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»Das Haus mit der goldenen Tür« ist der atemberaubende zweite Roman in Elodie Harpers gefeierter »Wolfshöhlen«-Trilogie, die das Leben pompejischer Frauen neu erzählt. Für alle Fans von Natalia Haynes und Madeline Miller Befreit aus dem Bordell. Abhängig als Kurtisane. Entschlossen sich zu rächen. Ihr Name ist Amara. Amara ist ihrem Leben als Sklavin in Pompejis berüchtigstem Bordell entkommen. Sie hat jetzt ein Haus, feine Kleider, Diener – aber all das sind Geschenke ihres Gönners, die ihr gehören, solange sie ihren Platz in seiner Zuneigung behält. Während sie sich an ihr neues Leben gewöhnt, wird Amara immer noch von ihrer Vergangenheit heimgesucht. Nachts träumt sie von der Wolfshöhle und den Frauen, die sie zurückgelassen hat. Tagsüber wird sie von ihrem ehemaligen Sklavenhalter verfolgt. Um wirklich frei zu sein, muss sie genauso rücksichtslos sein wie er. »Wunderschön, bewegend, fesselnd ... Eine brillante Fortsetzung« Jennifer Saint Band zwei der »Wolfshöhlen-Trilogie«
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Veröffentlichungsjahr: 2023
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© Elodie Harper, 2021
Titel der englischen Originalausgabe »The House with the Golden Door«, Head of Zeus Ltd, London, 2022
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2023
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Thomas Schlück GmbH
Übersetzung: Martina Schwarz
Korrektur: Michaela Retetzki
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de
Covermotiv: Freepik (fwstudio, upklyak, freepik); Shutterstock (Santi0103, Hoika Mikhail)
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Cover & Impressum
Widmung
AD 75PARENTALIA
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FLORALIA
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LEMURIA
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NEMORALIA
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AD 76NOMINALIA
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EPILOG
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für meinen geliebten Sohn Jonathon, ich liebe dich von ganzem Herzen
Von allen Lebewesen kennt nur der Mensch Trauer … und ebenso Ehrgeiz, Gier und grenzenlose Lebenslust.
Plinius der Ältere, Naturgeschichte
Der Maler steht auf einem hölzernen Podest, mit seinem Körper verdeckt er die Pinselstriche, mit denen er die Göttin zum Leben erweckt. Amara sieht ihm zu. Der Rest des Freskos ist fertig, eine Jagdszene rund um ihren kleinen Garten. Nur Dianas Gesicht ist noch unvollendet. Sie atmet tief ein und genießt die Gerüche des Frühlings. Die Narzissen zu ihren Füßen erinnern an weiße Sterne, und die Luft ist süß von ihrem Duft.
»Niemand könnte ihrer Schönheit gerecht werden«, bemerkt der Maler. Er tritt kurz von seinem Werk zurück, um es zu betrachten, bevor er wieder den Pinsel ansetzt.
Amara weiß, dass er nicht die Göttin Diana meint. Sie hätte jeden damit beauftragen können, eine Göttin zu malen, aber sie hat diesen Mann ausgewählt, Priscus, weil er einst der Geliebte ihrer Freundin Dido war, und weil er der einzige Künstler ist, der ihr Bildnis zeichnen kann. »Ich weiß, dass du es schaffen wirst«, antwortet sie. Zumindest hofft sie es.
Der Rest des Gemäldes wurde von seinen Handwerkern zu einem weitaus günstigeren Preis angefertigt. Es kostete das Zehnfache, Priscus, den Herrn der Firma, zu beauftragen, ihre Freundin zu verewigen.
»Sie war eine außerordentliche Frau«, sagt Priscus. »Sie hatte eine Leichtigkeit an sich wie niemand sonst. Ich kann mich immer noch daran erinnern, wie sie gesungen hat.«
Dido ist noch keine drei Monate tot, und Amara spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen. Sie blinzelt, weil sie nicht will, dass Priscus es bemerkt. Es ist seltsam, ihn in ihrem Haus zu haben. Das letzte Mal, als sie sich trafen, waren sie und Dido Sklavinnen. Priscus war ein Stammkunde, der ihren Zuhälter dafür bezahlte, die Nacht mit Dido zu verbringen, während sein Freund Salvius für Amaras Gesellschaft im Schlafzimmer nebenan bezahlte. Jetzt ist sie eine Freigelassene, die für seine Dienste bezahlt. Sie vermutet, dass sie beide nicht wissen, wie sie sich nach dieser Schicksalswende dem anderen gegenüber verhalten sollen.
Er tritt wieder von der Wand zurück und betrachtet sein Werk. »Ich glaube, es ist fertig.«
Amara kommt nach vorn. »Darf ich mal sehen?«
»Natürlich«, sagt Priscus, klettert von der Plattform herunter und gibt damit endlich den Blick auf sein Gemälde frei.
Dido hat eine Hand auf ihr Herz gelegt, mit der anderen deutet sie über den Garten. Amara starrt auf ihre tote Freundin. Priscus hat die perfekte Symmetrie ihres Gesichts, die Sanftheit ihres Mundes und vor allem ihre Augen eingefangen, die von einer Traurigkeit erfüllt sind, die sie nie verbergen konnte. Trauer überkommt Amara, und sie wendet sich ab. Priscus streckt seine Hand nach ihr aus, doch dann lässt er sie wieder sinken, vielleicht aus Angst, seine Berührung könnte sie beleidigen. Es dauert eine Weile, bis sie sich traut zu sprechen. »Ich kann dir nicht genug dafür danken.«
»Es war mir eine Freude«, sagt er. »Es tröstet mich, dass ihre Schönheit nicht völlig verloren ist.« Priscus stellt sich neben Amara, lässt jedoch genug Platz zwischen ihnen, um seinen Respekt zu zeigen. »Aber darf ich dich etwas fragen? Warum hast du dich entschieden, dich so an sie zu erinnern?«
Er deutet zu den Wänden um sie herum, und Amara betrachtet die Szene, die so ganz anders ist als die Frau, die er gerade gemalt hat. Ein Hirsch mit menschlichem Gesicht wird von Jagdhunden zerfleischt, ihre Schnauzen sind blutverschmiert, die Zähne in den weit geöffneten Mäulern spitz. Aus dem zerfetzten Körper des Hirsches ragen weiße Rippen hervor, die den Blick auf das Rot seines Herzens freigeben. Es ist Aktaion, der von der Göttin Diana in einen Hirsch verwandelt wurde, um dann von seinen eigenen Hunden in Stücke gerissen zu werden. Der Preis, den er dafür zahlte, dass er die Göttin nackt gesehen hat. Diana zeigt auf ihn, als er stirbt, und verwandelt Didos Melancholie in einen Ausdruck grausamer Gleichgültigkeit.
»Sie hatte das reinste Herz«, antwortet Amara. »Wer sonst könnte Dido sein als die jungfräuliche Göttin?«
Sie wissen beide, dass sie seiner Frage ausgewichen ist. Priscus neigt zustimmend den Kopf, zu höflich, um weiter nachzufragen. »Natürlich.«
Amara wartet, während er seine Farben einsammelt und sie sorgfältig in eine Kiste packt, während sein Lehrling die Plattform auseinanderbaut, um sie zurück in die Werkstatt zu bringen. Dann begleitet sie die beiden durch das Atrium zur Tür. Es ist nicht nötig, das Geld jetzt zu übergeben. Sie weiß, dass Rufus, ihr Gönner und Geliebter, die Rechnung später begleichen wird, wenn es ihm passt. An der Tür zögert Priscus.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn …« Er stockt, dann sammelt er sich. »Salvius bat mich, dir seine guten Wünsche für deine Gesundheit und seinen Dank an die Götter für dein Glück auszurichten. Er schätzt dich sehr.«
Amaras Gesicht verrät nichts von dem Aufruhr, in den sie diese Erinnerung an ihr altes Leben versetzt. Sie ist sich bewusst, dass Juventus, der Pförtner, zweifellos jedes Wort hört, auch wenn er stumm auf seinem Posten steht. »Das ist sehr freundlich von deinem Freund. Bitte richte ihm meinen Dank und meine guten Wünsche für seine eigene Gesundheit aus.« Sie nickt höflich, aber distanziert, und geht davon, bevor Priscus noch etwas sagen kann. Die Erwähnung von Salvius hat sie mit unerwünschten Erinnerungen überflutet. Seine Hände auf ihrem Körper, seine Nacktheit, sein Gewicht auf ihr, und dann noch schlimmer, nicht Salvius, sondern die Angst und die Dunkelheit ihrer alten Zelle im Bordell, die Gewalt und der Schmerz. Ihre Vergangenheit ist das Meeresungeheuer Charybdis, das sie unter Wasser zieht, wo sie nicht mehr atmen kann.
Amara geht zügig die Treppe hinauf zu ihrem Arbeitszimmer, wobei sie versucht, nicht zu rennen, und schließt die Tür hinter sich. Ihre Beine zittern. Sie setzt sich an den Schreibtisch, legt die Hände flach auf die hölzerne Tischplatte und versucht, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Ihr Verstand spielt ihr wieder einmal einen Streich und gibt ihr das Gefühl, dass sie nicht ist, wo ihre Augen ihr sagen, dass sie ist, sondern zurück in Felix’ Wolfshöhle. Das Blut dröhnt in ihren Ohren, als sie in der Schublade nach dem Kästchen sucht, das sie immer beruhigt. Es ist schwer in ihren Händen. Sie stellt es ab und öffnet den Deckel. Darin befindet sich all das Geld, das sie verdient hat, seit sie hier lebt, eine Mischung aus den Einnahmen aus ihren Kreditgeschäften und dem großzügigen Taschengeld, das Rufus ihr gibt. Sie fährt mit den Fingern durch die Münzen, spürt ihr beruhigendes Gewicht und lauscht dem Geräusch, das sie machen, wenn sie fallen, wie das sanfte Prasseln des Regens.
Sie hat diesen Raum so eingerichtet, dass er Felix’ Arbeitszimmer so wenig wie möglich ähnelt, hat die Möbel in ungewöhnlichen Winkeln aufgestellt und dafür gesorgt, dass alles anders aussieht. Die Wände sind weiß statt rot, kleine Amoretten balancieren in einigem Abstand anmutig an den Wänden entlang, eine mit einer Harfe, eine andere mit einem Bogen. Jede der kleinen, blassen Figuren, jeder sorgfältige Pinselstrich auf ihren Körpern ist feiner gezeichnet als alles in der Wolfshöhle, und doch sind die Bilder irgendwie weniger lebendig als die Stierschädel und die schwarzen Sockel, an die sie sich erinnert. Amara weiß, dass sie sie sehen wird, wenn sie ihre Augen schließt. Hinter einem Schreibtisch zu sitzen, lässt sie immer an ihren alten Herrn denken. Selbst in ihren Träumen erinnert sie sich so an ihn. Die scharfen Linien seines über die Bücher gebeugten Körpers, die Neigung seines Kopfes, während er nach oben blickt, die Kraft in seinen Händen.
Ein Klopfen an der Tür holt sie in die Gegenwart zurück. »Wer ist da?«
Martha tritt ein. Amara lächelt, aber ihr Dienstmädchen sieht nur zu Boden. »Soll ich dich für den Besuch bei Drusilla vorbereiten, Herrin?« Marthas Akzent ist so stark, dass Amara manchmal Mühe hat, sie zu verstehen.
Martha hat die Schultern hochgezogen, ihre ganze Körperhaltung ist gekrümmt. Zuerst hielt Amara das Mädchen für schüchtern, doch dann hat sie darin den bewussten Rückzug einer unwilligen Sklavin erkannt. Sie selbst hat Felix gegenüber die gleiche Zurückhaltung an den Tag gelegt. Amara muss ihre Verärgerung unterdrücken. Das Mädchen weiß nicht, wie viel Glück es hat, hier in diesem schönen Haus zu sein und nicht im Bordell.
Martha ist Hebräerin und wurde bei der jüngsten römischen Offensive gegen Masada gefangen genommen – so hat es zumindest Philos, der Hausverwalter, erzählt. Er war es, der im Auftrag seines Herrn entschied, welche anderen beiden Sklaven ihn hierher begleiten sollten. Rufus, dem Martha gehört, hat nichts über sie gesagt. Sklaven sind für ihn keine Menschen. Er hat Amara alle Diener zusammen mit den Möbeln »geliehen«, und es käme ihm ebenso wenig in den Sinn, sich zu ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten zu äußern, wie er seine Zeit damit verschwenden würde, die Geschichte der Tische oder Leuchter zu erzählen. Amara hofft nur, dass Rufus nie mit Martha geschlafen hat, obwohl das Mädchen hübsch genug ist. Das könnte erklären, warum sie so unfreundlich ist.
»Danke«, sagt Amara und erhebt sich vom Schreibtisch. »Es ist nett von dir, dass du mich daran erinnerst.«
Sie gehen die Treppe hinunter in das erste von Amaras Privatzimmern, das vom Atrium abzweigt. Martha hat bereits den Schminktisch hergerichtet. Es ist für Amara unmöglich, nicht an ihre Freundin und Mitwölfin Victoria zu denken, als sie vor den ganzen Parfüms und Kosmetika Platz nimmt. Sie erinnert sich an all die billigen Fläschchen, die Victoria so sorgfältig auf ihrer Fensterbank im Bordell aufgereiht hatte, an die Mühe, die sie sich immer gab, um gut auszusehen. Die Erinnerung an Victoria, an ihre schwarzen Locken, die ihr über die Schultern fallen, an ihr heiseres Lachen und ihre sarkastischen Bemerkungen ist so lebendig, dass Amara fast damit rechnet, dass sie jeden Moment in den Raum tritt und verlangt, selbst an die Reihe zu kommen. Martha beginnt, das Haar ihrer Herrin auszukämmen. Amara nimmt ein zartes Glasgefäß in Form einer Blume in die Hand, öffnet es und hält es sich an die Nase. Jasmin. Es ist der einzige Duft, den Rufus an ihr mag. Martha schnaubt, als Amara das Fläschen wieder abstellt, und zieht an ihrem Kamm. Die ganze Bewegung macht ihre Versuche zunichte, die Locken ihrer Herrin zu frisieren.
Als sie fertig ist, hält Martha ihr den Silberspiegel hin. Amara zieht es vor, sich selbst zu schminken. Sie nimmt den Kajal, zieht die Striche um ihre Augen nach, wo sie verschmiert sind, trägt aber keine Paste auf die Haut auf. Als sie noch im Bordell arbeitete, war das unerschwinglich, und jetzt ist Rufus daran gewöhnt, sie mit nacktem Gesicht zu sehen. Das einzige Mal, als sie sie für ihn benutzt hat, hat er es gehasst. All die Worte, mit denen er sie beschreibt – lieblich, zart, naiv –, versteht sie eher als Anweisungen denn als Komplimente. Es spielt keine Rolle, dass sie in einem Bordell gearbeitet hat, dass sie den gewalttätigsten Zuhälter von Pompeji überlistet hat oder dass sie mit ihrer Wut Berge versetzen kann. Das will ihr Liebhaber nicht sehen, also verbirgt sie es.
»Danke«, sagt Amara. »Du kannst jetzt mit der Arbeit in der Küche beginnen.«
»Aber soll ich nicht mit dir kommen?« Martha wirkt nervös. »Der Herr hat gesagt, es ist besser, wenn du nicht allein rausgehst.«
Es ist eine Sache, sich mit einem unzufriedenen Dienstmädchen abzufinden, aber Amara möchte nicht auch noch eine Spionin haben. »Die Straßen machen mir keine Angst«, antwortet sie mit einem kalten Lächeln, weil sie weiß, dass das Mädchen sie verstehen wird. »Ich bin es gewohnt, dort unterwegs zu sein.« Martha senkt den Kopf, ihre Wangen erröten, zweifellos verflucht sie den Tag, an dem die Römer sie aus ihrer Heimat verschleppten, um einer Hure zu dienen. Amara lässt sie stehen und geht durch das Atrium zu der großen Holztür. Juventus zögert einen Moment, sie ohne Begleitung hinauszulassen, und blickt sich um, ob Philos, der Verwalter, in der Nähe ist, um die Erlaubnis zu erteilen. »Philos ist heute beim Herrn«, erklärt Amara ungeduldig. »Vielleicht lässt du mich raus, damit ich an der Harfenstunde teilnehmen kann, die Rufus für mich bezahlt hat?«
»Natürlich, Herrin«, sagt Juventus und tritt zur Seite.
Die Straße ist ruhiger als die, in der sie früher gewohnt hat – das Bordell stand an einer Straßengabelung, gegenüber einer Bar und nur einen Steinwurf von einer weiteren entfernt –, aber trotzdem hat Amara jedes Mal, wenn sie auf den Gehsteig tritt, das Gefühl, von einem stillen Teich in einen schnell fließenden Strom zu geraten. Sie schlängelt sich an den wogenden Tüchern vorbei, die ihren Eingang flankieren, Streifen aus rotem, gelbem und orangefarbenem Stoff, die in der Brise flattern. Vor dem Haus, das Rufus für sie gemietet hat, befindet sich ein Kleiderladen, einer von mehreren in der Straße. Die Ladenbesitzerin, Virgula, nickt, als sie vorbeigeht, ungerührt von der Tatsache, eine Konkubine als Nachbarin zu haben. Immerhin teilen sie sich denselben Vermieter – einen Freund von Rufus, den Amara noch nicht kennengelernt hat.
Die Straße ist schmal, aber Amara behauptet ihren Platz auf dem Gehsteig, sieht selbstbewusst geradeaus und zwingt die anderen, sie passieren zu lassen. Ein Mann, der den Arm voller Lederwaren hat, schnaubt, geht aber zur Seite. Amara beachtet ihn nicht. Die Zeiten, in denen sie den Blick eines jeden Mannes auf der Straße erwidern musste, sind vorbei.
Es dauert nicht lange, bis sie Drusillas Haus erreicht. Die begehrteste Kurtisane Pompejis wohnt nicht weit entfernt – ihre Straße verläuft parallel zu Amaras Straße. Deshalb weiß sie auch, dass Rufus es dulden wird, dass sie allein hierhergekommen ist. Das Haus ist nicht gemietet, sondern gehört Drusilla, genau wie die schöne Glaswerkstatt, die sich davor befindet. Amara bleibt stehen und sieht hinein. Die Glaswaren werden immer aufwendiger, je weiter man hineingeht. Schlichte Trinkgefäße und Parfümfläschchen, die auf dem Ladentisch gestapelt sind, weichen Krügen in Form von Fischen und einer Urne mit grünen Weintrauben, die von einem Nymphenpaar gehalten wird. Amaras Blick landet immer auf derselben Stelle: einem Regal mit kleinen Götterstatuetten. Sie denkt an die schöne gläserne Pallas-Athene aus dem Haus ihrer Eltern und fragt sich, wem sie jetzt gehört.
Amara fühlt, wie ihr Herz leicht wird, als sie über die Schwelle in Drusillas Atrium tritt. Der Portier nickt ihr zu – sie ist hier immer willkommen.
»Da bist du ja!«, ruft Drusilla. Sie lehnt sich über die Brüstung des innen liegenden Balkons, ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Amara strahlt zurück. Drusilla ist – abgesehen von Dido – die schönste Frau, die sie je gesehen hat. Die blassgelbe Leinentunika, die sie trägt, bringt die Wärme ihrer Haut zur Geltung, und ihr schwarzes Haar umrahmt ihr Gesicht wie ein Lorbeerkranz. Sie könnte Hesperia sein, denkt Amara, die Göttin der untergehenden Sonne.
Amara eilt die Treppe hinauf. Sie genießt Drusillas Gesellschaft immer, vor allem aber, wenn sie sich ohne ihre Liebhaber treffen, denn dann weiß sie, dass alles, was ihre Freundin sagt, ehrlich gemeint ist. Sie umarmen sich auf dem Balkon, bewundern die Kleidung der jeweils anderen und gehen dann in Drusillas Schlafzimmer, wo sie ihre Harfe aufbewahrt.
»Wann kauft er dir deine eigene?«, fragt Drusilla, als sie sich zusammen hinsetzen, Amara an das Instrument, Drusilla dicht neben sie, um sie anzuleiten.
»Heute, wenn ich ihn lasse«, antwortet sie seufzend. »Aber ich bin noch nicht gut genug; ich will nicht, dass er mich spielen hört.«
»Aber mit deiner eigenen könntest du jeden Tag üben. Du würdest dich schneller verbessern.«
Amara weiß, dass das stimmt. Sie findet die Harfe schwieriger zu beherrschen, als sie erwartet hat. Jedes Mal, wenn sie für Rufus die Leier spielt, egal wie schön oder gekonnt, will er nur wissen, wann sie ihn mit der Harfe unterhalten wird. Er fragt nicht aus Bosheit, sondern mit dem Eifer eines Kindes, aber seine Beharrlichkeit verunsichert sie. Sie wünschte, er könnte sich an dem Instrument erfreuen, das sie bereits spielt. »Ich weiß nicht, warum er so darauf besteht«, sagt sie und klopft leicht auf die Saiten.
Drusilla tätschelt ihr den Rücken und streicht ihr das Haar über eine Schulter. »Ich denke, das ist ein ermutigendes Zeichen«, sagt sie. »Er drückt dir seinen Stempel auf. Er macht aus dir die nach seinem Geschmack perfekte Konkubine. Wenn er genug Geld in dich investiert, wird er sich nicht mehr anderweitig umsehen.«
Amara spürt ein Aufflackern von Angst. Die Sorge, das Interesse ihres Gönners zu verlieren, ist wie ein ständiger Schatten. »Versuchen wir es noch einmal mit Sappho«, sagt sie. »Letztes Mal hatte ich sie fast raus.« Sie spielen eine Stunde oder länger. Amara ist eine gewissenhafte Schülerin, die sich nie beschwert, wenn Drusilla sie die gleichen Akkorde wieder und wieder üben lässt. Drusilla dagegen ist als Lehrerin anspruchsvoll, sie gibt nicht nur ihr musikalisches Wissen weiter, sondern erteilt auch Ratschläge, welche Haltung Amara beim Spielen einnehmen soll, um möglichst attraktiv zu wirken.
»Ich denke, das reicht für den Moment«, sagt Drusilla und fährt mit ihrer Hand über Amaras Arm. »Du wirst langsam verspannt. Ich habe das vorhin ernst gemeint. Rufus soll dir dein eigenes Instrument kaufen. Dann wirst du schneller lernen.«
Amara folgt Drusilla zur Liege. Das Dienstmädchen, Thalia, hat ihnen Wein und Gebäck hingestellt. »Diese ganze Mühe«, bemerkt Amara, nimmt sich ein Brötchen und redet sich ein, dass sie später weniger essen wird. »Kannst du dir Rufus und Quintus dabei vorstellen, wie sie den ganzen Nachmittag überlegen, wie sie uns zufriedenstellen können?«
»Quintus sicher nicht«, sagt Drusilla mit einem Stirnrunzeln.
»Aber er betet dich an.«
Drusilla schüttelt den Kopf. »Ein Mann wie Quintus wird früher oder später unweigerlich den Reiz des Neuen suchen. Und ich fürchte, es könnte früher sein.« Sie spielt mit ihrem Weinglas. Es ist blau, zweifellos aus dem Laden, den sie vermietet, und das Rot des Weins schimmert violett durch die Glasur. »Ich bin nicht in ihn verliebt, wie du weißt, aber ein neuer Mann bringt immer alles durcheinander. An Quintus habe ich mich inzwischen gewöhnt.«
Amara ist sich nicht ganz sicher, ob sie Drusilla glaubt, wenn sie sagt, dass sie Quintus nicht liebt. Es ist schwer, so viel Mühe darauf zu verwenden, einen Mann glücklich zu machen, ohne am Ende eine gewisse Zuneigung für ihn zu empfinden. »Ich muss mich immer wieder daran erinnern, die Tricks, die ich im Bordell gelernt habe, zu rationieren«, sagt Amara und zieht eine Augenbraue hoch. »Daran, zumindest ein paar Überraschungen für Rufus aufzusparen.«
Drusilla schnaubt. »Dieser eine Kniff, von dem du mir erzählt hast. Ich glaube, sogar Quintus war schockiert, als ich ihn ausprobiert habe.«
Sie lachen beide. Amara lässt sich zurück in die Kissen sinken und genießt die Freiheit der Freundschaft, die Erlaubnis zu sagen, was immer sie will. Ihre Lehrzeit im Bordell war brutal; für alles, was Felix sie zu lernen gezwungen hat, hat sie teuer bezahlt, aber jetzt, wo sie entkommen ist, scheint es die Schmerzen fast wert gewesen zu sein. »Priscus hat das Gemälde heute fertiggestellt«, erzählt sie.
»Was denkst du, wie Rufus reagieren wird? Wenn er merkt, dass es Dido ist?«
»Philos sagt, er wird es nicht einmal bemerken.« Amara zuckt mit den Schultern. »Sie war nur eine Sklavin für ihn.«
»Du hast mit Philos über Rufus gesprochen?« Drusillas Stimme ist scharf. »Ist das klug?«
»Philos war früher mein Freund, als wir beide noch …« Amara zögert, will das Wort nicht aussprechen. »Als wir beide noch Sklaven waren.«
»Aber jetzt bist du es nicht mehr, doch er ist es immer noch. Philos gehört deinem Liebhaber. Sei vorsichtig, was du sagst. Er könnte sich verpflichtet fühlen, es seinem Herrn zu berichten.«
»Ich vertraue ihm«, meint Amara. »Ich glaube nicht, dass er mir das antun würde.« Sie hofft, dass das stimmt. Sie schämt sich zu sehr, um Drusilla die Wahrheit zu sagen. Nämlich dass sie so einsam ist, dass sie es nicht ertragen würde, sich von Philos zu distanzieren, zuzugeben, dass er Rufus’ Diener ist und nicht ihr Freund. Mit wem sollte sie in diesem Haus sonst reden? »Wie geht es Primus?«, fragt sie, um das Thema zu wechseln.
»Oh!« Drusilla klatscht in die Hände, ihr Gesicht strahlt vor Freude. »Er macht sich so gut beim Lesenlernen! So ein kluger Junge. Komm, komm, ich bringe dich zu ihm. Er wird sich freuen, vor dir anzugeben.« Sie springt von der Liege auf und hält ihr die Hand hin. Amara nimmt sie und lässt sich von Drusilla die Treppe hinunterführen.
Sie durchqueren das Atrium und gehen hinaus in den Garten. Primus streift durch die Blumenwiese, plappert irgendetwas über eine Biene und wedelt mit seiner kleinen pummeligen Hand, während seine Amme auf ihn achtgibt. Er sieht seiner Mutter so ähnlich. Die gleichen Grübchen, wenn er lächelt, die gleichen großen, dunklen Augen. Drusilla streckt ihre Arme aus, und der kleine Junge rennt zu ihr und umarmt ihre Knie. Amara lächelt. Sie wusste nicht einmal von Primus’ Existenz, erst einen Monat nachdem Rufus sie befreit hatte, hat sie von ihm erfahren. Drusilla hütet ihr Kind vor allen außer ihren engsten Freunden.
»Was hast du heute gelernt?«, fragt Drusilla ihn. »Was kannst du Mami erzählen?«
»Die Bienen leben in Palästen aus Wachs«, erklärt er und sieht erst zu seiner Mutter und dann zu Amara auf, als wollte er sie dazu herausfordern, ihm zu widersprechen. »Sie verwandeln Blumen in Honig!«
Drusilla blickt ihren Sohn bewundernd an, während der Dreijährige voller Selbstsicherheit seine Weisheiten vorträgt. Amara war schockiert, als sie erfuhr, wer der Vater des Kindes ist. Popidus ist eine bedeutende pompejanische Persönlichkeit und so alt, dass Primus viele Jahre jünger sein muss als die legitimen Enkel seines Vaters. Der alte Mann erkennt Drusillas Sohn nicht als seinen eigenen an.
Während sie mit ihrer Freundin zusammensitzt und dem Kind beim Spielen im Garten zusieht, kann sich Amara fast vorstellen, dass sie nun ein Leben in glückseliger Sicherheit führt. Doch obwohl er abwesend ist, spürt sie trotzdem Rufus’ Hände, die sie halten … und weiß, dass er die Macht hat, sie fallen zu lassen. Es ist sein Geld, das sie hierhergebracht hat; er zahlt für Drusillas Zeit, und Amara weiß, dass sie niemals einen so wichtigen Platz im Leben ihrer Freundin erlangt hätte, wenn sie einen weniger angesehenen Liebhaber hätte. Wenn sie sich in den Venusbädern treffen, ist Drusilla immer von anderen, weniger mächtigen Konkubinen umgeben. Amara ist nur eine von vielen Frauen in ihrem Umfeld.
Die Zeit allein mit Drusilla ist kostbar, aber Amara wagt es nicht, noch länger zu bleiben. Sie muss sich auf Rufus’ Besuch am Abend vorbereiten. Er war in den letzten zwei Wochen mit seiner Familie beschäftigt, sie haben die Parentalia gefeiert – ein häusliches Fest zum Gedenken an die Ahnen –, weshalb er wenig Zeit für Amara hatte. Das Fest hat sie auf unangenehme Weise daran erinnert, dass sie in Rufus’ Leben nur eine untergeordnete Rolle spielt und dass sie selbst verwaist und ohne Wurzeln ist.
Sie erhebt sich und entschuldigt sich bei Drusilla mit Hinweis auf Rufus, die sie daraufhin zur Tür begleitet. Sie lässt Primus nur widerstrebend zurück, auch wenn sie in wenigen Augenblicken wieder bei ihrem Sohn sein wird.
»Glaubst du, Rufus würde sich freuen, wenn du ihm einen Jungen schenkst?« Drusilla stellt die Frage, als Amara gerade auf die Straße treten will.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt sie überrascht. »Ich glaube nicht.« Es fällt ihr schwer zu erklären warum, aber sie ist sich fast sicher, dass Rufus sie nicht gern als Mutter sehen würde. Sie ist immer noch penibel darum bemüht, eine Schwangerschaft zu vermeiden.
»Es ist immer ein Glücksspiel.« Drusilla nickt und denkt dabei zweifellos an den herzlosen Popidus. »Vergiss nicht, heute Abend die Harfe zu erwähnen. Mach’s gut, meine Liebe.«
Drusilla schlüpft zurück in ihr Haus. Amara steht auf der Schwelle, und Einsamkeit beschleicht sie. Als sie noch eine Sklavin war, hat sie Drusilla immer zusammen mit Dido besucht. Sie gingen auch gemeinsam und liefen Hand in Hand durch die Straßen zurück zur Wolfshöhle. Die Trauer trifft sie so hart, dass sie für einen Moment lang glaubt, die Fassung zu verlieren. Ich habe jetzt meine Freiheit, denkt sie sich. Das ist alles, was zählt. Sie tritt auf den Gehsteig hinaus, ihre Miene ist kalt und verrät nichts von dem Verlust, den sie fühlt.
»Das sind Sklaven«, sagen die Leute. Nein. Es sind Menschen. »Sie sind Sklaven.« Aber sie leben unter demselben Dach wie wir.
Seneca der Jüngere, Briefe an Lucilius
Das Wasser ist kaum lauwarm, als Martha sie damit bespritzt. Amara hat sich ausgezogen und wäscht sich, wobei sie darauf achtet, dass ihre Beine ganz glatt sind und jedes vergessene Haar entfernt. Sich zu Hause zu waschen, ist nicht so angenehm, wie das in der Hitze des Venusbades zu tun, aber es ist die einzige Möglichkeit, damit sie am Abend für ihren Liebhaber frisch ist.
Als sich Amara vergewissert hat, dass sie sauber ist, beträufelt sie ihre Handflächen mit destilliertem Jasmin und reibt damit ihren ganzen Körper ein. Der Duft ist überwältigend süß, aber sie weiß, dass er, wenn Rufus eintrifft, fast verflogen sein und seine Freude an ihr nur noch steigern wird.
»Hast du auch den Käse gekauft, den er mag?«, fragt Amara, während sie sich Jasmin auf die Oberarme streicht.
»Ja«, antwortet Martha und starrt auf den Boden.
»Und der Eintopf? Hast du die Bohnen auch nicht verkocht?«
»Nein.«
»Das letzte Mal war er nicht glücklich.«
Martha sagt nichts. Sie muss sich das Kochen mit dem Portier Juventus teilen, und keiner von beiden ist besonders gut darin. Normalerweise schickt Amara einen der beiden los, um in der Garküche an der Ecke etwas zu kaufen und es zu Hause wieder aufzuwärmen. Sie streckt ihre Hand nach dem durchscheinenden Seidenstoff aus, den sie immer trägt, wenn Rufus allein zu Besuch ist. Martha reicht ihn ihr und hilft ihr dann, den Stoff zu fixieren. Das Gewand überlässt nur wenig der Fantasie. Amara wünscht sich, Victoria oder Beronice wären anstelle von Martha hier. Dann könnte sie fragen, wie sie aussieht, und würde eine ehrliche Antwort bekommen.
Als sie angezogen ist, frisiert Martha ihr Haar neu. Ein letzter Kajalstrich um ihre Augen, dann macht sich Amara auf den Weg in das Speisezimmer, um auf ihren Gönner zu warten. Sie isst nie hier, wenn sie allein ist – das wäre viel zu pompös. Martha hat die Öllampen angezündet, die auf hohen Bronzesäulen ruhen und die Gemälde mit ihrem Schein beleuchten. Jupiters unglückliche sterbliche Geliebte rekeln sich in verschiedenen Stufen der Nacktheit an den Wänden. Io verwandelt sich neben der Tür in eine Kuh, während Leda über der Liege, auf der Amara sitzt, einen Schwan umarmt. Sie fühlt sich in diesem Raum nie wohl. Die Bilder erinnern sie zu sehr an das Bordell, auch wenn die Szenen geschmackvoller gezeichnet sind.
Das Haus ist still. Niemand ist hier außer ihr und den beiden Sklaven, die ihrem Liebhaber gehören. Juventus wird vermutlich in seiner Kammer neben der Tür sitzen, während Martha in der Küche den Bohneneintopf aufwärmt. Die Februarluft ist kühl, und Amara hat sich einen Schal um die Schultern gelegt, um nicht zu frösteln. Ihr Herz schlägt schnell vor Nervosität und Vorfreude. Am liebsten würde sie ein Stück Brot essen, um ihren Magen so weit zu beruhigen, dass sie Wein trinken kann. Es könnte eine Weile dauern, bis Rufus eintrifft. Sie starrt durch die Tür in das dunkler werdende Atrium und wünscht sich ihren Liebhaber herbei, damit sie endlich essen kann.
Ihr Magen knurrt. Damit ist die Sache entschieden. Besser eine fette Konkubine als eine abstoßende. Sie nimmt sich ein Stück Brot vom Teller und beißt hinein. Abgesehen von dem süßen Brötchen bei Drusilla ist das alles, was sie heute gegessen hat. Das letzte Mal, als Rufus hier war, hat er versucht, ihre Taille mit seinen Händen ganz zu umschließen, aber seine Finger haben sich an ihrem Rücken nicht mehr annähernd getroffen. Er hat sie immer so gehalten und ihr Komplimente gemacht, wie schlank sie sei, und sie hat sich nie etwas dabei gedacht, hat sich nicht vorstellen können, dass er tatsächlich misst, wie dick sie ist. »Wenigstens kann niemand sagen, dass ich dich aushungere, mein Vögelchen.« Er hat gelacht und sie losgelassen.
Amara hat sich geschämt. Dann war sie wütend geworden. Was hat er erwartet? Dass sie so dünn bleiben würde wie im Bordell, wo sie sich kaum eine Mahlzeit pro Tag leisten konnte? Aber sie hat ihre Wut hinuntergeschluckt. Rufus ist nicht unfreundlich, sagt sie sich. Sie kann sich glücklich schätzen, einen so hingebungsvollen Gönner zu haben. Und vielleicht war es nicht einmal als Kritik gemeint. Vielleicht hat er es nur bemerkt. Vielleicht hat er sich sogar einen liebevollen Scherz erlaubt. Trotzdem hat sie beschlossen, vorsichtshalber weniger zu essen.
Sie hört, wie die Tür geöffnet wird, das Gemurmel von Männerstimmen. Amara lässt ihr Brot fallen, wirft den Schal weg, schwingt die Beine auf die Liege und versucht so verführerisch wie möglich auszusehen. Eine Gestalt nähert sich. Sie ist schwer zu erkennen, weil der Raum so hell und das Atrium so schummrig ist, aber sie kann trotzdem sehen, dass es nicht Rufus ist. Der Mann ist zu schmächtig, und seine Schritte sind nicht schwer genug. Amara setzt sich wieder auf, ihr Herz pocht vor Enttäuschung, als Philos den Raum betritt.
»Der Herr sagt, es tut ihm sehr leid, aber er schafft es heute Abend nicht.« Philos tritt nicht zu nahe an sie heran, sondern verweilt an der Tür. Im Gegensatz zu Juventus, der keine Gelegenheit auslässt, die Freundin seines Herrn anzustarren, wenn sie das durchsichtige Kleid trägt, weicht Philos Blick nicht von Amaras Gesicht. »Er musste mit Helvius zu Abend essen.«
»Oh«, sagt Amara und greift nach ihrem Schal, um sich wieder zu bedecken. »Und das war wirklich der Grund?« In einem anderen Leben, als sie noch Felix gehörte, hat Philos ihr verraten, dass Rufus eine zweite Geliebte hat. Er hat ihr damals versprochen, dass die Affäre mit dem Dienstmädchen seinem Herrn nichts bedeute, und er hat recht behalten.
»Ich verspreche es«, antwortet er. »Er war wirklich sehr enttäuscht, dich nicht treffen zu können.«
Amara atmet erleichtert aus. Sie sieht, wie Philos einen Schritt zurücktritt, und weiß, dass er gleich gehen wird. »Willst du nicht bleiben und etwas essen?«, platzt sie heraus, weil sie nicht allein sein will.
»Hier?«, fragt Philos ungläubig. Sie starren einander an, Amaras Wangen brennen vor Verlegenheit. Er senkt seine Stimme. »Du weißt, dass ich das nicht kann. Welcher Sklave isst das Essen seines Herrn, in dessen Speisezimmer?« Mit dessen Konkubine, könnte er hinzufügen, tut es aber nicht.
»Du hast recht«, sagt sie. »Tut mir leid.«
Die beiden verharren in unbehaglichem Schweigen, Amara auf der Liege, Philos an der Tür. Sie ahnt, dass er trotz seiner Proteste bezüglich des Anstands genauso einsam ist wie sie. »Wenn du im Garten etwas trinken möchtest«, sagt er langsam, als würde er sich vortasten, »dann könnte ich eine Weile bleiben und dir vom Tag des Herrn erzählen. Ich denke, das ist akzeptabel für einen Verwalter.« Sie kann nicht sagen, ob seine letzte Bemerkung als Scherz gemeint ist. Früher war da eine solche Leichtigkeit zwischen ihnen. Sie kann sich noch an seine Worte erinnern, als er sie eines Abends aus dem Bordell abholte, um sie zu seinem Herrn zu bringen. Wer will schon ein Sklave sein, hm? Wenn du jung bist, ficken sie dich, und wenn du alt bist, nutzen sie dich aus.
Die Erinnerung an Philos’ derbe Formulierung zaubert ihr ein leichtes Lächeln auf die Lippen. Sie nimmt zwei Weingläser in die Hand und bedeutet ihm, den Krug zu nehmen. »Sehr gut«, sagt sie.
Amara geht in den Garten, und er folgt ihr. Dido ist im Schatten verschwunden, der über der Mauer liegt. Sie sitzen auf einer steinernen Bank, der Weinkrug und die Gläser zwischen ihnen, genauso wie eine sehr große Lücke, die Philos gelassen hat, während er versucht, so wenig Platz wie möglich auf der Bank einzunehmen. Er lehnt den Wein ab, wie sie wusste, dass er es tun würde.
»Was haben Rufus und Helvius heute Abend zu besprechen?«, fragt sie.
»Es geht um die Feierlichkeiten«, antwortet er. »Rufus hat angeboten, nach dem Wahlkampf eine Vorstellung im Theater zu organisieren. Helvius ist froh, dass ihm die Kosten erspart bleiben, aber weniger begeistert davon, dass sein Name nicht genannt werden soll.«
Helvius kandidiert dieses Jahr als Ädil in Pompeji und wird mit ziemlicher Sicherheit gewinnen. Das Amt beinhaltet ebenso zeremonielle wie verwaltungstechnische Aufgaben, und es wird erwartet, dass die Gewählten ihr eigenes Geld für die kostenlose Unterhaltung der Öffentlichkeit ausgeben. Amaras Liebhaber Rufus plant, sich im nächsten Jahr zur Wahl zu stellen, und will sich frühzeitig Unterstützung sichern.
»Können nicht beide die Lorbeeren dafür einheimsen?«, fragt Amara.
»Ich bin mir sicher, dass es früher oder später darauf hinauslaufen wird«, sagt Philos. Er greift nach einer der Pflanzen, die neben der Bank wachsen, bricht einen Zweig davon ab und zerdrückt ihn zwischen seinen Fingern, wodurch Duft aufsteigt. Thymian. Der Geruch versetzt Amara sofort in ihre Kindheit zurück, als ihr Vater das Kraut mit heißem Wasser und Honig zubereitete, um den Husten eines Patienten zu lindern. Es hilft der Verdauung. Auch gut gegen Melancholie. Philos zupft den Zweig Stück für Stück auseinander und lässt jedes Teil einzeln zu Boden fallen. »Wie ist es mit der Harfe gelaufen?«, fragt er.
»Drusilla meint, ich solle Rufus erlauben, mir eine zu kaufen, damit ich zu Hause üben kann«, antwortet sie. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich jemals sehr gut darin sein werde.« Sie trinkt den Wein, spürt, wie sich seine Wärme in ihr ausbreitet. »Und nach der Musikstunde waren wir bei Primus. Er hat im Garten Lesen gelernt.«
»Oh«, ruft Philos aus. »Ich weiß noch, wie ich das als Junge gemacht habe. In dem Haus, in dem ich geboren wurde.« Das Licht wird bereits schwächer, aber es ist immer noch hell genug, dass sie sehen kann, wie er bei der Erinnerung lächelt. Er hat aufgehört, den Thymian zu zerrupfen.
»Warst du einmal frei?«, fragt sie, so überrascht, dass sie es wagt, eine persönliche Frage zu stellen. Sie war sich so sicher, dass Philos als Sklave geboren wurde.
»Nein, ich war schon immer ein Sklave«, antwortet er. »Nur ein gebildeter.« Sie starrt ihn an, will mehr wissen, möchte aber nicht aufdringlich sein. Er lächelt wieder. Sie merkt, dass er ihre Neugierde genießt; in seinen grauen Augen liegt Schalk. Mit einem Mal sieht er eher so aus, wie sie ihn aus der Zeit in Erinnerung hat, als sie noch echte Freunde waren.
»Nenne mir, Muse, die Taten des viel gewanderten Mannes«, beginnt er und wechselt ins Griechische. »Erzähle mir, wie er umherirrte, nachdem er die heilige Stadt Troja zerstörte, und wohin er ging, und wen er traf und welche Schmerzen er in den Stürmen des Meeres erlitt.«
»Du hast Homer gelernt?« Amara ist überrascht.
»Ein bisschen Homer«, korrigiert Philos sie. »Um ehrlich zu sein, ist das fast alles, woran ich mich erinnern kann. Ich bin bei der Odyssee kaum ein paar Hundert Verse weit gekommen, bevor die Kinder des Herrn Einwände dagegen erhoben haben.«
»Warum haben sie das getan?«, fragt Amara.
»Weil ich gut war«, antwortet er. Sie erwartet, dass er fortfährt, aber stattdessen wirkt er unbehaglich, als wäre er sich bewusst, dass er zu viel von sich preisgegeben hat. »Es tut mir leid, ich weiß nicht …« Er hält inne, ohne zu Ende zu bringen, was er sagen wollte. »Ich sollte Martha bitten, das Abendessen zu retten. Rufus sagte, er wird dich besuchen, so bald er kann. Vielleicht morgen. Gute Nacht.«
Er steht auf, verlässt eilig den Garten und verschwindet ins dunkle Atrium. Amara sieht ihm mit einem schweren Gefühl in der Brust hinterher. Sie ist sich nicht sicher, ob der Schmerz, den sie spürt, vom Hunger oder der Einsamkeit stammt. Es wäre vernünftiger gewesen, Martha zu bitten, ihr eine Portion Eintopf zu bringen, schließlich gibt es keinen Grund, warum sie das Abendessen verpassen sollte, nur weil Rufus nicht aufgetaucht ist, aber es widerstrebt ihr, Philos zurückzurufen. Vor ein paar Monaten war sie noch eine niedrigere Sklavin als alle anderen hier. Jetzt müssen sie sie bedienen. Sie kann sich leicht ausmalen, was sie hinter ihrem Rücken über ihre Bordellhurenherrin reden.
Der Gedanke, dass Philos ihre Verachtung teilen könnte, ist schmerzhaft. Sie weiß, dass er bald in sein Zimmer – oder vielmehr in seine Zelle – gehen wird, einen winzigen, dunklen, schrankartigen Raum unter der Treppe. Noch kleiner als ihre Zelle im Bordell. Aber dafür muss er dort niemanden unterhalten. Sie schenkt sich noch mehr Wein ein. Amara ist sich bewusst, dass Philos hier ein viel einsameres Leben führen muss als in Rufus’ Haus, wo er zweifellos ein ganzes Netz von Freunden hat, die Ersatzfamilie, die sich jeder Sklave im Dienst aufbaut. Vielleicht hasst er den Umzug in dieses halb leere Haus. Sie hat noch weniger Ahnung, was die anderen beiden denken. Der Portier Juventus wird die ganze Nacht in seinem Kämmerchen sitzen, unfähig, seinen Posten zu verlassen, nicht einmal zum Schlafen. Martha wird sich in einem winzigen Zimmer im Obergeschoss schlafen legen. In ihren Gedanken sieht sie die Abstellkammer in Felix’ Wohnung vor sich, für die Rufus in den Monaten vor ihrem Kauf bezahlt hat, damit sie dort untergebracht war und nicht jede Nacht im Bordell leiden musste. Paris muss dort immer noch schlafen, denkt sie und stellt sich ihren alten Mitbewohner vor, wie er auf dem Boden kauert. Sie hat nie viel für ihn übriggehabt. Felix’ Sklavenjunge und Teilzeitprostituierter war weit davon entfernt, ein Freund zu sein. Tatsächlich verbrachten Paris und Amara die meiste Zeit in diesem Zimmer damit, sich zu streiten, aber jetzt denkt sie fast mit Zuneigung an ihn. »Sei keine verdammte Idiotin«, murmelt sie. Es steht ihr frei zu fluchen, schließlich ist sie allein. Amara nimmt einen weiteren Schluck aus ihrem Glas. Der Wein brennt. Es ist nicht Paris, den sie vermisst. Ihre Freundinnen aus dem Bordell sind in ihrer Erinnerung so lebendig, dass sie sich fast greifbarer anfühlen als der Garten, in dem sie sitzt. Sie weiß, dass sie sich zu dieser Stunde auf den Ansturm der Kunden vorbereiten und gemeinsam scherzen, um die Dunkelheit zu erhellen. Sie fragt sich, ob Beronice noch einen Topf mit Goldpaste hat, um ihre Augen zu betonen, ob sie es heute geschafft hat, sich Zeit mit ihrem Geliebten Gallus zu stehlen, und ob Victoria sie immer noch damit neckt. Amara umklammert den Stiel ihres Glases noch fester. Victoria. Die beiden sind miteinander verbunden, nicht nur durch Liebe, sondern durch eine Blutschuld, ein Band, das den Göttern ebenso heilig ist wie den Menschen. Ohne Victoria wäre Amara nicht mehr am Leben. Victoria war es, die alles für Amara riskierte und einen Mann tötete, um ihr das Leben zu retten. Und Amara hat sich nie dafür revanchiert. Stattdessen hat sie ihre Freundin verlassen, um die Geliebte eines reichen Mannes zu werden, hat sie im Bordell zurückgelassen, wo sie verrottet. Schuldgefühle durchfluten sie, so heiß wie der Wein. Sie blickt auf das Gemälde von Dido, das kaum mehr als ein dunkler Fleck ist. Der Schatten verschwimmt, während sich ihre Augen mit Tränen füllen. »Gute Nacht, meine Freundin«, sagt sie zu der Wand. Amara leert ihr Glas, steht auf und lässt alles auf der Bank liegen, damit Martha es am Morgen wegräumt.
Das Arbeitszimmer ist rot. Felix steht mit dem Rücken zu ihr, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich umdrehen wird. Sie öffnet den Mund, um zu schreien, aber kein Laut kommt heraus. Sie will wegrennen, aber ihre Beine sind wie Blei. Sie kann sie nicht schnell genug bewegen. Er steht neben ihr und hält ein Messer in der Hand, dasselbe, das er bei den Saturnalien hatte, in der Nacht, in der Dido starb. Sie weiß, dass er sie vergewaltigen wird, und dass sie nichts tun kann, um ihn aufzuhalten. Felix richtet die Klinge auf ihr Auge. »Ich habe dich vermisst.«
Amara wacht auf und ringt nach Luft. Ihr Gesicht ist nass von Tränen. Sie braucht einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie ist. Dann vergräbt sie sich wieder unter der Decke. Sie verspürt den verzweifelten Drang zu schluchzen, doch sie krallt ihre Nägel in die Handflächen und ballt die Fäuste. Selbst in ihrer Panik weiß sie, dass sie keine hässlichen, geschwollenen Augen riskieren kann. »Es wird vorübergehen«, murmelt sie sich in der Dunkelheit selbst zu und weigert sich zu weinen. »Es wird vorübergehen.« Die Albträume quälen sie jetzt, wo sie in Sicherheit ist, mehr als damals, als sie die Schrecken im wirklichen Leben ertragen musste.
Es ist stickig unter der Bettdecke. Amara setzt sich auf und zwingt sich, aus dem Bett zu steigen. Die Fliesen auf dem Boden sind kalt. Sie streckt sich, wobei sie versucht, die Angst zu vertreiben, als ob sie sie von ihren Fingerspitzen abschütteln könnte. Ihr Schlafzimmer ist klein und bietet nur Platz für ein Bett und eine Wäschetruhe, aber es ist beruhigend. Das einzige natürliche Licht fällt durch ein Innenfenster, das auf das Tablinum hinausgeht. Fresken mit blühenden Zweigen umrahmen den engen Raum und verbreiten das sanfte Leuchten von Apfelblüten. Öllampen ruhen in Nischen, die in die Wände eingelassen sind. Wenn sie nachts angezündet werden, sehen sie laut Rufus aus wie Sterne, die durch die Baumkronen scheinen.
Der Gedanke an ihren Geliebten beruhigt sie. Sie legt eine Hand auf ihr Herz. Rufus wird sie vor Felix beschützen – das hat er immer getan.
Amara beginnt sich anzukleiden, sie zieht es vor, das selbst zu tun, anstatt Martha zu Hilfe zu rufen. Sie nimmt ihr Lieblingsgewand aus der Truhe: das weiße, das Plinius ihr geschenkt hat. Es ist immer noch das schönste, das sie besitzt, auch wenn der Stoff schon ein wenig abgenutzt ist. Hätte er nicht alle seine Rechte an Rufus abgetreten, dann wäre Plinius, der Admiral der römischen Flotte, jetzt ihr Gönner. Plinius war es, der ihr sowohl ihre Freiheit als auch seinen Namen geschenkt hat. Amara glaubt nicht, dass sie jemals dieser vier Worte überdrüssig werden wird, besonders des letzten: Gaia Plinia Amara, Liberta. Sie schnürt das weiße Gewand an der Schulter und flüstert ihren neuen Titel wie eine Beschwörung. Sie hofft, dass sie den Admiral eines Tages wiedersehen wird, um ihm für alles zu danken, was er getan hat.
Amara öffnet die Tür und tritt in ihr zweites Zimmer. Martha sitzt dort bereits auf einem Schemel und wartet auf sie. Sie wirkt müde. Sobald sie ihre Herrin sieht, erhebt sie sich.
»Du brauchst nicht so früh aufzustehen«, sagt Amara verlegen. »Bitte. Du kannst dich ausruhen, bis ich dich rufe.«
»Der Herr sagte, ich solle dich bedienen«, antwortet Martha, geht zum Schminktisch und bedeutet Amara, sich zu setzen, damit sie ihr Haar frisieren kann. Die beiden Frauen schweigen, während Martha mit dem Kamm durch Amaras vom Schlaf zerzauste Locken fährt, um sie wieder in Ordnung zu bringen.
»Warst du in deiner Heimatstadt ein Dienstmädchen?«, fragt Amara schließlich. »In Masada?«
Martha hört so abrupt auf, dass das Ziehen an ihrer Kopfhaut Amara zusammenzucken lässt. »Wer hat dir das gesagt?«
»Du musst es erwähnt haben«, behauptet Amara, weil sie nicht verraten will, dass sie es von Philos weiß.
»Ich war kein Dienstmädchen, nein. Ich war verheiratet.« Marthas Stimme ist flach. Sie fährt mit dem Kämmen fort.
Da wird Amara klar, dass Martha auch eine Mutter gewesen sein könnte, dass sie vielleicht gerade in den tiefsten Schmerz einer anderen Frau eingedrungen ist – den Diebstahl oder Mord an ihren Kindern. »Es tut mir leid«, sagt sie. »Es ist hart, wenn man aus seinem Zuhause gerissen wird. Und aus seiner Familie.«
»Es ist, wie Gott es will«, antwortet Martha. »Es steht mir nicht zu, das infrage zu stellen.« Und dir auch nicht, ist die Folgerung, die sie unausgesprochen lässt.
Amara gibt auf. Martha soll ihre Geheimnisse für sich behalten. Schließlich besitzt das Dienstmädchen nichts anderes. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, dass es stattdessen ihre Freundin Victoria ist, die ihr das Haar kämmt, dass die Finger, die sie spürt, jemandem gehören, der sie liebt. Victoria hat immer alle im Bordell mit ihrem Gesang geweckt, egal wie dunkel die Nacht zuvor gewesen war. Allein die Erinnerung an ihre süße Stimme lässt Amara lächeln. Martha frisiert ihr in aller Stille die Haare und hält Amara dann den Spiegel hin, damit sie ihre Augen nachziehen kann. Als sie fertig ist, trennen sich Herrin und Dienstmädchen, beide mit einem Gefühl der Erleichterung, wie Amara vermutet.
Sie geht hinaus in den Garten. Die Bank ist jetzt leer, der Krug und die Weingläser sind weggeräumt. Der Himmel über ihr zeigt das helle Blau eines neuen Tages, die Sonne ist noch nicht lange aufgegangen. Sie kann den Tau riechen, der noch frisch in der Luft liegt. Mit sanftem Plätschern fällt Wasser in den Brunnen, an dessen Rand sich eine kleine Venus aus Marmor rekelt. Amara spürt einen Hauch von Glück. Das bedeutet es, frei zu sein, all dies genießen zu können.
Sie bückt sich, um sich den Thymian anzusehen, den Philos gestern verstümmelt hat, um herauszufinden, ob daneben noch andere Heilkräuter wachsen. All diese Monate war sie hier und hat nicht richtig aufgepasst.
»Du brauchst die Blumen nicht zu fürchten. Du stellst sie alle in den Schatten.«
Sie springt auf, erschreckt von seiner Stimme. »Rufus!«
Ihr Gönner steht am Rand des Gartens und beobachtet sie. Sie läuft hinüber, um ihn zu umarmen.
»Es tut mir so leid, dass ich dich gestern Abend enttäuscht habe, mein Schatz«, sagt er und drückt sie ungestüm an sich. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
Amara blickt voller Bewunderung zu ihm auf. Ihre Angst, seinen Schutz zu verlieren, ist so real, dass es sich fast anfühlt, als würde sie ihn wirklich lieben. »Ich bin so froh, dass du jetzt hier bist«, sagt sie und lässt sich von ihm küssen. »Obwohl ich nicht weiß, ob ich Helvius verzeihen kann, dass er dich festgehalten hat.«
Rufus lässt sich mit einem Stöhnen auf die Bank fallen. »So ein wichtigtuerischer Kerl!« Amara setzt sich neben ihn, und er legt seine Hand auf ihr Knie. »Du wirst nicht glauben, was er vorhat. Er will Ende Mai Taurische Spiele abhalten, um die Götter der Unterwelt zu besänftigen.«
»Aber warum?«, fragt Amara erschrocken.
»Das Beben im Januar. Er ist überzeugt, dass ein weiteres großes Erdbeben kommen wird.«
»Aber das war doch kaum der Rede wert«, meint sie und erinnert sich daran, wie der Boden gezittert hat, an ein Grollen wie entfernten Donner. Das ganze Ereignis war fast vorbei, bevor Amara überhaupt begriffen hatte, was geschah, auch wenn es einen überraschend großen Riss im Atrium verursacht hat und die Gehwege draußen mit Dachziegeln übersät waren.
»Du warst bei der Katastrophe im Jahr des Konsulats von Marius und Afinius nicht hier«, sagt Rufus und klingt dabei selbst ein wenig wichtigtuerisch. »Wir sind immer noch damit beschäftigt, den Schaden zu beheben.« Er winkt mit der Hand, als wollte er einen imaginären Helvius abweisen. »Aber wie auch immer, ich freue mich für ihn, dass er seine taurischen Spiele veranstaltet. Nur jetzt behauptet er, dass ein Theaterfestival zu den Floralia kurz zuvor die Spiele entwerten würde. Das ist doch lächerlich. Selbst Cicero hat eins veranstaltet. Und Helvius ist noch nicht einmal gewählt worden! Stell dir vor, wie wichtigtuerisch er dann erst sein wird.«
»Du wirst ihn überzeugen – ich weiß es. Und wenn du nächstes Jahr Ädil bist, kannst du tun, was immer du willst.« Amara verschränkt ihre Finger mit seinen und versucht ihre Nervosität zu verbergen, während sie überlegt, ob dies ein guter Moment ist, um sich tiefer in sein Leben zu drängen. »Ich habe nachgedacht«, sagt sie. »Vielleicht könntest du Helvius für einen Abend hierher einladen? Ich könnte für eine musikalische Darbietung sorgen, um euch alle zu unterhalten. Damit er sieht, wie wichtig dir solche Aufführungen sind. Ich hatte sowieso vor, dir vorzuschlagen, dass ich ein paar Musikerinnen kaufe. Du könntest als ihr Förderer auftreten.«
»Du willst Musikerinnen kaufen?«, fragt Rufus erstaunt. In ihrem früheren Leben wurden Amara und Dido von ihrem Zuhälter vermietet, um auf Dinnerpartys zu singen. So hat sie auch Plinius kennengelernt. Die Musik war selten die einzige Dienstleistung, die sie anbieten mussten.
»Ich möchte nicht vorschlagen, dass ich irgendwo anders als in diesem Haus auftrete«, erklärt Amara schnell. »Aber es hat mir so viel Spaß gemacht, mit Dido Gedichte zu vertonen; ich würde dich so gern auf diese Weise unterhalten. Und Drusilla wäre sehr daran interessiert, sich an den Kosten zu beteiligen, wenn sie unsere Musikerinnen von Zeit zu Zeit ausleihen könnte. Wir dachten da an Flötenspielerinnen?«
»Oh, ihr Mädels habt also etwas ausgeheckt, was?« Rufus lacht. »Nun, lass mich darüber nachdenken. Vielleicht kaufe ich sie für dich, sobald du für mich Harfe spielen kannst.« Philos kommt mit einem Tablett, beladen mit süßem Wein, Brot und dem krümeligen weißen Käse, den Martha gestern extra gekauft hat. Er stellt es auf den kleinen Tisch auf Amaras Seite der Bank. Sie versucht seinen Blick zu erhaschen, um ihm zu danken, aber er sieht sie nicht an. Philos geht so leise, wie er gekommen ist. »Was hat Drusilla gestern zu deinem Unterricht gesagt?«, fährt Rufus fort, ohne seinen Sklaven zu beachten. Er hat auch Didos Abbild an der Wand nicht bemerkt. »Wirst du besser?«
»Sie meint, es würde mir helfen, wenn ich zu Hause mein eigenes Instrument hätte, um zu üben«, sagt Amara und reicht Rufus ein Glas Wein.
»Aber das habe ich doch die ganze Zeit gesagt«, ruft er und rollt mit den Augen. Er nimmt einen Schluck.
»Ich habe Angst, dass dir mein Spiel noch nicht gefällt«, erklärt Amara. »Ich möchte dich nicht enttäuschen.«
»Nervöses Vögelchen«, erwidert Rufus und beugt sich zu ihr, um sie erneut zu küssen. »Wie könnte ich etwas anderes tun, als dich zu bewundern?« Amara lächelt ihn an, obwohl sie innerlich bei dem Spitznamen zusammenzuckt. Rufus nennt sie so, seit er sie befreit hat, ein Scherz, der auf einen Brief von Plinius zurückgeht, in dem er sie mit einem Vogel vergleicht, der in Gefangenschaft nicht singen kann. Ihr Gönner setzt seinen Wein ab und zieht sie näher zu sich. »Ich habe heute Morgen nicht viel Zeit, meine Liebe«, murmelt er in ihr Haar, während er seine Hände unter die Falten ihrer Kleidung gleiten lässt.
»Gib mir nur einen Moment«, erwidert Amara und denkt an all den Jasmin, den sie vorhin nicht auf ihren Körper gerieben hat, und, was noch schlimmer ist, an das Verhütungsmittel, von dem sie nicht möchte, dass Rufus sieht, wie sie es benutzt.
»Lass dir nicht zu lange Zeit«, antwortet er und gibt sie frei. Amara geht davon und wirft ihm dabei über die Schulter den Blick zu, den Victoria ihr beigebracht hat und von dem sie weiß, dass er ihm nicht widerstehen kann. Sein Blick trifft den ihren, und in diesem Moment fühlt sie sich unbesiegbar. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass dieser Mann sie irgendwann nicht begehren könnte.
Nachdem Rufus gegangen ist, verbringt sie einige Zeit allein an ihrem Frisiertisch. Ihre Hände zittern leicht, als sie den Kajal in die Hand nimmt. Sie setzt ihn wieder ab. Es war ein Akt der Selbstüberschätzung, dass sie Rufus beeindrucken wollte und diesen speziellen Trick versucht hat, den Felix immer von ihr verlangt hat und der deshalb mit dunklen Erinnerungen behaftet ist. Sie hatte Glück, dass ihr Liebhaber zu sehr in seiner Lust gefangen war, um ihr Zögern zu bemerken. Wenigstens hat ihr Wagnis seinen Zweck erfüllt.
Amara greift wieder nach dem Kajal, und dieses Mal sind ihre Hände ruhiger. Sie hält sich selbst den Spiegel, ohne nach Martha zu rufen, und zieht die dunklen Linien um ihre Augen nach. Ihr Spiegelbild starrt zurück, mutiger, als sie sich innerlich fühlt.
Juventus und Philos lachen zusammen, als sie das Atrium betritt. Sie sprechen einen lokalen Dialekt, den sie nicht versteht, lehnen nebeneinander an der Wand und amüsieren sich offenbar über einen privaten Scherz. Juventus ist viel kräftiger als Philos, mit einem dichten Bart, während der Verwalter glatt rasiert ist, aber in solchen Momenten wirken sie so vertraut wie Brüder. Amara weiß, dass der Portier seine Stellung Philos zu verdanken hat, und sie bemerkt, dass er ein Stück Brot in der Hand hält. Philos muss es ihm aus der Küche gebracht haben. Die beiden Männer verstummen, als sie näher kommt.
»Ist heute jemand für mich da?«, fragt sie.
»Draußen auf der Bank wartet eine Frau«, sagt Philos. »Wir haben sie beide noch nie gesehen. Metella aus den Venusbädern.«
Amara nickt Juventus zu. »Du kannst sie reinlassen.«
»Brauchst du mich, um einen Vertrag aufzusetzen?«, fragt Philos.
»Lass mir zuerst ein wenig Zeit mit ihr allein«, antwortet Amara. »Aber vielleicht könntest du das Tablett aus dem Garten bringen?«
»Natürlich.«
Metella kommt herein. Sie ist eine der respektablen verheirateten Frauen, die sich früher geweigert hätten, Amara auf der Straße auch nur anzusehen. Jetzt betritt sie ihr Haus und wirkt dabei nervös und vorsichtig.
»Ich bin so froh, dass du mich besuchen konntest«, sagt Amara und umarmt sie. »Es tut mir leid, dass du warten musstest.«
Metella erwidert das Lächeln, wirkt aber immer noch misstrauisch. Amara lenkt ihren Gast in Richtung des Tablinums, ihres öffentlichen Arbeitszimmers, in dem sie Gäste empfängt, während sie über Julia Felix plaudert, die gemeinsame Freundin und Besitzerin der privaten Bäder, in denen sie sich kennengelernt haben. Als die beiden Frauen einander gegenübersitzen und Philos das Essen und den Wein auf den Tisch gestellt hat, scheint sich Metella wohler zu fühlen.
Das Tablinum ist einer der schönsten Räume des Hauses. Hinter Amara befindet sich ein großes Fenster, das frische Luft und den Duft des Gartens hereinlässt. Die Wände sind gelb, und Vögel fliegen von einer zur anderen oder sitzen auf blühenden Zweigen. Auf der dem Fenster gegenüberliegenden Wand prangt ein Pfau, dessen Schwanz hinter Metellas Kopf prachtvoll aufgefächert ist, und Tauben sitzen auf dem Türsturz. Amara kommt nicht sofort zur Sache. Sie schenkt den Wein aus, erkundigt sich nach Metellas Familie, lobt die Erfolge der Kinder ihres Gastes und nickt verständnisvoll bei Erzählungen über einen tyrannischen Schwiegervater. Die ganze Zeit, während Metella spricht, hört Amara aufmerksam zu. Den Trick, etwas über das Leben eines Kunden zu erfahren, hat sie von ihrem alten Herrn gelernt. Felix’ Geschick beim Geldverleih war immer außergewöhnlich. Sein Schatten liegt über derartigen Treffen, aber Amaras Erinnerungen an ihn sind nicht gänzlich unwillkommen. Sie trägt seinen lockeren Charme wie einen Umhang, der ihre gemeinsame Leidenschaft für den Profit verbirgt. »Und dein Gönner weiß von … deinem Geschäft?«, fragt Metella und kommt endlich zur Sache. Sie sieht sich um, mustert die hellen Wände, die zarten Schwalben im Flug, die hinter ihrer Gastgeberin an die Wand gemalt sind, und überlegt wohl, welchen Wert Rufus seiner Konkubine beimessen muss. Seine Familie ist in Pompeji sehr bekannt, jetzt umso mehr, da er seinem Vater Hortensius in die Politik folgt.
»Oh!«, meint Amara und winkt ab. »Das ist kein Geschäft. Ich fände es furchtbar, wenn du das denken würdest. Ich helfe nur von Zeit zu Zeit Freundinnen aus. Wo ich kann.«
»Es ist keine große Summe«, erwidert Metella. »Nur fünfzehn Denare. Ich werde keine Schwierigkeiten haben, sie zurückzuzahlen. Aber ich würde es vorziehen, die Sache diskret zu behandeln. Mein Mann möchte vermutlich nicht damit belästigt werden.«
Amara folgert daraus, dass der Ehemann nicht informiert werden soll. »Es ist eine Lappalie zwischen Frauen«, stimmt sie zu. »Es ist nicht nötig, jemand anderen einzubeziehen.«
Metella nimmt ein Armband von ihrem Handgelenk und legt es langsam auf den Schreibtisch. »Das bedeutet mir sehr viel«, erklärt sie.
»Ich verspreche, darauf aufzupassen«, sagt Amara, nimmt das gravierte Bronzeschmuckstück und betrachtet es mit angemessener Ehrfurcht. Sie legt das Armband sorgfältig in eine kleine Schachtel, damit Metella bei diesem Anblick nicht erschrickt. »Und meine Zinsen sind nicht unangemessen. Fünf Prozent Zinsen pro Monat. Und weitere fünf Prozent, wenn das Geld nicht innerhalb von drei Monaten bezahlt wird.«
Metella nickt, wirkt jedoch weniger erfreut über diese Information. »Sehr gut«, antwortet sie.
Amara steht auf und geht zur Tür, um Philos hereinzurufen. Er ist im Zimmer, fast noch bevor sie wieder sitzt. Sie flüstert ihm die Summe zu, als er sich bückt, um die Tafel vom Schreibtisch zu nehmen. Amara war überrascht, als Philos ihr Angebot ablehnte, eine Provision für die von ihm geschriebenen Kreditverträge zu nehmen. Sie selbst kann sich nicht vorstellen, Geld abzulehnen, egal von wem, niemals.
Amara unterhält sich weiter mit Metella, während Philos den Vertrag aufsetzt. Er reicht ihn ihnen zur Unterschrift. Metella zögert einen Moment, bevor sie ihren Namen in das Wachs kratzt. Fünf Prozent sind nicht annähernd so hoch wie der Wucherzins, den Felix für gewöhnlich verlangte, aber Amara hat auch keine gewalttätige Schutzgelderpresserorganisation hinter sich, auf die sie zurückgreifen könnte, um ihre Forderungen durchzusetzen. Nicht dass sie sich vorstellen könnte, das jemals nötig zu haben. All ihre Kunden sind Frauen, und sie hat schon lange vermutet, dass sie einen zuverlässigeren Markt bilden.
Nach der Unterzeichnung des Vertrags scheint Metella unbedingt gehen zu wollen. Amara weiß, dass dies nach Abschluss eines Geschäfts nicht unüblich ist. Sie begleitet Metella zurück ins Atrium, zeigt ihr den Garten, plaudert über die Narzissen und versucht ihren Gast zu beruhigen, indem sie vorgibt, es handele sich nur um einen gesellschaftlichen Besuch.
»Was für ein außergewöhnliches Gemälde«, bemerkt Metella. Sie blickt ein wenig unsicher auf die wilde Jagdszene um sie herum.
Amara lächelt. »Das Haus war schon so gestaltet«, sagt sie.
Nachdem sie einige weitere unbeholfene Worte über den Brunnen ausgetauscht haben, geht Amara mit ihrer Kundin zur Tür, wobei sie die zerlumpte alte Frau, die jetzt am Treppenaufgang im Atrium sitzt, ignoriert. Die gebeugte Gestalt könnte leicht mit einer älteren Haussklavin verwechselt werden, die es nicht wert ist, beachtet zu werden.
Sobald sie sich verabschiedet haben und sie sicher ist, dass Metella außer Sichtweite ist, wendet sich Amara der alten Frau zu. Die Gestalt steht auf und schiebt die Kapuze von ihrem Gesicht. Es ist Fabia, das Mädchen für alles im Bordell, eine ehemalige Prostituierte und Felix’ älteste Sklavin.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagt Amara und nimmt Fabias ausgestreckte Hände in ihre. »Ich habe dich vermisst.«
Und die ganze Zeit über ist es den armen Sklaven verboten, ihre Lippen zu bewegen, um zu sprechen, geschweige denn zu essen. Das leiseste Murmeln wird mit einem Stock unterbunden; nicht einmal unbeabsichtigte Laute wie Husten oder Niesen oder Schluckauf sind erlaubt und werden mit einer Tracht Prügel bestraft.
Seneca der Jüngere, Briefe an Lucilius
Amara und Fabia sitzen im Garten, neben ihnen auf dem Tisch der Bohneneintopf von gestern Abend und ein Berg Brot. Beide schlingen wie Wölfe, Fabias Hunger rührt vom Mangel her, Amaras von ihrem selbst auferlegten Fasten. Sie weiß, wie sie aussehen müssen – eine alte Hure und eine junge, die ihre Gelüste stillen, während ihnen der Eintopf vom Kinn tropft, aber das ist ihr egal.