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Dämonen können keine Tränen vergießen, so heißt es. Es sei denn, es ist eine schwarze Träne. Sie verleiht dem, der sie besitzt, vollkommene Macht über den Dämon. Coco Zamis indes glaubt, das wahre Gesicht des Hohen Gremiums erkannt zu haben – aber was ist Trug, was Wahrheit? Und stimmen ihre Erinnerungen: dass sie in ihrer Jugend schon einmal ins Haus der schwarzen Tränen verbannt worden ist?
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Seitenzahl: 261
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Band 66
Das Haus der Schwarzen Tränen
von Michael Marcus Thurner und Logan Dee
nach einem Exposé von Uwe Voehl
© Zaubermond Verlag 2022
© »Das Haus Zamis – Dämonenkiller«
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
www.Zaubermond.de
Alle Rechte vorbehalten
Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.
Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Unter der Oberfläche jedoch gehen die intriganten Spiele unvermindert weiter, auch innerhalb der Zamis-Sippe. Wobei Coco zumindest in ihrer Halbschwester Juna eine Gleichgesinnte findet, denn auch Juna stößt das Treiben der Dämonen eher ab.
Unterdessen schart ein mächtiger Dämon weltweit Jünger um sich: Abraxas. Niemand weiß, was genau er bezweckt, doch selbst Asmodi, der amtierende Fürst der Finsternis, sieht in ihn einen gefährlichen Gegenspieler. Abraxas bedient sich in Wien eines treuen Vasallen: Monsignore Tatkammer.
In Hamburg lernt Coco Merle kennen, die sich ebenfalls als eine Halbschwester entpuppt. Da erreicht Coco der Todesimpuls ihrer Geschwister – Adalmar und auch Lydia werden Opfer von Tatkammers Intrigen.
Nun ist Coco gefragt, ihren Eltern beizustehen und den Tod der Geschwister zu rächen. Sie tötet Monsignore Tatkammer, doch Abraxas erweckt ihn wieder zum Leben – wovon die Zamis aber zunächst nichts ahnen …
In Wien kommt es zum Showdown. Mit Abraxas’ Macht im Rücken gelingt es Tatkammer, Coco wie eine Marionette zu benutzen. Tatkammer zwingt sie, ihr Elternhaus, die Villa Zamis, in Brand zu setzen. Cocos Eltern Thekla und Michael Zamis kommen in den magischen Flammen um. Auch ihr Bruder Georg und Juna befinden sich zu dem Zeitpunkt in der Villa, genauso wie Dorian Hunter, der Dämonenkiller und Cocos ehemaliger Liebhaber.
Schwer verletzt erwacht Coco im Krankenhaus. Sie wird von dämonischen Schwestern und Ärzten gesund gepflegt und wohnt schließlich der Beerdigung ihrer Eltern bei. Ihre Seelen werden in einem Scheingrab auf einem Friedhof beigesetzt, der sich in einer anderen Dimension befindet.
Wien ist nun, so hört man, in Abraxas’ Hand. Genauso wie überall immer mehr Mitglieder der Schwarzen Familie zu Abraxas überlaufen.
Coco hat von all dem genug. Sie setzt sich einfach in einen Zug und fährt einem unbekannten Ziel entgegen … Als der Zug jedoch auf offener Strecke hält und Coco verwirrt aussteigt, trifft sie auf sechs weitere Reisende, die fortan ihr Schicksal bestimmen. Denn niemand ist der, der er zu sein vorgibt.
Bei dem folgenden tödlichen Kampf verliert Coco das Leben – und erwacht kurz darauf in Gegenwart eines geheimnisvollen Fremden, der sich Guardian nennt und der ihr erklärt, dass es sich um eine Prüfung gehandelt habe. Da sie sie nicht bestanden habe, müsse sie weitere Prüfungen meistern. Dahinter steckt das geheimnisvolle Hohe Gremium, das nach eigenen Angaben weder zum Guten noch zum Bösen neigt, sondern das allein dafür sorgt, dass das Gleichgewicht gewahrt bleibt.
Coco besteht auch die nachfolgenden Prüfungen nicht. Sie wird auf den Dämonenfriedhof verbannt, auf dem das Scheingrab ihrer Eltern liegt. Dort, so teilt ihr Guardian mit, wird sie so lange bleiben müssen, bis das Hohe Gremium endgültig über ihr Schicksal entschieden hat …
Was Coco nicht ahnt, ist, dass Juna und Georg dem Feuer in der Villa entkommen konnten. Guardian versucht Georg von Cocos Unschuld zu überzeugen, denn er weiß auch, wo Coco sich jetzt aufhält: im Haus der schwarzen Tränen …
Aurora
von Michael Marcus Thurner
nach einem Exposé von Uwe Voehl
Guardian:
»So beginnt also die Geschichte Auroras, die sie mir in den wenigen Stunden unseres Zusammenseins erzählt hatte …«
Aurora:
»Meine Liebste, bitte lassen Sie mich ein! Seit zwei Wochen suche ich Ihr Heim auf, Abend für Abend heimlich und unter großen Schwierigkeiten. Ich besteche die Diener Ihrer Eltern, damit sie mich bei der Seitentür reinlassen. Ihr Vater wurde dank meiner Unterstützung in den Stadtrat aufgenommen. Trotz der bösen Gerüchte, die über ihn im Umlauf sind und trotz des niedrigen Standes Ihrer Familie.«
Aurora lächelte.
»Ich habe mich stets wie ein Cavaliere verhalten. Habe Ihnen Pretiosen geschenkt. Habe Ihre Familie unterstützt. Habe Ihren missratenen Cousin aus dem Kerker holen lassen, trotz seiner unzähligen Eskapaden, und ihn auf freien Fuß gesetzt. Was erwarten Sie denn noch von mir?«
Aurora blickte zu ihrem Verehrer hinab und verbarg das Gesicht hinter einem Schleier. Der alte Graf konnte bloß ihre Augen sehen. Fackeln, am richtigen Platz angebracht, sorgten in den Stunden der Abenddämmerung für ein Licht, das ihre körperlichen Vorzüge am besten zur Geltung brachte. Zumindest jene, die Aurora bereit war, dem Greis zu zeigen.
»Stadtrat Moragnoli«, sagte sie, »ich schätze sehr, was Sie für meine Familie und mich getan haben. Aber Sie taten es freiwillig. Ohne einer Zusage meinerseits, Ihnen meine Gunst zu gewähren. Sie erinnern sich?«
Moragnoli trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Selbstverständlich tue ich das, Signora. Aber ich hoffte, dass meine Taten Ihr Herz zumindest ein wenig erweichen würden. Nur eine Stunde alleine mit Ihnen, Aurora, und Sie würden wissen, was für einen guten Freund Sie in mir haben.«
»Es wird Sie gewiss nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass ich diese Worte schon von einigen anderen Männern gehört habe?« Aurora zog sich ein wenig von der steinernen Balkonbrüstung zurück. Sodass Moragnoli glauben musste, dass sie sich in ihr Zimmer zurückzog.
»Ich bin anders!«, rief der Graf mit sich überschlagender Stimme. »Fragen Sie jedermann in der Stadt. Man wird Ihnen meine Tugend und meine Ehrenhaftigkeit bestätigen. Bei mir, Signora, sind Sie in den besten Händen.«
Von wegen! Aurora wusste nur zu gut, dass der Alte in den Hafenvierteln herumhurte. Wenn ihn die Laune überkam, holte er sich einen der Burschen aus den Schiffsdocks, ließ ihn waschen und schminken, in sein Familienanwesen am Land schaffen und ihn in Frauenkleider stecken. Für einige Florin kaufte er sich einen Lustknaben, um ihn mit seinem weichen Schwänzlein unter Mithilfe einer Dienerin zu sodomisieren.
»Bitte!«, flehte Angelo Moragnoli erneut.
Aurora trat wieder einen halben Schritt vor. Sie tat so, als würde sie zögern. »Ich kann mich darauf verlassen, dass sie in ehrbarer Absicht kommen, Conte? Als Freund, der meiner Tugendhaftigkeit keinen Schaden zufügen wird?«
»Selbstverständlich, Signora!«
Aurora betrachtete den Alten genau. Seine Haltung strafte die Worte Lügen. Breitbeinig stand er da. In der Hose zeichnete sich eine Beule ab, klein, aber doch. Die Hände öffneten und schlossen sich, immer wieder, als würde er ihren Körper kneten.
»Ich weiß nicht so recht, Conte … Was, wenn meine Eltern davon erfahren? Sie sind zwar für eine Woche außer Haus, aber das Personal tratscht nun mal gerne.« Aurora beugte sich weit über die Brüstung. Wieder würden die Fackeln ihre Arbeit erledigen und ihr flackerndes Licht auf Auroras üppige Brüste werfen. Kurz nur, um das Feuer des Alten weiter anzufachen. So, dass jegliches Denken bei ihm aussetzte.
»Bitte, Signora!« Moragnoli ging leise ächzend auf die Knie. »Ich bin Ihr Freund. Ihr Diener. Ihr Sklave. Gewähren Sie mir Einlass.«
Ein letztes Zögern. Ein letztes ängstliches Mienenspiel. »Also schön, Conte. Für eine Stunde. Mein Diener Purgatori wird darüber wachen.«
»Könnten wir nicht ohne Purgatori parlieren? Ich verstehe ohnedies nicht so recht, warum Ihnen so viel an diesem ungeschlachten Kerl liegt …«
»Wollen Sie nun eingelassen werden oder nicht, Moragnoli? Ich bin eine Frau, die ihre Launen pflegt, und es kann jederzeit sein, dass ich meine Meinung ändere. Wollen Sie das?«
»Nein, natürlich nicht!« Der Conte kam erstaunlich rasch wieder hoch und streckte beide Arme theatralisch aus. »Wenn es denn sein muss, dann soll der cretino während unserer Unterhaltung anwesend sein.«
»Sehr gut, Graf. Dann warten Sie bitte eine Minute. Purgatori wird Sie am Tor in Empfang nehmen.«
»Danke, Signora. Danke!« Conte Moragnoli stieß einen Ton aus, der irgendwo zwischen Seufzer und einem Laut der Geilheit angesiedelt war.
Aurora kehrte in ihr Zimmer zurück. Purgatori wartete bereits. Er spielte mit einem Messer, gefertigt aus sizilianischem Mondstahl. Wie immer.
»Du weißt, was du zu tun hast?«
»Es ist nicht das erste Mal, dass die süße, keusche Aurora einen Gast empfängt. Heimlich und zu später Stunde.«
»Schlag gefälligst einen anderen Ton an, Purgatori! Vergiss nie, dass du bloß ein Diener wie jeder andere bist.«
»Und du vergiss nicht, wer dich zu dem gemacht hat, was du heute bist.« Er tat mit der Rechten eine großzügige Geste, die den ganzen Raum umfasste. »Dies alles hier verdankst du zu einem Teil mir.«
Aurora folgte der Bewegung. Sie blickte über Stricke, Werkzeuge und Ketten. Über ihre Messersammlung. Die bereitgestellten Gläser voll Spiritus, allesamt noch leer, aber schon bald gefüllt mit den Innereien des Grafen.
Ihr Jagdhund lag flach auf dem Boden und hechelte. Sein Fell war struppig, von Blutkrusten verklebt. Er kaute lustlos auf einem Oberschenkelknochen herum. Nun, er würde bald mit frischem Fleisch gefüttert werden. Auch wenn es zähes, altes Fleisch sein würde.
»Hole ihn!«, befahl Aurora dem Diener. »Lass ihn im Vorraum warten. Ich werde mich umziehen.«
»Du willst dem Alten tatsächlich erlauben, über dich zu kommen?«
»Du weißt ganz genau, dass sie am besten schmecken, wenn sie kurz vor der Erfüllung ihrer Lust sind. Ein paar Bewegungen mit der Hand werden reichen, um seine Manneskraft vollends zum Erblühen zu bringen. Und natürlich werde ich ihn nicht an mich heranlassen. Er wird sein schrumpeliges Ding in eine Schweinsblase reinschieben und glauben, das Paradies auf Erden zu erleben.« Aurora lachte. Glockenhell. Unschuldig klingend. So, wie sie es seit Jahren übte, immer und immer wieder.
»Du gehst ein Risiko ein, Aurora. Man wird sich bald fragen, wo der Alte abgeblieben ist. Zumal in den letzten Monaten immer wieder mal Angehörige des Adels verschwunden sind.«
»Und?« Aurora zuckte mädchenhaft mit den Schultern. »Die Edelleute sind mit ihren Ränkespielen beschäftigt, mit Streitigkeiten und Duellen. Sie saufen und huren sich zu Tode, während sie Politik zu machen glauben. Sie wollen ihr Leben auf Kosten einfacher Menschen genießen, solange es geht. Denn jeder weiß, dass sich der Große Berg irgendwann einmal wieder schütteln und die Stadt zerstören wird.«
»Ergreifst du etwa Partei für die unteren Schichten der Menschen?« Purgatoris Stimme nahm einen bedrohlichen Klang an.
»Fragst du mich, ob ich für Nutzvieh Partei ergreife?« Aurora lachte. »Ganz gewiss nicht. Ich beschreibe die Menschen bloß so, wie sie sind. Sie streben stets nach oben, dem Licht entgegen. Aber sie können bloß dann in die Höhe gelangen, wenn sie über die Leiber aller anderen steigen. Und ganz oben, an der Spitze, halten sich lediglich einige Wenige. Sie verteidigen ihren Platz, indem sie ihre Stiefelabsätze und ihre Säbel mit aller Grausamkeit einsetzen.«
»Diese Worte würden deinen Eltern nicht gefallen. Sie riechen und schmecken nach Revolution.«
»Du kannst gerne darüber mit ihnen reden, sobald sie zurückgekehrt sind. Bis dahin aber habe ich das Sagen. Und jetzt geh gefälligst und öffne das Tor für meinen Galan. Ich bin sicher, er kann kaum noch an sich halten.«
»Natürlich, Aurora.«
»Contessa Aurora!«
Purgatoris Körper versteifte sich kurz. Auroras Leibdiener fing sich aber rasch wieder. »Wie Ihr wünscht, Contessa«, sagte er mit leidenschaftsloser Stimme und ging mit steifen Schritten davon.
Aurora ließ sich auf ihrem Lieblingsstuhl nieder. Unmittelbar neben dem Dornenbett, auf dem Moragnoli in dieser Nacht ruhen würde.
Sie strich sachte über die Nägel des Bettes. An ihnen klebten getrocknetes Blut, Haut- und Fleischreste. Eine gelbweiße Made, glänzend-speckig und fett, wand sich an einer der Spitzen hoch. Ein kleines, unauffälliges Lebewesen, das eine der wichtigsten Aufgaben in der Villa verrichtete: Sie und Millionen ihrer Artgenossen beseitigten jene Überreste, die von Auroras Opfern übrig blieben.
Sie lächelte zufrieden. Nebenan war das Klackern eines hölzernen Stockes zu hören. Der Conte war eingetroffen. Er würde einen chiai kredenzt bekommen. Ein Heißgetränk, das unverschämt teuer war und seit einigen Jahren über Handels- und Schiffskarawanen aus den Ländern im Osten ins Königreich Sizilien gelangte.
Aurora lehnte sich entspannt zurück. Sie würde sich Zeit lassen. Sie liebte das Gefühl, die Beute wie eine Spinne einzuweben, und würde es so lange wie möglich auskosten.
Purgatori hatte durchaus recht. Sie trug etwas Aufrührerisches in sich. Sie würde es besser verbergen müssen, denn ihr Diener war nicht nur eine ausgezeichnete Hilfskraft, die Aurora bei all ihren Unternehmungen half, sondern auch ein Feind.
Sie schloss die Augen und dachte an die Zeit zurück, da alles begonnen hatte. Nebenan war das Klirren teuren Porzellans zu hören. Es stammte ebenfalls aus dem Osten und war von portugiesischen Seefahrern auf die Insel verbracht worden …
1566
Ein helles, schwabbeliges Ding mit einer deutlichen Erhöhung erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war in ihrer Nähe. Es bot sich ihr dar.
Sie schnappte mit dem Mund danach und kaute auf dem hervorstehenden Etwas herum. Sie wusste, dass es gut für sie war. Dass es notwendig war. Dass es Nahrung und damit Leben für sie bedeutete.
Sie sog sich gierig fest und hörte einen Laut. Das schwabbelige Teil wurde ihr entzogen. Nur zu gerne hätte sie geschrien, aber es fehlte ihr die Kraft dazu. Sie war schwach, viel zu schwach. Aber sie wollte stärker werden, und dazu musste sie saugen, saugen, saugen.
Geräusche waren zu hören. Noch konnte sie sie nicht richtig einordnen, und sie waren ihr auch einerlei. Sie öffnete und schloss den Mund, immer wieder. Um zu zeigen, dass sie gefüttert werden musste.
Endlich fühlte sie wieder den Nippel im Mund und tat, was zu tun war. Diesmal allerdings blieb sie vorsichtig. Sie wollte nicht, dass ihr das Schwabbelding ein weiteres Mal entzogen wurde.
Sie spürte, wie Flüssigkeit den Mund füllte. Sie gab ihr Kraft und machte, dass sie sich rasch besser fühlte.
Nur zu gerne hätte sie sich von dem Ding im Mund befreit, aber das durfte sie nicht. Sie benötigte dessen Inhalt. Wenn sie trank, würde sie rasch kräftiger werden. Und wenn sie kräftig genug war, dann …
Schläfrigkeit hüllte sie ein. Erinnerungen an das Früher ihrer Existenz gerieten in Vergessenheit. Sie saugte und saugte und saugte und schlief dabei ein, um sich zu erholen.
Aurora. Das war ihr Name. Man hatte ihr, ohne sie zu fragen, eine Bezeichnung gegeben.
Andere Menschen bestimmten über sie. Oh, wie sie das hasste! Niemand hatte das Recht, ihr etwas vorzuschreiben. Aber immer noch war sie zu schwach, um sich gegen die Bevormundung zu wehren.
Aurora war in einem winzigen Körper gefangen. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie sich längst aufgerichtet und wäre auf eigenen Beinen gestanden. Aber sie waren zu schwach, um das Gewicht zu tragen. Ihr gesamter Körper war der eines winzigen Wesens. Ihr Geist hingegen …
Also ließ sie mehr oder weniger geduldig über sich ergehen, was die Erwachsenen so taten. Sie streichelten und herzten Aurora, sie gaben ihr Kosenamen, lächelten sie an, zeigten Zuneigung.
Der Vater, ein mürrisch dreinblickender Mann mit dunklem Haarschopf namens Stefano, ließ sich nur selten blicken. Aber wenn er mal den Augenkontakt zu ihr suchte, dann hellte sich sein Gesicht auf. Er nahm Aurora in den Arm und schaukelte sie. Selbst wenn sie sich für das fürchterliche Geschunkel revanchierte und sich über seinem Hemd erbrach, verlor er sein dümmliches Grinsen nicht.
Maria, die Mutter, war eine dürre Frau mit schielendem Blick. Hätte Aurora es können, hätte sie sie ausgelacht und verspottet.
Dafür war später noch Zeit. Aurora musste geduldig bleiben. Zumal sie rasch gelernt hatte, dass ein Lächeln sie deutlich rascher ans Ziel brachte.
Und dann war da noch die Amme namens Rosa. Eine verhärmte Frau mit großen Brüsten, die sie nährten. Die jene beiden schwabbeligen Dinger besaß, aus denen Aurora ihre Nahrung bezog.
Aurora war abhängig von Rosa, und das machte sie zornig. Aber sie durfte ihren Hass auf Rosa nicht zeigen. Aurora musste warten. Geduld haben.
Wie sehr sie ihr Leben hasste! Warum sollte sie auf die Erwachsenen Rücksicht nehmen?
»Ein Wunderkind« nannte man sie. Weil sie deutlich bewusster war als gleichaltrige bambini und schneller lernte. Aurora wurde herumgereicht und hergezeigt. Sie reagierte auf Zuruf und lächelte. Sie bekam einfache Worte vorgesagt und versuchte sie nachzusprechen. Sie wurde aufgesetzt und tat ihr Möglichstes, um nicht wieder umzukippen.
Aurora war stolz darauf, dass sie einen Vorsprung gegenüber anderen Kindern besaß. So sollte es auch sein. Von der ersten Sekunde ihres Bewusstwerdens an hatte sie gewusst, dass sie etwas Außergewöhnliches war.
Als ein Mann in Schwarz erschien und sie aufmerksam betrachtete, ahnte Aurora, dass sie einen Fehler begangen hatte. Denn dieser Mann war ein Feind. Ein schreckliches Wesen, dem widerlicher Gestank anhaftete und das sie zweifelnd betrachtete.
»Mag sein«, sagte jener, den man pater nannte, »dass die kleine Aurora ein Geschenk Gottes ist. Mag aber auch sein, dass sie ein Werkzeug des Teufels ist. Denn das Dämonische äußert sich oft in Besonderheit. Und sind wir uns ehrlich: Wollen wir ein Kind, das zur jungen Frau heranwächst und womöglich schlauer ist als gleichaltrige Burschen? Die ihnen den Kopf verdreht und Dinge tut, die den Geboten Gottes zur Frömmigkeit widersprechen? Verträgt sich denn das mit den Gesetzen der Natur, wo wir doch wissen, dass das Weib dem Manne untertan bleiben soll? Wo kämen wir denn hin, wenn Frauen das Sagen hätten?«
Die Mitglieder der Familie taten sonderbare Zeichen. Sie tapsten mit den Fingern gegen die Stirn, den Bauch und die Schultern, in einem Ritual, das in Aurora Unbehagen auslöste.
»Noch kann man nicht sagen, wie das Pendel ausschlagen wird«, fuhr der Pater fort. »Aber ich rate euch, mir die kleine Aurora zu überlassen, sobald sie groß genug dafür ist. Ich werde ihr alle Flausen austreiben und dafür sorgen, dass sie die göttliche Ordnung der Dinge nicht weiter durcheinanderbringt.«
»Ja, Pater«, sagte die Mutter.
»Ja, Pater«, sagte der Vater.
Rosa hingegen hielt Aurora die linke Brust hin und nährte sie, sobald sich der böse Mann in dem hässlichen Gewand verabschiedet hatte.
Rosas Haut verlor an Farbe. Ihr Körper wurde welk, die einstmals prall gefüllten Dutten waren bloß noch schlaffe Säcke.
»Füttere mich!«, forderte Aurora mit jener piepsigen Stimme, die sie an sich selbst so sehr hasste. »Gib mir alles, was in dir steckt.«
Rosa zögerte. Wollte die Stube verlassen. Wollte vor ihr fliehen.
»Du kannst mich nicht alleine lassen!«, sagte Aurora und schniefte. »Ich bin ein armes, unschuldiges Ding. Möchtest du, dass ich hungers sterbe? Dass mein Leben einfach so vergeht? Das kannst du gewiss nicht zulassen, Rosa.«
Die Matrone tat einen wackeligen Schritt auf sie zu und ließ sich auf das einfache Möbelstück plumpsen. In ihren Augen stand Verzweiflung geschrieben. Sie konnte und sie wollte nicht mehr. Aber Aurora zwang sie dazu. Kraft ihrer Überzeugung, ihrer Stimme, ihrer Willenskraft.
»Lass mich an deinen Brüsten saugen, Rosa. Schenk mir dein Leben. Du willst es doch selbst, nicht wahr? Du möchtest dich für mich aufopfern. Weil du mich mehr liebst als alles andere in der Welt. Liebe mich, Rosa! Die Gesichtszüge der Amme erstarrten. Mit hölzernen Bewegungen zog sie das leinene Oberkleid beiseite und präsentierte die linke Brust. Sie war vernarbt und zerbissen. Schwärende Wunden hatte Rosa mit Moos belegt. Der Schorf heilte nur mangelhaft ab.
Rosa zögerte, wollte die Brust wieder verdecken.
»Gib mir Nahrung, Rosa! Sorge für mich! Opfere dich für mich auf. So, wie es sich für eine Amme geziemt. Ich bin etwas ganz Besonderes, also behandle mich auch so. Oder soll ich mit meinem Vater, deinem Herrn, reden? Möchtest du, dass er dich entlässt und mit Schimpf und Schande davonjagt? Solche wie dich gibt es wie Sand am Meer. Wenn du entlassen wirst, füllt eine andere deinen Platz auf. Du wirst in der Gosse der Stadt landen, nicht mehr in der Lage, deine eigenen Kinder großzuziehen. Sie werden in Waisenhäuser kommen, und du weißt ja, was dort mit ihnen geschieht. Man wird sie verkaufen, für die miesesten Arbeiten heranziehen, in die Hurenhäuser am Hafen weiterreichen. Willst du das, Rosa? Willst du das?!«
Tränen kullerten aus den Augen der Amme. Sie flossen tief eingegrabene, dunkle Furchen hinab.
Rosa litt, denn sie erahnte ihr Schicksal. Sie wusste, dass sie nicht entkommen konnte.
Die Amme beugte sich stumm zu Aurora herab und schob ihr den zerbissenen Brustnippel in den Mund. Aurora schnappte gierig zu. Nicht weil sie hungrig war, sondern weil sie Vergnügen daran fand, der Frau Schmerzen zu bereiten.
Die wenige Milch, die Aurora ihr aus dem Leib zog, hatte kaum Geschmack. Nichts daran war nahrhaft.
Aurora drehte den Kopf beiseite und spie aus. »Ist das alles, was du mir anzubieten hast, Rosa? Willst du mich etwa nicht froh und glücklich machen? Was bist du bloß für eine böse, böse Frau!«
Die Amme hielt ihr die rechte Brust hin, Aurora biss zu. So fest, dass sie neben der Muttermilch auch den angenehmen Geschmack frischen Blutes im Mund spürte. Sie nuckelte gierig, vermengte die beiden Flüssigkeiten und gab sich ihrer Schläfrigkeit hin. Sie benötigte viel Ruhe, ihre Kräfte erlahmten rasch.
Aurora musste Geduld haben. Ihr kleiner Körper, der eines achtzehnmonatigen Kindes, passte ganz und gar nicht zu den Gedanken, die sie hegte.
Sie wusste nicht zu sagen, warum sie sich deutlich rascher entwickelte als andere Bälger ihres Alters. Etwas steckte in Aurora, das sich vom ersten Tag ihrer Existenz an bemerkbar gemacht hatte. Eine ganz besonders tiefe Lust am Leben und etwas, das sie noch nicht so recht festmachen konnte.
Dunkelheit, dachte sie, bevor sie in einen Halbschlaf fiel. In mir steckt abartig schöne Dunkelheit.
Aurora hatte dafür gesorgt, dass sie alleine mit der Sterbenden war. Sie wollte diese letzten Minuten mit ihrer Amme genießen und die Reste ihres Lebens in sich aufnehmen.
Sie atmete tief durch und blähte die Nasenflügel wie die Nüstern eines Pferdes auf. Es war ein erhebendes Gefühl, die Nähe des Todes zu fühlen. Rosa röchelte und hustete dann leise, unterdrückt. Mehr Kraft steckte nicht mehr in dem faltigen Körper.
»Zwei Jahre hast du mich genährt. Hast mir alle meine Wünsche erfüllt. Mir alles geschenkt, was ich von dir wollte. Du bist eine bewundernswerte Frau.«
Aurora betrachtete Rosa genau. Wie sich die Brust unregelmäßig hob und senkte. Der Speichelfluss aus ihrem Mund, der sich mit hellem Blut vermengte. Ein Zittern, das dann und wann den Körper durchfuhr. Die vielen schwärenden Narben am nackten Oberleib Rosas, aus denen das Leben scheinbar entwich wie aus einer aufgeblasenen Schweinsblase.
»Ich … danke dir dafür, Rosa. Du hast bemerkenswert viel für mich geleistet. Das sollte honoriert werden. Ich werde dir einen ruhigen und schnellen Tod schenken.«
Aurora tastete nach dem Messer, das sie in der Küche stibitzt hatte. Mit den beiden kleinen Händen umfasste sie den Griff und setzte die Spitze am Herz der Amme an. Sie ritzte die Haut und sah dabei zu, wie ein winziger Blutstropfen allmählich größer wurde.
»Andererseits …« Sie zog das Messer zurück. »Du hast mich in den letzten Monaten enttäuscht. Ich hätte gedacht, dass du länger durchhalten würdest. Aber du wurdest schwach. Hast dich aufgegeben. Hast einen Teil der Milch deinem eigenen Balg zum Trinken gegeben, obwohl sie eigentlich mir zugestanden hätte. Mir!«
Aurora fuhr mit dem Messer ungelenk über den Körper ihrer Amme. Pergamentene Haut platzte. Eine Art Stöhnen drang aus dem Inneren des Leibes.
»Und was hat es dir gebracht, Rosa? Dein Balg ist trotzdem gestorben. Es war zu schwach. Ein wertloses Stück Fleisch, für das sich niemand interessierte, als es begraben wurde. Nur dich und vielleicht deinen Mann, der die meiste Zeit in den Tavernen der Stadt verbringt und all das Geld versäuft, das du bei meinen Eltern verdienst.«
Rosa röchelte. Für einen Moment glaubte Aurora, dass die Amme ihren letzten Atemzug getan hatte. Doch noch war es nicht so weit. Aurora fühlte, dass noch ein klein wenig Leben in ihr steckte.
»Ich werde dir keinen ruhigen, einfachen Tod gönnen, meine Liebe. Weil du deinen verschissenen Sohn bevorzugt und mir seine Nahrung verweigert hast. Dafür wirst du büßen!«
Aurora drückte ihren Mund auf den Rosas. Der Geschmack nach fauligem Atem weckte Gefühle tiefer Freude und Befriedigung in ihr.
Sie löste sich wieder von der Amme, setzte sich auf einen Stuhl und summte ein Lied. Sie sah dabei zu, wie Rosa weniger und weniger wurde. Wie sie auf verlorenem Posten kämpfte. Wie sie einige unverständliche Worte murmelte und vielleicht sogar um Gnade bat.
Gnade? Was war das?
Aurora genoss die Sterbenselegie ihrer Amme. Jeden Augenblick davon.
Stefano und Maria fassten einen Beschluss, dessen Schwere Aurora nicht so recht erfassen konnte. Ihre Eltern hatten entschieden, sie nach Rosas Tod für eine Weile wegzugeben und dabei auf den Ratschlag des Mannes mit der schwarzen Kutte zu hören.
Der Pater stand eines Tages vor dem Tor ihres Hauses und begrüßte sie mit vorgegaukelter Freundlichkeit. »Da ist sie ja, die liebe, kleine Aurora! Na, komm zu mir, zum guten Onkel Ricardo. Komm nur, komm! Wir beide werden sehr viel Freude miteinander haben.«
Er trat durchs Tor, ging auf die Knie, umfasste ihre Arme und streichelte sie. »Ist es wirklich schon zwei Jahre her, dass dich der Gütige in die Obhut dieses gottesfürchtigen Paares übergeben hat? Und wie man mir sagt, hast du dich prächtig entwickelt, kleine Aurora. Man meint, dass du dich wie eine Zehnjährige unterhalten kannst und über mehr Wissen verfügst als die meisten Bewohner dieser Stadt. Was aber nicht sonderlich schwer ist.« Der Pater lachte und enthüllte dabei ein fehlerhaftes Gebiss.
»Meinen Sie nicht, dass es noch etwas zu früh dafür ist?«, fragte Mama zaghaft.
»Keineswegs, Signora Maria! Wenn die kleine Aurora tatsächlich Spuren des Bösen in sich trägt, kann man mit der Heilung ihrer Seele gar nicht früh genug beginnen. Sollte sie eines jener Wunderkinder sein, das Gott aus unerfindlichen Gründen ab und an über Erden wandeln lässt, dann muss ich sie gründlich auf alle Herausforderungen vorbereiten, denen sich Aurora im Laufe ihres Lebens wird stellen müssen. Wir haben dafür zu sorgen, dass sie keinen Fußbreit von dem ihr zugedachten Pfad abweicht. Und dazu bin ich da als Vertreter Gottes. Mir obliegt die Verantwortung, Seinem Willen Platz zu verschaffen.«
Der Pater erhob sich, sehr zu Auroras Erleichterung, und fuhr fort: »Macht euch keine Sorgen, Maria und Stefano. Eure Kleine ist bei mir in besten Händen.«
»Ich bin dennoch dagegen«, sagte Papa mit seiner markant tiefen Stimme, und beinahe hätte Aurora ihn für seine Worte geliebt. »Sie gehört hierher und nirgendwo sonst. Sie soll die bestmögliche Ausbildung genießen …«
»Die wird sie bei mir bekommen, keine Sorge.«
»Ich stehe Auroras Oheim gegenüber im Wort, dass ich sie nicht aus den Augen lasse.«
»Haben die Worte eines Oheims mehr Gewicht als die des Vaters? Und ist es nicht besser, wenn Gott auf sie achtet?«
»Ich will nicht weg von hier!«, rief Aurora. »Mama, Papa! Bitte schickt mich nicht mit diesem Mann weg. Er ist böse!«
Kurze Stille trat ein. Weder ihre Eltern noch der Pater sagten etwas. Sie standen bloß da, mit angehaltenem Atem, und betrachteten sie.
Sie hatte einen Fehler begangen. Aurora begriff: Der Pater besaß mehr Macht, als sie geglaubt hatte. Was er sagte, wog schwer bei ihren Eltern.
»Das ist der Beweis dafür, dass Aurora zu straucheln droht«, sagte der Pater mit düsterer Stimme. »Ich befürchte, ich werde sehr viel Arbeit mit der Kleinen haben. Selbst wenn ich wollte, dürfte ich sie euch nicht mehr lassen. Ihr habt gehört, was Aurora gesagt hat in völliger Verkennung dessen, was gottesfürchtige Wesen für richtig und für falsch halten. Sie sieht mich in einer schrecklichen Pervertierung als ihren Feind. Als das Böse. Wie bedauerlich.«
Pater Ricardo kramte unter seiner Kutte ein Stäbchen hervor. Es war kurz und biegsam, und der Mann ließ es mehrmals durch die Luft pfeifen, bevor er grob nach Auroras Hand griff.
Er drehte ihr den Arm auf den Rücken. Stechender Schmerz in der Schulter ließ sie aufschreien. Sie war gezwungen, sich vornüberzubeugen und sich auf die Zehen zu stellen.
Schmerz, den sie nie zuvor kennengelernt hatte, durchfuhr sie, nochmals und nochmals. Der Pater zog ihr den biegsamen Stab mit ruhiger Hand über den Popo. Dreimal, viermal, fünfmal. Er züchtigte sie mit einer Gemütsruhe, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan.
Nachdem er sein Werk vollendet hatte, packte er Aurora erneut, zog sie grob mit sich und schnappte nach einem bereitstehenden Sack. »Guten Abend, ihr beiden bemitleidenswerten Seelen. Ich befreie euch für eine Weile von der Last, mit einer derartigen Teufelin unter einem Dach wohnen zu müssen. Ihr hört von mir, sobald Auroras Seele gereinigt ist.«
»Aber …«
»Noch ein Wort des Widerspruchs von dir, Stefano, und du siehst dein Kind in den nächsten zehn Jahren nicht mehr. Sie gehört ab nun mir. So lange, wie ich es für richtig halte. Komm, Aurora!«
Das Tor öffnete sich, der Pater zog sie ins Freie. In die glühende Hitze der Stadt.
Ein Grollen war zu hören. Der Bebende Berg, wie er meist genannt wurde, meldete sich aus der Ferne und spuckte eine Staubwolke aus. Der Pater bekreuzigte sich und murmelte einige Worte, die Aurora Schmerzen bereiteten. Er zog sie weiter, weg vom Haus ihrer Eltern, das ihr während der ersten beiden Jahre ihres Lebens Schutz geboten hatte.
Auroras neues Heim war ein Ort des Schreckens. Das Haus war düster. Eine verbittert dreinblickende Alte mit tiefen Falten im Gesicht besorgte den Haushalt mehr schlecht als recht, während sich Pater Ricardo um das Seelenheil seiner Schäfchen kümmerte.
Meist hielt er sich in der Kirche auf und sorgte dafür, dass er von Aurora und den anderen Kindern begleitet wurde. Sie mussten Kandelaber reinigen, Kerzen ersetzen, wertvolle Messingteile putzen und mit feuchten Fetzen über den staubigen Boden wischen. Wenn sie nicht gehorchten, hatte Pater Ricardo seine biegsame Haselnussgerte stets rasch bei der Hand.
Er las Messen und wetterte von der Kanzel der Kirche herab über die Sündhaftigkeit der Menschen. Er verteilte Sterbesakramente und taufte Frischgeborene. Stets trug er ein Gebet auf den Lippen und hatte Ratschläge für verzweifelte Menschen parat, die sich an ihn wandten und um Hilfe baten.
Jedes Wort, jede Geste schmerzten Aurora. Sie hielt es kaum aus in der Kirche. Sie bekam Ausschläge, fror, hatte Ohren- und Kopfschmerzen und hasste ihre Umgebung mit aller Kraft.
»Ich habe solchen Hunger!«, stöhnte Gabriela und hielt sich den Magen. »Seit einer Woche bekommen wir lediglich Speisereste aus einem Holzbottich und fauliges Wasser. Selbst die Schweine in Ricardos Hof erhalten bessere Nahrung.«
»Halt den Mund!«, sagte Timo mürrisch und spuckte jenen Strohhalm aus, den er in die Lücke zwischen den Vorderzähnen geschoben hatte. »Du weißt, dass wir kein schlechtes Wort über den Pater verlieren dürfen. Er ist unser Herr.«
Er erhielt gemurmelte Zustimmung, die Köpfe der Kinder waren gesenkt.
Aurora sah sich in der kleinen Gruppe um. Sie begegnete stumpfen Blicken von fast einem Dutzend Leidensgenossen, die der Pater gebrochen hatte und die alles taten, um ihm zu gefallen.
Alles.