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Erste deutsche Direktübertragung aus dem Sanskrit, mit Kommentar von Emanuel Meyer Dieses Buch enthält das Opus magnum des größten alt-indischen Philosophen, Mystikers und Reformators, Sri Shankaracharya. Es vermittelt in über tausend Strophen die Quintessenz der Lehre vom Einen unveränderlichen nicht-dualen Absoluten und beschlägt folgende Themen: 1. Die Anforderungen an den Gottsucher 2. Meister und Schüler 3. Die Schöpfung als Projektion auf das Selbst 4. Die Bedeutung des Axioms "Das bist du" 5. Methoden der Meditation, Zustände der Erleuchtung 6. Der Erleuchtete Zusammen mit dem "Kronjuwel der Unterscheidung" und den "Sieben Kleinoden geistiger Erkenntnis" bildet das "Herz des Vedanta" eine Trilogie, die dem Leser umfassende Einsicht in die Philosophie des Advaita-Vedanta vermittelt und einen gangbaren Weg zur Erleuchtung, zum geistigen Endziel der Menschheit, und zur immerwährenden Glückseligkeit im Selbst offenbart.
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Seitenzahl: 458
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Aus dem Sanskrit-Original mit dem Titel ‘Sarva-vedānta-siddhānta-sāra-samgrahaḥ’ übersetzt von:
Emanuel Meyer
Christoph Rentsch
2. Auflage 2007
Alle Rechte vorbehalten
© 2003 by Heinrich Schwab Verlag
Eglofstal 42, D-88260 Argenbühl
Tel. 0049-7566-941957
Einbandgestaltung: Georg Weber
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH
ISBN 978-3-7964-0523-5
HEINRICH SCHWAB VERLAG ARGENBÜHL-EGLOFSTAL
Cover
Impressum
Titel
Vorwort
Māyā-Pañcakam
Angaben über den Kommentator bzw. die Übersetzer
Abkürzungsverzeichnis
Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden
(Sarva-vedānta-siddhānta-sāra-saṁgrahaḥ)
Zuflucht zum Urgrund
Die vier Hauptthemen
Kapitel 1
Die vier Erfordernisse
Grundsätzliches
Unterscheidungskraft (viveka)
Innerer Abstand oder Losgelöstheit (vairāgya)
Grundsätzliches
Die schädlichen Folgen von Wünschen und Begierden
Methode zur Überwindung von Wünschen und Begierden
Das Übel von Geld und Besitz
Losgelöstheit gegenüber dem Vergänglichen
Die sechs Tugenden (śamādi-ṣaṭkam)
Stille der Gedanken (śama)
Grundsätzliches
Der Weg zur Stille der Gedanken
Beherrschung der Sinne (dama)
Geduld (titikṣā)
Entsagung (uparati)
Verzicht auf Tätigkeit
Unvereinbarkeit von Tätigkeit und Erkenntnis
Erkenntnis
Die zwei Wege
Erkenntnis und Wirklichkeit
Rituale und Entsagung
Glaube (śraddhā)
Meditative Versenkung (samādhānam)
Die Sehnsucht nach Erlösung (mumukṣutvam)
Kapitel 2
Der wahre geistige Meister, der Guru
Der wahre Meister
Des Schülers Hilferuf
Der Meister: “Fürchte dich nicht!”
Des Schülers Zweifel und Fragen
Vorschau auf die Lehre des Meisters
Gottes Gnade
Beginn der Unterweisung
Kapitel 3
Die Schöpfung
Projektionen auf das Selbst
Unwissenheit (māyā)
Die fein- und grobstofflichen Elemente und Körper
Der Kausalkörper (ānandamaya-kośa)
Die Entstehung der 5 feinstofflichen Elemente
Der feinstoffliche Körper und seine Hüllen
Einleitung
Die fünf Wahrnehmungssinne
Die vier geistig-seelischen Kräfte
Der Körper oder die Hülle der Erkenntnis (vijñānamaya-kośa)
Der Mentalkörper oder die Hülle des Gemüts (manomaya-kośa)
Die fünf Tatsinne und die fünf Lebenskräfte
Der Energiekörper oder die Hülle der Lebenskraft (prāṇamaya-kośa)
Zusammenfassung
Die Entstehung der fünf grobstofflichen Elemente
Die grobstofflichen Elemente, ihre Sinnesund Tatobjekte
Die Gottheiten der zehn Sinne und der vier geistig-seelischen Kräfte
Das Selbst und das Nicht-Selbst
Der grobstoffliche Kosmos
Einleitung
Vier Arten von Geschöpfen
Die Schöpfung als Kollektiv
Das Individuum
Zusammenfassung
Übersichtstabellen zu Kapitel 3
Kapitel 4
Das Selbst und das Nicht-Selbst
Grundsätzliches
Das Nicht-Selbst
Wie kommen Projektionen zustande?
Einleitung
Des Schülers Fragen
Die Antwort des Meisters
Die zwei Kräfte der Unwissenheit
Falsche Meinungen vom Selbst
Einleitung
Warum das Kind nicht das Selbst ist
Warum der Körper nicht das Selbst ist
Warum die Sinne nicht das Selbst sind
Warum die Lebenskraft nicht das Selbst ist
Warum ‘Manas’ (das Gemüt) nicht das Selbst ist
Warum ‘Buddhi’ nicht das Selbst ist
Warum die Unwissenheit im Tiefschlaf nicht das Selbst ist
Warum das Selbst nicht gleichzeitig bewusst und unbewusst sein kann
Der Irrtum, das Selbst sei Nichtexistenz
Das wahre Selbst
Einleitung
Warum das Selbst keine Nichtexistenz ist
Das Selbst als kontinuierlich existierender Zeuge
Das Selbst als Sein
Das Selbst als Bewusstsein
Das Selbst als Glückseligkeit
Die einzige Quelle wahrer Freude
Des Schülers Zweifel
Kein Glück in äusseren Dingen
Kapitel 5
Das Absolute
Das homogene Eine ohne etwas anderes
Das Höchste Selbst
Die Welt als Sinnestäuschung
Die Identität von Selbst und Absolutem
Das vedische Axiom “Jenes bist du”
Der wörtliche Sinn von ‘jenes’
Der wörtliche Sinn von ‘du’
Der übertragene Sinn von ‘jenes’ und ‘du’
Du bist reine bewusste Wirklichkeit
Die Unwirklichkeit der Traum- und Wachzustände
Du bist das Absolute
Keine Vielfalt, keine Dualität, kein Wandel
Du bist der Zeuge, das Absolute, reines Bewusstsein, reines Sein
Warum fürchtest du dich?
Du bist reine bewusste Wirklichkeit
Kapitel 6
Meditative Versenkung
Einleitung
Eignung und Grundlegendes zur Meditation
Zuhören, nachdenken, meditieren
Meditation mit und ohne Gedankeninhalt
Zweierlei Savikalpa-Samādhi
Meditation als Beobachter der inneren Vorgänge
Einleitung
Ich bin der Zeuge
Ich bin reines Absolutes Bewusstsein
Ziel und Hindernisse wahrer Andacht
Erlösung
Eindrücke und Neigungen
Unvereinbarkeit von Werken und Erkenntnis
Wahre Andacht
Meditation mit Worten aus der Heiligen Schrift
Nirvikalpa-Samādhi
Drei weitere Savikalpa-Samādhis
Einleitung
Meditation, um Projektionen zu beseitigen
Meditation über das zu negierende Äussere
So soll der Gottsucher meditieren
Nochmals Nirvikalpa-Samādhi
Die sechs Arten von Samādhi
Die acht Stufen des Yoga
Kapitel 7
Erleuchtung
Rückblick
Vorwort zu Kapitel 7
Der erleuchtete Schüler
Im Selbst verankert
Bekenntnis
Eine weitere Frage
Stufen und Zustände auf dem Weg zur Erlösung
Die sieben Stufen
Die neun Bewusstseinszustände
Definitionen
Der zu Lebzeiten Erlöste
Der Erlöste ohne Körper
Merkmale des Erlösten ohne Körper
Das Absolute
Das Erbe des Erlösten ohne Körper
Apotheose
Schlusswort des Meisters
Abschied
Nirvāṇa Ṣaṭkam
Die Quintessenz
Regeln für die Aussprache von Sanskritwörtern
Original-Sanskrit-Text in internationaler Umschrift
Das Leben des erhabenen Śaṅkarācārya ist in mancher Hinsicht ein Rätsel. Nicht einmal seine Geburts- und Todesdaten sind unumstritten. Nach vorherrschender Ansicht der Biographen erblickte Saṅkarācārya im Jahr 788 nach Christi Geburt in Kalāḍi bei Alwaye im südindischen Staat Cochin das Licht der Welt. Geburt und Kindheit waren von grossen Wundern begleitet. Sein Vater starb, als er noch klein war. Die Mutter liess ihn nur schweren Herzens ziehen, nachdem er – sechzehnjährig – das Mönchsgelübde abgelegt hatte.
Als Spross einer wohlhabenden Familie im Luxus aufgewachsen, entsagte er allem, nahm Abschied und wählte ein Leben der Armut auf der Suche nach der Wahrheit. Während der Wanderzeit fand Śaṅkarācārya seinen geistigen Mentor, Meister Govinda, der ihn nach Benares sandte, dem Zentrum der Wissenschaften und des geistigen Lebens. Sein Inspirator war Gauḍapādaācārya, der Guru seines Gurus, Begründer der Philosophie des Advaita-Vedānta im Kali-Zeitalter.1)
Mit der Schöpferkraft eines Genies und der grenzenlosen Weisheit des Erleuchteten schuf Śaṅkarācārya in den zweiunddreissig Jahren seines Erdenlebens ein ge waltiges literarisches Werk, von erschöpfenden Kommentaren über die Brahma-Sūtras, die wichtigsten klassischen Upaniṣaden und die Bhagavad-Gītā bis hin zu den philosophischen Werken und einem Band von Gedichten von überirdischer Schönheit. Śaṅkarācāryas epochale Lehren sind der westlichen Welt nur beschränkt und vorwiegend in englischer Sprache zugänglich. Deutsche Übersetzungen sind selten. Die vorliegende ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ ist unseres Wissens die erste deutsche Direktübertragung aus dem Sanskrit-Original des wohl bedeutendsten Werks der Advaita-Vedānta-Philosophie.
Der überragende Teil von Śaṅkaras Lehrtätigkeit galt der Verbreitung des advaita-vedāntischen Gedankenguts, des nach Ansicht von Raphael, eines in Italien lebenden Erleuchteten, höchsten metaphysischen Pfades, den die Menschheit kennt. Dazu trugen die von ihm an vier Kardinalpunkten des indischen Subkontinents – Śṛṅgeri bei Mysore, Puri in Orissa, Dvāraka in Gujarat und Badrīnāth im Himālaya – gegründeten Klöster mit ihrer geistigen Tradition entscheidend bei. Von den sechs Denkschulen des Hinduismus geniesst der Advaita-Vedānta im modernen Indien mit Abstand die grösste Gefolgschaft.
Die kürzeste Definition des Advaita-Vedānta ist in der Schluṣtrophe eines Lehrgedichts von Śaṅkarācārya mit dem Namen ‘Blütenkranz von Versen über die Erkenntnis der Absoluten Wirklichkeit’ (brahma-jñāna-āvalīmālā) enthalten. Sie lautet:
Das Absolute ist wirklich, die Welt ein Trugbild. Die Seele ist das Absolute, nichts anderes. Mit diesen Worten ist die Wissenschaft der Wahrheit zu lehren. Das ist die Quintessenz des Vedānta.
Śaṅkarācārya ging als Reformator des Hinduismus in die Geschichte ein. Er befreite die zeitlosen vedischen Wahrheitslehren von den erstarrten Liturgie-Formen einer verknöcherten Priesterschaft und liess sie wieder in ihrem ursprünglichen Glanz erstrahlen. Er schaffte die grausamen Tieropfer ab, machte das Studium des Advaita-Vedānta allen Gläubigen, besonders auch den Frauen, zugänglich und drängte den als gott- und seelenlos verworfenen Buddhismus zurück.
Der Autor der ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ gilt als göttliche Inkarnation in einer Zeit geistigen Umbruchs. Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und Präzision vermittelte er seinen Zeitgenossen und Dutzenden von Generationen nach ihm im Kleid erhabener dichterischer Schönheit einen Querschnitt durch die fundamentalen geistigen Lehren sämtlicher Upaniṣaden. Die Verfasser der Upaniṣaden sind begnadete Seher reinen Gemüts. Diesen Erwählten hat Gott die ewig unveränderlichen geistigen Gesetze für die dürstende, nach immerwährendem Leben in ununterbrochener Glückseligkeit lechzende Menschheit ins Herz geschrieben.
Śaṅkaras Opus magnum ist eine klare, wenn auch anspruchsvolle Vorgabe für den geistigen Pfad, ein für viele Menschen guten Willens gangbarer Weg zur Gotterfahrung. Dieser führt aus dem Bewusstsein der Dualität, gekennzeichnet durch die kosmische Macht der Māyā mit ihren Kräften der Verhüllung und der Projektion, hinaus in das Bewusstsein der All-Einheit mit dem Merkmal der einen unteilbaren Absoluten Wirklichkeit und Wahrheit.
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass europäische Gelehrte altindischer Philosophie die ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ nach Kriterien von Stil und Semantik einem angesehenen Autor des Mittelalters namens Sadānanda zuschreiben. Dieser lebte von etwa 1560 bis 1630 und wurde auch Sadānanda Yogīndra (König der Yogis) genannt. Der Titel deutet darauf hin, dass er schon zu seiner Zeit als Erleuchteter angesehen wurde. Sadānanda Yogīndra war Autor eines Werks über ‘Die Essenz des Vedānta (Vedānta-sāra)’, das von berühmten Philosophen wie Nṛsiṁha Sarasvati und Rāmatīrtha kommentiert wurde.
Massgebende indische Autoritäten widersprechen dieser Ansicht. Sie gaben den Übersetzern des vorliegenden Werks eine schriftliche Bescheinigung über die Urheberschaft Śaṅkarācāryas von Sarva-vedānta-siddhānta-sāra-saṁgrahaḥ. – Wie dem auch sei, die zeitlose geistige Botschaft und Gültigkeit des wohl bedeutendsten Werks über die Lehre vom einen, nicht-dualen Absoluten wird von niemandem in Frage gestellt.
Vorab einige grundsätzliche Betrachtungen zum Inhalt. ‘Hinduismus’ als Bezeichnung einer der grossen Weltreligionen ist in der eigenen Tradition ein Fremdwort. Der wahre Name heisst ‘Sanātana Dharma’, wörtlich die ‘immerwährende Pflicht’. Gemeint ist das ewig gültige, unveränderliche Pflichtgebot des Menschen, der ihm vom Schöpfer in die Wiege gelegte kategorische Imperativ, sich der Identität seiner innersten Seele mit der Absoluten Wirklichkeit bewusst zu werden oder – in Begriffen der christlichen Glaubenslehre – “vollkommen zu sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist”.
den Ṛg-Veda (Lobhymnen an die Götter),
den Yajur-Veda (Anleitung zu Opferritualen),
den Sāma-Veda (rituelle Gesänge),
den Atharva-Veda (okkult-mystische Abhandlungen).
Wissenschaftler haben versucht, das Alter des gesamten Veda anhand der Urschriften zu ermitteln. Ihre Ergebnisse weichen um Jahrtausende voneinander ab. Abgesehen davon sind solche Schätzungen unerheblich. Lange bevor die Vedas die Form von Hand- und Druckschriften annahmen, wurden sie nach alter Tradition in anfang- und endloser Zeitfolge vom Meister mündlich auf den auserwählten Schüler überliefert. Klangbilder und Metrum machten dem Novizen das Auswendiglernen zur Freude. Das strenge Versmass gehorchte aber nicht nur prosodischen Formzwängen. Es diente in hohem Mass auch Erfordernissen der Sicherheit. Oft wurden den Werken ingeniöse Schutzmechanismen in Gestalt unauffälliger Redefiguren eingebaut. Sie hatten den einzigen Zweck, nachträgliche Änderungen zu verhindern.
Erleuchtete wissen, dass der Veda nie nicht existierte und in alle Zukunft nie vergeht.
Jeder der vier Vedas besteht aus vier Segmenten: den ‘Saṁhitas’ (Urtext des Veda in Poesie), den ‘Brahmaṇas’ (Kommentar zum Urtext in Prosa), den ‘Āraṇyakas’ (Meditationen) und den ‘Upaniṣaden’. Diese werden auch Vedānta, wörtlich ‘Ende des Veda’, genannt.
Die ersten drei Segmente ergeben zusammen den einen Teil der Heiligen Schriften. Er handelt von religiösen Zeremonien und Opferritualen und heisst ‘Karma-kāṇḍa’ (ritueller Teil). Der Vedānta bzw. die Upaniṣaden bilden den anderen Teil der Heiligen Schriften. Dieser vermittelt das Wissen von der Absoluten Wirklichkeit. Er trägt den Namen ‘Jñāna-kāṇḍa’ (philosophischer Teil).
Śaṅkarācāryas ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ resümiert den Teil der Heiligen Schriften, der das Wissen vom Absoluten vermittelt, den philosophischen Teil der vier Vedas.
Der Aufbau von Śaṅkarācāryas Opus magnum ist unschwer zu erkennen, obschon im Original jede Gliederung nach Kapiteln, Abschnitten und Unterabschnitten mit den zugehörigen Überschriften fehlt. Er macht klar, für wen das Wissen vom Absoluten bestimmt ist, wer das vedische Wissen vermittelt und woraus das Wissen vom Absoluten besteht.
Niemandem ist es verwehrt, die Wissenschaft aller Wissenschaften zu studieren. Selbst eine Schnupperlehre kann sich als wertvoller Same erweisen. “Ein wenig schon von diesen religiösen Lehren (dharma) schützt vor grosser Angst”, tröstet der Erhabene Kṛṣṇa seinen Schüler in der Bhagavad-Gītā (BhG 2,40). Gleich zu Beginn seiner ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ aber sagt Meister Śaṅkarācārya:
Nun werden die Grundgedanken der Wissenschaft des Vedānta zusammengefasst, damit die fest entschlossen Erlösung Suchenden Glückseligkeit und Erleuchtung finden. (Vers 4) – Als ‘geeigneter Sucher’ gilt, wer die vier Erfordernisse weitgehend erfüllt, logisch denken kann, intelligent und weise ist. (Vers 7)
Die vier Erfordernisse, die fest entschlossen Erlösung Suchende erfüllen müssen, sind im ersten Hauptabschnitt ausführlich dargelegt. Für diese ist das Wissen vom Absoluten bestimmt.
Wer vermittelt das vedische Wissen? Antwort: Der wahre geistige Meister. Diesen charakterisiert der Autor wie folgt:
In der Heiligen Schrift bewandert, in der Absoluten Wirklichkeit verwurzelt, friedvoll, allen gleich gesinnt, nicht an Besitz gebunden, nicht ichbezogen, jenseits aller Gegensatzpaare, frei von Habgier, unabhängig, rein, intelligent, ein Nektarozean der Barmherzigkeit. Diese Merkmale und Eigenschaften kennzeichnen den wahren geistigen Meister, den, der die Höchste Wirklichkeit kennt. Diesen muss der Wahrheitssucher von ganzem Herzen verehren, damit er das Ziel des Lebens erreiche. (Vers 252-253)
Über den wahren geistigen Meister unterweist der Autor den geeigneten Sucher im zweiten Hauptabschnitt.
Das umfassende Wissen vom Absoluten wiederum lehrt Śaṅkarācārya in den fünf Hauptabschnitten ‘Die Schöpfung’, ‘Das Selbst und das Nicht-Selbst’, ‘Das Absolute’, ‘Meditative Versenkung’ und ‘Erleuchtung’. Soviel zum Aufbau des grossen Lehrwerks über den Advaita-Vedānta.
Gleichsam als Meilenstein Null am Anfang der geistigen Wanderschaft schicken wir der ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ Śaṅkaraācāryas kurzes Lehrgedicht über die kosmische Macht der Täuschung voraus, das:
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, bringt in Mir – dem Höchsten Bewusstsein, frei von allen Vorstellungen, dem Unvergleichlichen, Ewigen, Unteilbaren, Ungeteilten – die Verschiedenheit von Welt, Gott und Einzelseelen hervor.
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, verdüstert ohne Unterschied alle Einzelseelen, angefangen von den Vierbeinern bis hin zu den Weisen, welche hunderte heiliger Offenbarungsschriften einschliesslich der Upaniṣaden erläutern, indem sie ihnen Tag für Tag Reichtümer und Vergnügen vorspiegelt.
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, bindet das nicht-duale ungeteilte Bewusstsein vom Wesen der Glückseligkeit an den Ozean der Wiedergeburten, begrenzt durch Raum, Luft, Feuer, Wasser und Erde, und verwirrt es über alle Massen.
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, erzeugt im Höchsten Bewusstsein, das aus Freude besteht und frei von Unterschieden der Merkmale, Kaste und Geburt ist, die Vorstellung, ein Brahmane, ein Handwerker oder Bauer zu sein und die Illusion, Gattin, Kinder und Haus zu haben.
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, verwirrt über alle Massen selbst die Weisen, indem sie diese dazu verleitet, im Ungeteilten Bewusstsein einen Unterschied zwischen Brahmā2), Viṣṇu3) und Śiva4) zu machen. Welch ein Jammer!
Möge Śaṅkarācāryas ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’, das Herz des Vedānta, allen ernsthaft nach Erkenntnis strebenden Menschen die kosmische Täuschung (māyā) mit ihren würgenden Begrenzungen überwinden helfen. Mögen diese Sucher mit Gottes Gnade das Endziel des Menschseins erreichen und die Existenz im Bewusstsein der All-Einheit vom Wesen immerwährender, ununterbrochener Glückseligkeit im Selbst noch in diesem Leben verwirklichen!
Emanuel MeyerChristoph Rentsch
1) Das Kali-Zeitalter umfasst 43’200 Jahre und erstreckt sich nach unserer Zeitrechnung vom Jahr 3102 vor bis zum Jahr 40’098 nach Christi Geburt.
2) Erschaffer der Welt
3) Erhalter der Welt
4) Zerstörer der Welt
Emanuel R. Meyer, Rickenbach ZH (Schweiz). 20 Jahre Sanskrit-Studium in Indien und Europa. Seit 1969 Schüler von Sri Swami Omkarananda. Vor 1986 Leiter eines Schweizer Industrie-Konzerns für Leichtmetall und Chemie.
Christoph Rentsch, Winterthur ZH (Schweiz). Absolvent der Sanskrit-Akademie Kailāśa Brahma-vidyā Pīa in Muni-ki-Reti (Nordindien).
Ait.U.
Aitareya-Upaniṣad
Ap.An.
Aparokṣa-anubhūtiḥ
Bh.G.
Bhagavad-Gītā
BJAM
Brahma-jñāna-āvalī-mālā
Bṛh.U.
Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad
Chā.U.
Chāndogya-Upaniṣad
DL
Divine Light (Zeitschrift)
Eph.
Bibel, Epheser
Gal.
Bibel, Galater
GG
Guru-Gītā
GzT
Gedanken zum Tag
Joh.
Johannes-Evangelium
Kauṣ.U.
Kauṣītakī-Upaniṣad
Luk.
Lukas-Evangelium
LVV
Laghu-vākya-vṛttiḥ
Mā.Kā.
Māṇḍūkya-Kārikās
Mā.U.
Māṇḍūkya-Upaniṣad
Mat.
Matthäus-Evangelium
MBh
Mahābhāratam
Muk.U.
Muktikā-Upaniṣad
Mu.U.
Muṇḍaka-Upaniṣad
Nṛsut.U.
Nṛsiṁhottaratāpanīya-Upaniṣad
N.Ṣ.
Nirvāṇa-Ṣaṭkam
Śvet.U.
Śvetāśvatara-Upaniṣad
Tai.U.
Taittirīya-Upaniṣad
Var.Rah.
Varivasya-Rahasyam
VC
Vivekacūḍāmaṇi
Zu Beginn des Werks verneigt sich der Verfasser nach überliefertem Brauch vor seinem geistigen Meister. “Der Weisheit Suchende braucht keine andere Hilfe als einen wahren Meister”, erklärt Śaṅkarācārya an anderer Stelle (Vers 181). Das Wort ‘Urgrund’ steht für die Absolute Wirklichkeit (Brahma), das Fundament der sichtbaren und unsichtbaren Welt als Substrat und tragende Grundlage aller offenbarten Erscheinungen. Angst, Zorn, Begierden und Wünsche – die drei Ursachen menschlichen Leidens – entstehen aus dem ‘Abfall von Gott’, aus dem Getrenntsein vom Urgrund alles Seienden jenseits von Zeit und Raum, Ursache und Wirkung.
Ich verehre Govinda, meinen Meister, den Inbegriff von Bewusstsein und Glückseligkeit. Die Verherrlichung des Meisters führt zur vollendeten Glückseligkeit und Erkenntnis.
Um das ersehnte Ziel zu erreichen, nehme ich Zuflucht zum Höchsten Selbst als Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit jenseits von Worten und Gedanken, dem Urgrund von allem.
Den Weisen nimmt dieser Urgrund die aus dem Getrenntsein vom Absoluten entstehende Angst. In diesem Urgrund sind die Lotusfüsse des Erhabenen Gaṇeśa Quelle der Barmherzigkeit.
“Definiert eure Begriffe”, ermahnte 1200 Jahre vor Śaṅkarācārya der griechische Philosoph Sokrates seine Schüler, als er die vornehme Jugend seiner Zeit auf der Akropolis und auf den Strassen und Plätzen Athens in der Kunst des Debattierens unterwies. Wie kann man Jungbürgern die Demokratie und reifen Menschen das geistige Lebensziel erklären, wenn jeder nur schon unter diesen zwei Allgemeinbegriffen etwas anderes versteht?
Śaṅkarācāryas Klarheit in Didaktik und Ausdruck sind bereits im Unterabschnitt ‘Die vier Hauptthemen’ erkennbar. Vedānta ist eine Wissenschaft. Sie gründet in den 108 klassischen Upaniṣaden mit ihrer tiefen Symbolik, den verborgenen Sinngehalten und der oft schwer verständlichen Ausdrucksweise. Kein Geringerer als der Grossmeister des Advaita-Vedānta hat ihre Leitsätze übersichtlich zusammengestellt, damit opferbereite Menschen – vom Zwang zur Wiedergeburt erlöst – den Zustand immerwährender Glückseligkeit erlangen.
Nun werden die Grundgedanken der Wissenschaft des Vedānta zusammengefasst, damit die fest entschlossen Erlösung Suchenden Glückseligkeit und Erleuchtung finden.
Im Einklang mit dieser Wissenschaft ergeben sich vier Hauptthemen. Die im Titel erwähnten Kerngedanken werden jetzt dargelegt.
Der geeignete Sucher, der Gegenstand der Suche, der Zusammenfall von Wissendem und Gewusstem, der Zweck der Suche: diese vier Hauptthemen sind der Anfang und das Ende der heiligen Wissenschaft.
Und nun die klaren Definitionen der Verse 7–11:
Als ‘geeigneter Sucher’ gilt, wer die vier Erfordernisse weitgehend erfüllt, logisch denken kann, intelligent und weise ist.
Nur wer findet, ist ein geeigneter Sucher. Finden heisst, das Selbst erfahren, das Selbst verwirklichen. Finden bedeutet, die Identität von Selbst und Absolutem zu erkennen.
Der Ausdruck “wer die vier Erfordernisse weitgehend erfüllt” steht für die Sanskrit-Vokabeln caturbhiḥ sādhanaiḥ saṁyak saṁpannaḥ – wörtlich: “wohl versehen mit den vier Mitteln zum Zweck” oder, freier ausgedrückt: “wer den vier Anforderungen gewachsen ist”. Fündig wird, wer den vier Erfordernissen restlos genügt, sei es dass er die spezifische Eignung von Haus aus hat, sei es dass er die vier Qualifikationen – begleitet von einem wahren Meister – in einem disziplinierten Lernprozess erwirbt.
‘Gegenstand der Suche’ ist das Reine Bewusstsein, wo die Einzelseele und die Absolute Wirklichkeit eine untrennbare Einheit sind. In dieser Hinsicht stimmen alle Upaniṣaden überein.
Als ‘Zusammenfall’ bezeichnen die Weisen gemäss der Heiligen Schrift den Zusammenfall des zu Beweisenden – nämlich der Identität von Einzelseele und Absolutem – mit dem Beweis. Dieser Zusammenfall wird als Identität des Wissenden und des Gewussten definiert.
‘Zweck der Suche’ nennt der Weise die Erkenntnis der Einheit von Absoluter Wirklichkeit und Selbst. Dadurch wird der Mensch von den Fesseln des Geburtenkreislaufs sofort vollständig befreit.
‘Zweck der Suche’ ist ferner die zielgerichtete Motivation für jede Tätigkeit. Ohne einen Zweck vor Augen strengt sich auch der gewöhnliche Mensch nicht an.
Mit 239 Strophen nimmt der Hauptabschnitt über die vier Anforderungen an den Gottsucher fast den vierten Teil der ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ ein. Ob der ‘geeignete Sucher’ dem Zwang zur Wiedergeburt entrinnen kann, hängt entscheidend von seiner Eignung und seinem Einsatz ab. Schon der Umfang des ersten Kapitels zeigt, wie sehr die Frage: “tauglich oder noch nicht tauglich?” ins Gewicht fällt.
Nur der Weise, der die vier Mittel zum Zweck vollendet hat, erreicht das Ziel, kein anderer.
Wenn die vier Erfordernisse, von denen die höchsten Seher sprechen, erfüllt sind, ist Erlösung möglich. Wenn sie nicht erfüllt sind, ist Erlösung gewiss nicht möglich.
In der ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ sind die Anforderungen an den Gottsucher strenger formuliert als in anderen Lehrwerken von Śaṅkarācārya. Hier müssen alle vier Anforderungen erfüllt und alle sechs Tugenden gegeben sein. Der Meister lässt den Gottsucher nicht im Zweifel, dass er sonst keine Chance hat, letzte Erkenntnis zu gewinnen.
Als erste Voraussetzung gilt die Unterscheidung (viveka) zwischen Ewigem und Vergänglichem. Die zweite Voraussetzung ist der innere Abstand (vairāgya) von Reichtum, Lohn und Genuss im Diesseits und im Jenseits.
Als dritte Voraussetzung wird Vollkommenheit in den sechs Tugenden genannt, das heisst: Stille der Gedanken, Beherrschung der Sinne, Geduld, Entsagung, Glaube und meditative Versenkung. Als vierte Voraussetzung bezeichnet die Heilige Schrift die Sehnsucht nach Erlösung (mumukṣutvam).
Die vier Erfordernisse werden nun ausführlich erklärt:
Wie im ‘Kronjuwel der Unterscheidung’ steht die Fähigkeit des Unterscheidens auch hier an erster Stelle der vier Anforderungen an den Gottsucher. Von ihm erwartet der Meister ein sicheres Urteil, ob etwas vergänglich oder unvergänglich, absolut gesehen wirklich oder unwirklich, wahr oder Täuschung ist. Das Urteil ist immer ‘entweder oder’, nie ‘sowohl als auch’. Nur das Absolute ist ewig, ewig unveränderlich, bleibt sich selbst überall, zu allen Zeiten, unter allen Umständen gleich.
Die Unterscheidung zwischen Ewigem und Vergänglichem wird als Wissen definiert, dass nur die Absolute Wirklichkeit ewig, alles andere aber vergänglich ist.
Die Ursache, zum Beispiel Lehm, ist ewig, weil sie zu allen Zeiten existiert. Ihre Wirkung aber, zum Beispiel ein Krug – das Produkt von Lehm –, ist vergänglich, weil man sieht, wie dieser zerbricht.
Genauso ist das ganze Universum vergänglich, weil es eine Wirkung des Absoluten ist. Die Ursache dieser Wirkung aber, die Höchste Absolute Wirklichkeit, ist unvergänglich wie der Lehm im vorerwähnten Beispiel.
“Was man als Schöpfung bezeichnet, geht wahrlich aus Dem, aus Diesem hervor”, verkündet auch die Heilige Schrift: nämlich aus dem Absoluten. Deshalb besteht in Bezug auf die Vergänglichkeit der Schöpfung kein Zweifel.
Nachdem die Vergänglichkeit des vielheitlichen Universums in jeder Beziehung feststeht, ist der Glaube an die Ewigkeit von Paradies und Hölle ein Irrtum der Unwissenden.
Paradies und Hölle sind das dem Menschen unter dem kosmischen Gesetz von Ursache und Wirkung namens ‘Karma’ beschiedene Entgelt für gute Werke oder die Strafe für Verstösse gegen die geistigen Gebote und Verbote. Beide sind Gemütszustände, beide haben einen Anfang und ein Ende. Sie beginnen, wenn das Umfeld und die Umstände passen, und enden, sobald der Lohn für verdienstvolle Taten abgegolten und die Verstösse gesühnt sind.
Das ist Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit. Unterscheidung ist gemäss Heiliger Schrift und Logik die Unterscheidung zwischen Ewigem und Vergänglichem.
Das Problem ist erst dann endgültig vom Tisch, wenn der Gottsucher durch die Gnade der Erleuchtung die fast unüberwindliche Macht der Māyā und ihre trügerischen Wirkungen durchschaut, sich konsequent vom Vergänglichen abwendet und den ganzen Lebensinhalt mit allem Tun und Lassen auf das Unvergängliche ausrichtet.
Wachsende Kraft der Unterscheidung hilft nicht nur, unsere Lebensprioritäten je nach der Tiefe unserer Sehnsucht nach Erlösung langfristig zu überdenken und notfalls zu ändern, sie hat auch willkommene Nebenwirkungen, wie der Leser sogleich feststellen wird.
Obschon die Kraft der Unterscheidung (viveka) auch in Śaṅkarācāryas ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ unter den vier Voraussetzungen den ersten Platz einnimmt, tritt der Autor in seinem Opus magnum viel eingehender auf das Gebot der Losgelöstheit, des inneren Abstands von Sinnesobjekten (vairāgya) ein. Er widmet dem Thema ‘Losgelöstheit’ volle 27 Strophen – und was für Strophen! – verglichen mit den sechs präzisen, aber eher nüchternen Versen über die Kraft der Unterscheidung (viveka).
Innerer Abstand ist Wunschlosigkeit des von Gedanken leeren Gemüts gegenüber diesseitigen und jenseitigen Dingen, die erwiesenermassen vergänglich sind.
Im folgenden Vers klingt ein weiterer Grund an, weshalb dem Gebot der Unterscheidung zwischen Vergänglichem und Ewigem der Ehrenplatz gebührt. Der Meister sieht die Kraft der Unterscheidung als Schrittmacher für den inneren Abstand von Sinnesobjekten.
Aus der Unterscheidung zwischen Ewigem und Vergänglichem entsteht mit der Zeit der dauernde innere Abstand von vergänglichen Dingen wie Blumen, Weihrauch, Frauen, Speise, Trank usw.
Und jetzt erweitert der Verfasser, stets sich selber treu, die Definition des inneren Abstands von Sinnesobjekten um das wenig schmeichelhafte Attribut ‘Krähendreck’ für alles Wahrnehmbare.
Völlige Losgelöstheit ist Abscheu vor Objekten der Begierde wie vor Krähendreck. Vollendete Losgelöstheit entsteht – so sagen die Weisen – aus der Einsicht, dass Begierden erweckende Objekte schädlich sind.
Dazu ein einleuchtendes Beispiel:
Wenn man einsieht, dass ein Objekt schädlich ist, begehrt man es nicht mehr. Wer würde einer noch so schönen Dirne nachlaufen, wenn er weiss, dass sie schwer krank ist?
Trotz dem summarischen Beiwort ‘Krähendreck’ für Objekte der Sinneswahrnehmung soll man das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Es wird eine differenzierte Methode empfohlen:
Man muss die Dinge von Fall zu Fall genau untersuchen. Die genaue Untersuchung ihrer Eigenschaften und ihres wahren Wesens enthüllt dann ihre etwaige Schädlichkeit.
Mit einem Trommelfeuer rhetorischer Fragen unterzieht der Meister den Gottsucher in der Folge einer eigentlichen Gehirnwäsche. Er zieht alle Register seiner legendären Dichtkunst. Der Schüler muss die überragende Wichtigkeit inneren Abstands einsehen, das Gebot der Losgelöstheit von all dem beachten, was mit den fünf Sinnen und dem Denkorgan wahrnehmbar ist, und dann die Lust nach Vergänglichem verlieren.
Dreizehn Strophen beginnen nacheinander mit den Worten: Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er … das und jenes bedenkt? Die Klangbilder des Sanskrit-Originals lassen sich nur schwer ins Deutsche übertragen. Der blumige Stil deutet an, wie sehr der geistige Lehrer dem Wahrheitssucher die Schrecken des Geburtenkreislaufs einprägen und aus einem ‘Möchtegern-Gottfinder’ einen zu Opfern bereiten, fest entschlossenen Gottsucher machen will.
Der Reihe nach führt ihm der geistige Lehrer die Widerlichkeit des Daseins im Mutterleib, die Leiden als Kind, die Missetaten der Jugendzeit und die Krankheiten, Schmerzen, Sorgen und Ängste im späteren Leben vor Augen. Wer bliebe ungerührt, wenn er vom tiefgreifenden Wandel des Sterbevorgangs hört, wenn ihm die Schreckensbilder der Hölle und die Vergänglichkeit himmlischer Freuden bewusst werden? Lassen wir die Worte des Meisters in den Versen 27 bis 35 auf das Gemüt einwirken:
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er an den Aufenthalt im Mutterleib denkt, inmitten von Harn und Kot, von Darmwürmern gebissen, schmachtend in der Hitze des Verdauungsfeuers?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er sich vorstellt, wie er in den eigenen Ausscheidungen von Harn und Kot mit dem Kopf nach unten lag, wenn er an die Kindheit denkt, als er unter Schlägen, Besessenheit durch Dämonen, Krankheiten und anderen Beschwerden litt?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er sich an die Schläge erinnert, die er als Kind von den Eltern und anderen bekam, an seine Unwissenheit und Unbesonnenheit, an sein schlechtes Betragen und seine verbotenen Abenteuer?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er an seine Einbildung und Überheblichkeit zurückdenkt, an die Respektlosigkeit gegenüber Älteren, an die Schwäche gegenüber Begierden, an die Übertretungen der Gesetze, an all die jugendlichen Missetaten?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er an körperliche Verunstaltungen denkt, an die Geringschätzung von Seiten aller anderen, an die allgemein erbärmlichen Lebensbedingungen, den Schwund der geistigen Fähigkeiten, die Beschwerden des Alters?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er die übelriechenden Infektionen und die grossen Sorgen bedenkt, die starken Schmerzen bei Krankheiten infolge Ungleichgewichts der drei Körpersäfte, das Fieber, die Leiden wie Hämorrhoiden, Auszehrung, krankhafte Anschwellungen verschiedener Art im Unterleib, Koliken usw.?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er sich die Angst vor dem Tod vor Augen hält, das Zittern der Glieder, die Atembeschwerden und die Agonie, die er im Sterben erleidet?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er sich die Qualen vorstellt, die ihm in der Hölle mit glühenden Kohlen, im siedenden Wasser, im Feuerofen und im Wald der Schwertklingen von den Schergen des Todesgottes zugefügt werden?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen beim Gedanken, dass die Tugendreichen, wenn ihre Verdienste durch ihren Aufenthalt im Himmel erschöpft sind, in schwache menschliche Körper eingehen wie Sterne, die vom Himmel fallen?
In den letzten vier Strophen offenbart Śaṅkarācārya die unser Vorstellungsvermögen und unsere Denkmuster sprengenden kosmischen Dimensionen der Lehre vom Advaita-Vedānta, wo das Wesen von Sonne, Mond und Sternen und auch die Wonne höchster Gottnähe mit dem Hinweis auf ihre letztendliche Vergänglichkeit relativiert und das menschliche Schicksal auf karmische Verstrickungen zurückgeführt wird.
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er hört, dass die höchsten Götter, die Gottheiten des Windes, der Sonne, des Feuers, des Regens usw., von grosser Furcht vor dem Höchsten Herrn gepackt, ihre kosmischen Funktionen erfüllen und von feindlichen Kräften bedrängt werden?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er die begrenzten und daher unwirklichen Stufen der Glückseligkeit bedenkt, wie sie gemäss Heiliger Schrift von den Göttern – vom Herrn der Erde bis hinauf zum Gott der kosmischen Schöpfung – erfahren werden?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er weiss, dass es selbst für den, der durch Werke selig geworden ist, keine Ewigkeit dieses Zustandes gibt, mag er durch noch so viele gute Werke selig geworden sein und die verschiedenen Grade der Gottnähe erfahren haben, nämlich im gleichen Himmel wie sein persönlicher Gott zu wohnen, in dessen Nähe zu weilen, Ihm ähnlich zu werden oder in Gemeinschaft mit Ihm leben zu dürfen?
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er überlegt, dass den verschiedenen menschlichen Schicksalen mit ihren mannigfaltigen Gemütszuständen entsprechende Taten und die damit verbundenen Leiden zugrunde liegen?
Damit kehrt der Grossmeister der Advaita-Vedānta-Philosophie auf den Boden gewöhnlicher Erdenbürger mit ihren beschränkten Lebensinhalten zurück:
Welcher weise Mensch würde Freude an vergänglichen, belanglosen Dingen wie an einem Haus empfinden, wenn er sich stets vor Augen hält, wie die Menschen in Verblendung sterben, ohne ihr Ziel erreicht zu haben?
Liegt denn bei tiefem Nachdenken wahres Glück in einem Haus, in einer Frau oder in Dingen? Wessen Blick durch die Finsternis von Māyā getrübt ist, lebt in Verblendung, ohne jedes wahre Wissen.
Dazu drei einprägsame Vergleiche:
Alle auf den ersten Blick begehrenswerten Freuden an Frauen und Dingen sind wie die Früchte des indischen Feigenbaums und erscheinen nur Unwissenden als Freuden, nicht aber den darin Erfahrenen.
Mit “begehrenswerten Freuden an Frauen und Dingen” sind aus der Sicht einer Frau Freuden an Männern und Dingen gemeint. Wer je im Leben irgendwo in den Tropen der Versuchung erlag, eine dieser rot-goldenen appetitlichen indischen Feigen frisch vom Busch zu essen, vergisst wohl nie, wie er hinterher den ganzen Tag und auch tags darauf Dutzende haardünner scharfer Stacheln aus dem Munde zu entfernen hatte!
So wie ein Krebs stirbt, wenn er aus Verwirrung sein Loch auch dann nicht verlassen kann, wenn das Wasser abläuft, genauso geht ein Mensch zugrunde, wenn er aus Verblendung an den Alltagsfreuden hängt.
Eine Seidenraupe umwickelt sich immer wieder, Schutz suchend, mit den eigenen Fäden, bis sie unfähig ist, sich selbst zu befreien und am Ende – gebunden und gefangen – stirbt.
Die letzten vier Strophen setzen dem Unterabschnitt Innerer Abstand (vairāgya) die Krone auf:
Genauso ist der Familienvater, durch Bande der Liebe an Söhne, Ehefrau und Freunde gebunden, unfähig, diese je loszulassen und von Zuhause wegzugehen, bis er – ohne das Ziel des Lebens erreicht zu haben – stirbt.
Was ist bei genauem Überlegen der Unterschied zwischen einem Gefängnis und dem eigenen Haus? Für den Menschen sind die Fesseln des häuslichen Glücks und der Zuneigung zu Frau und Kind ein grosses Hindernis auf dem Weg in die Freiheit.
Der Wunsch nach dem eigenen Haus gleicht einer Kette an den Füssen. Das Verlangen nach Frau und Kind ist ein dicker Strick um den Hals. Grosse Gier nach Reichtum führt unmittelbar zum geistigen Tod, wie wenn jemand von einem mächtigen Blitz getroffen wird.
Wessen Füsse in hundert Ketten der Begierde gelegt sind, ist nicht imstande sich zu erheben. Hilflos wird er von den Dämonen der Begierde, des Zorns und des Hochmuts daran gehindert. Wer könnte dem Gefängnis der Seelenwanderung mit seinem Wall der Verblendung entrinnen, wenn er von den erwähnten drei Wünschen und von Leidenschaften besessen ist?
Die im Original hoch poetischen Worte sprechen für sich. Nicht von ungefähr gipfelt die geistige Unterweisung der Bhagavad-Gītā im zentralen Gebot des Erhabenen Kṛṣṇa:
Erschlage, o Grossarmiger, den schwer besiegbaren Feind in Gestalt von Wünschen! (Bh.G. 3,43)
Vorab etwas Grundsätzliches: Wünsche verraten eine tief in der menschlichen Psyche wurzelnde Mangelerscheinung. Es gibt Zeiten im Leben, wo der Mensch ‘wunschlos glücklich’ ist – sei es dass er ein neues Auto, Vorfreude auf eine Traumreise oder neue, wertvolle Bekanntschaften hat. Aber die Freude ist meistens von kurzer Dauer. Nach Wochen, Monaten oder wenigen Jahren, wenn nicht schon eher, fällt er in den gewohnten Zustand der Unerfülltheit zurück. Es fehlt ihm etwas, es plagt ihn etwas, er weiss nicht was. Es ist keine akute Not, weder Hunger noch Durst, weder Krankheit noch Armut, keine stechenden Schmerzen, kein schwerer Verlust, sonst kennte er ja den Grund seiner Unerfülltheit. Er hat alles, was er zum Leben braucht und mehr: ein Dach über dem Kopf, gutes Essen, Arbeit, Einkommen, Familie, Freunde, Abwechslung.
Und doch ist es da, dieses dumpfe Gefühl, eine Mischung von Langeweile, schlechter Laune, Lethargie, Mattheit, von Sehnsucht nach wahrem, dauerhaftem Glück.
Alle Menschen suchen ohne Ausnahme dasselbe: nie endendes Glück, endlose Freude, Schönheit, ewige Jugend, Kraft, Macht, Reichtum und ein Netz geliebter und liebender Mitmenschen. Aber sie suchen nicht am richtigen Ort. In der Welt der vergänglichen, trügerischen Sinnesfreuden kann niemand für immer glücklich werden!
Wünsche entstehen aus einer chronischen Schieflage der Persönlichkeit, deren Wurzeln in prähistorische Zeiten zurückreichen. Irgendwann in der Nacht der Zeit, genau genommen noch bevor im dualistischen Bewusstsein der Menschheit die Zeit entstand und zu laufen begann, ist der Mensch von Gott abgefallen, hat er sich von der ewigen Fülle des Glücks abgewandt und dabei den Grundpfeiler seiner Existenz verloren.
Er ist sich dieser Katastrophe längst nicht mehr bewusst, wenn er es überhaupt je war. Aber der Mensch trägt deren Folgen bis zum heutigen Tag. Sie haben ihn zum geistigen Krüppel gemacht. Leben nach Leben versucht er, diesen schicksalsschweren Verlust zu kompensieren. Er hascht nach vergänglichen Freuden, nach süssen Erlebnissen aller Art, die oft genug ein bitteres Ende nehmen.
Das verlorene Glück bewussten Eins-Seins mit Gott ist die wahre Ursache für die Entstehung von Wünschen und Begierden, der Auslöser eines falsche Ziele setzenden und daher zum Scheitern verurteilten Ersatzsystems. Śaṅkarācārya sagt es im Klartext:
Wenn die Weisheit durch die Finsternis der Begierden getrübt ist, lässt man sich von der Schönheit einer Frau verwirren, obschon diese vergänglich und deshalb unwirklich ist. Sei einer klug oder unklug, wenn seine Weisheit getrübt ist, kann er zwischen wahrer Freude und wahrem Leid nicht unterscheiden.
Der Meister hat nichts gegen schöne Frauen. Nach Friedrich Schiller ‘flechten und weben sie himmlische Rosen ins irdische Leben’. Was er als kontraproduktiv für den geistigen Weg verwirft, ist leidenschaftliches Verlangen, Sinnenlust.
Es ist nicht eine Frage grossen Wissens. Auch ein berühmter Professor und Nobelpreisträger kann nicht zwischen dem Pfad der Tugend und dem Weg ins Verderben unterscheiden, wenn seine Weisheit durch Begierden getrübt ist.
Aus dem Munde tropft Schleim, die Nase ist schmutzig und rinnt, die Augen tränen, der Körper trieft vor Schweiss, ist überall voller Unreinheiten, übelriechend und verdorben. Etwas anderes kann man darüber weder sagen noch denken. Wie könnte in den Augen eines Weisen so ein Frauenkörper begehrenswert sein?
Und wie könnte in den Augen einer Weisen so ein Männerkörper begehrenswert sein?
Immer wenn Śaṅkarācārya etwas doppelt unterstreichen möchte, greift er in die unerschöpfliche Schatztruhe seiner Weisheit und holt eines jener einprägsamen Sinnbilder hervor. So auch jetzt:
Eine Motte sieht von weitem das Licht von Feuer, stürzt sich – durch dessen Schönheit angezogen – in die Flamme und verbrennt. Genau das geschieht, wenn jemand die wahre Einsicht verliert. Wie könnte er den schmalen Weg in die Freiheit finden?
Ebenso geht auch jener Mensch zugrunde, der von leidenschaftlichem Verlangen nach einer schönen Frau ergriffen ist. Bar jeder Weisheit betrachtet er den Körper dieser Frau, der aus Fleisch, Knochen, Mark, Schweiss und Urin besteht, als die Schönheit selbst.
Für jemand, der zwischen Selbst und Nicht-Selbst unterscheidet und sich nach Erlösung sehnt, ist leidenschaftliches Verlangen der Todesgott in Person, eine schöne Frau wie der Fluss der Unterwelt und ein Haus wie die Wohnstätte des Todesgottes.
Weder im Haus des Todesgottes noch im eigenen Haus nehmen die drei Leidenschaften für den Menschen je ein Ende. Nur der Unwissende freut sich, wenn er einen kurzen Unterbruch dieser Leiden sieht.
Zwischen dem Todesgott und leidenschaftlichem Verlangen aber gibt es einen grossen Unterschied, wenn man genau überlegt: Der Todesgott, obschon unwillkommen, gereicht einem zum Heil. Leidenschaftliches Verlangen dagegen, obschon willkommen, bringt Unheil.
Der Todesgott bringt nur den Unwissenden Unheil, den Weisen aber gereicht er zum Segen, da er heilsam ist. Leidenschaftliches Verlangen versperrt sogar den Weisen den Weg zum Heil und schafft Unheil. Was wäre dann von den Unwissenden zu sagen?
Leidenschaftliches Verlangen ist insofern noch schlimmer als der Tod, als nicht der Körper stirbt, sondern der Geist. Leidenschaftliches Verlangen ist denn auch das Thema der nächsten fünf Strophen:
Im Wunsch nach dem Wachstum des Universums erschuf das Urprinzip selbst den Menschen mit Leidenschaften. Dadurch wird die Menschheit verwirrt und nimmt zu wie das Meer unter dem Einfluss des Mondes während der Flut.
Leidenschaftliches Verlangen ist der grosse Verwirrer der Welt. Es wohnt im eigenen Gemüt und bewirkt, dass sich Mann und Frau durch Gefühle, Lachen und die Merkmale ihrer Körper gegenseitig betören. Es bindet die beiden durch Bande der Liebe und der Verblendung, verwirrt sie und fördert so das Wachstum der vielheitlichen Welt. Leidenschaftliches Verlangen verhindert die Erkenntnis der Absoluten Wirklichkeit.
Durch das intensive leidenschaftliche Verlangen verfallen die Menschen unweigerlich ganz von selbst den Verlockungen der Sinnesobjekte. Wie anders liesse sich sonst die Anziehungskraft unbekannter Dinge erklären?
Dadurch wird das Verlangen der Menschen immer mächtiger. Selbst wenn der Körper altert, lässt das Verlangen nicht nach.
Der einsichtige Weise durchschaut die Unvollkommenheit der Sinnesobjekte und befreit sich von den Schlingen der Begierde. Er ist auf dem Weg zur Erlösung.
Alle acht Strophen stehen unter dem aufrüttelnden Motto des Advaita-Vedānta, den beiden Gleichungen:
Gott mit Gemüt
Über das Gemüt, unser ganzes Denken, Fühlen und Wollen, äussert sich Śaṅkarācārya in seinem ‘Kronjuwel der Unterscheidung’ wie folgt:
Das Gemüt schafft Verlangen nach mancherlei Sinnesgenüssen in Körper und Gedanken und bindet den Menschen dadurch wie ein Tier mit dem Strick. (VC 173)
Deshalb ist das Gemüt die Ursache für des Menschen Schicksal: Bindung oder Erlösung. (VC 174)
Für die Weisen verkünde ich nun die subtile Methode zur Überwindung der Begierden. Der richtige Weg besteht darin, das Denken an Sinnesobjekte zu unterlassen.
Wenn man die Idee aufgibt, irgendwelche Dinge der Sinnenwelt, ob gesehen oder gehört, seien wünschenswert, kann niemals ein Wunsch entstehen.
Der Gedanke ist der Same des Wunsches. Wünsche entstehen nur aus dem Denken. Wenn der Same tot ist, ist auch der Keimling tot. Ebenso stirbt der Wunsch, wenn keine Gedanken da sind.
Keine Gedanken spinnen, nicht mehr denken, ist die Vorstufe zur höchsten Art meditativer Versenkung. Mit grosser Ausdauer ausgeübt, sprengt sie die Fesseln des dualistischen Bewusstseins und mündet in Gottbewusstsein. So weit braucht der Yogi hier nicht zu gehen. Er würde mit Kanonen auf Spatzen schiessen. Er muss nur wissen, dass ihm Sinnesfreuden nie das dauerhafte Glück bescheren. Er hat ein vererbtes Recht auf ein Leben der Fülle in immerwährender, ununterbrochener Glückseligkeit, doch darf er das Heil nicht erwarten, wo es mit Sicherheit nicht zu finden ist.
Śaṅkarācārya überzeugt auch in den nächsten fünf Strophen dieses Unterabschnitts durch seine klare Sprache:
Kein Mensch begehrt Sinnesobjekte ohne zu meinen, sie seien wünschenswert. Deshalb muss derjenige, welcher die Wünsche überwinden will, die Ansicht ausrotten, Objekte sinnlicher Erfahrung seien begehrenswert.
Wer die Begierde nach Sinnesobjekten bezwingen will, soll den Gedanken aufgeben, Sinnesobjekte brächten Glück. Solange jemand an der falschen Idee festhält, Dinge der Sinnenwelt verhiessen dauerhafte Freude, kann er die Gier gewiss nicht überwinden.
Einsicht in den wahren Sachverhalt der Dinge und die Erkenntnis ihrer Wertlosigkeit sind der Grund dafür, dass der Gedanke, Sinnesobjekte brächten Glück, nicht aufkommt. Dann besteht auch kein Anlass zu Gier.
Wenn man denkt, ein Edelstein sei ein gewöhnlicher Stein, oder befürchtet, es sei einer, kommt man nicht auf die Idee, er verleihe Glück und man müsse ihn besitzen.
Einsicht in den wahren Sachverhalt der Dinge und die Erkenntnis ihres Unwertes sind das Mittel, um den Gedanken an Sinnesobjekte und die Begierden zu töten.
Damit kommen wir zum Unterabschnitt:
Dass Geld nicht glücklich macht, wissen fast alle, aber man hält es doch für ausgesprochen praktisch. Meister Śaṅkarācārya ist anderer Meinung:
Geld ist eine Quelle der Angst, der Nährboden dauernder Sorgen: Es bereitet schreckliche Bauchschmerzen, führt zu zerbrochenen Familien, bringt vielerlei Leid und fördert niedere Gedanken. Es führt niemals auf den Weg der Erlösung und auch nicht zur Reinheit des Herzens.
Geld erweckt Angst vor dem Herrscher, Angst vor Dieben, Angst vor Verlusten und Angst vor der Verwandtschaft. Es verzehrt einen vor Angst, es ist die Wurzel des Bösen. Deshalb gereicht Geld den Weisen nicht zum Glück.
Das trifft heute noch zu. Statt Angst vor dem Herrscher ist es jetzt Bangen vor dem Finanzamt, vor dem Fiskus, vor Monopolen und Kartellen, Furcht vor der Inflation, vor rückläufigen Börsenkursen, vor Firmenpleiten, vor Wirtschaftskrisen, Sorgen wegen Verstaatlichungen, Umzonungen und Enteignungen im öffentlichen Interesse. Und so weiter.
In der Tat bringt Geld den Menschen immer nur Sorgen, sowohl beim Verdienen wie beim Besitzen, Ausgeben und Schenken. Es ist nicht der Weg zum Glück.
Dem können wohl alle beipflichten, jeder von seiner persönlichen Lebenswarte aus. Trotzdem: Gäbe es nur zwei Optionen – Geld zu haben oder keines zu haben –, würden alle die erste als das geringere Übel wählen. Aber es gibt eine dritte Alternative, den Weg aus der Dualität hinaus, weg von den Gegensatzpaaren ‘arm – reich’, ‘glücklich – unglücklich’ in die unvorstellbare Fülle und Wonne der einen nicht-dualen Absoluten Wirklichkeit ohne die konfliktbeladenen Gegensatzpaare.
Weil es ein steiler, steiniger Weg ist, schlägt ihn nur der Mensch ein, der dazu einen unbändigen Drang verspürt. Diese starke Motivation baut Śaṅkarācārya bei seinen Schülern auf zweierlei Art auf: einerseits stellt er die verheerenden Mängel und Begrenzungen des dualistischen Bewusstseins an den Pranger, anderseits versucht er, die unbeschreibliche Glückseligkeit im Zustand der Selbsterkenntnis in Worte einzufangen.
Selbst Weise werden geizig, wenn sie zu materiellen Gütern kommen. Geiz verwirrt auch den Weisen, und wenn er verwirrt ist, geht er zugrunde.
Zugrunde gehen bedeutet geistigen, nicht physischen Ruin. Gemeint ist, dass der so Verwirrte (siehe auch Vers 76) dem glücklosen Dasein im Kreislauf von Geburt und Tod nicht entrinnen kann.
Wenn man kein Geld hat, quält einen die Armut. Wenn man viel Geld hat, quält einen der Geiz. Deshalb bringt Geld immer nur Sorgen. Wem würde es Glück bringen?
Und wenn einen nicht der Geiz quält, dann sind es Probleme mit dem Anlageberater und dem Finanzexperten, die nicht selten das Gegenteil von dem empfehlen, was sich hinterher als richtig erweist.
Durch Anhäufung von Geld wird man überheblich, durch verschwenderische Freigebigkeit ebenfalls. In beiden Fällen macht Geld nicht glücklich. Der wahre Weg ist ein anderer.
Mit Besitz wird man hochmütig. Durch Hochmut geht die Erinnerung an die heiligen Lehren verloren. Beim Verlust der Erinnerung an die heiligen Lehren versiegt die höhere Eingebung. Wenn die höhere Eingebung versiegt, geht man zugrunde.
Der Unweise, Einfältige ist völlig besessen vom Dämon der Erwartung, dass Geld glücklich macht. Er verharrt stets in dieser Meinung bis ans Lebensende und bleibt auch nach seinem Tod dabei.
Vergängliches wie Sinnesobjekte, Geld und Besitz liegen gleicherweise in der Schusslinie des erleuchteten Meisters. Er verurteilt sie nicht als solche. Sie gehören zum täglichen Leben und sind aus dem Bewusstsein der Menschheit nicht wegzudenken. Es ist die Verhaftung an Sinnesobjekte, Geld und Besitz und die daraus entstehenden Wünsche, die Vernarrtheit in diese, die dem Menschen den Weg zum wahren Glück versperren, nicht Sinnesobjekte, Geld und Besitz an sich. Immer nur gegen die Besessenheit davon fährt der Meister schweres Geschütz auf.
Innerer Abstand, Losgelöstheit, Gleichmut gegenüber vergänglichen Dingen (vairāgya) ist eine Conditio sine qua non, eine unabdingbare Voraussetzung auf dem Weg der Erkenntnis. Besessenheit ja, aber nur vom Unvergänglichen darf der geistig Strebende besessen sein. Deshalb schimpft der Meister unentwegt über die Illusion, Sinnesobjekte, Geld und Besitz bescherten dem Menschen dauerhaftes Glück.
Ähnlich einem Blinden sieht der so Besessene mit seinen Augen nichts anderes. Von den Einfältigen angespornt, geht er den Weg, der von den Weisen gemieden wird. Auf diesem Weg stolpert er bei jedem Schritt und fällt immer wieder in ein finsteres Loch. Die Medizin gegen seine Blindheit ist das Heilmittel der Besitzlosigkeit.
Besitzlosigkeit ist nicht jedermanns Sache. Der weitaus grösste Teil der Menschheit sehnt sich nach Sicherheit in Bezug auf das Lebensnotwendige wie Nahrung, Obdach und Gesundheit für sich und seine Familie. Ist diese Sicherheit einmal gegeben, stellt sich die Frage, die wohl jeder Mensch im stillen Kämmerlein für sich allein beantworten muss: Soll ich mich fortan weiterhin um das Vergängliche kümmern oder hat das Unvergängliche Vorrang?
Mit dem Erwerb von Reichtum wächst die Habsucht, der Zorn, der Stolz, die Überheblichkeit und der Neid. Wie könnte das zur Läuterung des Gemüts führen?
Sogar Weise leiden, wenn sie nicht zu Reichtum kommen; sie leiden doppelt, wenn sie ihn verlieren, und dreifach, wenn sie ihn schlecht verwenden.
Wie könnte jemand glücklich sein mit Reichtum, der stets nur Unheil bringt und dauernd Angst und Sorge bereitet wie eine Schlange im eigenen Haus?
Der Besitzlose lebt glücklich und zufrieden, von allen verehrt, sei es in menschenleerer Wildnis, in einem Wald, an einem bewohnten Ort oder in einem verlassenen Grenzgebiet, sowohl unter Räubern wie in Gesellschaft von anderen, guten Menschen oder auch allein. Der Reiche dagegen leidet, lebt immer in Unruhe und Angst, selbst vor dem eigenen Sohn.
Es sei nochmals betont, dass Reichtum vom Standpunkt des geistigen Fortschritts nur dann bedenklich ist, wenn er zu einer inneren Fessel wird und das Gebot der Losgelöstheit leerer Buchstabe bleibt. Mehr darüber später.
Deshalb ist Reichtum die Ursache von Unheil. Damit erreichen die Menschen nicht ihr Ziel. So leben denn die Weisen in der Abgeschiedenheit, indem sie allem Reichtum als einem Hindernis entsagen.
Die Weisen verzichten auf alles, im Wissen, dass gemäss Aussagen der Heiligen Schrift und logischer Überlegung alles vergänglich ist: eine gläubige, liebevolle, tugendreiche Ehefrau, berühmte, liebe Söhne, ein unzerstörbarer, prachtvoller Palast mit allen Herrlichkeiten und Genüssen der Erde. – Die anderen aber irren in einem Meer von Leiden umher, in der Meinung, all das bringe Glück.
Wenn es um Dinge von grosser Tragweite geht, schreckt Śaṅkarācārya auch nicht vor Schocktherapie zurück. So in der nächsten Strophe:
Diejenigen, welche sich zuhause wohl fühlen wie Würmer im Misthaufen, und an Ehefrau, Eigentum und Söhnen hängen, im Glauben, dies sei das Glück, haben keine Möglichkeit zur Befreiung, die wahrlich das Merkmal von Weisen ist. Ihnen widerfährt vielmehr eine Flut von Leiden durch Tod und Aufenthalt im Mutterleib.
Nur wenn die Erwartungen in Bezug auf Frau, Kinder, Besitz und anderes erloschen sind, erfüllt sich die Hoffnung auf Erlösung. Nur solche Menschen erreichen das erstrebte Ziel und nicht die anderen.
Sind das nicht für manche Leute, wenn nicht für die meisten, unrealistische Vorgaben? Das kann durchaus der Fall sein. Eines aber möge man bedenken. Viele zielstrebige Menschen scheuen vor keiner Mühe, vor keiner noch so harten Entbehrung zurück und gönnen sich Jahrzehnte lang keine Ruhe, um ein Vermögen von einer Million Euro oder hundert Millionen Euro oder ein paar Dutzend Milliarden Euro anzuhäufen, das am Ende ihres irdischen Daseins den Erben gehört. Was ist das gemessen an der Herrschaft über alle Schätze des Kosmos, die dem Erleuchteten in alle Ewigkeit zu Füssen liegen, wenn nicht eine Lappalie!
Noch eine Frage: Was passiert, wenn jemand trotz gewaltiger Opfer und übermenschlicher Anstrengungen den Durchbruch ins Bewusstsein der All-Einheit nicht schafft und als Unerleuchteter stirbt oder gar vorher schon vom schmalen steilen Pfad abweicht? Genau diese Frage beantwortet der Erhabene Kṛṣṇa als Inkarnation Gottes in der Bhagavad-Gītā wie folgt:
Niemand, mein Kind, der Gutes tut, kommt je zu Schaden! Nachdem er die Welt der Gerechten erreicht und dort endlose Jahre verbracht hat, wird der vom Yoga Abgefallene im Haus von tugendreichen, wohlhabenden Eltern wiedergeboren. Oder er erblickt gar in einer Familie weiser Yogis das Licht der Welt, doch ist so eine Geburt hier auf Erden nur schwer erhältlich. Dort gewinnt er das Wissen aus dem früheren Leben zurück, und dann strebt er einmal mehr nach Vollkommenheit, o Sohn der Kurus! (Bh.G. 6,40-43)
Die Schriftkundigen, geistig Gesinnten, Einsichtigen, die durch gute Werke die Sünden der Vergangenheit getilgt haben, mögen durch logisches Denken immer wieder zwischen den vergänglichen Dingen und dem Ewigen unterscheiden. Wer die daraus entstehende Losgelöstheit gegenüber vergänglichen Dingen, dieses scharfe Messer, hat und sich einzig und allein nach Erlösung sehnt, kann – selbst wenn er reich ist – die Ranke der Gier nach Sinnesobjekten, zum Beispiel Personen des andern Geschlechts, leicht abschneiden.
Das ist der springende Punkt. Wenn der geistig Strebende inneren Abstand von Geld und Sinnesobjekten hat und keine Bindung daran verspürt, lässt er sich nicht von ihnen betören, selbst wenn er reich ist.
Es gibt in der Welt ein aus drei Teilen bestehendes Tor, durch das man in den Kreislauf der Wiedergeburten, den grossen Tod, gerät. Die drei Teile heissen Lust, Völlerei und Habsucht. Wer diesen entsagt, fürchtet den Tod nicht mehr.
Der Mensch hat viele Feinde. Die meisten lauern gut getarnt in seiner eigenen Brust und greifen oft überraschend an. Erkannte Feinde sind leichter zu bekämpfen als unsichtbare. Die drei oben entlarvten Widersacher sind um so eher zu überwinden, je grösser die Motivation für den geistigen Weg und die Sehnsucht nach Erlösung sind. Unsichtbare Gegner sind eine latente Gefahr für jedermann. Dieser Gefahr ist nur mit feuriger Hingabe an das Göttliche und dem damit verbundenen Universalschutzschild wirksam beizukommen.
Dieses wichtige, äusserst schwer bezwingbare Tor zur heiligen Stadt der Erlösung hat zwei Torflügel: Habsucht und Lust. Dadurch ist es fest verschlossen. Zusammen mit dem mächtigen Holzriegel, der den Namen Begierde trägt, besteht das Tor, wie gesagt, aus drei Teilen. Der Weise aber, der es aufbricht, ist würdig, die Seligkeit im Reich des Lichts, das Glück der Erlösung, zu geniessen.
Wer auf dem Pferd der Unterscheidung zwischen Ewigem und Vergänglichem reitet, das scharfe Schwert der Losgelöstheit gegenüber allem Vergänglichen besitzt und die Rüstung der Geduld trägt, fürchtet keinen Feind.
Vollständige Losgelöstheit, die aus der richtigen Unterscheidung entsteht, ist nach Aussage der Weisen Bedingung für die Erlösung. Deshalb hat sich derjenige, der Erlösung sucht und zwischen Ewigem und Vergänglichem unterscheiden kann, in erster Linie um den inneren Abstand gegenüber allem Vergänglichen zu bemühen.
Ohne inneren Abstand gegenüber allem Vergänglichen ist man ausserstande, die Bindung an den Körper aufzugeben. Losgelöstheit ist der grosse Zerstörer aller Bindungen.
Sogar die Wissenden gehen in die Irre, wenn ihnen die Losgelöstheit fehlt, und leiden im eigenen Haus unter zahllosen Plagen wie in der Hölle.
Das waren zwei von den vier Erfordernissen, die der Anwärter auf den geistigen Pfad vollständig erfüllen muss: Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst, zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem (viveka) einerseits und innerer Abstand, Losgelöstheit von Sinnesobjekten und allem Vergänglichen (vairāgya) anderseits.
Als Ganzes genommen gehören die sechs Tugenden zusammen mit der Unterscheidung zwischen Ewigem und Vergänglichem, dem inneren Abstand von Sinnesobjekten und brennender Sehnsucht nach Erlösung zu den vier unabdingbaren Anforderungen an den Gottsucher. Es sind die vier Schlüssel zur Freiheit aus der Gefangenschaft im Kreislauf von Geburt und Tod. Der Meister widmet ihnen nicht weniger als 239 Strophen, fast den vierten Teil des ganzen Lehrwerks. Davon entfallen allein 132 Verse, mehr als die Hälfte, auf die sechs Tugenden. Es sind dies:
Stille der Gedanken (śama), Beherrschung der Sinne (dama), Geduld (titikṣā), Entsagung (uparati), Glaube (śraddhā) und – als Wichtigstes – meditative Versenkung (samādhānam): das sind die sechs Tugenden.
Wenn die Anzahl Strophen ein Maṣtab für die Bedeutung der Gedankenstille, der Sinnesbeherrschung, der Geduld, der Entsagung, des Glaubens und der meditativen Versenkung im Charakterprofil des geeigneten Gottsuchers ist – in gewisser Hinsicht ist sie es –, dann interessiert den Leser der ‘Stellenwert’, den der erleuchtete Meister den ausschlaggebenden Tugenden beimisst:
Gedankenstille
33 Verse
Sinnesbeherrschung
9 Verse
Geduld
14 Verse
Entsagung
59 Verse
Glauben
8 Verse
Meditative Versenkung
8 Verse
(zusammen 131 Verse)
Das würde heissen, dass ‘Entsagung’ und ‘Gedankenstille’ zusammen mit ‘meditativer Versenkung’ (was im Grunde genommen dasselbe ist) – diese zwei, denen der Meister 100 von den 131 Versen widmet – die wichtigsten Erfordernisse auf dem geistigen Weg sind. Warten wir ab, es wird sich zeigen, ob diese vorläufige, gleichsam ‘quantitative Analyse’ mit der inhaltlichen Gewichtung übereinstimmt.
Als STILLE DERGEDANKEN (śama) verkünden die Weisen, die das Wesen der Gedankenkonzentration kennen, das dauernde Verweilen des Gemüts im einen Gedanken an das Selbst als höchstes Ziel.
Im achtgliedrigen Königlichen Yoga von Patañjali lautet die erste Strophe gleich nach dem Titel: “Yoga bezweckt den Stillstand der Gemütsregungen” (yogaś cittavṛtti-nirodhaḥ). Die nächsten vier Strophen, die von der Qualität der Gedankenstille handeln, deuten auf die gewaltigen Mühen hin, welche selbst die von Meister Śaṅkarācārya als ‘gering’ bezeichnete Gedankenstille erfordert.
Die Stille der Gedanken ist dreifach: tief, mittel und gering. So sagen es die Einsichtigen, die um deren verschiedenen Aspekte wissen.
Tiefe Stille der Gedanken ist das Aufgehen im Absoluten, das Verweilen in der einzigen Wirklichkeit unter Ausschluss der inneren Unruhe.
Dieser Gemütszustand entspricht dem des Erleuchteten oder einer Person, die vor der Gefahr von Rückfällen in die Dualität weitgehend gefeit ist, sei es dass sie das Ziel schon als verkörperte Seele oder erst im entkörperten Zustand erreicht hat. Tiefe Gedankenstille bedeutet völlige Reglosigkeit des Denkorgans, totale Ausschaltung des Gemüts.
Mittlere Stille der Gedanken lenkt die inneren Vorstellungen durchwegs in eine bestimmte Richtung und ist einzig auf die Reine Wirklichkeit konzentriert.
Diese Art von Gedankenstille ist höchste Konzentration des Denkens entsprechend der siebenten Stufe des achtgliedrigen Yogas von Patañjali mit dem Gebot ‘ununterbrochener, auf einen einzigen Bewusstseinszustand gerichteter Aufmerksamkeit’.
Geringe Stille der Gedanken bedeutet das ausschliessliche Verweilen bei der Heiligen Schrift unter Ausschluss der Gedanken an Sinnesobjekte und ist auf die mit Unwirklichem vermischte Wirklichkeit gerichtet.
Bezugspunkt für Vergleiche ist die mentale Verfassung des Durchschnittsmenschen. Dieser denkt sehr oft nicht aus freiem Willen; er wird gleichsam ‘gedacht’. Seine Gedanken turnen wie Äffchen auf den Bäumen herum. Er kann sich nur schwer konzentrieren, schweift bei aller Anstrengung ständig vom Thema ab und würde, wenn es möglich wäre, gleichzeitig an drei verschiedene Dinge und Personen denken.