiner Emissionen senken kann. In Ludwigshafen! Eine Konzernzentrale wie ein Stadtviertel, zehn Quadratkilometer groß, wo die Öfen bei 850 Grad glühen und Schlote seit Jahrzehnten rauchen und dampfen, der höchste ist 140 Meter hoch. Die BASF, die allein hier acht Millionen Tonnen Treibhausgase und weltweit knapp 21 Millionen Tonnen emittiert, will künftig eigene Windparks in der Nordsee betreiben und zusammen mit RWE den Strom nach Ludwigshafen transportieren.
Ihren Anfang könnte diese Geschichte auch in Leipzig nehmen, wo an einem Spätsommertag der Chef von Porsche auf einem kleinen Hügel eines Geländes für Testfahrten steht. Aus der Ferne heulen Motoren wie Sirenen aus einer alten Zeit, aber die Taycans, die ihre Runden drehen, sind elektrisch, und Oliver Blume spricht darüber, dass Porsche bis 2030 vier von fünf Autos mit E-Antrieb bauen wird. Und klimaneutral werden sowieso.
Die Geschichte könnte weitergehen in Essen und Duisburg, wo Thyssenkrupp mit »grünem Stahl« experimentiert und Marie Jaroni all die Projekte koordinieren soll, das Umrüsten der Hochöfen und den Einkauf von Wasserstoff. Man sollte an den Bodensee reisen, von woher seit über einhundert Jahren die großen Motoren von MTU kommen, wo der 13-jährige Sohn von Vorstandschef Andreas Schell dem Vater die Augen öffnete, weil er sagte: »Mit diesen Dieselmotoren, das wird doch nicht mehr lange gut gehen.«
Wir könnten außerdem nach London reisen, wo das deutsche Start-up Ubitricity Tausende Ladestationen für E-Autos in Straßenlaternen baut. Unbedingt besuchen müssten wir Wittenberg, die Lutherstadt, wo zwei Gründer neuartige Batteriespeicher entwickelt haben, die ein hundert Jahre altes Problem lösen, das wir schon aus Taschenlampen kennen. Oder wir fahren bis fast an den Polarkreis, in die alte Goldstadt Skellefteå im Norden Schwedens, wo Northvolt, ein Unternehmen, das es vor sechs Jahren noch nicht einmal gab, die größte Batteriefabrik Europas erbaut hat. Und wir müssten, zumindest gedanklich, nach Mountain View, Kalifornien, fliegen, wo Google im Januar 2021 seinen neuen Bay View Campus bezogen hat, einen Bau mit pagodenartigen Dächern und 50 000 Solarpanels. Der IT-Konzern will künftig jeden Server und jedes Datenzentrum mit erneuerbaren Energien betreiben. Google-Chef Sundar Pichai sagt: »Ich wünschte, wir hätten zehn Jahre vorher angefangen.«[1]
Ja, es gibt viele Möglichkeiten anzufangen, und vermutlich steckt darin schon die eine große Geschichte: Man kann inzwischen sehr viele Geschichten erzählen, wenn man über die grüne Zukunft und grüne Revolution unserer Wirtschaft schreibt, und es werden immer mehr. Etwas ist in Bewegung geraten in unserer Gesellschaft, in der Politik, vor allem aber im Maschinenraum der Wirtschaft, es vibriert, schwingt und bebt; es wird nachgedacht, umgedacht, getüftelt, geplant, sich umgestellt. Trotz der Pandemie wurden die Jahre 2020 und 2021 von vielen Menschen als Wendepunkt wahrgenommen. Man hatte das Gefühl, es tut sich was. Es gab ein Davor und Danach.
Vor uns liegt eine Transformation, wie wir sie in ihrer Dimension seit der industriellen Revolution nicht erlebt haben: der Umbau zu einer klimaneutralen Gesellschaft und Wirtschaft. Das heißt, wir streben einen Zustand an, in dem wir nicht mehr CO2 und andere Treibhausgase emittieren, als der Atmosphäre wieder entzogen werden können, durch die Natur in sogenannten Kohlenstoffsenken (Böden, Wälder und Ozeane) oder durch vom Menschen geschaffene Wege und Technologien.
Und wenn ich sage »Wirtschaft«, dann meine ich letztlich uns alle, denn trotz der Vordenker, Pionierinnen und Gründer betrifft der Umbau jeden, unsere Jobs in den Unternehmen, die Produkte, die wir kaufen, weniger oder gar nicht mehr kaufen. Er betrifft unseren Lebensstil, die Art, wie wir shoppen, konsumieren und wegwerfen, wie wir essen, uns kleiden oder reisen. »Umbau« klingt deshalb fast zu harmlos, weil ständig irgendetwas umgebaut wird: Unternehmen, Abteilungen, Behörden, Regierungen, Sozialversicherungen. Meist heißt Umbau, dass irgendjemand irgendwo etwas wegsparen oder schneller und »flexibler« machen will.
Der Umbau zur Klimaneutralität ist anders. Er ist wie ein neues Betriebssystem für unsere Wirtschaft und Gesellschaft. Denn seit jeher ist unsere Wirtschaft auf Wachstum ausgerichtet, und seit rund zwei Jahrhunderten werden dafür vor allem fossile Brennstoffe verfeuert. Die Ära von Öl, Kohle und Gas neigt sich dem Ende zu, aber wir wollen dennoch weiterwachsen. Zu dem Wachstum kommt eine zweite Bewegung: auf null. Mehr und weniger simultan.
Jede Transformation der Wirtschaft hat unsere Gesellschaft verändert, egal, ob man das Rad, den Buchdruck, die Dampfmaschine, die Fließbandproduktion oder das Internet betrachtet. Seit rund 150 Jahren aber hieß Transformation vor allem eine Bewegung hin zu einem Mehr. Es ging um Wachstum. Statt irgendwo 100 Dinge herzustellen, wollten wir 105 davon produzieren – und natürlich verkaufen. Und dann 110. Dann 120.
Die Transformation zur Klimaneutralität verlangt eine komplexe Bewegung, es ist in etwa so, als würde man gleichzeitig ein- und ausatmen. Einerseits wird die Weltwirtschaft weiterwachsen, andererseits muss sie auf null Emissionen kommen. Dafür müssen wir die Energieversorgung komplett umstellen, Fabriken umrüsten, neue Fabriken hochziehen, Infrastruktur austauschen, Leitungen, Netze, Anlagen, und manche Wirtschaftszweige, die dem Klima schaden, müssen sich komplett neu erfinden – oder sie werden verschwinden.
Die Transformation betrifft überdies nicht eine Region, sondern die ganze Welt. Alle Menschen müssen theoretisch mitmachen, zumindest wenn diese Transformation gelingen soll; und das muss sie, unsere Zukunft hängt davon ab. Drittens ist diese Transformation die längste geplante Reise, auf die unsere moderne Gesellschaft gehen will, sie ist ein Mega-Marathon. 2050! Dieses Datum war bisher etwas für Hollywood und Science-Fiction-Romane.
Und viertens: Eine solche Transformation verlangt eines der größten, entschlossensten und mutigsten Investitionsprogramme in der Geschichte der Menschheit. Unsere Wirtschaft wird sich dadurch für immer verändern. Und zumindest nach dem heutigen Stand, nach unserem Wissen, wird es keinen Punkt geben, an dem wir sagen: Wir lassen das. Wir machen das doch nicht. Wir machen so weiter wie vorher. Diese Erkenntnis muss man sich erst einmal klar machen. Ist sie uns klar?
Viele der Entscheidungen, die für die Klimaneutralität bis im Jahre 2050 – das Jahr, auf das das Pariser Klimaabkommen und die Selbstverpflichtung der EU abzielen – relevant sind, müssen wir bis 2030 fällen. Wenn man genau hinschaut, laufen die meisten der Prognosen, Programme und Pläne daher auch bis 2030. Das ist die Zeitspanne, in der etwas passieren muss. Wenn man erst danach anfängt, ist es zu spät.
Die EU etwa hat sich zum Ziel gesetzt, mindestens 55 Prozent ihrer Treibhausgasemissionen bis 2030 (im Vergleich zu 1990) zu reduzieren. Deutschland strebt minus 65 Prozent bis 2030 an. Die USA wollen den Ausstoß halbieren, allerdings nicht im Vergleich zu 1990, sondern zu 2005. Die Zeiträume bis 2050 werden zwar ebenfalls in bunten Grafiken und Plänen abgebildet, aber hier werden die Aussagen vager und unkonkreter.
Und deshalb befinden wir uns im »grünen Jahrzehnt«. Nicht nur wir in Deutschland, nicht nur in Europa, die ganze Welt erwartet ein »grünes Jahrzehnt«. Dieser Begriff ist nicht politisch gemeint. Auch liberale, linke oder konservative Regierungen müssen Entscheidungen fällen und Weichen stellen, denn die Zeit ist knapp. Die Jahre bis 2030 erfordern eine Kraftanstrengung und Mobilisierung, die vieles in den Schatten stellen werden, was wir in der jüngeren Vergangenheit erlebt haben: Kriegsproduktion, Rohstoffkrisen, Finanzkrisen, Automatisierung, Digitalisierung. Eine gute Nachricht gibt es: Die Technologien, die wir bis 2030 für die CO2-Reduktion benötigen, sind im Prinzip erprobt und vorhanden, auch die politischen Instrumente. Wir sind nicht ratlos, wir müssen nicht auf grandiose neue Erfindungen warten, es geht erst einmal nur um den politischen und unser aller Willen, das Ganze umzusetzen. Nach 2030 muss es allerdings Technologieschübe und -sprünge geben, die in ihrer Bedeutung und Wucht die Suche nach einem Coronaimpfstoff übertreffen.[2]
Das bedeutet nicht, dass diese Umwälzung alle gleichermaßen betrifft, auch wenn alle sich umstellen und vor allem mitziehen müssen. Ein Stahlhersteller ist anders betroffen als eine Werbeagentur, ein Ingenieur, der bisher Motoren, Einspritzpumpen oder Abgasreinigungssysteme entwickelt hat, steht vor anderen Herausforderungen als eine Wissenschaftlerin, die aus Plastikmüll Synthesegas entwickelt. Ein Mitarbeiter eines afrikanischen Mobilfunkherstellers wird andere Themen haben als einer der Deutschen Telekom. Ein Jugendlicher aus Köln, Kopenhagen oder Zürich, der seine Klamotten bei Zalando, H&M oder Primark kauft, muss ein anderes Bewusstsein entwickeln als ein Junge oder ein Mädchen in Afrika, das überhaupt keine Schuhe hat. Die Zeit läuft für alle, doch die Auswirkungen des Umbaus erreichen die Menschen mit unterschiedlicher Wucht und Geschwindigkeit.
Am Ende allerdings steht das gleiche große Ziel. Ein unfassbares Ziel. Ein Ziel, das Angst macht. Das Lust macht. Das wieder Angst macht. Und wieder Lust.
Eines ist jedenfalls bemerkenswert: Längst kann man nicht mehr davon reden, dass »die Politik« energisch »die Wirtschaft« vor sich hertreiben muss. »Die Wirtschaft zieht nicht nur mit – sie schiebt sogar«, sagte mir Wirtschaftsminister Robert Habeck im März, als ich ihn nach seinem Eindruck fragte. Die Gefahr, dass viele Unternehmen, wie im vergangenen Jahrzehnt, den Klimawandel aussitzen oder als Problem des CO2-Zertifikatemanagements ansehen, ist vorbei. Die Rechnung wird bis 2030 nicht mehr aufgehen.
Es wird hier notwendigerweise auch um Zahlen gehen. Viele sogar. Doch keine Sorge, ich werde diese Transformation mit möglichst vielen Beispielen, anhand möglichst vieler Geschichten erzählen und anschaulich, greifbar machen. Ein guter Teil dieser Beispiele stammt aus Deutschland, was aber nicht heißt, dass dieses Thema nur Deutschland betrifft (oder nur für Deutsche interessant ist). Als Land haben wir einige spezielle Herausforderungen, aber als Industrienation auch einige typische. Was für einen Hersteller von Dieselmotoren am Bodensee gilt, hat auch für einen Hersteller in Großbritannien, in den Niederlanden oder in der Schweiz Gültigkeit. Zumal die meisten Unternehmen ihre Emissionen ohnehin europäisch oder global erfassen und senken müssen. Und letzten Endes ist es so, dass eine Zementfabrik, die man in Deutschland oder Schweden umrüstet, zugleich eine Blaupause – oder besser »Grünpause« – für die ganze Welt sein kann.
So eindrucksvoll viele der Transformationsgeschichten sind, es werden Zahlen sein, die uns den Pfad bis 2030 und dann 2050 weisen und erbarmungslos registrieren, was wir schaffen. Im Grunde werden wir im gegenwärtigen Jahrzehnt die Welt neu vermessen, bloß nicht in Metern oder Meilen, sondern in Kilogramm und Tonnen, und hinzu kommt, dass der Gegenstand unserer Messungen weder zu sehen noch zu greifen ist. CO2 ist überall, aber unsichtbar.
Wir Menschen messen viel, zumal in der Wirtschaft: Jede Waschmaschine, jedes Auto, jede Jeans, jedes Bier in einer Bar, jeder Flug, jede neue Straße und neue Brücke wird Teil einer riesengroßen Rechnung, des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Wir erfassen nahezu alles, Exporte, Importe, Schulden, Investitionen, Inflationsraten, Einnahmen, Ausgaben, Steuern, Kapitalströme, wir berechnen Börsenstände, Zuflüsse und Abflüsse, Konsumklimaindizes. Überall schwirren Daten um uns herum, Wetterdaten, Zugriffe, Klickzahlen, Likes, Follower, Wahlergebnisse, Umfragen. Aber über allem wird in den kommenden Jahren mehr als bisher eine Zahl stehen, sie wird sozusagen die Königszahl: der CO2-Ausstoß. Natürlich gibt es andere klimaschädliche Gase wie Methan oder Lachgas, die allzu oft unter den Tisch fallen, CO2 ist nur das präsenteste und steht daher meist stellvertretend für alle Treibhausgase (genau genommen spricht man von CO2-Äquivalenten, der Maßeinheit für die Klimawirksamkeit der verschiedenen Gase – aber der Lesbarkeit halber schreibe ich ab und an auch nur CO2-Ausstoß).
Ein Großteil unseres Handelns wird künftig von dem CO2-Ausstoß bestimmt werden, das Handeln von Regierungen und Staaten, von Unternehmen – und von uns als Konsumenten. Denn der Ausstoß von CO2 kostet nicht nur Geld und wird teurer werden. Sondern wir ziehen jedes Gramm von einem großen globalen Konto ab, das aufgeteilt ist in Konten der Länder mit der jeweiligen Restmenge, die wir noch emittieren dürfen – es ist also der Preis aller Preise. Und das ist völlig unabhängig davon, ob wir den Klimawandel als bedrohlich empfinden, als weit weg, oder als Hysterie abtun, unabhängig davon, ob wir grün wählen, liberal, links oder gar rechtsaußen. Der CO2-Ausstoß wird, ob wir es wollen oder nicht, unser Leben durchdringen, wir werden ihn überall sehen und spüren.
Inzwischen kann man immer öfter konkret sehen, in Gramm und in Kilogramm, welche Emissionen man verursacht. Wir kennen das von Flugreisen, für die wir kompensieren können, von der Tankstelle, wo wir die Tankfüllung ausgleichen, wir können klimaneutral Getränke bestellen und liefern lassen, unsere Konto-App misst anhand unserer Ausgaben den CO2-Ausstoß. Es gibt Fitnessgeräte und Smartwatches, die laufend Daten über unsere Herzfrequenz, den Atem oder den Kalorienverbrauch erfassen. In diese Richtung wird es auch beim CO2-Verbrauch gehen, denn schon heute steht fest: Klimaneutralität erreichen wir vor allem durch Reduktion und andererseits mithilfe neuer Technologien, und Erstere bekommen wir nur hin, indem wir unser Verhalten anpassen. Weniger Fleisch, weniger Flüge, weniger Müll.
Das »grüne Jahrzehnt« wird trotzdem keine Höllenfahrt, sondern eine Entdeckungsreise. Es wird schmerzhaft werden, fordernd, vor uns liegen aber auch Jahre voller Erfindungen, Patente und Pionierleistungen, in denen nicht nur alte Unternehmen sich neu erfinden, sondern ganz neue Firmen entstehen und bestenfalls groß werden. So wie Moderna und Biontech durch die Coronapandemie zu neuen Global Playern der Pharmabranche wurden. »Projekt Lightspeed« haben die Biontech-Gründer Uğur Şahin und Özlem Türeci ihre historische Suche nach einem Impfstoff genannt. Für die Zukunft brauchen wir Tausende solcher Lichtgeschwindigkeitsprojekte.
Warum jetzt noch? Warum reden wir jetzt von einem »grünen Jahrzehnt«, werden Sie vielleicht fragen. Haben wir nicht schon 2022? Eine berechtigte Frage. Nun, zum einen hat die Geschichte der Umwälzung, die ich hier skizziere, vor einigen Jahren begonnen, aber zunächst vereinzelt, versteckt, unmerklich. In vielen Interviews und Reden wurde seit vielen Jahren über Klimaschutz gesprochen, jedoch eher beiläufig, wie man eben auch über Digitalisierung oder neue Produkte und Märkte spricht – ja, das muss man halt machen. Solche Transformationen beginnen in Nischen, formen sich in Schlagworten und Visionen, schließlich in Strategien und im Alltag.
Inzwischen breitet sich das Thema Nachhaltigkeit mit großer Wucht aus. Es ist mitunter so sehr Mainstream geworden, dass man genau hinschauen muss, wo wirklich etwas Substanzielles passiert und wo wir uns noch auf der Showbühne befinden. Seit zwei bis drei Jahren wird Nachhaltigkeit in vielen Firmen als Aufgabe in den Vorstand gezogen, gibt es mehr Substanz als Hochglanz. Und das ist auch notwendig: Ein Unternehmen, das im »grünen Jahrzehnt« keine Nachhaltigkeitsstrategie hat, hat überhaupt keine Strategie. Jedes Unternehmen, das glaubt, es reiche, wenn man eine Solaranlage und Regenzisterne auf das Dach baut und eine Blühwiese auf dem Parkplatz anlegt, wird böse erwachen. Es wird teuer, vielleicht existenzbedrohend werden, CO2 in die Welt zu pusten – und die Belegschaft wird danach fragen, die Kunden und auch die Aktionäre. Martina Merz, die Chefin von Thyssenkrupp, sagte mir im Sommer 2021 einen interessanten Satz: »Jeder will das Gefühl haben, für mich gibt’s eine Zukunft – und eine grüne Zukunft.«[3]
Zum anderen ist es so, dass dieses Jahrzehnt, die Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts, spät begonnen hat. Ein Grund dafür ist das Coronavirus. 2020 und 2021 hielt uns die Pandemie in Atem, und auch 2022 ist sie nicht überwunden. Wir mussten sehr viele Ressourcen auf das Krisenmanagement werfen. Seit Februar 2022 ist der Krieg in der Ukraine hinzugekommen.
Im selben Zeitraum ist allerdings eine Uhr weitergelaufen, die eigentlich rückwärtsläuft: Sie zeigt die Menge an Treibhausgasen an, die wir noch ausstoßen dürfen, um den Anstieg der Temperatur auf 1,5 oder wenigstens deutlich unter zwei Grad zu bremsen. Je nach Studie, Ziel und Wahrscheinlichkeit beträgt sie noch zwischen 400 und 1000 Gigatonnen.
Derzeit stößt die Menschheit 36,3 Gigatonnen CO2 pro Jahr aus, das Coronajahr 2020 mit seinen Lockdowns ergab eine Delle, keine Trendwende. 2021 hatte die Menschheit schon wieder so viel ausgestoßen wie 2019. 36,3 Gigatonnen, das sind die reinen CO2-Emissionen, die durch das Verbrennen und die Nutzung fossiler Brennstoffe pro Jahr entstehen. Manchmal kursiert auch die Zahl von rund 40 Gigatonnen, da wird noch die Nutzung von Land mit einberechnet, denn bei intensiver Bewirtschaftung etwa, bei der Umwandlung von Grün- in Ackerland oder Waldrodung wird CO2 freigesetzt. Die umfassendste Berechnung mit allen Treibhausgasen kommt sogar auf gut 50 Gigatonnen CO2-Äquivalente.
Viel Zeit zum Durchschnaufen bleibt also nicht, das »grüne Jahrzehnt« ist kurz, und es ist nur der Auftakt zu einer Phase von grünen Dekaden, in denen wir die neue Art zu leben und damit auch zu wirtschaften, klimaschonender und irgendwann klimaneutral, fest in unseren Gencode schreiben.
Wäre da nicht der Krieg in der Ukraine.
Krieg bringt Leid, Zerstörung und Tod – und allein das steht im Vordergrund. Aber natürlich hat er viele Pläne zur Klimaneutralität durchkreuzt, sie verändert, manche unmöglich gemacht. Plötzlich geht es um Sicherheit und Verteidigung, um 100 Milliarden Euro für neuen Waffen, um Aufrüstung, und diese Fragen wirken elementarer, existenzieller als die Klimakrise. Zugespitzt kann man sagen: Eigentlich durfte bei dem Klimafahrplan bis 2030 kein Krieg dazwischenkommen.
Der Plan war ein anderer, zumal in Deutschland, die Ampelregierung wollte »mehr Fortschritt wagen«, wollte einen Neustart, und der Klimaschutz sollte hohe Priorität erhalten. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und der daraus folgende Konflikt der EU mit Russland haben eine paradoxe, zwiespältige Wirkung, deren Tragweite wir heute noch nicht abschätzen können: Gas sollte eigentlich die Brückentechnologie sein. Doch innerhalb weniger Tage mussten viele europäische Länder ihre Energieversorgung und -architektur neu aufstellen, weil man sich unabhängig von russischem Gas machen wollte. Plötzlich redeten wir von Kohlereserven und Kohlekraftwerken, die hochgefahren statt stillgelegt werden. Sogar Ottmar Edenhofer, der weltbekannte Klimafolgenforscher aus Potsdam, erwartet, dass Kohle als Reserve und Lückenfüller zum Einsatz kommt.[4]
Für das Klima ist das eine Katastrophe, angesichts der russischen Aggression der schrittweise Verzicht auf russisches Gas aber unvermeidbar. Im Grunde führte der Energiepreisschock, der schon im Herbst 2021 einsetzte, uns wie unter einem Brennglas vor Augen, wie abhängig unsere Wirtschaft und Gesellschaft von fossilen Brennstoffen ist, wie verletzlich wir sind und wie kompliziert deshalb auch der Um- und Ausstieg. Kurzfristig ist der Effekt des Krieges auf das Klima also negativ, weil er Ressourcen bindet, Aufmerksamkeit, Kräfte, Milliarden Euro, die wir nun in Waffen statt in die Entwicklung von Wasserstofftechnologien stecken müssen.
Mittelfristig aber hat der Konflikt mit Russland die Entschlossenheit in vielen Ländern befeuert, stärker und schneller auf erneuerbare Energien zu setzen. Der Krieg legte sich wie ein grauer Schleier über Pläne, die ohnehin gefasst waren, die sich nun ändern, aber nicht Makulatur sind. Der Weg bis 2030 wird wohl noch mühsamer, noch beschwerlicher – andererseits hat der Krieg dem Ende des fossilen Zeitalters noch einmal eine ganz neue Dringlichkeit verliehen. Ich werde auf den Konflikt in diesem Buch immer wieder eingehen, wenn es angebracht ist. Meine These lautet aber, dass er vieles nicht ändert: nicht die Klimaziele vieler Unternehmen, nicht die Innovationen und Ideen vieler Gründer. Doch bevor wir auf die Zeit bis 2030 blicken, sollten wir kurz zurückschauen, damit wir verstehen, woher wir kommen.
WOHER WIR KOMMEN: DIE DEKADE DES BOOMS, DER KRISEN UND DIE PANDEMIE
Es war an einem kalten Wintertag im Januar 2018, als ich auf einer Bühne in Landshut stand und über Boxspringbetten sprach. Der Saal vor mir war gut gefüllt, Unternehmer aus der Region mit ihren Ehefrauen, Vertreter und Honoratioren der Stadt, es war der Neujahrsempfang des Marketingclubs Niederbayern, einer Wirtschaftsvereinigung. Vor solchem Publikum habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder gesprochen, mal ging es um die Digitalisierung, mal um Industrie 4.0, es sind diese Säle, in denen einmal Deutschland in Klein sitzt: Mittelstand, Bürgermeisterinnen, Stadträte, Handwerker, ab und an Gründerinnen und Gründer, Sparkassendirektoren und Ehrenvorsitzende. An dem Abend ging es um den Wohlstand in unserem Land, um »Deutschlands goldene Jahre«.
Die Boxspringbetten waren ein Symbol. Mir war aufgefallen, dass über diese weichen, teuren Betten immer öfter gesprochen und berichtet wurde und dass sie überall eifrig beworben wurden. Ich hatte dazu sogar mit der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) gesprochen, die Boxspringbetten als »das iPhone der Bettenbranche« bezeichnete. Diese Betten boomten, die GfK sprach von einem »Absatzhype«. Die Zahl der verkauften Betten hatte sich zwischen 2014 und 2016 auf 1,2 Millionen fast verdoppelt. Früher, sagte die GfK, lagen die Deutschen gerne niedrig. »Heute schlafen sie lieber hoch.« Und teuer.[1]
Was für ein Symbol! Die Boxspringbetten waren Zeichen einer wohligen Phase, ja einer neuen Zeit, in der die Deutschen endlich ihr Geld ausgaben und konsumierten. Schließlich sind wir ein Volk, das im Schnitt nur alle 14 Jahre die Matratzen austauscht (statt wie empfohlen alle sieben bis zehn Jahre). In das Schlafzimmer investieren wir überhaupt wenig – und das hatte sich geändert. Nach den schweren Jahren der Reformen und der Massenarbeitslosigkeit der Nullerjahre, nach dem Beben der Finanzkrise ab 2009 breitete sich der Wohlstand aus wie Ahornsirup auf einem Pancake. Die Küchen wurden teurer, in den Badezimmern rieselte die Rainshower-Dusche. Klar, nicht bei allen Menschen, aber es war ein Wohlstand, der sich in der Mittelschicht immer breiter machte.
Was hat all das mit dem »grünen Jahrzehnt« zu tun? Ich werde in diesem Kapitel ein wenig zurückschauen, nicht nur auf Deutschland, auch auf Europa und die Welt, denn wir müssen verstehen, in welchem Zustand, mit welcher »Fitness« und mit welchen Problemen wir den Umbau der Wirtschaft in Angriff nehmen. Jedes Land bewegt sich mit einer anderen Geschwindigkeit voran – und die Welt, nun, die ist ziemlich abgekämpft. Sie muss diese Megatransformation anpacken, während sie noch mit einer globalen Pandemie kämpft – und mit einer geopolitischen Krise. Wie ein Boxer, der schon einiges einstecken musste.
Für Deutschland sind zwei Dinge wichtig: Wir sind in die 2020er-Jahre einerseits mit einem Polster und andererseits mit einer Hypothek gegangen. Fangen wir mit dem Polster an: Am Abend meines Vortrages in Landshut spürte ich an den Lachern, dem Applaus und den Nachfragen, dass ich wohl einen Nerv traf: Wir erlebten tatsächlich goldene Jahre, die Phase eines einmaligen Wohlstandszuwachses.
Deutschland war 2010 bis 2019 das Kraftzentrum Europas, es waren Jahre voller Rekorde und Überschüsse. An jenem Tag im Januar stand die Zahl von 1,1 Millionen offenen Stellen auf meiner Folie in der Powerpoint-Präsentation und eine Arbeitslosenquote von 5,9 Prozent.
Diesem Aufschwung ist 2019 bereits die Puste ausgegangen, 2020 wurde er durch die globale Pandemie dann endgültig gestoppt – und die Erholung 2022 durch die geopolitische Krise auf eine harte Probe gestellt, Prognosen ständig nach unten revidiert. Aber kaum ein Land ist mit einer solchen Wohlstandsreserve in die verschiedenen Lockdowns und Krisen gegangen. Das ist wichtig zu wissen für die Diskussion um die grüne Transformation.
Der Begriff von »Deutschlands goldenem Jahrzehnt« fiel von 2018 an immer öfter. Erstmals geprägt wurde er im Jahr 2010, als der Ökonom Holger Schmieding den dreißigseitigen Bericht »Understanding Germany: A Last Golden Decade Ahead« veröffentlichte.[2] Seine weitsichtige Kernaussage lautete damals: »Deutschland hat es geschafft: Sparmaßnahmen und Reformen tragen Früchte. Als Lohn der Mühe kann Deutschland sich auf ein goldenes Jahrzehnt der relativen Stärke mit mehr Wachstum, weniger Arbeitslosen, einem soliden Staatshaushalt und mehr Spaß für seine Verbraucher freuen.« Zu etwa der gleichen Zeit hatte auch »Capital« ein »deutsches Jahrzehnt« und später ein »goldenes Jahrzehnt« prophezeit.[3] Der »Economist« bestaunte, ebenfalls 2010, das »Powerhouse Deutschland«.[4]
Die Zehnerjahre waren für Deutschland und für weite Teile Europas allerdings auch eine Dekade voller Krisen: Es gab die Nachwehen der Finanzkrise 2009, die Euro-Schuldenkrise ab 2010, die Flüchtlingskrise 2015 und die Coronakrise ab Ende 2019 – während gleichzeitig der Wohlstand in vielen Ländern wuchs. (Wobei es, vor allem in Südeuropa, bittere Ausnahmen gab.)
Alles in allem aber waren die meisten Deutschen in jenen Jahren zufrieden, im Grunde so zufrieden wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Übrigens sind auch diese Lebenszufriedenheit und Zukunftshoffnung durch den Krieg verstört und zerstört worden, laut dem Institut für Demoskopie Allensbach ist unser Zukunftsvertrauen regelrecht »kollabiert«.[5]
Aber in den Jahren zuvor ging es aufwärts: Unsere Wirtschaftsleistung schwoll um rund eine Billion Euro auf knapp 3,5 Billionen Euro an, Millionen Jobs entstanden, Ende 2019 zählte Deutschland über 45 Millionen Erwerbstätige.[6] Die Reallöhne stiegen zwischen 2010 und 2019 im Schnitt um rund 12 Prozent, und es waren Einkommen in allen Schichten, die stiegen.[7] Natürlich gibt es noch immer Millionen Menschen in Deutschland, denen es nicht gut geht. Doch in Summe kann man sagen: Der Wohlstand ist in den Jahren ab 2010 auf einer breiten Basis gewachsen.
Die Einnahmen des Staates, also Steuern und Abgaben zusammengenommen, stiegen ab 2010 von 1,2 auf über 1,6 Billionen. Überall entstanden Überschüsse und Rücklagen statt Zuschüsse und Defizite. Der Staat verteilte Geld, es gab das Baukindergeld, die Mütterrente, höheres Bafög.
Während die Staatsverschuldung sank, von über 80 Prozent auf knapp unter 60 Prozent unserer Wirtschaftsleistung, kämpfte unser Land mit vollen Töpfen, die nicht mehr leer wurden, ob sie nun für Kitas, Breitband oder Schulen geschaffen wurden. Die Deutschen hatten mehr Geld, als sie ausgeben konnten.
Die 2010er-Jahre waren indes auch ein Jahrzehnt des Umbaus: Es war die Digitalisierung, die den Maschinenraum der deutschen Wirtschaft erbeben ließ. »Industrie 4.0« war das Zauberwort, vernetzte Produktion, die digitale Fabrik – all das beschäftigte weltweit die klassischen Industriebranchen.
Das »goldene Jahrzehnt« hält neben dem beruhigenden Polster ein weiteres Erbe parat: Wir müssen mehr investieren – und in der Vergangenheit ist uns dies nicht immer gut gelungen. Die Schätzungen für notwendige Investitionen, allein im Bereich des Klimaschutzes, liegen zwischen 500 und 900 Milliarden Euro bis 2030. Nach den jüngsten Planungen will die Regierung allein bis 2026 200 Milliarden Euro bereitstellen.
Es geht aber nicht allein um den Finanzierungsspielraum, es geht mindestens ebenso um die Fähigkeit, dieses Geld sinnvoll auszugeben. Ein Land, das bis 2030 viele, viele Milliarden in die Erneuerung seiner Infrastruktur, in Millionen von Solaranlagen, Heizungen, Wärmepumpen, gedämmten Häusern, Ladesäulen und Windrädern stecken muss, muss eine hohe Investitionsbereitschaft und Investitionsfähigkeit haben – also den Willen, groß zu planen und zu denken, Vorhaben schnell zu genehmigen, Kapazitäten freizuschaufeln und Summen überlegt und zielgerichtet einzusetzen. Im »goldenen Jahrzehnt« wurden Überschüsse mitunter wahllos verteilt. Das »grüne Jahrzehnt« wird eines sein, in dem wir mehr ausgeben, als reinkommt, in dem wir wieder mehr Schulden machen und lernen müssen, Töpfe planvoll zu leeren und nicht nur zu füllen. Denn sonst reden wir über Investitions-Fata-Morganas.
Hier müssen wir über einen psychologischen Effekt der Wohlstandsjahre sprechen: Wir wissen, was auf dem Spiel steht, was wir verlieren können. Oder besser: Wir wissen, was wir fürchten zu verlieren. Im Frühjahr kam im Zuge des Krieges und der Energiekrise exakt eine solche Debatte hoch, ob Deutschlands Wohlstand nun in Gefahr sei. Der Krieg werde »Wohlstand kosten«, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner stellte fest: »Dieser Krieg macht uns alle ärmer.«
In der Phase des Wohlstandszuwachses wurde Deutschland so zu einer Art »Auenland«, wie es der Psychologe und Gründer des Rheingold-Institutes, Stephan Grünewald, genannt hat. Ein Land, dem es gut geht, das die Augen vor der Zukunft aber gern ein bisschen verschließt. Dem es mehr um das Bewahren als um das Verändern geht.[8] Diese Zeit ist endgültig vorbei.
Jedes Land wird einen eigenen Klimapfad der Veränderung beschreiten, eigene Vorgaben formulieren, sich eigene Ziele setzen. Für jedes Land steht dabei anderes auf dem Spiel – für Deutschland geht es zuvörderst um die Zukunft der Kernbranchen, allen voran die Autoindustrie und ihre Zulieferer. Es geht um industrielle Herzen, die an vielen Orten schlagen, Maschinenbau, die Chemie-, die Glas- die Stahlindustrie. Die Industrieproduktion beträgt in Deutschland immer noch knapp ein Viertel der Wirtschaftsleistung, das ist mehr als in Frankreich, England oder den Vereinigten Staaten. 6,8 Millionen Jobs gibt es im verarbeitenden Gewerbe, hinzu kommen Millionen Jobs, die an der Wertschöpfung hängen.[9] Zahllose mittelständische, oft familiengeführte Betriebe tragen dazu bei, allein 1000 »Hidden Champions«, beeindruckende Weltmarktführer in unzähligen Nischen, von denen wir oft wenig mehr wissen, als dass sie im Schwarzwald oder in Ostwestfalen sitzen. Sie sind Teil des Geflechts, das zum Wohlstand beiträgt, aber niemand hat einen Überblick, welchen Klimapfad sie beschreiten und ob sie überhaupt unterwegs sind.
All diese Unternehmen, die gesamte Wirtschaft, wir alle müssen uns mit dem Auszug aus dem Auenland – das durch Corona und den Krieg ohnehin erschüttert wurde – anfreunden. Gerade die Autobauer haben sich lange gegen den Umbruch gewehrt. Dazu gehört auch, dass wir uns darüber klar werden, auf was wir letzten Endes verzichten können und wollen. Denn die zu Beginn dieses Kapitels erwähnten Boxspringbetten, die quadratmeterstarken Gasgrills, der unaufhaltsame Boom der SUVs, all das ist ja ein Symptom dafür, dass trotz aller Bekenntnisse zum Klimaschutz, trotz ausgefeilter Papiere und ambitionierter Pläne unser Alltag und Leben in eine entgegengesetzte Richtung gelaufen sind. (Was nicht nur für Deutschland gilt.) »Der Trend geht in Deutschland zum Zweitgrill«, las ich 2017 in einer Studie.[10]
Das gönne ich jedem von Herzen, ich kritisiere das nicht, ich stelle nur den Widerspruch fest: Wir erlebten eine Aufrüstung im Alltag, statt ein oder zwei Paar Sneaker besitzen wir fünf oder sechs. Wer sich allein die Flut der Pakete anschaut, die sich seit Jahren durch unsere Straßen wälzt, wer auf das Wachstum der Umsätze bei Zalando und Amazon blickt, auf die Schlacht der Lieferdienste mit ihren Armeen von Lieferboten in den Straßen, muss erkennen, dass unser Konsum sich anders entwickelt hat als das Bewusstsein. Die Flachbildschirmfernseher wurden größer, der Hubraum der Autos voluminöser und die Betten weicher.
Aus ökonomischer Sicht war das grandios, weil die Deutschen bis in die Zehnerjahre – also dem Beginn der goldenen Dekade – zu wenig konsumiert und lieber gespart hatten. Aus ökologischer Sicht ist es zweifelhaft, ob wir zum Beispiel wirklich mehr als zwei Paar Sneaker brauchen. Oder für jede Situation und jedes Wetter den passenden Rucksack, Hose, Strümpfe und Jacke. Unser Konsum beruht auf Zellteilung, aus einem Bedürfnis muss man zwei machen. Das ist keine bahnbrechende Erkenntnis, aber sie ist fundamental, wenn das Thema Verzicht ernst wird. Es wird nicht ganz einfach, diesen Widerspruch aufzulösen.
Kommen wir nach dem Polster zu der Hypothek, sie betrifft unseren Umgang mit Energie: Deutschland ist eine Industrienation, die auf Kernenergie verzichtet hat und bis 2038 oder früher aus der Kohle aussteigen will – was ganz entscheidend ist auf dem Weg zur Klimaneutralität. Hinzu kommen die Turbulenzen, die der Krieg in der Ukraine in der europäischen und speziell der deutschen Energieversorgung ausgelöst hat. Dieses Buch handelt nicht von der klassischen Energiewende, aber sie spielt für das »grüne Jahrzehnt« eine wichtige Rolle, deshalb werde ich hier auf sie eingehen.
Seit 20 Jahren hängen viele Menschen in Deutschland der Vorstellung an, wir seien ein Vorbild für die Welt – wegen der Energiewende, unserem Umweltbewusstsein und dem Voranpreschen beim Klimaschutz. Dieses Bild hat leider zwei Fehler: Wir sind weder ein Vorbild noch besonders erfolgreich, wenn wir auf die CO2-Ziele schauen. Einige Jahre hat Deutschland – im Gegensatz zu Ländern wie Großbritannien oder dem Klimabösewicht USA – die Reduktionsziele sogar gerissen. Der neue Klimaschutzminister Robert Habeck hatte Anfang 2022 überdies verkündet, dass es 2022 und 2023 nicht besser wird.[11] Wenn Deutschland die Kohlekraft wieder hochfährt, werden wir Ziele erst recht nicht erreichen –wobei wir bei Braunkohle nie besonders erfolgreich waren. Dazu weiter unten mehr.
Es ist nicht einfach, diesen Misserfolg und das Missverhältnis zu analysieren, weil auch das Thema Energie in Deutschland emotional aufgeladen ist. Man sollte lieber auf die Fakten schauen: Wir haben viel Industrie, an der viele Jobs hängen, und brauchen deshalb Unmengen an Strom. Und wenn wir nicht nur unsere Autos und Heizungen, sondern auch große Teile der Produktion elektrifizieren, benötigen wir mehr Strom – über 700 Terawattstunden im Jahr 2030 statt bisher gut 500 Terawattstunden (TWh). Allein für die Industrie kommt noch einmal der Strombedarf der Schweiz hinzu, 63 Terawattstunden im Jahr 2030. Merken Sie sich am besten folgende Zahl: Bis 2045 muss sich unsere Stromproduktion fast verdoppeln, auf knapp 1000 TWh.[12]
Nüchtern betrachtet hat die Energiewende ein großes Managementproblem.[13] Ziele wurden regelmäßig verfehlt, Kosten stiegen, seit Jahren bewegt sich immer weniger. Vor allem aber wurde ein Kernziel verfehlt, nämlich, was Energiewenden aus heutiger Sicht ausmacht: die Reduktion von Treibhausgasen. Im Energy Transition Index des World Economic Forum ist Deutschland abgeschlagen, im Jahr 2020 lagen wir einen Platz hinter Portugal und weit hinter Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden und nochmal drei Plätze schlechter als 2019.[14] Schon 2018 warnte der Bundesrechnungshof in einem Bericht: »Die Bundesregierung droht mit ihrem Generationenprojekt der Energiewende zu scheitern.«[15] Sogar Angela Merkel zog in den letzten Wochen ihrer Kanzlerschaft kritisch Bilanz: Sie persönlich habe »sehr viel Kraft« aufgewendet, aber es sei »nicht ausreichend viel passiert«. Sie zog damit Bilanz für das ganze Land: viel getan und zu wenig erreicht. Wie konnte das passieren, im Land der Energiewende? Obwohl wir seit dem Start des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2000 dreistellige Milliardensummen investiert haben? Dieser Misserfolg, gekoppelt an einen eingebildeten Erfolg, hat mehrere Gründe.
Zum einen war die Energiewende, die ab 1999 geplant und mit dem EEG 2000 eingeführt wurde, in erster Linie auf den Ausstieg aus der Kernenergie gerichtet, nicht auf das Ende der Kohle oder der fossilen Brennstoffe. Bei der Atomkraft vollzog Deutschland noch einige Wenden: Die Regierung aus Union und FDP verlängerte die Laufzeiten zunächst, um sie dann 2011 wieder zu verkürzen – der Atomausstieg wurde damals bis Ende 2022 beschlossen. Manche Politiker, auch von den Grünen, räumen seit einiger Zeit verstohlen ein, dass man vor 20 Jahren »das falsche Schwein geschlachtet« habe. Hätte man 1999 allein das Ende der Kohle zum Ziel gehabt, wäre Deutschland viel weiter.[20] Die Atomdebatte flackerte über die Jahre immer wieder auf, es gab aber weder einen politischen Willen noch Mehrheiten in der Bevölkerung, dem Atomausstieg eine weitere Kehrtwende hinzuzufügen. Das Thema Kernkraft hatte Deutschland abgehakt. Allein der Krieg in der Ukraine hat eine neue Debatte ausgelöst, ob man die verbleibenden drei Meiler doch länger laufen lassen sollte. Ob es überhaupt möglich wäre, rechtlich, technisch und ökonomisch. Belgien etwa hat kurz nach Ausbruch des Krieges verkündet, die Laufzeit seiner Atomkraftwerke um zehn Jahre zu verlängern. Sinnvoll wäre es allemal.
Für Deutschland wird die Transformation zur Klimaneutralität mühsamer werden als etwa für Frankreich oder Großbritannien, wo die Atomenergie ein wesentlicher Baustein der Energieversorgung ist. Die deutsche Brückentechnologie sollte hingegen Gas sein, alle Planungen in Deutschland sahen einen Mehrverbrauch an Gas vor, wir wollten sogar 40 bis 50 neue Gaskraftwerke bauen. Und wir wollten dafür russisches Gas nutzen.
Es gibt einen weiteren Grund für deutsche Misserfolge: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz führte zweifellos dazu, dass heute in der Spitze die Hälfte des Stroms aus Windkraft, Sonne und Biomasse gewonnen wird.[17] Ein toller Erfolg! Beim gesamten Energieverbrauch des Landes, dem sogenannten Primärenergiebedarf, das heißt inklusive aller Heizungen, Autos, Fabriken und Maschinen, lag der Anteil von Solarkraft, Wind, Biomasse und Geothermie allerdings 2020 noch bei nur gut 16 Prozent. Nach 20 Jahren!
Der Anteil der Erneuerbaren, so stellte das Umweltbundesamt noch 2021 fest, steige »unterproportional«.[18] Am besten versteht man das Problem, wenn man auf die Zahl der neu installierten Windräder über die Jahre schaut.
Die seit Dezember 2021 regierende Ampelkoalition hatte sich vorgenommen, das zu ändern, mit ehrgeizigen Zielen: 215 Gigawatt Sonnenenergie bis 2030, das ist in etwa das Vierfache der heute installierten Leistung; 100 bis 130 Gigawatt Windenergie an Land bis 2030, das ist ebenfalls das Vierfache. 80 Prozent erneuerbare Energien bis 2030, das ist die große, heute unvorstellbare Zahl, auf die unsere Wirtschaft und Gesellschaft hinsteuern soll.
Kanzler Olaf Scholz hat das neue Tempo auf einen Satz gebracht: »Wir müssen Windräder in sechs Monaten statt sechs Jahren bauen.« Dem steht entgegen, dass der Widerstand vor Ort oft zu groß ist, Genehmigungen zu lange dauern.
Ob wir bis 2030 schneller werden? In einem Land, in dem man ein Jahr lang allein den Vogelzug dokumentieren muss für ein neues Windrad? Das kann man natürlich ändern, man muss sich nur eines klar machen: All die Prüfungen für Umweltverträglichkeit, Artenschutz und Sicherheit, die Auflagen, Einspruchsrechte und Klagewege sind nicht nur gewachsen – sondern gewollt.[19] Und viele sind sinnvoll. Es stockt außerdem nicht nur der Ausbau der Windkraft: Auch die Leitungen und Stromnetze, die von Nord nach Süd durch das Land gebaut werden sollen, kommen viel zu langsam voran. Unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine soll der Umbau nun mit »Tesla-Geschwindigkeit« geschehen, wie Robert Habeck es genannt hat. Gut möglich, dass sich in den Köpfen der Menschen unter dem Eindruck des Krieges manches ändert und einiger Widerstand vor Ort aufgegeben wird.
Ein dritter Grund unseres Misserfolgs liegt in einem schmutzigen Geheimnis: Irgendwie hatte das EEG dazu geführt, dass auch der Anteil der Braunkohle am Strommix stieg.[20] 2018 lag er fast so hoch wie im Jahr 2000! Und viele Jahre lag er darüber. Im ersten, windarmen Halbjahr 2021 stieg der Anteil der Kohle erneut über den der Windenergie. Wind und Sonne machten den Strom günstiger, das führte aber dazu, dass Gaskraftwerke, die emissionsärmere Brückentechnologie, unrentabel wurden – während die billige, stets verfügbare Braunkohle eine kleine Renaissance erlebte. Gaskraftwerke werden seit Jahren für zweistellige Millionenbeträge als Puffer vorgehalten, damit sie einspringen, falls der Wind einmal nicht weht.[21]
Man kann zu dem Schluss kommen, dass sich das Thema Kohle mit einem steigenden CO2-Preis erledigt haben wird; für die Rückschau aber ist dieses Braunkohle-Paradox wichtig. Kohle bleibt leider der ewige Lückenfüller, auch das erlebten wir in den seit März 2022 stattfindenden Debatten, die der Schock in unserer Energieversorgung ausgelöst hat: Wir fahren Kohle hoch.
Kommen wir zum letzten Punkt unseres Misserfolgs: den großen Hebeln und unserer Technologiefeindlichkeit. Wir reden und streiten oft über das, was gut klingt, aber wenig bringt. Ein Verbot von SUVs oder Inlandsflügen – das ist hochsymbolisch, doch letztere sind verantwortlich für 0,3 Prozent der deutschen CO2-Emissionen. Wir wollen zwar die Welt retten, lehnen es aber ab, CO2 unter der Erde zu speichern (was in Holland oder Norwegen passieren darf). Hier brauchen wir im »grünen Jahrzehnt« mehr Offenheit, Experimentierfreude und Ehrlichkeit, mehr Freude an Innovationen (siehe dazu Kapitel 7 über »Die grüne Gründerzeit«).
Deutschland geht mit einer Hypothek in die kommenden Jahre: Wir sind die einzige große Industrienation, die parallel aus Kernkraft und Kohle aussteigt. Deshalb müssen wir, um die Lücke zu füllen, einen anderen fossilen Brennstoff massiv hochfahren: Gas. Wir benötigen je nach Schätzungen und Quelle 20 Gigawatt, die Leistung von 40 kleinen Gaskraftwerken.[22] Russland hat mit dem Einmarsch in die Ukraine diesem Plan ein dunkles Kapitel hinzugefügt. »Aufgrund der Geopolitik ist diese Gasbrücke faktisch zusammengebrochen«, schrieb der Bloomberg-Kolumnist Andreas Kluth Ende März 2022.[23]
Manchmal hilft ein Blick ins Ausland: Das Vereinigte Königreich hat schon 2013 eine nationale Abgabe auf fossile Energieträger eingeführt. Ein Mindestpreis von anfangs 16 Pfund je Tonne CO2