Das Gruselroman Paket Juli 2024 - Alfred Bekker - E-Book

Das Gruselroman Paket Juli 2024 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Grusel-Krimis: Alfred Bekker: Patricia Vanhelsing und die Spinnenkönigin Alfred Bekker: Corcoran und der Tod Arthur Leo Zagat: Das Haus des lebendigen Todes Arthur Leo Zagat: Der Durst der lebenden Toten Jack Mann: Der okkulte Detektiv und Albtraum-Farm: Roman Jack Mann: Der okkulte Detektiv und die grauen Gestalten: Roman Bertram Atkey: Die Frau mit den Wölfen F. Marion Crawford: Die Hexe von Prag Leslie Garber: Der Fluch von Barringham Castle John Devlin: Lord Drenfields Dämonenschloss John Devlin: Wenn der Rabenmann kommt Alfred Bekker: Burg der Schatten Ich bin verwirrt. Der Raum, in dem ich mich befinde, gleicht einem Verlies. Einer dunklen Gruft. Einem Kerker. Es ist feucht, modrig und riecht nach Tod und Fäulnis. Wo bist du? In einer anderen Zeit? Einer anderen Welt? Ich murmele einen magischen Spruch, der die Schmerzen in meinen Armen und Beinen etwas lindern soll. Ohne Erfolg. Ich spüre, dass die Magie, wie ich sie bisher kenne, hier keine Wirkung hat. Immerhin, der metamagische Sog ist auch nicht mehr spürbar. Ich hebe meine Hände, schaue sie an. Deine Hände? Sie sehen so fremd aus... WO bist du? WER bist du? Eine Ahnung dessen, was geschehen ist, steigt in mir auf. Ich erinnere mich wieder an den Knochenmann. An die Begegnung in Barcelona, unweit der Ramblas. Danach war alles anders. Ich sehe auf diese Hände, die mir vertraut sein müssten und es doch nicht sind. Ein anderes Leben, ein anderer Körper, ein anderer Name. Ich flüstere ihn. "Graf David de Corcoran..." Eine andere Zeit... Ein anderes Universum, nur durch die hauchdünne Trennwand der Wahrscheinlichkeit von jenem getrennt, in dem ich heimisch bin. Du warst es auch hier --- heimisch. Ein ganzes Leben lang.

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Alfred Bekker, John Devlin Arthur Leo Zagat, Jack Mann. Bertram Atkey, F. Marion Crawford, Leslie Garber,

Das Gruselroman Paket Juli 2024

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Inhaltsverzeichnis

Das Gruselroman Paket Juli 2024

Copyright

Patricia Vanhelsing und die Spinnenkönigin

Corcoran und der Tod

Das Haus des lebendigen Todes

Der Durst der lebenden Toten

Der okkulte Detektiv und Albtraum-Farm: Roman

Der okkulte Detektiv und die grauen Gestalten: Roman

Die Frau mit den Wölfen

Die Hexe von Prag

Der Fluch von Barringham Castle

Lord Drenfields Dämonenschloss

Wenn der Rabenmann kommt

Burg der Schatten

Das Gruselroman Paket Juli 2024

Alfred Bekker, John Devlin, Arthur Leo Zagat, Jack Mann. Bertram Atkey, F. Marion Crawford, Leslie Garber,

Dieser Band enthält folgende Grusel-Krimis:

Alfred Bekker: Patricia Vanhelsing und die Spinnenkönigin

Alfred Bekker: Corcoran und der Tod

Arthur Leo Zagat: Das Haus des lebendigen Todes

Arthur Leo Zagat: Der Durst der lebenden Toten

Jack Mann: Der okkulte Detektiv und Albtraum-Farm: Roman

Jack Mann: Der okkulte Detektiv und die grauen Gestalten: Roman

Bertram Atkey: Die Frau mit den Wölfen

F. Marion Crawford: Die Hexe von Prag

Leslie Garber: Der Fluch von Barringham Castle

John Devlin: Lord Drenfields Dämonenschloss

John Devlin: Wenn der Rabenmann kommt

Alfred Bekker: Burg der Schatten

Ich bin verwirrt.

Der Raum, in dem ich mich befinde, gleicht einem Verlies. Einer dunklen Gruft. Einem Kerker. Es ist feucht, modrig und riecht nach Tod und Fäulnis.

Wo bist du? In einer anderen Zeit? Einer anderen Welt?

Ich murmele einen magischen Spruch, der die Schmerzen in meinen Armen und Beinen etwas lindern soll. Ohne Erfolg.

Ich spüre, dass die Magie, wie ich sie bisher kenne, hier keine Wirkung hat. Immerhin, der metamagische Sog ist auch nicht mehr spürbar.

Ich hebe meine Hände, schaue sie an.

Deine Hände? Sie sehen so fremd aus...

WO bist du?

WER bist du?

Eine Ahnung dessen, was geschehen ist, steigt in mir auf. Ich erinnere mich wieder an den Knochenmann. An die Begegnung in Barcelona, unweit der Ramblas.

Danach war alles anders.

Ich sehe auf diese Hände, die mir vertraut sein müssten und es doch nicht sind.

Ein anderes Leben, ein anderer Körper, ein anderer Name.

Ich flüstere ihn.

"Graf David de Corcoran..."

Eine andere Zeit...

Ein anderes Universum, nur durch die hauchdünne Trennwand der Wahrscheinlichkeit von jenem getrennt, in dem ich heimisch bin.

Du warst es auch hier --- heimisch. Ein ganzes Leben lang.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

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Alles rund um Belletristik!

Patricia Vanhelsing und die Spinnenkönigin

Roman von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 106 Taschenbuchseiten.

Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle.

In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /COVER WERNER ÖCKL

© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Michael Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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1

Nebel lag wie grauer Spinnweben über London. In dicken Schwaden war er gegen Abend vom Themseufer heraufgezogen und hatte sich über die ganze Stadt ausgebreitet.

Der Nebel kroch durch die Straßen und erreichte schließlich auch die kleinste Gasse und den letzten Winkel dieser riesigen Stadt.

Es war schon nach Mitternacht, als der Bus an der einsamen Haltestelle Pelton Street hielt. Wie ein großer dunkler Schatten wirkte der Doppeldecker. Mit einem Zischen der Bremsen hielt er an.

Ein einzelner Fahrgast stieg aus.

James McGordon war Mitte dreißig, trug eine sportliche Lederjacke in Kombination mit Jeans. In der Hand hielt er eine Reisetasche. Glück gehabt, dachte er. Gerade noch den letzten Bus gekriegt...

Er hatte einen zweiwöchigen Urlaub in der Karibik hinter sich. Als er aus dem Flugzeug getreten war, war das berühmt berüchtigte englische Wetter für ihn der erwartete Schock gewesen. Inzwischen war er ziemlich durchgefroren. Die feuchte Kühle, die unter dem Nebel herrschte, ging einem durch Mark und Bein.

Wieder daheim, dachte er sarkastisch. Aber sein Urlaub war nunmal zu Ende, obwohl er gut und gerne noch weitere zwei Wochen unter Sonne und Palmen hätte vertragen können.

Der Bus setzte sich ächzend wie ein riesiges Tier in Bewegung und bog dann um die nächste Ecke.

McGordon atmete tief durch. Er hängte sich die Reisetasche über die Schulter und rieb sich die Hände. Seine Dachgeschosswohnung lag etwa fünf Minuten entfernt.

Er ging mit schnellen Schritten die Straße entlang.

Das diffuse Licht der Straßenlaternen wurde durch den dichten Nebel eigenartig gestreut, was der gesamten Szenerie eine gespenstische Atmosphäre gab. Spinnweben zitterten an einer dieser Lampen und irgendwo im Verborgenen saß eine achtbeinige Jägerin, die geduldig auf Beute wartete.

Die Häuser zu beiden Seiten der Straße ragten als schattenhafte Umrisse empor. Und irgendwo zwischen den eng am Straßenrand geparkten Fahrzeugen huschte eine schwarze Katze blitzartig daher...

Für einen Sekundenbruchteil sah McGordon das Leuchten ihrer gelblichen Augen, dann war sie verschwunden. Ein flüchtiger Schatten in der Nacht...

McGordon schlug sich den Kragen seiner Jacke hoch. Auf dem Pflaster des Bürgersteigs bemerkte er einige ungewöhnlich große Spinnen, die mit schnellen, hektischen Bewegungen seinen Turnschuhen auswichen.

Verfluchte Biester! Der Gedanke kam wie automatisch. Er wusste, dass sie harmlos waren, aber dennoch ging es ihm wie den meisten Menschen. Er ekelte sich unwillkürlich vor ihnen.

Und dann stutzte er.

Er sah eine Gestalt im Nebel.

Nachdem er noch ein paar Schritte hinter sich gebracht hatte, konnte er sie sehen. Eine Frau mit dunklen Haaren und einem sehr altmodisch wirkenden Kleid stand da. Ihr Blick schien ins Nichts zu gehen. Sie wirkte wie in Trance.

McGordon kniff die Augen zusammen und warf ihr einen forschen Blick zu.

Sie drehte den Kopf. Der Blick ihrer dunklen Augen begegnete ihm. Sie lächelte auf eine Art und Weise, die McGordon nicht gefiel.

Irgend etwas stimmt nicht mit ihr, ging es McGordon durch den Kopf.

Dann fühlte er etwas Kleines, Krabbelndes in seinem Nacken und schlug sofort zu.

Er blickte auf und sah, wie sich gerade eine Spinne an ihrem Faden von einer Straßenlaterne herabließ. McGordon ging hastig einen Schritt zur Seite. Dann glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Ein wahres Heer dieser kleinen krabbelnden Ungeheuer kamen jetzt von allen Seiten auf ihn zu.

Wie aus dem Nichts waren sie plötzlich erschienen. Ihre Körper bedeckten dicht den Boden. Mit einer schnellen Bewegung streifte er sie von seinen Jeans ab.

„Nein“, flüsterte.

Das durfte nicht wahr sein. Sie waren überall. An seiner Tasche, unter seinem Hemdkragen, inzwischen auch in den Haaren. Und wie aus dem Nichts schienen ständig weitere der Achtbeiner heranzuströmen.

Wie von Sinnen schlug McGorden inzwischen um sich. Aus den Augenwinkeln heraus sah er die geheimnisvolle Frau, die einfach nur dastand und zusah.

Und sah ihr Lächeln...

Das hungrige Blitzen ihrer dunklen Augen...

McGordon erschauerte.

Er fühlte etwas Klebriges an der Hand und einen Augenblick später auch am Hals...

Spinnweben!

Er versuchte das klebrige Zeug abzustreifen, doch die Tausenden von Spinnen, die mittlerweile seinen gesamten Körper bedeckten, sponnen es schneller nach, als McGordon sich dagegen wehren konnte.

Verzweifelt ruderte er mit den Armen, versuchte, sie abzustreifen, doch ihre Zahl war einfach zu groß.

Er wollte einen Schritt zur Seite machen und stolperte zu Boden. Erst jetzt begriff er, was geschehen war. Seine Beine waren bis zur Höhe der Knie von ungewöhnlich starken Spinnweben umwickelt...

Das letzte, was James McGordon sah, war das Lächeln jener geheimnisvollen Frau aus dem Nebel...

2

„Hallo Patricia! Du brauchst dich gar nicht erst auf deinen Drehstuhl zu setzen!“

Der junge Mann, der mich früh am Morgen auf diese Weise begrüßte, hieß Jim Field und war wie ich bei den LONDON EXPRESS NEWS, einer großen englischen Boulevardzeitung, angestellt. Er als Fotograf, ich als Reporterin. Wir bildeten des Öfteren ein Team.

Jim war blond, trug eine verwaschene Jeans und ein Jackett, dessen Revers durch die Kameras, die er um den Hals zu tragen pflegte, ziemlich verknittert und vermutlich nie wieder in seine ursprüngliche Form zu bringen war. Mit einer lässigen Geste strich er sich das etwas zu lange blonde Haar zurück und grinste mich an.

„Wir sollen zum Chef kommen“, meinte er. „Muss wohl was ziemlich Wichtiges sein...“

Ich atmete tief durch und nahm meine Handtasche wieder vom Schreibtisch. Dann folgte ich Jim quer durch das Großraumbüro, in dem die Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS untergebracht war, bis wir vor jener Tür standen, an der ein kleines Schild mit der Aufschrift MICHAEL T. SWANN - CHEFREDAKTEUR stand.

Jim klopfte vorsichtshalber.

„Herein“, knurrte es von der anderen Seite.

Wir betraten das Büro, in dem unser mitunter etwas cholerisch veranlagter Chefredakteur unruhig auf und ab ging.

In der Hand hielt er ein Diktiergerät.

Swann war breitschultrig und hatte die Ärmel hochgekrempelt. Die Krawatte saß locker wie ein Strick. Er machte stets einen überarbeiteten Eindruck. Seine Leidenschaft war die LONDON EXPRESS NEWS. Dieses Blatt wollte er genau dort halten, wo seiner Ansicht nach der Platz dieser Zeitung war: Ganz oben. Dafür setzte er alles ein. So etwas wie ein Privatleben schien er kaum zu kennen.

Immerhin hatte ich ihn inzwischen davon überzeugen können, eine Journalistin zu sein, die selbst wenn man Swanns strenge Maßstäbe anlegte, gute Arbeit leistete.

Swann wirbelte herum.

„Da sind Sie beide ja“, murmelte er. Er nahm sich nicht die Zeit, uns zu begrüßen. „Kennen Sie die Pelton Street, Patricia?“

„Nein“, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

„Dann suchen Sie sie auf dem Stadtplan und fahren Sie so schnell wie möglich hin!“

„Worum geht es?“

Swann machte ein paar Schritte auf mich zu. Dann hob er die Augenbrauen und sah mich an.

„Es scheint, als würde es einen weiteren dieser rätselhaften Todesfälle geben...“ Seine Stimme hatte einen gedämpften Tonfall bekommen. Swann mochte abgebrüht sein und einer, der sich über so viele Jahre in der Nachrichtenbranche behauptet hatte, musste das wohl sein. Aber das bedeutete nicht, dass Swann kein Herz hatte. Unter seiner rauen Schale befand sich ein weicher, empfindsamer Kern, auch wenn er den zumeist sehr gut zu verbergen wusste.

Ich erwiderte seinen Blick.

„Sie meinen...“

Er nickte. „Ja, Patricia. Es geht um diese seltsam mumifizierten Toten, die in einen Kokon aus Spinnweben eingewoben waren... Beeilen Sie sich! Im Moment ist in der Pelton Street riesig was los! Die Polizei sucht überall nach Spuren...“

Ich nickte und wandte mich dann an Jim.

„Komm“, sagte ich.

Wir hatten schon fast die Tür erreicht, da ließ uns Swanns durchdringende Stimme noch einmal herumfahren.

„Noch etwas!“, rief er.

„Ja?“, fragte ich.

„Die Untersuchung dieser Mordserie wird laut einer Pressemitteilung von Scotland Yard neuerdings von Inspektor Barnes geleitet“, erklärte Swann.

„Oh.“

„Ich wusste, dass Ihnen das nicht gefällt. Ich wollte Sie vorwarnen.“

„Danke.“

„Was hat Barnes eigentlich gegen Sie, Patricia?“

Ich zuckte die Achseln. „Eigentlich wüsste ich das auch gerne.“

Swann zwinkerte mir zu. „Wahrscheinlich kann er nur nicht vertragen, wenn jemand besser ist als er.“

Ich lächelte matt. „Das wird es sein!“

3

Kalt und diesig war es an diesem Tag.

Jim und ich stiegen in den roten Mercedes 190 - ein Geschenk meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing, bei der ich seit dem frühen Tod meiner Eltern aufgewachsen war. Ich liebe diesen Oldtimer - denn das war er inzwischen schon beinahe und hätte ihn für kein neues Modell derselben Klasse eingetauscht. Geschwindigkeitsrekorde oder waghalsige Lenkmanöver verboten sich im dichten Londoner Stadtverkehr ohnehin.

Es dauerte eine Weile, bis wir die Pelton Street erreichten. Jim lotste mich mit dem Stadtplan auf den Knien dorthin.

Die Gegend war weiträumig für den Verkehr abgesperrt und so mussten wir das letzte Stück des Weges zu Fuß gehen.

Die Pelton Street lag in einem der Außenbereiche.

Wohnblocks und Reihenhäuser mischten sich hier mit einer Reihe altehrwürdiger Villen im viktorianischen Stil.

Wir bogen um eine Ecke und dann sah ich in einiger Entfernung auch schon die massige, hoch aufragende und irgendwie ziemlich einschüchternd wirkende Gestalt von Scotland Yard-Inspektor Gregory Barnes. Sein kurzgeschorenes Haar hatte Ähnlichkeit mit den Stacheln eines Igels.

Er notierte etwas auf einen Block, während überall Kollegen von ihm suchend umherstreiften. Manche waren in zivil, andere uniformiert. Ich sah den Wagen des Gerichtsmediziners.

Der Arzt - ein Mann mit hoher Stirn und spärlichem Haarwuchs - ging auf Barnes zu, wechselte ein paar Worte mit ihm und ging dann in Richtung seines Wagens davon.

Der Tote ruhte in einem Metallsarg, der bereits geschlossen war.

Vielleicht war das auch gut so.

Barnes blickte auf.

„Ah, Miss Vanhelsing! Mr. Field! Meine Güte, mir bleibt heute auch nichts erspart!“ Er verzog das Gesicht. „War ein Scherz, Miss Vanhelsing...“

„Wir scheinen ein unterschiedliches Verständnis von Humor zu haben, Inspektor.“

Er zuckte die Achseln.

„Gut möglich.“ Er sah mich an. In seinen Augen blitzte es angriffslustig. „Sie können sich hier gerne herumtreiben, aber es wäre nett, wenn Sie die ernsthafte Ermittlungsarbeit, die hier stattfindet, nicht behindern...“

„Natürlich. Wer ist der Tote?“

Er seufzte.

„Wir haben eine Tasche gefunden, in der Papiere waren, die ihn als James McGordon ausweisen. McGordon wohnt hier in der Nähe und kam wohl gerade von einer Reise zurück... Er müsste 34 Jahre alt sein, aber... Die Leiche, die wir gefunden haben ist uralt!“

Barnes war ein harter Brocken, aber in diesem Moment war es ihm deutlich anzumerken, wie mitgenommen er war.

Ich deutete auf den Metallsarg.

„War er - wie die anderen Opfer - in einen Kokon eingesponnen?“

Barnes nickte. „Ja. Fast so, als hätten Hunderttausende von Spinnen sich auf ihn gestürzt und mit ihren Fäden eingewickelt... Aber das ist natürlich völlig absurd.“

„Wirklich?“

„Ich weiß, dass Sie nach dem Außergewöhnlichen suchen, Miss Vanhelsing. Aber ich richte mich nur nach den Fakten.“

„Und?“, fragte ich. „Haben Sie schon eine Theorie?“

Er schüttelte den Kopf. „Im Grunde wissen wir noch nicht einmal, ob es sich um Mord handelt. Auch der Todeszeitpunkt liegt im Dunkeln. Vermutlich irgendwann während der Nacht. Der Kokon lag hier in den Büschen und es hat wohl eine ganze Weile gedauert, bis jemand richtig nachgesehen hat... So ohne weiteres war ja auch nicht zu erkennen, dass es sich um einen Toten handelte...“

„Die bisherigen Todesfälle geschahen alle in diesem Teil Londons, nicht wahr?“

„Ja“, nickte er. „In einem Umkreis von zwei, drei Kilometern...“

„Darf ich einen Blick in den Sarg werfen?“, fragte ich.

„Nur, wenn Ihr Kollege kein Foto davon macht!“

„Selbstverständlich.“

„Und dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie so schnell wie möglich wieder verschwinden würden. Und lassen Sie es sich ja nicht einfallen, etwa hier die Nachbarschaft auf eigene Faust zu befragen, bevor wir das nicht getan haben!“

„Ich wüsste nicht, dass es ein Gesetz dagegen gibt!“

Er zuckte die breiten Schultern.

„Man sollte es einführen!“

Ich hob die Augenbrauen. „Die Presse - der natürliche Feind von Inspektor Barnes?“

„Der Unterschied zwischen uns ist doch wohl klar“, erwiderte er. „Ihnen geht es um die Sensation - mir um die Wahrheit!“

Nein, dachte ich. Die Sache lag im Grunde etwas anders. Uns beiden ging es um die Wahrheit, aber Barnes hatte einen anderen Begriff davon. Für ihn existierte all das nicht, was sich nicht auf Anhieb in sein Weltbild einordnen ließ, während ich fand, dass man diese Dinge nicht einfach ignorieren konnte, nur weil sie dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft widersprachen.

Aber im Moment hatte ich keinerlei Lust, mich mit ihm darüber weiter auseinanderzusetzen.

„Ach übrigens!“ meinte Barnes dann noch, als er bereits an mir vorbeigegangen war. Wir drehten uns zu ihm herum, und als wollte er meine Meinung über ihn widerlegen fuhr er dann fort: „Ich habe mich mit einem Spinnenkundler unterhalten...“

„Ach, ja?“

„Er ist der Auffassung, dass es keine Spinnenart auf der Welt gibt, die so etwas“ - dabei deutete er in Richtung des Metallsargs - „vollbringen könnte. Auch keine exotischen Arten, die vielleicht hier eingeschleppt wurden. Es widerspricht allem, was man über das Verhalten dieser Tiere weiß...“

Ich sah ihn an.

„Und was folgern Sie daraus?“

Er zuckte die Achseln. „Noch gar nichts“, meinte er. „Nur soviel: „Es gibt Spinnen mit acht Beinen und welche, die nur auf Zweien zu gehen pflegen...“ Und dabei grinste er schief.

„Sie sprechen von einem Psychopathen, der...“

„...der Menschen, die bereits tot waren so behandelt, dass sie aussehen wie die Beute einer Spinne...“

4

„Mein Gott, wie kann so etwas geschehen?“, flüsterte Jim mir zu, nachdem wir in den Sarg geblickt hatten. Er wirkte sichtlich mitgenommen und mir ging es nicht anders.

„Ich habe keine Ahnung“, murmelte ich. Wir arbeiteten schon eine ganze Weile an dieser Sache. Immer wieder gab es in dieser Gegend Tote, die in Kokons eingesponnen waren. Die Leichen selber waren auf geheimnisvolle Weise mumifiziert und wirkten stets uralt, obwohl sie es ihren Papieren nach nicht sein konnten. Fast so, als hätte sie innerhalb eines einzigen Augenblicks der Hauch der Zeit erfasst und um hundert Jahre altern lassen.

Irgendwelche Verletzungen hatte keiner der Toten aufgewiesen.

Der erste Fall hatte sich vor beinahe einem halben Jahr abgespielt.

Nun hatte es drei Tote innerhalb einiger Wochen gegeben. Und wenn man den Bulletins der Gerichtsmediziner glauben konnte, dann waren die Betreffenden an Altersschwäche gestorben. Zumindest hatte man nichts gefunden, was irgendwie auf Gewalt- oder Gifteinwirkung hindeutete. Aber vielleicht hatte man auch nur nicht gewusst, wonach man suchen sollte.

Ich ließ den Blick schweifen.

Der Nebel war nicht mehr so dicht, wie er noch am Morgen gewesen war. Aber noch immer hing eine schwere Dunstglocke über London. Der Himmel war grau.

„Was schlägst du vor, Patricia?“, hörte ich Jim sagen.

„Wir werden genau das tun, was Barnes uns zu verbieten versucht hatte: die Nachbarn befragen.“

„Aber dann warten wir besser, bis das Riesenaufgebot hier weg ist, nicht wahr?“

„Ja.“

Ich sah, wie sich hinter den Fenstergardinen der umliegenden Häuser etwas bewegte. Die Anwohner schienen dazusitzen und alles haargenau zu verfolgen, was sich da buchstäblich vor ihrer Haustür abspielte. In einiger Entfernung hatte sich ein Rentner mit Tweedjackett und Schiebermütze postiert und registrierte mit skeptischen Blick jeden Handgriff der Spurensicherer.

Mir ein fiel ein Mann auf, der unter einer Laterne stand.

Der Tag war dermaßen grau und düster, dass die auf Helligkeit reagierenden Sensoren der Laterne wohl noch immer „Dämmerung“ anzeigten. Jedenfalls war die Laterne an und verursachte ein diffuses Zwielicht.

Der Mann unter der Laterne war außerordentlich gut gekleidet. Er trug einen zweireihigen dunkelgrauen Mantel, hatte dunkles Haar und einen Oberlippenbart.

Seine Züge waren feingeschnitten. Der Blick verfolgte aufmerksam das Geschehen. Eine seltsame Unruhe schien in ihm zu herrschen. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen.

Dann bemerkte er meinen Blick und sah mich an.

Ich hatte eine eigenartige Empfindung dabei. Die Ausstrahlung dieses Mannes nahm mich gefangen. Eine Ausstrahlung, die eigentlich eher zu einem älteren erfahreneren Mann gepasst hätte. Aber ich schätzte ihn auf höchsten 35 Jahre.

Nur seine Augen, die schienen älter zu sein.

Er begegnete meinem Blick und wurde etwas ruhiger.

Dann wandte er sich herum und ging die Straße entlang.

Seine Schritte waren schnell und wirkten entschlossen. Er drehte sich nicht noch einmal um.

Hinter der nächsten Ecke verschwand er.

„Was ist los, Patricia?“, drang Jims Stimme in mein Bewusstsein. „Wo starrst du hin?“

5

Am Abend kehrte ich spät nach Hause zurück. In der Redaktion war viel zu tun gewesen. Ich hatte einen Artikel geschrieben, ohne wirklich etwas über die Hintergründe dieser eigenartigen Serie von Todesfällen zu wissen. Die Fakten waren dürftig. Kein Motiv, kein Täter, vielleicht noch nicht einmal ein Mord.

Und wenn es wirklich ein besonders widerwärtiger Psychopath war, wie Barnes vermutete? Mir erschien diese Theorie zumindest nicht plausibel genug, um sie in meinen Artikel aufzunehmen.

Am Nachmittag hatte ich mit Jim einige der direkten Nachbarn abgeklappert und interviewt. Das Ergebnis war gleich null. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Die meisten kannten noch nicht einmal das Opfer. James McGordon, so hatte ich in Erfahrung bringen können, arbeitete bei einem Computerunternehmen in der City. Seine Wohnung diente eigentlich nur als Schlafstätte. Entweder er hatte gearbeitet oder er war ausgegangen. Urlaub und freie Tage hatte er auf Reisen verbracht. Kein Wunder, dass niemand wirklich etwas über ihn wusste.

Ich war ziemlich resigniert, als ich zu Hause ankam und den roten Mercedes in die Einfahrt stellte. Zu Hause - das war die viktorianische Villa meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing, bei der ich seit dem frühen Tod meiner Eltern lebte.

Elizabeth - oder Tante Lizzy, so wie ich sie nannte - hatte mich wie eine eigene Tochter aufgezogen. Inzwischen hatte sich unser Verhältnis etwas dahingehend gewandelt, dass sie mehr zu einer Art guten, erfahrenen Freundin geworden war, die mir mit Rat und Tat zur Seite stand. Ein Mensch, auf den ich mich in jeder Lebenslage absolut verlassen konnte.

Ich öffnete die Tür der altehrwürdigen Villa.

Tante Lizzys verschollener Mann Frederik war ein berühmter Archäologe gewesen, der von seinen zahlreichen Forschungsreisen allerhand Fundstücke mit nach Hause gebracht hatte. Diese Fundstücke standen überall in der Villa herum und bildeten zusammen mit Tante Lizzys eigener Sammlung okkulter Schriften und Gegenstände ein bizarres Sammelsurium.

Jeder Winkel von Tante Lizzys Räumen schien mit alten, staubigen Folianten, Schriftrollen unklaren Ursprungs, Pendeln, afrikanischen Voodoo-Fetischen, Geistermasken und dergleichen angefüllt zu sein.

In langen Reihen standen die Bücher in den überquellenden Regalen, hin und wieder unterbrochen von einem geheimnisvollen Stein aus dem Grab eines Königs, von dem auch die Altertumsgeschichte nicht einmal den Namen übermittelt hatte oder einer Götzenstatuette, die mit grimmiger Fratze böse Geister vertreiben sollte.

Lediglich meine eigenen Räume, die sich in der oberen Etage der Villa befanden, waren eine 'okkultfreie Zone'. Dort waren solche Dinge tabu.

Tante Lizzy interessierte sich für alle Bereiche des Okkultismus und der übersinnlichen Wahrnehmung und sammelte auf diesem Gebiet buchstäblich alles. Vom Zeitungsartikel, den sie sorgfältig archivierte, bis hin zu seltenen Exemplaren irgendwelcher Geheimschriften, die bei der Haushaltsauflösung eines Logenbruders ebenso auftauchen konnten, wie auf Trödelmärkten oder Antiquariaten. Sie besaß inzwischen eines der größten Privatarchive Englands auf diesem Gebiet.

Dabei war ihre Einstellung durchaus kritisch.

Es war ihr bewusst, dass die meisten, die sich auf diesem Gebiet tummeln, nichts als Scharlatane waren, die nichts weiter im Sinn hatten, als sich bei Leichtgläubigen zu bereichern oder sich wichtig zu machen.

Aber es blieb ein Rest.

Ein Rest von Phänomenen, die mit den Mitteln der heutigen Wissenschaft noch nicht hinreichend zu erklären waren.

Es ging also darum, die Spreu vom Weizen zu trennen. Und dieser Aufgabe hatte Tante Lizzy sich ganz verschrieben.

Ich ging durch den Flur, während mich eine der Geistermasken höhnisch angrinste. Aber das konnte mich schon lange nicht mehr erschrecken. Schließlich war ich hier zu Hause.

Ich hörte Stimmen aus der Bibliothek.

Tante Lizzy hatte offensichtlich Besuch.

Gerade wollte ich zur Treppe gehen, um in meinen Teil der Villa zu gelangen, da ging die Tür auf.

Tante Lizzy trat in Begleitung eines Mannes aus der Tür, der... Ich stockte unwillkürlich.

Das feingeschnittene Gesicht, der Oberlippenbart. die dunklen Haare. Er wandte den Kopf in meine Richtung und ich sah sofort, dass er mich ebenfalls wiedererkannte.

Seine grauen Augen musterten mich auf eine Weise, die ich nicht zu deuten wusste.

„Guten Abend Patricia“, sagte Tante Lizzy.

„Guten Abend“, sagte ich. Und Tante Lizzy stellte mich dem Dunkelhaarigen vor.

„Das ist Patricia Vanhelsing, meine Großnichte. Sie ist Reporterin bei den LONDON EXPRESS NEWS... Patricia, das ist Mr. Harold Benbow, ein Privatgelehrter für alte Sprachen und Archäologie.“

Wie ein staubtrockener Gelehrter sah er nun gar nicht aus, ging es mir durch den Kopf.

„Wir sind uns heute Morgen kurz begegnet, nicht wahr, Mr. Benbow“, sagte ich, wobei ich ihn offen ansah. „Erinnern Sie sich?“

Er lächelte.

„Wie könnte ich ein so liebenswürdiges Gesicht wie das Ihre vergessen!“

„Es war kein sehr liebenswürdiger Ort, an dem wir uns gesehen haben.“

„Nun...“

„Es war vielleicht der Tatort eines Mordes...“ Sein Gesicht wurde ernst.

Der Blick seiner grauen Augen veränderte sich leicht.

„Ich nehme an, die Polizei wird herausfinden, was sich wirklich abgespielt hat“, erklärte er.

„Abgespielt?“, mischte Tante Lizzy sich ein. „Wovon redet ihr beide?“

„Es wurde heute Morgen wieder einer jener auf geheimnisvolle Weise in einen Kokon aus Spinnweben eingewickelten Leichname gefunden...“, berichtete ich.

Harold Benbow sah kurz auf die Uhr und meinte dann: „Ich muss jetzt leider gehen.“ Er wandte sich an Tante Lizzy: „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe, Mrs. Vanhelsing. Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir damit weiterhelfen...“

„Wie gesagt“, erwiderte Tante Lizzy. „Ich möchte Ihnen Hermann von Schlichtens Absonderliche Kulte nicht im Original überlassen, aber bis morgen kann ich Ihnen eine Kopie herstellen...“ Auch wenn es sich bei den Beständen von Tante Lizzys Archiv zum Großteil um uralte Dinge ging - sie verfügte längst auch über eine moderne Büroausstattung inklusive Kopierer. Schließlich waren gerade sehr alte Exemplare seltener Schriften derart empfindlich, dass man sie für wissenschaftliches Arbeiten nur in kopierter Form verwenden konnte, wollte man sie nicht völlig zerstören.

Benbow sagte: „Selbstverständlich komme ich für die Unkosten auf!“

„Ich bitte Sie!“, erwiderte Tante Lizzy.

„Nein, nein, dass ist selbstverständlich! Ich bin ja heil froh, jemanden gefunden zu haben, der ein derart umfangreiches Archiv sein Eigen nennt... Ich muss schon sagen, Mrs. Vanhelsing: Ich bin beeindruckt!“

„Oh, danke.“

„Auf Wiedersehen!“

Harold Benbow verabschiedete sich auch von mir. Sein Handkuss war formvollendet und so unerwartet, dass ich völlig perplex war.

Unsere Blicke begegneten sich.

Er hat Charme, dachte ich. Und das eigenartig antiquierte Flair, was er ausstrahlte machte ihn noch interessanter.

Er lächelte mich an und hob die Augenbrauen.

„Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Miss Vanhelsing.“

„Ganz meinerseits“, murmelte ich wie automatisch.

Dann führte Tante Lizzy ihn zur Tür und ich sandte ihm einen nachdenklichen Blick hinterher. Die Frage, ob es wirklich Zufall war, dass ich ihn am Morgen in der Pelton Street gesehen hatte, trat in den Hintergrund.

6

Überall in diesem halbdunklen Gewölbe befanden sich Spinnweben. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder wie ich hierher gelangt war und sah mich verwundert um. Es gab nur wenig Mobiliar hier.

Neben einer kunstvoll verzierten, etwa hüfthohen Truhe stand eine Frau von seltsam entrückter Schönheit.

Sie sah kurz auf, so dass unsere Blicke sich trafen.

Die Frau hatte dunkles, kinnlanges Haar und blaue Augen.

Ihr Blick schien seltsam abwesend ins Nichts gerichtet zu sein. Sie trug ein rosafarbenes, langes Kleid und eine kostbare Perlenkette um den Hals. Ihr volllippiger Mund gab ihrem hübschen Gesicht einen traurigen Zug.

Melancholie stand ihr im Gesicht geschrieben.

Plötzlich begann ein Lächeln um ihre Lippen herum zu spielen. Ein Lächeln, dass mir nicht gefiel und ihre makellos weißen Zähne entblößte.

Der matte Glanz ihrer Augen verwandelte sich in ein teuflisches Blitzen.

„Es wird schnell gehen, Patricia“, sagte sie „Sehr schnell...“

Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Wovon sprechen Sie?“

„Von Ihrem Tod, Patricia!“

Und mit diesen Worten öffnete sie die Truhe. Das Innere befand sich im Schatten. Nichts als Schwärze war dort zu sehen.

Und eine Bewegung.

Etwas Dunkles krabbelte über den Rand der Truhe.

Eine Spinne.

Sie war nicht einmal besonders groß und wenn diese Tiere es sicher auch kaum verdient haben, so sind sie doch für die meisten Menschen der Inbegriff des Ekelhaften. Ich machte da keine Ausnahme.

Die Frau, die mir gegenüberstand, lachte leise, als sie das Erstaunen in meinen Zügen sah.

Weitere Spinnen - große und kleinere - kamen jetzt aus der Truhe herausgekrabbelt. Erst waren es nur ein Dutzend, dann kamen sie plötzlich zu Hunderten aus der Truhe heraus. Ich wich noch weiter zurück, während ein wahrer Teppich aus krabbelndem Getier auf mich zukam.

Und noch immer kamen weitere aus der Truhe heraus.

Sie waren schnell.

Schon waren die ersten mir das Hosenbein hinaufgekrabbelt und ich versuchte sie mit hektischen Handbewegungen abzustreifen.

Sie kamen jetzt von überall her.

Einige ließen sich an ihren klebrigen Fäden von der Decke herab, andere schienen zu Tausenden an den Wände hinabzukommen und sie alle hatten sich dieselbe Beute ausgesucht.

Mich.

Ich strampelte, schlug um mich, aber es waren zu viele, die von allen Seiten auf mich zuströmten, an mir emporkletterten und damit begannen, mich einzuspinnen.

Ich begriff es erst wirklich, als mein Handgelenk bereits von einer dicken Schicht aus klebrigem Gespinst umwickelt war.

„Nein!“, keuchte ich.

Eisige Schauder überliefen mich.

Todesangst hatte mich gepackt.

Ich erinnerte mich an das, was ich in der Pelton Street gesehen hatte und sah mich selbst bereits als mumifiziertes, in einen Kokon eingesponnenes Etwas, das in einen Metallsarg gelegt wurde...

Schon hatte ich Schwierigkeiten, meine Beine zu bewegen.

Etwas Elastisches schien um sie herumgewickelt worden zu sein. Ich wollte es wegschlagen, aber auch meine Arme konnte ich nicht mehr ganz frei bewegen.

„Es wird schnell gehen, Patricia!“, echoten die Worte der geheimnisvollen Frau in mir nach.

Ich spürte, dass ich mich nicht mehr lange würde wehren können... Mein gesamter Körper war von den kleinen Plagegeistern bedeckt, von denen jeder ein Stück des Kokons wob, der mein Verderben sein sollte.

Tränen der Verzweiflung traten mir aus den Augen.

Ich schrie aus Leibeskräften.

7

Ich versuchte meine Arme zu bewegen und spürte irgendeinen Widerstand. Ich schlug um mich.

„Nein!“

„Patricia!“

Ich öffnete langsam die Augen. Es war dunkel, so furchtbar dunkel...

Die ewige Dunkelheit des Todes...

Hände hielten mich an den Schultern und ich sah in ein ruhiges Augenpaar. Ich atmete tief durch und nach einigen Sekunden hatte ich mich ein wenig beruhigt.

„Patricia, du hast geträumt. Es ist alles gut.“

„Tante Lizzy“, flüsterte ich.

Ich saß in meinem Bett. Kerzengerade und mit schweißnassem Nachthemd. Tante Lizzy hatte sich auf die Bettkante gesetzt und hielt mich noch immer bei den Schultern. Das Mondlicht fiel durch das Fenster in ihr Gesicht und ließ ihre Züge weich erscheinen. Doch selbst jetzt war die Besorgnis darin recht deutlich zu lesen.

Ich wischte mir mit der Hand über das Gesicht.

„Es war so furchtbar“, sagte ich. „So furchtbar...“ Noch in der Erinnerung lief es mir kalt über den Rücken und jeder kleine Schatten auf meiner Bettdecke ließ mich bis ins Mark zusammenzucken.

Tante Lizzy nahm mich in den Arm.

„Mein Kind“ sagte sie und strich mir das Haar zurück. Sie hielt mich einfach fest, so wie sie es früher getan hatte, als ich noch klein gewesen war...

„Oh, Tante Lizzy....“

Und dann schwiegen wir einige Augenblicke lang. Ich war froh, dass sie da war, froh, dass ich in diesem Moment nicht allein war.

Ich presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen.

„Was hast du geträumt?“, fragte Tante Lizzy.

„Du meinst, dass es einer jener Träume ist, nicht wahr?“, erwiderte ich.

Sie hob die Augenbrauen.

„Du etwa nicht?“

„Doch.“

Ich hatte von meiner verstorbenen Mutter eine leichte übersinnliche Gabe geerbt, die sich in besonderen Träumen oder tagtraumartigen Visionen zeigte. Manchmal waren es auch nur unbestimmte Ahnungen. Ich konnte auf diese Weise kurze, schlaglichtartige Blicke auf die Zukunft, die Vergangenheit oder Geschehnisse an weit entfernten Orten erlangen. Als zwölfjährige hatte ich den Tod meiner Eltern vorhergesehen.

Damals hatte ich natürlich noch nicht gewusst, was mit mir geschah. Lange Zeit hatte ich mich dagegen gewehrt, zu akzeptieren, dass ich diese „Gabe“ besaß, wie Tante Lizzy es nannte. Tante Lizzy hatte mich immer wieder darauf hingewiesen, dass ich lernen müsse, damit umzugehen, anstatt die Augen davor zu verschließen.

Kontrollieren konnte ich die Gabe nach wie vor nur unzureichend und oft kam sie mir nicht zuletzt deswegen auch manchmal eher wie ein Fluch vor.

Es war furchtbar ein Bild aus der Zukunft zu bekommen und nicht zu wissen, wie man ein drohendes Verhängnis eventuell noch abwenden konnte...

Ich erzählte Tante Lizzy in knappen Worten von meinem Traum. Sie hörte mir geduldig zu und nickte. „Es war so realistisch, Tante Lizzy! Ich hatte nicht das Gefühl zu träumen, sondern wirklich von Spinnen in einen Kokon eingewoben zu werden...“

„So wie die Toten dieser seltsamen Serie von Leichenfunden...“

„Ja, genau“, nickte ich.

Dann stand ich auf, raufte mir Haare nach hinten und machte das Licht an. Tante Lizzy hatte sich ebenfalls erhoben und sah mich mit einem besorgten Gesichtsausdruck an.

„Du solltest diesen Traum ernst nehmen, Patricia!“ Ich zuckte die Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Vielleicht bin ich einfach nur etwas überreizt“, meinte ich dann. „Es war ein harter Tag heute und der Tote in der Pelton Street...“ Ich schluckte, bevor sich weitersprach.

„Das hat mich schon ziemlich mitgenommen.“

Ich wusste, dass ich Unsinn redete.

Es war ein Traum, der mit meiner Gabe zu tun hatte. Tief in meinem Inneren wusste ich das auch, aber irgendwie weigerte sich ein Teil von mir, das zu akzeptieren. Ich sah Tante Lizzy etwas verzweifelt an.

„Was soll ich tun?“, fragte ich.

Sie kam auf mich zu und berührte mich leicht an der Schulter.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht wird deine Gabe dir noch mehr Hinweise geben.“

„Die Vorstellung ist grauenhaft, von diesen kleinen achtbeinigen Tieren...“ Ich sprach nicht weiter.

Schlaglichtartig erschienen wieder die Traumbilder vor meinem geistigen Auge. Ich schüttelte mich kurz, in der Hoffnung, sie loszuwerden.

„Gib auf dich acht, Patricia!“

Ich atmete tief durch.

Und dann nickte ich leicht.

„Es ist nicht leicht“, murmelte ich dann.

„Ich weiß.“

„Man spürt ein kommendes Verhängnis und weiß, dass etwas Schreckliches auf einen zukommt, aber man weiß nicht wann und wo...“

„Patricia...“

Ich sah sie an. „Ich denke oft, dass es besser ist, gar nichts über die Zukunft zu wissen!“

8

Am nächsten Morgen fühlt ich mich ziemlich zerschlagen. Ich hatte das Gefühl, so gut wie überhaupt nicht geschlafen zu haben. Der starke schwarze Kaffee von Tante Lizzy sorgte dafür, dass ich wenigstens einigermaßen die Augen offenhalten konnte.

Aber es war da noch etwas anderes.

Etwas, das mit einer Müdigkeit des Körpers nichts zu tun hatte.

Es hing mit dem Traum zusammen. Ich fühlte mich gelähmt.

Immer wieder drohten die furchtbaren Szenen meines Traumes vor meinem inneren Auge zu erscheinen.

Ich fühlte Tante Lizzys Hand auf der meinen und blickte auf.

„Wenn man dich da so sitzen sieht, mein Kind...“

„Ich fühle mich nicht besonders gut...“

„Patricia!“

„Ich frage mich, was diese mumifizierten Toten mit meinem Schicksal zu tun haben?“

„Du wirst es sicher herausfinden.“

„Wenn es dann nicht zu spät ist.“

„Patricia! Die Dinge, die du in deinen Träumen siehst müssen nicht unbedingt genau so geschehen, wie sie dir im Traum vor Augen standen... Es besteht nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass diese Ereignisse auch eintreten!“

Ich wusste, woher sie das hatte. Seit Tante Lizzy vermutete, dass ich über eine seherische Gabe verfügte, hatte sie buchstäblich jede Zeile an Fachliteratur verschlungen, die es zu diesem Thema gab.

Allerdings war das zumeist alles weit weniger wissenschaftlich abgesichert, als auf anderen Gebieten, was kein Wunder war. Schließlich beschäftigten sich kaum Wissenschaftler damit - und schon gar nicht diejenigen, die auf ihren guten Ruf bedacht waren.

Ich trank meinen Kaffee leer.

„Du musst auch was essen, Patricia!“

„Ich bringe keinen Bissen herunter!

„Patricia! Dann iss um der Vernunft willen! Du kannst einen stressigen Tag in der Redaktion nicht mit nüchternem Magen überstehen!“

Da hatte sie natürlich recht.

Also drückte ich ein paar Bissen hinunter.

Etwas unvermittelt fragte ich sie dann: „Was weißt du über diesen Harold Benbow?“

„Der Gentleman, der gestern hier war?“

„Ja.“

„Nicht viel. Ein Privatgelehrter - was immer das auch bedeuten mag, der sich für von Schlichtens Absonderliche Kulte interessierte, das Werk eines deutschen Okkultisten, der jedoch nur in mittelalterlichem Latein zu schreiben pflegte, damit seine Schriften nicht so leicht von Unbefugten gelesen werden. Er gehörte nämlich einer Geheimloge an.“ Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: „Dieser Benbow ist ein sehr höflicher Mensch...“

„Ja, den Eindruck hatte ich auch.“

„Irgendwoher kommt mir der Name auch bekannt vor!“ Tante Lizzy runzelte die Stirn und zuckte dann die Achseln. „Vermutlich irgend eine zufällige Namensgleichheit. Schließlich dürfte es allein in London einige Träger dieses Namens geben.“

„Vermutlich.“

„Wie kommst du jetzt auf ihn?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte ich. Mein Blick ging ins Leere. „Es hängt mit dem Traum zusammen...“

„Aber, Mr. Benbow kam doch nicht darin vor?“

„Nein, das nicht, aber...“ Ich stockte und sprach nicht weiter. Wieder sah ich ihn vor meinem inneren Auge. Sein Gesicht, sein dunkles Haar, die feingeschnittenen Züge und den ruhigen Blick seiner grauen Augen...

Er hatte mich fasziniert, das stand außer Frage.

Aber das lag nicht nur daran, dass er ein sehr attraktiver Mann war, der darüber hinaus noch über gute Manieren zu verfügen schien. Nein, da war auch noch etwas anderes.

Etwas, das ich noch nicht so recht einzuordnen wusste...

Etwas Beunruhigendes, Dunkles.

Ein Geheimnis.

„Mir geht nicht aus dem Kopf, wie er da in der Pelton Street stand, während Scotland Yard alles absuchte...“ Ich strich mir das Haar zurück und rieb mir die Augen. „Ja, ich weiß, es ist völlig absurd. Wahrscheinlich war er einfach neugierig und stehengeblieben, aber es erscheint mir doch als ein eigenartiger Zufall. Und außerdem muss ich an diese Szene immer im Zusammenhang mit meinem Traum denken...“

„Pelton Street?“, fragte Tante Lizzy zurück. „Es ist überhaupt kein Wunder, dass du ihn dort getroffen hast.“

„Ach, nein?“

Sie stand auf, ging in die Bibliothek und kam einen Augenblick später mit einer kleinen Visitenkarte zurück.

Harold Benbows Visitenkarte.

Ja, so etwas passt zu ihm, dachte ich.

Tante Lizzy legte sie so vor mir auf den Tisch, dass ich sie lesen konnte.

„Mr. Benbow wohnt in der Carlton Street, das ist ganz in der Nähe. Ich weiß das, weil ich dort früher Bekannte hatte. Es gibt schöne Villen dort...“

„Ah, ich verstehe.“

„Solltest du vorhaben, ihm einen Besuch abzustatten, dann nimm doch bitte die Kopie der Absonderlichen Kulte mit... Ich habe sie gestern Abend noch fertiggemacht!“

9

„Ich möchte Fakten!“, schimpfte Michael T. Swann und fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht. „Menschen sind getötet und auf seltsame Weise mumifiziert worden - und niemand weiß auch nur im Ansatz, was sich abgespielt hat!“ Wir saßen im Büro unseres Chefredakteurs - Jim und ich.

Nach einem kurzen Blick, den wir miteinander getauscht hatten, stand unsere Strategie fest.

Schweigen.

Am besten man wartete einfach ab, bis Swann irgendwann wieder bessere Laune hatte und ihm sein eigenes Gepolter am Ende leid tat.

Unsere Story war auf Seite eins der heutigen LONDON EXPRESS NEWS Ausgabe gekommen. Aber sie war dünn, das wusste ich selbst am besten.

„Sie sind doch gute Journalisten!“, sagte Swann dann.

Schön, dass Sie das mal sagen, ging es mir dabei sarkastisch durch den Kopf, doch hütete ich mich davor, dass auch über meine Lippen gehen zu lassen.

Swann ließ sich auf seinen Drehsessel fallen, dessen Hydraulik daraufhin erheblich in die Knie ging. „Versuchen Sie, etwas herausfinden. Diese Todesfälle müssen doch eine Ursache haben! Und Sie sind doch Spezialistin für das Ungewöhnliche...“

„Scotland Yard tappt auch noch völlig im Dunkeln“, erklärte ich schließlich in eine unangenehme Pause hinein. „Inspektor Barnes glaubt an einen Psychopathen, der seine Opfer entsprechend präpariert...“

Swann lachte kurz und heiser auf.

„Ja, das sieht diesem Barnes ähnlich!“ Er schüttelte den Kopf und sah mich dann einen Moment lang nachdenklich an.

„Bleiben Sie an der Sache dran, Patricia! Durchleuchten Sie das Leben der Opfer! Fragen Sie in der Nachbarschaft der Tatorte, lesen Sie Bücher über Spinnen!“ Dann stoppte er unwillkürlich im Redefluss.

Er stand auf und ging zu der Kaffeemaschine, die er auf einem stählernen Büroschrank voller Hängemappen stehen hatte. Daneben befand sich eine Packung mit Pappbechern.

„Jim? Patricia? Möchten Sie beide einen Kaffee?“

„Gerne“, sagte ich.

Ich wusste, dass das seine persönliche Art und Weise war, einzugestehen, dass er zu schnell zu viel von uns erwartet hatte. Eine Entschuldigung, wenn man so wollte.

10

„Was machen wir eigentlich hier?“, fragte Jim, als wir von der Pelton Street in die Carlton Street einbogen, an der sich eine schöne Villa an die nächste reihte.

„Wir recherchieren“, sagte ich. „Wir befragen Leute, ob sie etwas gesehen haben oder etwas wissen...“

„Das haben wir doch gestern schon gemacht - und es hat zu nichts geführt.“

„Ich weiß.“

Jim lachte heiser.

„Swann hatte ja wirklich eine schlechte Laune heute!“

„Am besten man nimmt das hin wie den Londoner Regen“, erwiderte ich.

Er nickte. „Da ist was dran.“

Ich parkte den Wagen am Straßenrand. Vom Rücksitz nahm ich den Umschlag, in dem sich Tante Lizzys Kopie der Absonderlichen Kulte befand - meine Eintrittsbillett in das Haus dieses Harold Benbow, von dem ich das Gefühl hatte, dass er in irgend einem Zusammenhang mit dem Traum stand, den ich gehabt hatte. Aber schließlich konnte ich ja mein Auftauchen vor seiner Haustür nicht einfach mit einer vagen Ahnung und meiner seherischen Gabe begründen.

„Warum ausgerechnet dieses Haus?“, fragte Jim, als wir vor Benbows Villa standen.

Ich sah ihn an.

„Erstens wurde das erste Opfer dieser Todesserie hier in der Carlton Street aufgefunden...“

„Und zweitens?“

„Kenne ich Mr. Benbow. Das wird ihn vielleicht etwas auskunftsfreudiger machen.“

„Ich hoffe, du behältst recht.“

Als ich das niedrige Gartentor öffnen wollte, bemerkte ich etwas an meiner Hand.

Ohne, dass es zu hören gewesen wäre, zerriss etwas und ich zuckte unwillkürlich zurück.

„Was ist?“, hörte ich Jim fragen.

„Spinnweben“, flüsterte ich.

Er grinste.

„Die Sache scheint dich ziemlich mitzunehmen, was?“ Ich sah ihn ärgerlich an, verkniff mir aber eine Bemerkung.

Vielleicht hatte er sogar recht und ich begann langsam hysterisch zu werden.

Wir passierten das niedrige Gartentor und gingen zur Haustür.

Der Garten schien sehr weitläufig zu sein, war allerdings nicht besonders gepflegt. Das Gras stand höher, als das in England üblich war.

Alte, verwachsene Bäume standen dort. Manche von ihnen waren kaum mehr als morsche Stümpfe, in denen kein Leben mehr war. Spinnweben zitterten zwischen den Ästen. Mitunter spannten sie sich über mehrere Meter weit. Feine Fäden, die im Licht glitzerten und dem Wind standhielten.

Auch an den Verzierungen der gusseisernen Laternen, die in regelmäßigen Abständen den gepflasterten Weg vom Gartentor zur Haustür säumten waren graue Gespinste.

Und hin und wieder konnte man eine der achtbeinigen Jägerinnen dabei beobachten, wie sie geduldig wartete oder an ihrem kunstvollen Spinnennetz wob.

„Scheint hier eine Spinnenplage zu geben!“ meinte Jim leicht angewidert, als ihm eines der Tiere blitzschnell vor den Füßen über das Pflaster huschte, um dann im hohen Rasen zu verschwinden.

Auch an den grauen Steinwänden der Villa rankten sich Gespinste empor. Hin und wieder hingen kleine Kokons darin fest, in dem sich eingesponnene Beute befand. Und immer wieder kletterten einige dieser Achtbeiner die Wände empor, versteckten sich in den Fugen oder ließen sich von der Dachrinne an ihren hauchdünnen Fäden hinunter.

Es gab keine Klingel an der Tür.

Lediglich einen gusseisernen Ring, den ein grimmiger Löwe aus demselben Material in seinem Maul hielt. Alter, kolonialer Stil...

Ich zögerte, den Ring zu ergreifen, denn auch an ihm befanden sich Spinnweben.

Jim bemerkte das und lächelte nachsichtig. Mit einer schnellen Handbewegung hatte er das graue Gespinst entfernt und klopfte dann mit dem Ring ziemlich heftig gegen die dunkle Holztür.

Nachdem wir einige Augenblicke gewartet hatten und Jim ein zweites Mal geklopft hatte, öffnete uns schließlich eine junge Frau mit einer weißen Schürze und einem Putzlappen in der Hand.

„Guten Tag, Sie wünschen?“, fragte die junge Frau.

„Sind Sie Mrs. Benbow?“, fragte ich.

„Nein, ich bin nur das Hausmädchen.“

„Könnte ich Mr. Benbow sprechen?“

„Nun, er möchte nicht gestört werden und...“

„Sagen Sie ihm, Patricia Vanhelsing sei hier, um ihm eine Kopie der Absonderlichen Kulte von Hermann von Schlichten vorbeizubringen...“

Das Hausmädchen sah uns nacheinander prüfend an.

Dann sah sie die Spinnweben, die sich am Postkasten empor rankten. Ihr Gesicht veränderte sich. In ihren Augen blitzte es ärgerlich. Mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung ließ sie den Putzlappen über den Postkasten fahren und entfernte das Gespinst. Der Ausdruck des Ekels stand ihr im Gesicht geschrieben.

„Sie haben hier viele Spinnen“, stellte ich fest.

„Ja, in diesem Jahr scheint es besonders schlimm zu sein! Eine richtige Plage! Ich weiß auch nicht woran das liegt! Jedenfalls nicht daran, dass ich zu nachlässig wäre! Was glauben Sie, wie oft ich das wegmache!“ Dann atmete sie tief durch. Ihr Lächeln wirkte ein wenig gezwungen. Mit einer nach hinten gerichteten Handbewegung strich sie sich eine Strähne aus dem Haar, die sich aus ihrer Frisur herausgestohlen hatte.

Dann sagte sie: „Warten Sie hier!“

Wir sahen ihr nach, als sie davonging und hinter einer Tür verschwand.

„Man scheint hier nicht besonders begeistert von unserem Besuch zu sein“, meinte Jim. „Und was ist das eigentlich für ein Buch - Absonderliche Kulte. Mein Gott, das klingt ja furchtbar...“

„Ich habe es nicht gelesen, weil ich kein mittelalterliches Latein beherrsche!“

Jim lachte.

„Aber dieser Benbow - der beherrscht diese Sprache?“

„Ich nehme es an.“

„Alle Achtung.“ Und nach einer kurzen Pause raunte er mir dann zu: „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wozu das Ganze führen soll. Diese Leute werden uns genauso wenig weiterbringen, wie all die anderen, die wir befragt haben. Niemand weiß etwas.“

Ich sah ihn an.

„Sollen wir etwa aufgeben? Irgend jemand - oder irgend etwas - schleicht des Nachts durch diese Gegend und tötet...“

In diesem Moment kehrte das Hausmädchen zurück.

„Mr. Benbow ist bereit, Sie zu empfangen“, erklärte sie. „Wenn Sie mir bitte folgen würden!“

11

Wir wurden in einen weitläufigen Salon geführt, dessen Einrichtung aus kostbaren Antiquitäten im viktorianischen Stil bestand.

Harold Benbow war wie schon bei unserem ersten Zusammentreffen, sehr korrekt gekleidet. Alles saß wie angegossen. Er trug einen dreiteiligen Anzug, allerdings auf eine Art und Weise, die zeigte, dass er daran gewöhnt war.

Nicht wie eine Verkleidung zu besonderen Anlässen. Er kam auf uns zu und begrüßte uns nacheinander.

Dann sagte er: „Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Miss Vanhelsing!“

„Ich habe Ihnen die Kopie der Absonderlichen Kulte mitgebracht!“

Er nahm sie entgegen, lächelte und bedankte sich. Dann führte er uns zu einem sehr zart und zerbrechlich aussehenden Tisch, der reich verziert war.

„Bitte nehmen Sie Platz“, meinte er und deutete auf die um den Tisch herumgruppierten Sessel. „Möchten Sie etwas trinken?“

„Nein, danke“, sagte ich.

Er zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen.“ Ich ließ den Blick über die massiven Schränke schweifen.

Auch hier bemerkte ich hin und wieder Spinnweben...

„Mr. Benbow, ich bin nicht nur hier, um Ihnen die Kopie zu bringen...“ begann ich, nachdem wir uns gesetzt hatten.

„Immer heraus damit! Worum geht es?“

„Sie werden sicher von dieser Serie eigenartiger Todesfälle gehört haben, nicht wahr? Schließlich trafen wir uns zum ersten Mal an jener Stelle, an der die Leiche eines James McGordon kurz zuvor aufgefunden worden war...“ Benbows Gesicht veränderte sich.

Es verlor ein wenig die charmante Lockerheit, die es zuvor ausgestrahlt hatte. Er wirkte jetzt etwas angespannt. Seine grauen Augen musterten mich auf eine Weise, die mich verwirrte.

„Selbstverständlich habe ich davon gehört!“

„Wissen Sie irgend etwas darüber? Haben Sie eine Vermutung?“

Er hob die Schultern. „Ich bedaure“, sagte er. „Ich weiß vermutlich noch weniger als Sie, denn wie ich annehme, haben Sie als gute Journalistin die offiziellen Informationsquellen wie Polizei und dergleichen längst ausgeschöpft.“

„Ja.“

„Es tut mir sehr leid, Ihnen in dieser Sache gar nicht weiterhelfen zu können, Miss Vanhelsing.“

„Es muss Sie doch beunruhigen!“ meinte ich. „Schließlich sind sämtliche Opfer hier in der Gegend gefunden worden - in einem Umkreis, der sich zu Fuß ablaufen lässt!“

„Selbstverständlich beunruhigt uns das, aber...“

„Uns?“, echote ich.

Er blickte auf. In seinem Gesicht schien ein Muskel leicht zu zucken. „Ja“, erklärte er dann. „Außer mir lebt noch meine Schwester Morgaine in diesem Haus.“

„Ich verstehe.“

„Allerdings leben wir noch nicht sehr lange hier. Kaum ein halbes Jahr. Und um ehrlich zu sein, wir haben kaum Kontakt zu den Leuten der Umgebung. Vermutlich kann man Ihnen dort eher helfen...“

„Sie sind nicht die ersten, mit denen wir sprechen“, erklärte ich. „Aber niemand hat etwas bemerkt, was uns weiterhelfen könnte.“

Benbow sah mich an. Sein Blick jagte mir einen Schauer über den Rücken - einen angenehmen Schauer. Dieser Mann hatte Ausstrahlung. Seine Augen wirkten ruhig und intelligent.

Und geheimnisvoll.

Ich registrierte beunruhigt, dass ich mich von ihm angezogen fühlte.

„Sie scheinen sich diesen Fall sehr zu Herzen zu nehmen, Miss Vanhelsing“, sagte er dann mit einer samtweichen, tiefen Stimme, deren Klang dafür sorgte, dass sich mir die kleinen Nackenhärchen aufrichteten.

„Es ist mein Job“, erwiderte ich schwach.

Er lächelte .

„Ach wirklich? Nein, Sie tun mehr. Wenn Sie nur Ihren Job machen würden, dann bräuchten Sie nur abzuwarten, bis die Polizei etwas herausgefunden hat - vorausgesetzt sie haben einen einigermaßen guten Draht zu Scotland Yard.“

„Ich fürchte, der Inspektor, der den Fall bearbeitet, mag mich nicht besonders!“

„Ach! Unvorstellbar! Eine so reizende junge Frau wie Sie...“

Ich schluckte und erwiderte dann: „Das sagen Sie nur, weil Sie mich nicht richtig kennen, Mr. Benbow!“

„Nun - ließe sich das nicht ändern?“

„Wer weiß?“

Meine Stimme war nur ein Hauch.

Ich wollte ihn näher kennenlernen, das war die eine Seite der Medaille. Die andere...

Ich konnte sie nicht erklären. Es schien auf geheimnisvolle Weise mit diesem Haus zusammenzuhängen, mit der Aura, die es umgab...

„Ihr Haus scheint auf Spinnen eine geradezu magische Anziehungskraft auszuüben, Mr. Benbow!“ Das war Jim. Sein Blick war auf eine Lampe an der Decke gerichtet, von der sich gerade eines jener achtbeinigen Geschöpfe hinab in die Tiefe seilte.

„Es ist eine Plage in diesem Jahr!“, erklärte Benbow kühl.

„Jedenfalls sagen das die Nachbarn. Wir können das nicht beurteilen...“

Die Spinne kroch über den Fußboden und kletterte einen Augenblick später an Jims Hosenbein empor. Als sie seinen Oberschenkel erreicht hatte, bemerkte er sie und schlug mit der Hand nach ihr.

„Hören Sie auf! Sofort!“

Es war eine etwas schrill klingende Frauenstimme, die uns alle herumfahren ließ.

„Morgaine!“, entfuhr es Harold Benbow unwillkürlich. Er erhob sich.

Ich sah eine junge Frau im Türrahmen stehen. Ihr Gesicht war etwas blass und vom Ausdruck blanken Entsetzens gezeichnet. Das Haar dunkel, die Augen blau. Ihr Kleid reichte bis zu den Knöcheln.

Ich starrte diese junge Frau nur an und fühlte, wie meine Unterarme von einer Gänsehaut überzogen wurden. Das Herz schlug mir bis zum Hals und ein Gefühl von Enge und aufkeimender Verzweiflung hatte mich erfasst.

Morgaine war niemand anderes, als jene junge Frau, die ich Traum gesehen hatte!

12

Morgaine kam mit schnellen Schritten auf uns. Sie raffte dabei ihr raschelndes Kleid etwas zusammen. Dann blieb sie stehen und funkelte Jim mit ihren blauen Augen giftig an.

Die Spinne, die Jims Schlag entgangen war, krabbelte direkt auf sie zu.

Morgaine bückte sich, ehe das Tier den Saum ihres Kleides erreichte und ließ es auf ihre Hand krabbeln. Dann erhob sie sich wieder.

Der Blick, den sie Jim zuwarf, war vernichtend.

„Wie konnten sie so etwas nur tun?“, fauchte sie.

Jim war ziemlich fassungslos.

Er hatte nicht im Traum mit einer derartigen Reaktion gerechnet.

„Ich...“

„Sie Unmensch!“

Jetzt mischte Harold Benbow sich ein, dem die ganze Szene ganz offensichtlich sehr unangenehm war. „Morgaine!“, rief er beschwörend.

Aber seine Schwester ließ sich nicht besänftigen. Sie atmete heftig und schien einem hysterischen Anfall ziemlich nahe zu sein.

Sie wandte den Kopf in Richtung ihres Bruders.

„Harold, wie kannst du so eine grobe Person überhaupt in unser Haus lassen und hier als unseren Gast weilen lassen!“

„Morgaine!“

Harold ging auf sie zu, wollte sie am Arm fassen, doch sie entzog sich ihm mit einer ruckartigen Bewegung.

Morgaine trat auf Jim zu. Ihre Augen funkelten noch in einer Weise, die einen erschauern lassen konnte. Wahnsinn leuchtete aus ihnen, gepaart mit großer Traurigkeit und Melancholie.

Aber im Moment überwog das Wilde, Unwirsche in ihr. Sie erinnerte mich in diesem Moment an eine Wildkatze, die man in die Enge getrieben hatte. Eine Katze, die ihr Junges verteidigte. Mit ihren Händen hatte sie eine Art Schale gebildet, in der die Spinne jetzt kauerte.

Sie hielt sie Jim entgegen.

„Was sehen Sie?“, flüsterte sie. Ihre Stimme hatte einen drohenden Unterton.

„Nun, ich... Entschuldigen Sie, wenn ich...“ Jim stotterte irgend etwas herum.

Morgaine unterbrach ihn.

„Dies ist ein lebendes Wesen, Sir!“

„Ja, natürlich!“

„Ein Wesen, in dem ein göttlicher Funke wohnt! Und sie hätten es um ein Haar getötet!“

Die beiden wechselten einen Blick miteinander. Jim hatte sich wieder gefasst. Er hielt ihrem Blick stand und erwiderte dann ruhig: „Glauben Sie, dieses Tier wäre mir gegenüber nachsichtiger gewesen, wenn ich, sagen wir nur wenige Millimeter groß wäre?“

Morgaine Benbows Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Hasses.

„Gewiss nicht“, flüsterte sie zischend. Sie atmete tief durch und fügte dann hinzu: „Seien Sie vorsichtig, wenn Sie das nächste Mal einem dieser wunderbaren Geschöpfe begegnen... Seien Sie auf der Hut...“

Jim schluckte.

Er wechselte einen etwas ratlosen Blick mit mir.

Harold hatte seine Schwester indessen bei den Schultern gepackt. „Morgaine, es ist jetzt genug! Dies sind Gäste!“ Sie drehte ruckartig den Kopf zu ihrem Bruder herum und sah ihn mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte.

Die Melancholie schien jetzt Oberhand über ihre Wut zu bekommen. Ihre Haltung erschlaffte. Ein Seufzen war zu hören.

„Oh, Harold“, flüsterte sie.

„Komm, Morgaine... Ich bringe dich in dein Zimmer.“

„Ja, Harold.“

„Soll das Hausmädchen dir etwas zu essen machen?“

„Nein.“

„Du hast heute noch nichts zu dir genommen.“

„Ich bin nicht hungrig, Harold.“

Er nahm sie in den Arm. Sie legte den Kopf an seine Schulter und ihre Mundwinkel entspannten sich dabei. Für einen kurzen Moment schien so etwas ähnliches wie der Ausdruck von Frieden in ihrem Gesicht zu stehen.

Und dann führte Harold sie zur Tür. Er hatte dabei immer noch einen Arm um sie gelegt. Sie schluchzte leise.

„Es wird alles gut, Morgaine“, sagte Harold. Seine tiefe Stimme klang beruhigend.

„Wirklich?“

„Ja.“

„Harold, ich...“ Ihre Stimme war tränenerstickt. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber es kam nichts mehr über ihre Lippen.

Dann gingen sie hinaus und Harold schloss die Tür hinter sich.

„Eine eigenartige Dame“, meinte Jim. „Scheint leicht hysterisch zu sein!“

„Zumindest hat sie ein besonderes Verhältnis zu Spinnen“, stellte ich fest.

„Ich glaube eher, sie hat einfach nur eine Schraube locker!“ So war Jim nun mal. Direkt und unkompliziert. Er sagte geradeheraus seine Meinung und wirkte dadurch oft etwas unkonventionell. Aber das machte ihn sympathisch.

Jim erhob sich.

„Ich glaube, wir gehen jetzt“, meinte er.

Ich erhob mich ebenfalls und ging zu einem der hohen Fenster, durch die man in den Garten blicken konnte. Auf dem Fensterbrett sah ich zwei winzige Spinnen blitzschnell in ein paar Ritzen verschwinden.

Morgaine, dachte ich. Sie war die Frau aus meinem Traum und ich hatte das Gefühl, dass sie auch in irgend einem Zusammenhang mit den eingesponnenen Toten stand. Es war eine vage Ahnung, gegründet auf einen Alptraum. Nichts, womit ich Jim oder gar Michael T. Swann überzeugen konnte. Nichts, was einen wirklichen Verdacht begründete...

Im nächsten Moment ging die Tür auf.

Es war Harold Benbow.

Er wandte sich an mich.

„Es tut mir wirklich leid, aber ich muss mich im Moment etwas um meine Schwester kümmern.“

„Natürlich“, nickte ich.

Harold zögerte etwas, bevor er weitersprach.

Dann fuhr er schließlich nach einer kurzen Pause fort: „Sie werden bemerkt haben, dass Morgaine eine Frau ist, die sich - gelinde gesagt - nicht im seelischen Gleichgewicht befindet.“

„Das kann man wohl sagen!“, meinte Jim.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung für diesen Vorfall...“

„Schon vergessen“, erwiderte Jim.

Harold wandte sich an mich und nahm meine Hand. „Es wäre mir ein Vergnügen, die Unterhaltung irgendwann fortsetzen zu können.“

„Gerne“, sagte ich.

„Dann vielleicht unter günstigeren Umständen.“

„Bestimmt.“

„Grüßen Sie Mrs. Vanhelsing von mir und sagen Sie Ihr vielen Dank für die Mühe, die sie mit den Kopien hatte.“

„Das werde ich!“, versprach ich,

13

Am Nachmittag statteten wir Inspektor Barnes in seinem Büro bei Scotland Yard noch einen Besuch ab.

Er verdrehte die Augen, als er mich sah. Ohne darauf zu warten, dass er uns einen Platz anbot, setzten wir uns.

„Nun, womit kann ich Ihnen helfen, Miss Vanhelsing?“, fragte Barnes, während er sich hinter dem Schreibtisch erhob. Er hatte sein Jackett ausgezogen und die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Seine Freundlichkeit war nur gespielt. Sein Lächeln hatte etwas Raubtierhaftes.

Ich hob die Augenbrauen und sah ihn an.

„Nun, ich denke, es müsste inzwischen einen Bericht der Gerichtsmedizin geben.“

„Richtig“, sagte er kühl.

Ich beugte mich etwas vor.

„Seien Sie nett und lassen Sie uns einen Blick hineinwerfen!“

Er beugte sich ebenfalls vor. In seinen Augen blitzte es angriffslustig.

„Wozu? Denken Sie sich Ihre Zeitungsgeschichten nicht sowieso am liebsten selbst aus? Ich verstehe ohnehin nicht, weswegen Sie sich noch die Mühe machen, mein Büro aufzusuchen. Sie schreiben ja doch, was Ihnen passt!“

„Und bei allem was Ihnen nicht passt, tun Sie so, als würde es nicht existieren!“

Er atmete tief durch.

„Sagen Sie bloß, Sie haben schon irgend etwas herausgefunden! Ich meine, bei den Tönen, die Sie hier spucken, Miss Vanhelsing!“

„Nein, leider nicht!“

„Ach!“

Ich blieb ruhig. Barnes' aggressive Art konnte mich im Moment nicht wirklich innerlich erreichen, obwohl er mich ansonsten damit auf die Palme bringen konnte. Vielleicht lag es einfach daran, dass ich das Gefühl hatte, dass es im Moment einfach wichtigeres gab. Ich dachte an meinen Traum.

Und an Morgaine Benbow...

Mir schauderte unwillkürlich dabei.

„Hören Sie, Inspektor Barnes, ich tappe genauso im Dunkeln wie Sie. Es scheint für diese Todesfälle keinerlei plausible Erklärung zu geben...“

„Dass ich es noch mal erleben darf, dass Sie zugeben, keine Ahnung zu haben...“

„Inspektor!“

„...wo es Ihnen doch sonst immer so gefällt, die Neunmalkluge zu spielen. Nein, Sie sind nicht nur Journalistin! Ich wette, Sie haben noch ein kriminalistisches Studium hinter sich! Ich wäre nicht einmal überrascht, wenn Sie mir gleich auch noch die fachliche Kompetenz des Gerichtsmediziners anzweifeln.“

Ich atmete tief durch.

Und schwieg.

Barnes' Laune schien wirklich selbst für seine Verhältnisse sehr schlecht zu sein und irgendwie konnte ich ihn sogar verstehen. Vermutlich saß ihm sein Vorgesetzter im Nacken und verlangte Erfolge. Und bei einem Fall wie diesem war das nicht so einfach.

Vielleicht sogar unmöglich, wenn man ausschließlich auf herkömmliche Methoden vertraute.

„Sind Sie jetzt fertig?“, fragte ich dann nach einer längeren Pause.

Er warf mir eine Mappe hin. Ich nahm sie, blätterte darin herum.

„Dass ist der gerichtsmedizinische Bericht“, erklärte Barnes, stand dabei auf und ging zum Fenster. Er blickte hinaus und strich sich das Haar nach hinten und gähnte.

„Es steht nichts darin, was uns irgendwie weiterbringen könnte“, meinte er. „Die Todesursache ist nicht zu ermitteln.

Plötzlicher Stillstand sämtlicher lebenswichtiger Funktionen oder so ähnlich könnte man das nennen. Keine Wunde, kein Gift, jedenfalls keines, dass wir kennen würden. Es ist wie bei den vorhergehenden Opfern auch: Die inneren Organe sind in einem Zustand, wie bei einem erheblich älteren Menschen.“

„Als ob McGordon ungewöhnlich schnell gealtert wäre“, murmelte ich.

Er nickte. „Ja.“

„Und der Kokon?“

„Zweifellos Spinnweben. Das steht fest.“

„Na, das ist doch wenigstens etwas.“

„Finden Sie?“ Sein Tonfall war ironisch.

Ich ging nicht darauf ein.

„Glauben Sie noch immer, dass es ein Psychopath war?“

„Ich glaube gar nichts, Miss Vanhelsing. Ich weiß nur, dass das der rätselhafteste Fall ist, mit dem wir es je zu tun hatten.“

Ich nickte.

Dann sagte ich einen Augenblick später: „Ich freue mich.“ Er runzelte die Stirn.

„Worüber?“

„Dass Sie zweimal 'wir' gesagt haben, Inspektor Barnes. Vielleicht nähert sich die Eiszeit zwischen uns ja dem Ende.“ Er sah mich an. Sein Blick wirkte nachdenklich. Einen Augenblick lang glaubte ich in seinen grimmigen Zügen sogar so etwas wie die Ahnung eines Lächelns zu entdecken.

Dann meinte er „Wer sagt Ihnen, dass ich mit 'wir' Sie und mich meinte?“

„Ich vermute immer das Beste für Sie, Inspektor!“, erwiderte ich.

Er wirkte etwas perplex und ich gab ihm den medizinischen Bericht zurück.

„Wenn Sie etwas wissen, dann teilen Sie es mir doch bitte mit“, meinte Barnes dann noch, bevor Jim und ich zur Tür hinausgingen.

Ich nickte.

„Versprochen“, sagte ich.

Barnes musste sehr verzweifelt sein. Anders war diese Bitte nicht zu werten.

14

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als ich die Redaktion der LONDON EXPRESS NEWSS in der Lupus Street verließ. Ich hatte noch einige Routine-Arbeiten hinter mich zu bringen und einen Zweihundert-Zeilen-Artikel auf die Hälfte kürzen müssen, da in letzter Sekunde noch eine Meldung über ein Erdbeben in Nordindien mit ins Blatt musste. „Katastrophen passieren immer kurz vor Redaktionsschluss!“, war Michael T. Swanns Kommentar dazu.

Jedenfalls befanden sich nicht mehr viele Wagen auf dem Parkplatz vor dem Verlagsgebäude.

Ich ging auf meinen roten 190er Mercedes zu und war etwas überrascht, als mich plötzlich jemand ansprach.

„Guten Abend, Miss Vanhelsing!“

Ich wirbelte herum und blickte in Harolds graue Augen.

Er war gerade aus seinem Wagen gestiegen, einem schlichten Coupe.

„Mr. Benbow...“

„Sie sind überrascht?“ Er kam auf mich zu. Ein charmantes Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Blick ruhte noch immer auf mir.

„Ein wenig schon“, gab ich zu.

Er zuckte die Achseln. „Ich sagte doch, dass ich die Unterhaltung mit Ihnen gerne fortsetzen würde.“

„Ja, schon, aber...“

„Wenn ich Ihnen zu aufdringlich bin, dann sagen Sie es mir und ich belästige Sie nicht länger.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, so war das auf keinen Fall gemeint!“

„Das freut mich.“ Er atmete tief durch. „Die Wahrheit ist: Ich habe schon seit langem niemanden mehr getroffen, der mich auf den ersten Blick derart fasziniert hätte...“

„Übertreiben Sie nicht?“

„Kaum, Miss Vanhelsing. Sie scheinen mir eine ungewöhnliche Frau zu sein. Eine Frau, die ich gerne näher kennenlernen würde...“

Bei aller Galanterie war er doch recht deutlich.

Ich sah ihm ins Gesicht. Seine grauen Augen waren die eines Mannes, der genau wusste, was er tat.

„Wie stellen Sie sich das vor?“, fragte ich und damit tat ich immerhin so, als würde ich noch darüber nachdenken, ob ich sein Spiel mitspielen sollte oder nicht.

Er lächelte.

„Lassen Sie Ihren Wagen hier stehen! Ich entführe Sie in ein exquisites Restaurant! Geben Sie's zu! Außer irgendwelchen Sandwiches haben Sie heute noch nichts gegessen!“

„Mir scheint, Sie sind nicht nur Gentleman, sondern auch Hellseher!“, lachte ich.

Er zwinkerte mir zu.

„Wer weiß?“

15

Ich stieg zu ihm in den Wagen. Das Restaurant, in das Harold mich 'entführen' wollte, lag am anderen Ende der Stadt und so brauchten wir eine ganze Weile, um uns durch den dichten Abendverkehr zu quälen.

Ich nutzte die Zeit, um Tante Lizzy kurz per Handy anzurufen. Ich wollte ihr mitteilen, dass es etwas später werden könnte...

„Ein außergewöhnliche Frau, Ihre Großtante“, meinte Harold Benbow, nachdem ich das Gespräch beendet hatte. „Sie dürfte eine der ganz wenigen sein, die sich wirklich ernsthaft mit dem Okkultismus beschäftigen.“

„Für Sie scheint das auch zu gelten, Mr. Benbow.“

„Nennen Sie mich Harold!“, meinte er. „So groß dürfte der Altersunterschied ja wohl nicht sein...“ Ich lachte.

„Gut“, sagte ich. „Aber ich nennen Sie nur dann Harold, wenn Sie mich Patricia nennen!“

„Ein hübscher Name.“

„Sie sind Privatgelehrter...“

„Nun, man kann es so ausdrücken.“

„Ich frage mich, wie Sie sich dann eine Villa wie die, in der Sie und Ihre Schwester leben, leisten können...“

„Glücklicherweise haben wir von unseren Eltern ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt, dass es uns ermöglicht, einen gewissen Lebensstil aufrechtzuerhalten...“

„Beneidenswert!“

„...und außerdem halte ich recht gut bezahlte Vorträge und Seminare, werde für Übersetzungen und dergleichen herangezogen...“ Er zuckte die Schultern. „Jedenfalls möchte ich mich nicht beklagen.“

„Wozu brauchen Sie von Schlichtens Absonderlichen Kulte?“ Er lachte kurz auf. „Nicht gerade eine Gute-Nacht-Lektüre, nicht wahr?“

„Sie sagen es, Harold!“

Wir kamen an eine rote Ampel und so konnte er den Kopf zu mir hinwenden. Er sah mich an. „Studien...“, meinte er dann nichtssagend.

„Was für Studien?“

„Ist es nicht ein viel zu schöner Abend, um sich über solche Dinge zu unterhalten, Patricia?“

Ich lächelte. „Meine Fragerei geht Ihnen wohl auf die Nerven, Harold?“

„Ach, wissen Sie...“

„Tut mir leid. Das ist eine Berufskrankheit, von der man wohl nicht verschont bleibt, wenn man in meinem Job tätig ist. Ich hoffe, Sie verzeihen mir!“

„Aber Patricia! Was für eine Frage!“

„Es freut mich, dass Sie das so sehen“, erwiderte ich lächelnd. „Sie werden nämlich wohl damit rechnen müssen, dass ich rückfällig werde!“

16

Harold machte mir die Tür auf, nachdem er den Wagen in einer Seitenstraße geparkt hatte. Dies war ein Teil von London, in dem ich mich nicht besonders auskannte. Aber bei einer derart riesigen Stadt war das eigentlich auch kein Wunder.

„Kommen Sie, Patricia“, sagte er und bot mir seinen Arm. Ich hakte mich bei ihm unter.

„Ist es weit?“

„Nur ein paar Schritte.“

„Das ist gut. Es ist nämlich ziemlich kalt geworden!“

„Wir sind gleich da!“