Das Hexenmedaillon - Johanna Geiges - E-Book
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Das Hexenmedaillon E-Book

Johanna Geiges

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Beschreibung

Süddeutschland 1203: Bei Nacht und Nebel bringt der Graf von Melchingen seine Tochter in ein Nonnenkloster. Abeline ist in höchster Gefahr: Sie hat das zweite Gesicht und könnte wie ihre Mutter als Hexe angeklagt werden. Der Vater wähnt sie in Sicherheit, aber im Kloster herrschen strenge Regeln – und die grausame und fanatische Schwester Hiltrud. Zum Glück findet Abeline eine unerwartete Verbündete: Die Alchemistentochter Magdalena verhilft ihr zur Flucht. Zusammen schlagen sich die Freundinnen bis zum Bodensee durch, doch die Häscher der Äbtissin sind ihnen schon auf den Fersen …

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Das Buch

Breisgau, Anfang des 13. Jahrhunderts: Behütet wächst die zarte Abeline als Tochter des Grafen von Melchingen auf. Bis sie bei Nacht und Nebel von ihrem Vater in das Kloster Mariaschnee am Hochrhein gebracht wird. Was sie da noch nicht ahnt: Ihre Mutter hat genau wie sie selbst das zweite Gesicht und wird schließlich als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Während ihr Vater Abeline im Kloster in Sicherheit wähnt, leidet sie dort unter der grausamen Schwester Hiltrud. Nicht nur, weil Abeline eine »höhere Tochter« ist, hat die machthungrige Nonne es auf sie abgesehen. Auch ihre Gabe droht entdeckt zu werden. Gerade rechtzeitig kommt ihr da der lebenslustige Wildfang Magdalena zu Hilfe.

Die Flucht aus dem Kloster gelingt, und Abeline schließt sich Magdalena und ihrem Vater an, die als Händler von Markt zu Markt durch die süddeutschen Lande ziehen. Magdalena und Abeline sind inzwischen enge Freundinnen geworden, und schon bald sind die beiden eine Attraktion auf jedem Marktplatz. Doch als die Kunde davon zu Schwester Hiltrud gelangt, schweben sie wieder in höchster Gefahr …

Die Autorin

Johanna Geiges hat jahrelang als Drehbuchautorin für große Fernsehproduktionen gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie in Memmingen.

Von Johanna Geiges sind in unserem Hause bereits erschienen:

Das Geheimnis der Medica

Die Rache der Medica

Johanna Geiges

Historischer Roman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Dezember 2014

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Fine Pic® (Hintergrund); © Bridgeman Art Library (Frau, Medaillon und Pflanze – Details aus Botticellis Venus and the Three Graces Offering Gifts to a Young Girl, ca. 1483, Louvre, Paris)

ISBN 978-3-8437-0975-0

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

»Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.«

WILLIAM FAULKNER, REQUIEM FÜR EINE NONNE

DRAMATIS PERSONAE

ABELINE – Novizin

MAGDALENA – ihre beste Freundin

SCHWESTER BERTHA – Äbtissin

SCHWESTER HILTRUD – Priorin, Stellvertreterin der Äbtissin

SOPHIA, AGNES, RICHARDIS, HADWIG, IDA – Novizinnen im Kloster Mariaschnee

SCHWESTER LYDIA – Pförtnerin im Kloster

ALBERT – Magdalenas Vater

KONRAD II. VON TEGERFELDEN – Fürstbischof von Konstanz

PHILIP VON MELCHINGEN – Abelines Vater

FRANZISKAVONMELCHINGEN – Abelines Mutter

FRIEDRICH II. VON HOHENSTAUFEN – König von Sizilien, später Kaiser des Heiligen Römischen Reiches

GEOWYN VON DER TANN – Ritter

PATER RASSO – greiser Aushilfspriester in Mariaschnee

PAOLO DE GASPERI – Kundschafter, Freund Friedrichs II.

* * *

Die Schauplätze sind das Heilige Römische Reich/Deutschland, Oberschwaben, Sizilien, das Nonnenkloster Mariaschnee am Hochrhein, die Burg Melchingen, die Stadt Konstanz, die Kaiserpfalz Hagenau im Elsässischen und der Bodensee in den Jahren 1203–1212.

DIE ACHT TÄGLICHEN ­ANDACHTEN IM KLOSTER

Die genaue Bestimmung schwankt je nach Jahreszeit und Region

Mette (Vigil): 2.00 Uhr nach Mitternacht

Laudes (Matutin): zwischen 5.00 Uhr und 6.00 Uhr

Prim: gegen 7.30 Uhr, in der Regel kurz bevor es hell wird

Terz: gegen 9.00 Uhr

Sext: 12.00 Uhr mittags

Non: zwischen 14.00 Uhr und 15.00 Uhr

Vesper: gegen 16.30 Uhr

Complet: gegen 18.00 Uhr

PROLOG

Die Männer auf ihren Pferden waren mitten im strengsten Winter im Jahre des Herrn 1203 am östlichen Ufer des Oberrheins unterwegs. In der Nacht frisch gefallener Schnee lag gut eine Handbreit hoch, kein Wind wehte, eine blasse Sonne stand tief am milchig blauen Himmel, und die Blätter der schneebedeckten Bäume glitzerten in ihrem Licht. Die Pferde stießen weiße Atemwölkchen aus ihren Nüstern, Hufe knirschten im pulvrigen Schnee: besser konnte das Wetter für einen erfolgversprechenden Jagdausflug des Grafen Philip von Melchingen und seiner sechs Männer gar nicht sein. Die mitgeführten und speziell auf die Hatz von Wild abgerichteten Hunde kläfften nervös und aufgeregt, sie ließen sich vom allgemeinen Jagdfieber anstecken und waren in ihrem Tatendrang kaum zu bremsen. Sie dampften geradezu vor Energie in der winterlichen Landschaft, die sich hügelig und bewaldet, von Schnee und Eis bedeckt, bis zum dunstigen Horizont zog. Seit Wochen hielt die klirrende Kälte an, und die Tümpel, Bäche und sogar die Seitenarme des Rheins waren zugefroren.

Der Jagdaufseher des Grafen, ein erfahrener Fährtenleser, entdeckte die frischen Trittsiegel zuerst. Eindeutig eine Wildschweinrotte, er schätzte sie auf acht oder zehn Stück Schwarzwild.

Die Hunde schnüffelten aufgekratzt, dann waren sie nicht mehr zu halten und hetzten der Spur nach, die Männer auf ihren Pferden hinterher.

Die wilde verwegene Jagd ging am Fluss entlang über Stock und Stein durch ein quer liegendes, lichtes Waldstück aus Kiefern und Tannen. Schneeverkrustete Äste peitschten den Reitern ins Gesicht, aber sie ignorierten sie – genauso wie die Hunde waren auch sie vom Jagdeifer gepackt. Jeder wollte der Erste sein, der die Schwarzkittel stellte, geschickt wurden die Bogen während des Reitens hervorgeholt, die Saufedern gezückt, und die freien Hände tasteten nach den Messern an der Hüfte und den Pfeilen im Köcher. Die Wildschweinspuren machten einen großen Bogen ins Landesinnere und kehrten dann wieder zurück zum Fluss, um dann mitten über eine Ausbuchtung, die gut zweihundert Schritte breit war, zu führen. Und dort, am anderen Ufer, war die Rotte tatsächlich noch kurz zu sehen, bevor sie im Unterholz verschwand. Das spornte die Hunde und Jäger noch einmal zusätzlich an. Ohne darauf zu achten, dass sie eine große Eisfläche überqueren mussten, setzten sie dem Wild nach, die Hunde hechelnd und jaulend voraus. Das Eis knarzte und ächzte hohl, als das erste Pferd mit dem Jagdaufseher das feste Ufer hinter sich ließ und die Hufe auf die schneebedeckte, verharschte Fläche trafen. Der Graf folgte dem vordersten Reiter, und auch die anderen fünf Männer trieben ihre Pferde ohne zu zögern über die zugefrorene Ausbuchtung. Im Eifer des Gefechts achteten sie nicht darauf, dass der trügerische Untergrund gefährlich zu knacken und zu singen anfing. Die Hundemeute hatte schon das andere Ufer erreicht und stürmte in das Dickicht. Genau in diesem Augenblick war ein durch Mark und Bein dringender Ton zu vernehmen, es hörte sich an, als ob eine riesige gespannte Saite aus Metall reißen würde. Auf dem Eis bildeten sich rasend schnell klaffende Spalten, und dann brach das führende Pferd mit dem Jagdaufseher auch schon ein, Pferd und Reiter gingen mit einem Mal im aufspritzenden, dunklen Wasser unter, als wären sie verschluckt worden. Die nachfolgenden Reiter konnten nicht mehr reagieren, die Eisdecke zersplitterte im Nu in Abertausende Facetten und Fragmente wie sprödes Glas. Vom brodelnden Loch aus taten sich riesige spinnennetzartige Brüche auf, augenblicklich versackten Ross und Reiter im aufschäumenden, schwarzen Wasser, welches gellende Schreie und panisches Wiehern im Keim erstickte, und verschwanden in der gurgelnden, bodenlosen Tiefe der Bucht. Ein paar Luftblasen stiegen noch glucksend an den Bruchstellen auf, einzig der Hut des Grafen mit der kecken Fasanenfeder war von der fröhlichen Jagdgesellschaft übrig geblieben und kreiselte langsam auf dem Wasser. Gespenstische Stille kehrte über der Bucht ein, nur in der Ferne hörte man noch das Jaulen und Kläffen der Hundemeute. Sie hatte die Rotte gestellt und wartete vergeblich auf ihre Herren, die Jäger.

»Papa!« – gellend hallte der schrille Schrei durch die nächt­lichen Gänge von Burg Melchingen. »Papa!«, schrie die kleine Abeline noch einmal, »Papa!« Sie schnellte aus ihrem Bett hoch, ihre aufgerissenen Augen blicklos in die Dunkelheit gerichtet. Im fahlen Mondlicht waren die Konturen ihres Schlafgemachs kaum zu erahnen, aber Abeline sah nur ihren Vater vor sich, wie er in ihrem Traum langsam immer tiefer im Wasser nach unten sank und schließlich im schwarzen Nichts verschwand, die Augen panikgeweitet und den Arm hilfesuchend nach ihr ausgestreckt.

Unvermittelt wurde die Tür zu Abelines Schlafgemach aufgerissen. Philip von Melchingen, Abelines Vater, kam, nur mit seiner Schlaftunika bekleidet und barfuß, mit einer brennenden Öllampe in der Hand herein. Die Schreie seiner siebenjährigen Tochter hatten ihn geweckt, und er war schnellstens herbeigeeilt. Abeline starrte mit aufgerichtetem Oberkörper auf ihrem Strohlager ins Nichts, Tränen liefen über ihre Wangen. Erst allmählich setzte ihr Denk- und Sehvermögen ein, sie erkannte ihren erschrockenen Vater, löste sich aus ihrer Starre, sprang aus ihrem Bett und mit ausgestreckten Armen so heftig an seine Brust, dass er damit zu kämpfen hatte, seine Öllampe und sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Abeline klammerte sich schluchzend an ihn, er drückte sie an sich, fuhr ihr tröstend über die schönen langen Haare und flüsterte ihr ins Ohr: »Es war nur ein böser Traum, mein Engel, nur ein böser Traum.« Erst in der sicheren Geborgenheit seiner starken Arme und an den kratzigen Hals ihres geliebten Vaters geschmiegt, beruhigte Abeline sich ganz allmählich.

Der Vater trug sie ins elterliche Schlafgemach nebenan, wo ihre Mutter Franziska ebenfalls von Abelines Schreien wach geworden war. »Was hat sie?«, fragte sie mit besorgter Miene.

»Nichts. Sie hat etwas Schlimmes geträumt, das ist alles«, wiegelte ihr Mann ab und ließ Abeline zwischen sich und seiner Frau ins Bett schlüpfen. »Alles ist gut. Schlaf weiter, Abeline«, sagte ihre Mutter, küsste sie sanft auf die Stirn und kuschelte sich an sie. Schnell war Abeline wieder eingeschlummert. Nur bei ihren Eltern war nicht mehr an Schlaf zu denken. Besorgt warfen sie sich im Licht der Öllampe, die der Graf auf einem Hocker abgestellt hatte, einen ahnungsvollen Blick zu. Sie wussten beide, worüber sie sich Sorgen machten: In der Familie von Melchingen war es ein streng gehütetes Geheimnis, dass Abeline offenbar das unselige Talent von ihrer Mutter geerbt hatte, manchmal in ihren Träumen in die Zukunft sehen zu können. Wenn das jemals offenbar wurde, war ihr Leben in großer Gefahr. Denn wer in die Zukunft sehen konnte, musste nach der zwingenden Logik der Kirche eine Hexe sein. Und wer als Hexe gebrandmarkt war, landete unweigerlich auf dem Scheiterhaufen. Eine Hexe ist eine Hexe und muss brennen, so befahl es das Gesetz im Heiligen Römischen Reich.

TEIL I

I

Als Abeline am nächsten Morgen aufwachte, blinzelte sie in die Sonne, die durch die glaslose Fensterlaibung des elterlichen Schlafgemachs hereinschien. In der Ferne war Geschrei zu hören – oder hatte sie das nur geträumt? Sie horchte, nein, sie musste sich wohl getäuscht haben. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich erinnerte, warum sie bei ­ihren Eltern im Bett unter der warmen Felldecke lag und nicht in ihrem eigenen. Sie hatte in der Nacht schlecht geträumt, und ihr Vater hatte sie aus ihrer Kammer zu sich und ihrer Mutter geholt, an ihren Traum konnte sie sich aber nicht mehr erinnern. Sei’s drum, dachte sie und streckte sich wohlig wie eine Katze, bevor sie aus dem Bett stieg und barfuß über den strohbedeckten Holzbohlenboden ging, was sie immer zum Kichern brachte, weil das Stroh so unter ihren Fußsohlen piekste. Es musste schon später Vormittag sein, wenn es draußen so hell war. Sie hüpfte spielerisch die Stufen der engen Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss, von der aus man direkt in die Küche der Burg gelangte. Abeline war hungrig wie ein Wolf und freute sich auf ein schönes Frühstück. Vielleicht, wenn sie Glück hatte, gab es noch warmen Hirsebrei, den ihre Mutter für sie immer so schön süß zubereitete, indem sie Honig dazugab, weil sie wusste, was für ein Leckermäulchen ihre Tochter war. Abeline aß eben am liebsten Naschwerk und stibitzte für ihr Leben gern Honig aus dem Honigtopf.

Zu ihrer Verwunderung war jedoch kein Mensch in der Burgküche, nicht einmal Else, die freundliche alte Magd, die ihr immer heimlich einen Löffel vom Honigtopf gab, der so hoch auf einem Regal stand, dass man, wenn man noch so klein war wie Abeline, ohne eine gefährlich wackelnde Konstruktion aus der alten Truhe mit den Tüchern und einem Hocker darauf nicht an ihn heranreichte. Das Wasser kochte im Kessel, der an einer Kette über dem Herdfeuer hing. Abeline sah sich genauer um. Etliche Gerätschaften la­gen achtlos herum, Gemüse, das noch geputzt werden musste, und zwei Fasane, erst halb gerupft, waren auf dem großen Zubereitungstisch zurückgelassen worden, ein paar ausgezupfte Federn tanzten im Durchzug in der Luft. Abeline versuchte, sie einzufangen, aber es gelang ihr nicht. Sie blieb stehen und horchte – irgendwie war es ihr auf einmal unheimlich zumute, als hätten die Mägde und Knechte, die in der Küche um die Zeit normalerweise zu tun hatten, alles stehen und liegen gelassen und wären spurlos verschwunden. Sie bekam eine Gänsehaut. Es war trotz des Feuers im Herd kalt, alle Türen standen sperrangelweit offen, und Abeline hatte nur ihre leinerne Schlaftunika an. Wenn ihre Mutter sie so sah, würde sie bestimmt schimpfen. Dabei hatten sie gestern noch ausgemacht, dass sie an diesem Tag anfangen würde, ihrer Tochter das Lesen beizubringen, darauf hatte sich Abeline schon so gefreut. Wo ihre Mutter nur war? Nie hätte sie diese Unordnung geduldet, die Bediensteten in der Burgküche unterstanden ihrer Aufsicht und würden es normalerweise nicht wagen, sich solche Nachlässigkeiten zu erlauben. Wieder fuhr ihr ein kalter Schauder über den Rücken, aber dieses Mal war die körperliche Reaktion nicht nur der Kälte und der Zugluft geschuldet, sondern auch einer unerklärlichen Angst, die allmählich von ihr Besitz ergriff und ihren Rücken heraufkroch wie eine große, fette Spinne. Unwillkürlich schüttelte sich Abeline bei dieser ekligen Vorstellung.

»Mama?«, rief sie mehr zaghaft als forsch. »Mama – wo bist du?«

Sie spitzte vorsichtig um die Ecke in den großen Bankettsaal, aber auch der war menschenleer, nicht einmal die Hunde waren da, von denen sonst immer ein oder zwei in der Früh vor den verglühenden Resten des Kaminfeuers dösten und darauf warteten, mit Abeline zu balgen.

Wieder war ihr so, als ob sie von draußen Geschrei hörte. Für einen kurzen, schrecklichen Moment stellte sie sich vor, dass Gott der Herr aus einem seiner unergründlichen Ratschlüsse heraus alle Menschen von der Erde hatte verschwinden lassen und nur noch sie, Abeline, übrig geblieben war, mutterseelenallein in der ihr riesig vorkommenden, unheimlichen Burganlage. Oder eine Hexe hatte das im Auftrag des Teufels getan, die konnten zaubern, das hatte ihr Else zugeraunt, die gern einmal gruselige Geschichten erzählte, wenn der Graf und die Gräfin nicht da waren und sie sich um Abeline kümmern musste. Aber das konnte nicht sein, ihre überbordende Fantasie hatte ihr bestimmt wieder einmal einen Streich gespielt. Jetzt erst merkte sie, dass ihr vor lauter Kälte die Zähne klapperten. Sie fuhr mit ihrer Zunge vorsichtig an ihren linken Schneidezahn, der ihr heute noch wackliger vorkam als gestern. Die Mutter hatte ihr erklärt, dass sie nach und nach alle ihre kleinen Milchzähne verlieren würde, aber dafür würden neue nachwachsen. Das war der Lauf der Dinge, wenn man groß und erwachsen werden wollte. Manchmal war Abeline gar nicht so erpicht darauf, erwachsen zu werden. Aber dann wieder wünschte sie sich nichts sehnlicher. Warum in Gottes Namen war das Leben nur so kompliziert?

Hinter ihr heulte ein Windstoß auf, und es quietschte laut. Sie fuhr herum, das Geräusch kam von der schweren Eichenholztür, die auf den Innenhof der Burg hinausführte. Sie stand halb offen und bewegte sich im Wind, Schnee­flocken wehten durch den Spalt in den Saal herein. Der Anblick der wirbelnden Schneeflocken löste etwas in ihr aus, es durchfuhr sie wie ein Blitz im Inneren ihres Kopfes, als die Erinnerung an ihren bösen Traum mit einem Schlag einsetzte. Ihr Vater – er wollte doch heute in aller Früh mit einigen seiner Männer zur Jagd ausreiten … Und sie hatte geträumt, wie sie alle im Wasser untergegangen und ertrunken waren. Schreckliche Angst und Sorge durchfluteten sie: Wenn ihr Traum nun furchtbare Wirklichkeit geworden war? Sie rannte los, blind und taub vor Panik stürzte sie durch den Türspalt hinaus ins Schneetreiben, barfuß und nur mit ihrem dünnen Hemdchen bekleidet. Im Freien musste sie erst gegen die heranwehenden Schneeflocken anblinzeln, die dicht und dick herangeflogen kamen. Was sie schließlich undeutlich am Burgtor erkennen konnte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren: wehklagende, schreiende Frauen, kläffende Hunde, klatschnasse, verschmutzte Männer, die irgendwelche menschlichen Körper von zwei Pferden herunterzogen, und mitten unter ihnen ihre Mutter. Wo war ihr Vater? Sie rannte auf das Menschen- und Pferdeknäuel zu, blieb aber nach ein paar Schritten wie angewurzelt stehen. Zwei Männer lagen bewegungslos im Schnee, kein Blut war zu sehen, aber Abeline wusste, dass sie tot waren, ertrunken. Sie erkannte einen an seiner bunten Kleidung, den Jagdaufseher. Die Männer, die ihre leblosen Kameraden von den Pferden gewuchtet und in den Schnee gelegt hatten, sahen nicht viel anders aus als die Toten: klatschnass und schmutzverkrustet, ihre Bärte und Haare mit dicken Eisklumpen behangen. Die Frauen der Burg, ihre Mutter und die Mägde, schlugen sich vor Schreck und Grauen die Hände vor das Gesicht oder hielten sich gegenseitig, zwei Mägde, die Frau des Jagdaufsehers und Else, beweinten die Leichname am Boden und knieten davor. Else schrie und schlug in ihrer tiefen Verzweiflung auf den zweiten Toten ein, bis die Männer sie wegzogen.

Abeline stand noch immer regungslos im Innenhof, eigentlich wollte sie gar nicht wissen, wer dieser zweite Tote war. Panik durchflutete sie – wenn das am Ende ihr Vater war …

Die Menschenansammlung am Tor erinnerte sie unwillkürlich an ein Fresko in der Klosterkirche von Mariaschnee, dem Frauenkloster am Rhein, das sie einmal zusammen mit ihrem Vater gesehen hatte: die Beweinung Christi – Jungfrau Maria, Maria Magdalena, der Evangelist Johannes und Joseph von Arimathäa trauerten um den toten Jesus, der eben vom Kreuz abgenommen worden war.

Da drehte sich einer der Männer, der ihr bisher nur den Rücken zugekehrt hatte, langsam um, wohl weil er zu spüren schien, dass jemand hinter ihm stand und ihn mit seinen Blicken schier durchbohrte. Es war ein unheimlicher Moment, denn sein Gesicht war nahezu unkenntlich, seine langen, braunen Haare waren ebenso wie sein Bart verfilzt und mit Eisbröckchen durchwirkt, als wären es Perlen. Seine Kleidung, völlig durchnässt und vereist, ließ ihn wirken wie jemanden, der frisch aus einem Sumpfloch entstiegen war wie ein Moorgeist. Nackte, ohnmächtige Erschöpfung und Verzweiflung standen ihm ins Gesicht geschrieben.

»Papa!«, schrie Abeline nach zwei Herzschlägen, rannte los und warf sich dem Mann an den Hals, »Papa, bin ich froh, dass du nicht tot bist!«

»Nein, mein Engel«, erwiderte der Vater und drückte sie so heftig an sich, als wäre er nur für eine kurze Zeit aus dem Totenreich entlassen worden, um seine einzige Tochter noch einmal umarmen zu dürfen. »Ich bin nicht tot. Aber es ist ein Wunder, dass ich es nicht bin. Gott hat ein Einsehen gehabt, dass du mich noch brauchst hier auf Erden. Und ich dich!«

So standen sie eine ganze Weile wortlos da im eisigen Schneetreiben, einen Augenblick erstarrt in ihrem Schock und ihrer Trauer, und sahen auf die schluchzende Else, die sich über ihren toten Mann geworfen hatte.

Bis Abeline ihrem Vater ins Ohr flüsterte: »Ich habe gesehen, wie es passiert ist. Heute Nacht. In meinem bösen Traum.«

»Ich weiß«, sagte der Vater.

Aber Abeline hörte ihn gar nicht. »Ich habe im Traum gesehen, was mit euch geschehen wird. Dass ihr alle im Eis einbrecht. Aber ich habe es vergessen. Ich hätte euch nicht losreiten lassen dürfen, es ist meine Schuld.« Sie schluchzte auf und presste ihr Gesicht fest an die bärtige und kratzige Wange ihres Vaters. »Es tut mir so leid!«

»Nein«, tröstete sie ihr Vater. »Nein, du kannst nichts dafür, mein Engel.«

»Papa …«, sagte Abeline, hörte abrupt auf zu schluchzen und sah ihren Vater plötzlich erschrocken und fassungslos an.

»Ja, was ist?«

»Papa, ich glaube, mein Zahn ist rausgebrochen.« Abeline langte in ihren Mund und zog entgeistert den linken Schneidezahn heraus, an dem ein wenig Blut klebte. Der Vater nahm ihn, sah ihn an, schenkte seiner Tochter ein trauriges Lächeln und sagte: »Darf ich ihn behalten? Er wird mich in Zukunft beschützen.«

Abeline nickte, sah, wie ihr Vater den Zahn einsteckte, sich umdrehte und so laut sprach, dass ihn alle hören konnten. »Was geschehen ist, können wir nicht mehr ungeschehen machen. Es ist Gottes Wille gewesen. Bringt die Toten in die Kapelle und bahrt sie auf. Kuno, unseren Hundeführer, haben wir im Eis nicht mehr finden können. So Gott will, ist der Fluss auf ewig sein nasses Grab.«

Sie bekreuzigten sich, und dann ging Philip von Melchingen mit Abeline auf dem Arm und gestützt von seiner Frau durch das immer dichter werdende Schneetreiben zurück ins Herrenhaus.

II

Um Gottes Willen! Was ist nur in dich gefahren?«

Fassungslos stand Albert, der gelernte Goldschmied und heimliche Alchemist, vor seiner achtjährigen Tochter und blickte auf ein Büschel in seiner Hand. Magdalena hatte sich eigenmächtig ihren zotteligen roten Haarschopf geschoren und hockte jetzt vor ihm mit verschnittenen Stoppelhaaren und trotzig vorgerecktem Kinn.

»Schau dich doch an! Du siehst ja aus wie ein Junge!«

Magdalena blieb stumm, verschränkte bockig die Arme und setzte ihr widerborstigstes Gesicht auf, bei dem ihr Mund nur noch ein roter Strich war und ihre Augen schmale Schlitze. Ihr Vater seufzte innerlich. Wenn seine Tochter in dieser Stimmung war, konnte sie sturer sein als ein alter Maulesel. Von wem sie das nur hatte? Er schüttelte resigniert den Kopf, weil er es genau wusste. Ihre Mutter – Gott hab sie selig! – war genauso gewesen. Wenn er gedankenlos etwas Belangloses geäußert hatte, was sie in ihren unerklärlichen Stimmungsschwankungen in den falschen Hals bekommen hatte, kam es durchaus vor, dass sie ihn geschlagene zwei Wochen lang wie Luft behandelte. So lange, bis er es nicht mehr aushielt und sie buchstäblich auf Knien anflehte, ihm zu verzeihen und wieder gut zu sein, obwohl er manchmal gar nicht mehr wusste, was der Grund für ihren beleidigten Dauerzustand gewesen war. Es war eine ständige Gratwanderung gewesen, obwohl sie grundsätzlich eine gute Ehe geführt hatten. Das lag nur daran, weil er ein durch und durch gutmütiger und nachgiebiger Mann war, der um des lieben Friedens willen stets alle Schuld auf sich nahm, auch wenn er im Recht war. Aber gegen weibliche Sturheit anzukämpfen war, als würde man versuchen, ein Stück Granit durchzubeißen.

Das Irrwitzige an Magdalenas gegenwärtiger Verbocktheit war, dass seine Tochter sich aus heiterem Himmel in den Kopf gesetzt hatte, ein Junge zu werden. Und als Albert geduldig versuchte, sie davon zu überzeugen, dass das nicht möglich sei, weil Gott für sie nun einmal die Rolle eines Mädchens vorgesehen hatte, war sie in ihre Trotzstarre verfallen. Ihr war klar, dass sie damit ihren Vater zwar anfangs zur Weißglut bringen, aber auf Dauer weichkochen würde. Es war eben nicht so einfach, als Vater allein eine kleine Tochter großzuziehen. Die einzige Magd, die sie hatten und die sich um den Haushalt und das Essen kümmerte, war sowieso schon überfordert, weil sie nicht gerade eine Leuchte war. Albert vermisste seine Frau nicht nur deswegen, er wusste, dass seiner Tochter eine Mutter fehlte – aber was sollte er tun? Agnes war zwei Wochen nach der Geburt von Magdalena im Kindbett gestorben. Er hatte in seiner Not noch eine der heilkundigen Nonnen vom nahen Kloster Mariaschnee geholt, aber auch sie konnte gegen das Fieber und den Willen des Herrn nichts ausrichten, trotz Aderlass und endlosen Gebeten. Eigentlich hatte die Nonne, ihr Name war Schwester Hiltrud, erwartet, dass er seine Tochter dem Kloster übergeben würde, weil er als Witwer nicht die Fähigkeiten besaß, um ein Kleinkind aufzuziehen. Genügend Ländereien, die er dem Kloster dafür hätte abtreten können, nannte er schließlich sein Eigen. Sein Vater, ein freier Bauer, der es verstanden hatte, durch den Verkauf seiner Ernten an diverse Klöster bis nach St. Gallen hinauf und nach Hirschlingen, der wohl­habenden Stadt am Ufer des Hochrheins, stattliche Gewinne zu erzielen, hatte einst die eine Hälfte seines Landes dem Frauenkloster vermacht, die andere Hälfte ihm. Doch Albert hatte andere Pläne. Er legte neben seiner künstlerischen Ader eine angeborene Geschicklichkeit für Handwerksarbeiten an den Tag und war bei einem Onkel, einem Gold- und Kunstschmied im El­sässischen, in die Lehre gegangen. So hatte er den elterlichen Hof jahrelang nicht gesehen. Nach seiner Rückkehr brachte er nicht die Begeisterung für Aussaat, Ernte und Viehzucht auf, die nötig war, um Knechte und Mägde anzuleiten und bei der Stange zu halten. Er sah sich einfach nicht in der Lage, die Landwirtschaft im Sinne seines Vaters weiterzuführen, der, wie seine Mutter, in Alberts Abwesenheit gestorben war. Auch seine Frau, die Tochter des Schmieds, hatte keine Neigung gehabt, einen Hof zu führen, und so hatte er kurzerhand alle ihm vererbten Ländereien an einen Nachbarn verpachtet, um sich fortan, nach dem frühen Tod seiner Frau, nur noch seinen zwei verbliebenen Leidenschaften zu widmen: der Erziehung seiner Tochter und dem Experimentieren in seiner großen Werkstatt, die niemandem außer ihm und Magdalena zugänglich war. Durch diese Geheimnistuerei war schon bald bei den einfachen Menschen das Gerücht umgegangen, Albert habe sich teuflischen Machenschaften verschrieben, ein Gerücht, gegen das Albert nichts unternahm, weil es ihn vor Neugierigen schützte: Kein Mensch wollte in die Nähe eines Hofes kommen, auf dem es nicht mit rechten Dingen zuging. Dieses Verhalten hatte allerdings auch einen Nachteil – wenn der schlechte Ruf, den er sich redlich erarbeitet hatte, einem Kirchenoberen zu Ohren kam, konnte es durchaus heikel für ihn werden. Eine von der Kirche eingesetzte Untersuchungskommission wäre das Letzte gewesen, das er hätte brauchen können. So etwas war brandgefährlich, außerdem befürchtete er, dass das Kloster durchaus ein Auge auf seinen Besitz geworfen hatte. Sollte er angezeigt und einem kirchlichen Prozess unterzogen werden, konnte sich das Frauenkloster Mariaschnee bei einem Schuldspruch seinen Besitz unter den Nagel reißen. Ganz abgesehen davon, dass ihn eine Verurteilung das Leben kosten würde. Dabei wollte er nichts weiter, als in Ruhe seinen Forschungen nachgehen. Um wegen der Gerüchte wenigstens den Nonnen im nahen Kloster den Wind aus den Segeln zu nehmen, tat er deshalb alles, um bei ihnen in gutem Licht zu erscheinen. Er besuchte regelmäßig mit seiner Tochter die heilige Messe, spendete fleißig für das Lesen von Totenmessen, die der Seele seiner verstorbenen Frau zugutekommen sollten, und sprang unentgeltlich ein, wenn seine handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten gefragt waren. So hatte er mit selbstentwickelten Farben das Fresko neben dem Altar geschaffen, das die Beweinung Christi nach der Kreuzesabnahme zeigte, ein Werk, das ihm vorzüglich gelungen war und ihm ein Sonderlob des Fürstbischofs von Konstanz einbrachte, Diethelms von Krenkingen, als dieser das Frauenkloster mit seinem hohen Besuch beehrte. Dadurch glaubte sich Albert nach oben genügend abgesichert zu haben, um weiter so zu leben und arbeiten zu können, wie es ihm gefiel. Mit seinen Experimenten in der Werkstatt verfolgte er große Ziele. Sein alter Meister in Straßburg hatte ihn auf die Idee gebracht, aus wertlosen Metallen Gold herzustellen. Von dieser Vorstellung war er inzwischen so besessen, dass sie zu seiner Lebensaufgabe geworden war und aus ihm einen heimlichen Alchemisten gemacht hatte. Im Laufe der Zeit hatte er so viele Experimente durchgeführt, seltsam anmutende Gerätschaften erworben und selbst konstruiert, unzählige Pülverchen gemischt und Essenzen gebraut, dass seine ehemalige Scheune, die er für seine Zwecke umgebaut hatte, zu einem Laboratorium geworden war, in dem er Tage und Nächte verbringen konnte, wenn er sich nicht gerade um seine Tochter kümmerte. Anfangs hatte er eine Kinderfrau angestellt, aber je größer Magdalena wurde, desto schwieriger wurde der ­Umgang mit ihr. Jetzt, mit ihren fast neun Jahren, war sie so aufsässig geworden, dass sie völlig unfähig war, sich irgendjemandem unterzuordnen. Vor zwei Jahren hatte die Kinderfrau genug gehabt und sich eine andere Stellung gesucht. Magdalena hatte sich zu einem höchst eigenwilligen Wildfang gemausert, war ständig im Freien unterwegs und konnte reiten, fechten und raufen wie ein männlicher Altersgenosse. An ihr war wirklich ein Junge verloren gegangen.

Und jetzt hatte sie sich, entgegen dem ausdrücklichen Befehl ihres Vaters, ihre schöne Löwenmähne abgeschnitten, weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Junge zu sein. Sie eiferte sonst in allen Dingen ihrem Vater nach, und nur weil er in einem unbedachten Moment gesagt hatte, wie hübsch sie sei und dass er darüber nachdenke, mit wem er sie verloben könnte, damit sie später einmal, wenn er nicht mehr da sei, ein Auskommen habe und versorgt sei, war sie aufgestanden, hatte sich in sein Laboratorium eingesperrt, wo mehrere Scheren herumlagen, und war als Junge wieder herausgekommen.

Im ersten Moment war Albert erschrocken und dann so wütend gewesen, dass er ihr gedroht hatte, sie ins Kloster Mariaschnee zu bringen. Diese Drohung erfüllte bis dahin stets ihren Zweck, denn keine Strafe wäre für die freiheitsliebende Magdalena schlimmer, als in einem Kloster zu leben, in dem jede Minute streng reglementiert war. Unter der eisernen Fuchtel der Nonnen hätte sie lernen müssen, ihren notorischen Widerspruchsgeist zu zähmen, sich Gottes Ratschluss zu beugen, und wäre wenigstens die Braut Christi geworden, wenn sie schon auf Erden ihre Bestimmung als weibliches Wesen nicht annehmen und akzeptieren wollte.

Doch als Albert sah, dass ihr seine Drohungen Tränen in die Augen trieben, war seine Wut schnell verraucht. Sie war eben auch sein Fleisch und Blut, und er liebte Magdalena, wie ein Vater seine Tochter nur lieben konnte.

Er nahm das abgeschnittene Haarbüschel, ging damit aus dem Haus, packte eine Schaufel, grub ein Loch hinter der Scheunenwand, legte das Haar hinein und bedeckte es mit Erde, die er mit seinen Stiefeln wieder eben stampfte. Dann stand er eine ganze Weile da und betete zu seiner verstorbenen Frau im Himmel – er war sich sicher, dass sie da auf ihn wartete –, verbunden mit dem inständigen Wunsch, sie möge bei der Heiligen Jungfrau Maria ein gutes Wort dafür einlegen, dass Magdalena eines nicht allzu fernen Tages Vernunft annehmen würde. Er wusste, es tat seiner Tochter nicht gut, ohne gleichaltrige Kinder bei ihrem Vater zu leben, der bei jeder Gelegenheit seinen obskuren Neigungen nachzugehen pflegte. Es war an der Zeit, dass er Magdalena vielleicht bei seinem Nachbarn unterbrachte, der eine Frau und fünf Kinder hatte sowie ein Gesindehaus mit Mägden und Knechten besaß. Dort konnte sie im Stall und auf den Feldern das bäuerliche Leben und Arbeiten lernen und kam vielleicht auf andere Gedanken. Außerdem bestand immerhin die – wenn auch unwahrscheinliche – Aussicht, dass sich so etwas wie eine gegenseitige Zuneigung zwischen ihr und einem der drei Söhne des Nachbarn entwickelte. Das war seine stille Hoffnung, denn in einer Verheiratung seiner Tochter sah er die einzige Möglichkeit, dass sein Besitz nicht eines Tages in die Hände der Kirche fiel, weil alleinstehende Töchter nicht erbberechtigt waren.

Aber es würde schwierig werden und Zeit brauchen, Magdalena davon zu überzeugen, sehr schwierig.

III

Der Junge war von altem sizilianischen Adel, groß gewachsen, hatte pechschwarzes Haar und dunkle Augen. Er war höchstens zehn Jahre alt, und sein nervöses Pferd, ein Rappe, tänzelte. Er ließ es zu, dann dirigierte er es mit leichtem Zügelzug und durch Druck mit seinen blanken Stiefelfersen, an denen er keine Sporen trug, so dass es mit der Hinterhand auf der Stelle trabte und mit der Vorhand einen Kreis beschrieb. Er konnte gut mit Pferden umgehen, und der Rappe war so gelehrig und beherrschte schon das eine oder andere Kunststück. Bei seinen Ausritten über die ausgedehnten Familienländereien hatte er genügend Zeit, verschiedene Gangarten auszuprobieren, ohne sofort das schadenfrohe Gelächter seiner jüngeren Schwestern auf sich zu ziehen, wenn ein ungewöhnlicher Bewegungsablauf nicht gleich perfekt funktionierte. Das Pferd schloss die Pirouette zur Zufriedenheit seines Reiters ab, wurde mit einem zärtlichen Tätscheln des Kamms und ein paar ins Ohr geflüsterten Worten in einer fremden Sprache belohnt, bevor der Junge mit einem Zungenschnalzen seinen Kontrollritt die gräflichen Felder entlang fortsetzte. Er grüßte die Bauern, die mit dem Einbringen der Ernte beschäftigt waren und die er alle beim Namen nannte. Er war beliebt in seiner Grafschaft, die er eines Tages, wenn er volljährig war, übernehmen würde. Das war der Fall, wenn er vierzehn Jahre zählte, bis dahin war seine ältere Schwester für die Verwaltung des Landes verantwortlich. Sie war seit einiger Zeit Witwe, ihre Eltern waren schon lange tot, die Malaria hatte sie ebenso wie ihren Ehemann dahingerafft. Die einfachen Leute mochten den Jungen, weil sie von seiner Familie nie von oben herab, sondern anständig und gerecht behandelt wurden. Sein Name war Paolo de Gasperi.

Das alles wusste Abeline nicht, als er ihr zum ersten Mal im Traum erschien. Was sie sah, war ein verspielter Junge auf einem edlen Ross – so viel verstand sie von Pferden –, der, so erzählte man sich, farbenprächtige und juwelenfunkelnde Kleidung trug. Sie war ja noch nicht viel in der Welt herumgekommen und wusste nur aus den Erzählungen ihrer Eltern, dass es nicht nur das Heilige Römische Reich und Frankreich, Spanien und England gab, und das waren nur die mächtigsten Königreiche, sondern dass die Welt noch viel größer und unvorstellbar weit war. Sie war von riesigen Ozeanen umgeben, worin schreckliche Meeresungeheuer hausten; es gab ferne Länder, in denen wilde Sarazenen herrschten, mit denen es immer zum Krieg kam um das Heilige Land, das Land, in dem Gottes Sohn geboren war und gelebt und gewirkt hatte. Und hinter diesem Land, wo die Sarazenen und die Kreuzritter um die Vorherrschaft kämpften, sollte es noch weitere Länder und Menschen geben, deren Sprache niemand mehr verstand und ihre Sitten und Gebräuche schon gar nicht. Manche sollten gar gottlos und Menschenfresser sein, das alles hatte ihr jedenfalls das Kindermädchen Else unter dem Siegel der Verschwiegenheit geschildert, worauf Abeline nächtelang nicht mehr schlafen konnte, weil sie sich vorstellte, wie diese Menschenfresser andere Menschen fingen, in bauchige Kessel steckten und gar kochten, bevor sie sie verspeisten. Doch so sehr sich Abeline bei dieser Vorstellung gruselte – davon träumte sie nie. Wovon sie träumte, war hingegen so real, dass sie manchmal glaubte, sie hätte eine Vision von einem Ereignis, bei dem sie selbst unsichtbar für die Beteiligten zugegen war. Sehr bald hatte sie gelernt, diese ganz spezielle Begabung besser für sich zu behalten – denn für ihre Eltern war das eher ein Fluch. Dieses schlimme Wort hatte sie einmal gehört, als ihre Eltern dachten, sie würde schon schlafen und könnte sie nicht hören. Von da an vermied es Abeline tunlichst, auch nur ein einziges Mal eine Silbe darüber zu verlieren; sie liebte ihre Eltern und wollte ihnen eine gute Tochter sein, auf die sie stolz sein konnten und um die sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. Das Leben auf Burg Melchingen mit der Verantwortung für Soldaten, Bauern, Gesinde und Vieh war schon schwierig genug für sie, das hatte sie schon von Kindesbeinen an gelernt und verinnerlicht. Fortan behielt sie, so gut es ging, ihre Träume für sich, und wenn ihre Mutter sie am Morgen weckte und sie fragte, ob sie gut geschlafen habe, nickte sie immer und brachte ein Lächeln zustande, auch wenn ihr manchmal, wenn sie eine böse Vorahnung hatte, beileibe nicht nach einem fröhlichen Gesichtsausdruck zumute war. Aber das kam Gott sei Dank nur äußerst selten vor. Zuweilen sah sie in ihren Träumen sogar glückliche Ereignisse voraus, wie zum Beispiel die Geburt von Zwillingen bei der Frau des Huf- und Waffenschmieds oder einen erquickenden Landregen nach wochenlanger, für eine gute Ernte verhängnisvoller Trockenheit und Sommerhitze. Gelegentlich träumte sie auch von Menschen und Vorkommnissen, die sie überhaupt nicht kannte oder verstand, und das kam ihr seltsam vor. Solche Träume waren schnell wieder vergessen, dennoch waren auch sie von eindringlicher Klarheit und Schärfe. Als Abeline älter wurde, hatte sie das Gefühl, dass nur die zuweilen begriffsstutzige Else etwas davon verstand, die als Kindermädchen für sie sorgte. Ihr hatte sie das eine oder andere Mal ihre nächtlichen Visionen gebeichtet. Else hatte sich dann immer eilfertig bekreuzigt – drei Mal hastig hintereinander – und ein unverständliches Gebet genuschelt, und einmal hatte sie eindringlich gesagt: »Kind, du hast von Gott eine Gabe bekommen, die dir gefährlich werden kann, wenn sie jemals an die Ohren von denen da oben gelangen sollte! Versprich mir, dass du niemandem davon erzählst, es könnte zu deinem Schaden und Nachteil sein.«

Abeline hatte zwar nicht die geringste Ahnung, was Else mit »denen da oben« meinte, aber sie befürchtete, dass sie kein Mädchen war wie alle anderen. Und das machte ihr Angst, das wollte sie nicht.

Eines Nachts war ein Komet samt Schweif am Sternenhimmel aufgetaucht und hatte alle Burginsassen mit Ausrufen des Staunens und leiser Furcht ins Freie gelockt. Abelines Vater hatte versucht, das außergewöhnliche Lichtphänomen als natürliche Himmelserscheinung zu erklären, doch die Burgbewohner deuteten es als Zeichen für das bevorstehende Ende der Welt.

Philip von Melchingen versuchte, wenigstens den Leuten die Angst zu nehmen. Doch das war vergebliche Liebesmüh. Dieser unheilvolle Vorgang musste ein Fingerzeig Gottes auf etwas Größeres sein, das konnte ebenso gut die Ankunft und Geburt eines neuen Papstes oder Kaisers als auch der Anfang vom Ende der Welt sein und bedeuten, dass die ägyptischen Plagen bald über die Menschheit hereinbrechen würden.

Tags darauf hatte in Melchingen am Markttag, den Vater und Tochter oft zusammen aufsuchten, ein bärtiger und zerlumpter Prediger mit dem Hinweis auf das göttliche Zeichen am Himmel alle Menschen dazu aufgerufen, sich sofort aller irdischen Besitztümer zu entledigen und Buße zu tun, weil jeden Augenblick mit dem Ende aller Zeiten und damit dem Jüngsten Gericht zu rechnen sei. Er deutete dabei theatralisch auf eine sich rasch auftürmende pechschwarze Wolkenwand. Plötzlich auffrischender Wind, der die Haare zer­zauste, den Staub der Straße in die Augen blies und die Tücher und Planen der Marktstände flattern und knattern ließ, schien seine zunehmend schriller werdenden Worte zu bestätigen und verlieh ihnen die nötige Beweiskraft. Kurz darauf setzte das Gewitter mit Blitz, Donner und Hagelschlag ein, und der Großteil der Marktbesucher fiel, statt sich rechtzeitig ein schützendes Dach über dem Kopf zu suchen, zeternd und jammernd auf die Knie, schlug sich anklagend gegen die Brust und intonierte ein allgemeines dumpfes »Mea culpa!«, ganz so, wie es ihm der Prediger vormachte, der sich dazu auch noch seine Tunika vor der Brust zerriss und das »Mea culpa!« allmählich lauter werdend rhythmisch wiederholte. Im Wechselgebet mit der Menge schwoll es schließlich zum »Mea maxima culpa!« an wie eine Meereswoge, die größer und mächtiger wurde und alles mitriss. Da spürte auch Abeline zum ersten Mal, was es mit der Weltuntergangsstimmung auf sich hatte, von der sie Else bisweilen hatte raunen hören, wenn sie von ihrer Beichte kam, die sie immer absolvierte, wenn der Priester aus Melchingen zu Besuch weilte, um in der Burgkapelle eine Messe abzuhalten und die Kommunion zu erteilen.

Nun bekam es Abeline wirklich mit der Angst zu tun. Denn jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie Schauplatz und Verlauf des Geschehens in einem Traum vorausgesehen hatte. Dennoch überraschte es sie, wie rasend schnell die Leute offenbar tatsächlich glaubten, dass mit einem Schlag alles vorbei sein könnte, so, als hätten sie ihr Lebtag nur auf diesen Moment der göttlichen Abrechnung gewartet. Das wurde ja auch bei jeder Messe gepredigt, bis es auch dem Letzten in Fleisch und Blut übergegangen war. Die Zeit war reif für das bevorstehende Ende, das war allgemeingültiges Gedankengut, und davon waren auch die Menschen auf dem Marktplatz von Melchingen in diesem Augenblick zutiefst überzeugt. »Memento mori!«, rief der nun völlig entrückte Prediger laut gen Himmel, und »Memento mori!« wiederholten die Menschen und wandten ihre Gesichter ebenfalls mit ausgebreiteten Armen den rabenschwarzen, tief über sie hinwegziehenden Wolken zu, sich dabei ganz und gar dem Graupel, Hagel und Regen ausliefernd, der ihnen ins Antlitz prasselte. So warteten sie blinzelnd darauf, dass sich die Pforten des Himmels auftaten, um die Gerechten und Reumütigen aufzunehmen, während gleichzeitig die Sünder und Ungläubigen durch einen gewaltigen Riss quer über die gesamte Erde direkt in die Hölle einfahren würden, wo die ewige Verdammnis ihrer harrte.

Philip von Melchingen brachte sich und seine Tochter hinter einem geöffneten Torflügel in einem Hauseingang in Sicherheit, hüllte die zitternde Abeline in seinen weiten wollenen Umhang ein und sagte: »Wir warten hier, bis alles vorbei ist. Es wird nicht lange dauern, da hinten wird es schon wieder hell. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Abeline sah ihrem Vater forschend in die Augen, ob er auch die Wahrheit sprach, und als ein grellzackiger Blitz und der fast gleichzeitig einsetzende Donnerschlag den Marktplatz erhellte und erzittern ließ, zuckte er nicht einmal mit der Wimper. Abeline drückte sich fest an ihn und war froh, so einen Vater zu haben. Sie war sich sicher, ihr Vater hatte nie Angst und sagte immer die Wahrheit; solange er bei ihr war, konnte ihr nichts geschehen.

Die Schleusen des Himmels über dem Marktplatz von Melchingen hatten sich so schnell wieder geschlossen, wie sie sich geöffnet hatten. Die Apokalypse war ausgeblieben. Nachdem das Unwetter sich endlich verzogen hatte, saßen, lagen oder knieten die Menschen im knöcheltiefen Morast, den der heftige Niederschlag hinterlassen hatte, dreckbespritzt und benommen von den Unbilden des Wetters und von sich selbst. Dampfschwaden waberten über dem Geviert des Platzes, auf den die sommerstarke Sonne wieder schien und die Feuchtigkeit im Nu auflöste, so wie sich auch die Erwartungsstarre bei den reuigen Gläubigen ebenso schnell in Erstaunen, Verwirrtheit und Katzenjammer verwandelte. Nachdem der Spuk vorbei war, konnte sich niemand mehr erklären, wie man sich zu einem derartig ekstatischen Endzeitfieber hatte hinreißen lassen und den Verstand vor lauter Angst, Erregung und hemmungsloser kollektiver Raserei verloren hatte. Mühsam erhob man sich, teils peinlich berührt vom eigenen Sinnestaumel, und klopfte sich verlegen den Schmutz von den Kleidern. Die kurzzeitige rauschhafte Benommenheit ließ sich abschütteln, der Dreck hingegen nicht.

Abeline sah, wie der Prediger schleunigst das Weite suchte, bevor ein paar Männer sich ihn vorknöpfen konnten.

Philip von Melchingen zog seine Tochter schnellstens durch eine schmale Seitengasse davon, er befürchtete, dass die aufgepeitschte Stimmung in sinnlose Gewalt umschlagen könnte. Der Vater bezahlte für die Unterbringung ihres Reitpferdes, und sie machten, dass sie damit aus dem Stall, der Stadt, und wieder zurück nach Burg Melchingen kamen.

Dort, nachdem der Vater beim Abendessen seiner Frau Franziska von ihren Erlebnissen berichtet und Abeline still und in sich gekehrt das einfache Mahl eingenommen hatte, verzog sie sich bald in ihr Schlafgemach. Sie hoffte, den jungen Mann auf seinem Rappen im Traum wiederzusehen, der auf Anhieb eine irrationale und ihre kindliche Seele verwirrende Sehnsucht in ihr ausgelöst hatte, obwohl sie zu Recht befürchtete, von den Nachwirkungen der Aufregung nicht einschlafen zu können. Sie wusste nicht, woher dieses plötzliche Verlangen, das schon fast ein Begehren war, nach einem nächtlichen Traumbild kam, aber sie fühlte sich von der Gestalt auf dem Pferd irgendwie magisch angezogen. Als würde der Junge versuchen, über einen Traum mit ihr Kontakt aufzunehmen, was natürlich unsinnig war, denn erstens waren Träume doch nichts als Trugbilder, die einem der Satan vorgaukelte – so lautete Elses Erklärung –, und zweitens war es bisher noch nie vorgekommen, dass sie sich einen bestimmten Traum wünschen konnte. Doch diese Zweifel wurden überlagert von dem Gefühl, dass der Junge, wo immer er lebte – wenn es ihn überhaupt gab –, ihr etwas mittei­len wollte, etwas Bedeutsames für ihrer beider Zukunft, das sie nur noch nicht verstehen konnte. Sie fand keine Worte für dieses diffuse Gefühl, aber sie wusste, so sicher wie sie das schreckliche Unglück der väterlichen Jagdgesellschaft im vereisten Rhein vorausgesehen hatte, dass das Schicksal etwas vorhatte mit ihr und dem fremden Jüngling. Doch was auch immer das war, blieb im undurchdringlichen Nebel der Zukunft verborgen. Während sie sich noch darüber den Kopf zerbrach, war sie auch schon unmerklich ins Reich der Träume hinübergeglitten, in ein Land, das so fremd und anders war als ihre grüne, bewaldete, im Winter schneebedeckte und eiskalte Heimat, in der man deutsch sprach. Dort war die Luft erfüllt von einem seltsamen Duft, der sie an Kiefernnadeln, Kräuter und Salz erinnerte, es war sonnenhell und heiß, an seltsamen Bäumen, die sie noch nie gesehen hatte, hingen orangefarbene und gelbe Früchte, im Dunst der Ferne ragte ein rauchender Berg auf, und in der anderen Richtung glitzerte und funkelte das Meer wie Abertausende Edelsteine. Inmitten dieses Paradieses – denn das musste es zweifelsohne sein – hörte sie Kampfgeräusche, Schreie und Schläge, aber es war nicht der Klang von Schwertern, den sie kannte, sondern von Holz auf Holz. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sie ihre Perspektive durch reinen Willen verändern konnte. Sie war neugierig geworden und wollte heran an die Lärmquelle, um zu sehen, was dort vor sich ging. Als sie sich darauf konzentrierte, gelang es ihr tatsächlich, näher an das Geschehen zu kommen. Sie konnte drei elf- oder zwölfjährige Jungen erkennen, die mit Holzprügeln auf einen vierten einschlugen, der sich nach Leibeskräften wehrte, aber so wie es aussah, würde er ihrer Übermacht nicht mehr lange standhalten. Schnell merkte sie, dass es kein spielerisches Scheingefecht war, sondern im Gegenteil ernst zur Sache ging. Die Jungen waren offensichtlich einfache Bauernburschen, ihre Hemden und die Beinlinge waren aus schmutzigem dünnen Leinen, und durch den Kampf, der wohl schon eine Weile unvermindert mit erbitterter Härte geführt wurde, wirkten sie noch schmutziger und zerfetzter, als sie es ohnehin schon waren. Sie alle trugen kein Schuhwerk und bluteten aus zahlreichen Wunden. Der Junge, der sich gegen die drei Gegner zur Wehr setzte, war etwas Besonderes, das fiel Abeline sofort auf. Er war nicht außergewöhnlich groß gewachsen oder besonders muskulös, aber wie er sich zu verteidigen verstand und immer wieder zum Angriff überging, wobei er gleichzeitig darauf achtete, dass er niemandem den Rücken zuwandte, das zeugte von bemerkenswerter Taktik. Vermutlich hatte er schon so manchen Straßen­kampf ausgefochten. Sein lockiges Haar war rötlich braun, er blutete aus der Nase, und als seine Gegner ihn zum wiederholten Mal aufforderten, gefälligst aufzugeben, hieb er erst recht mit seinem Stock, der gut vier Ellen maß, beidhändig voller Wut und mit Geschrei und blitzenden Augen auf sie ein. »Ihr Feiglinge«, schrie er, »elende Feiglinge seid ihr. Mein Vater hätte euch alle köpfen lassen!«

Abeline verstand auf einmal, was sie sagten, obwohl es eine fremde Sprache sein musste, aber bevor sie sich darüber wundern konnte, gelang es einem der Kontrahenten, dem Rot­haarigen ein Bein zu stellen, so dass er zu Boden stürzte und seine Gegner sofort über und auf ihm waren. Einer setzte seinen Fuß auf den Stock des Gestürzten, der zweite sein Knie auf dessen Brust, und der dritte riss seinen Kopf an den Haaren nach unten – jetzt endlich war der Rothaarige besiegt und auf Gedeih und Verderb der Gnade der übermächtigen Gegner ausgeliefert. Diese zelebrierten ihre nunmehrige Überlegenheit, indem sie ihn mit ihren bloßen Füßen und Händen im Staub festnagelten. Ihr Anführer, ein Kerl mit einer Zahnlücke, schüttelte verächtlich lachend den Kopf und sagte: »Dein Vater? Wer soll das sein? Du hast ja nicht mal eine Mutter. Ich kann deinen Vater nirgendwo sehen. Seht ihr hier irgendwo einen Vater?« Seine Spießgesellen sahen sich demonstrativ um, als ob sie wirklich jemanden suchten, und der Hagere von ihnen sagte: »Nein, wir sehen keinen. Du musst dir schon selber helfen. Gibst du endlich zu, dass du ein Lügner und Betrüger bist?«

»Das bin ich nicht!«, kam es mit Verachtung zurück.

»Na, das werden wir ja sehen«, grinste derjenige, der seinen Fuß auf dem Bauch des Rothaarigen hatte. Er stellte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn und fragte: »Willst du es jetzt vielleicht zugeben? Los, gib es schon zu! Sprich mir nach: ›Ich bin ein Schwindler!‹ Sag es!« Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, fing er an, auf seinem Opfer herumzuhüpfen. Der Rothaarige stöhnte vor Schmerzen und schrie schließlich auf. Zahnlücke beugte sich zu ihm her­unter, drückte seinen Stock gegen dessen Kehlkopf und zischte so heftig, sein schmutziges Gesicht kaum einen Fingerbreit von dessen Nase entfernt, dass dem Unterlegenen die Speicheltröpfchen in die Augen flogen: »Sag es. Dann lassen wir dich laufen. Ehrenwort. Sag: ›Ich habe gelogen. Ich bin nichts anderes als ein Großmaul und Schwindler!‹«

Drei verschwitzte, blutende und grausame Köpfe hatten sich über den Wehrlosen gebeugt, ein siegesgewisses dreifaches Grinsen, aber der Rothaarige spuckte ihnen mitten in ihre erwartungsvollen Gesichter. »Niemals. Schert euch zum Teufel!«, keuchte er, und das war das Zeichen für die drei, gnaden- und hemmungslos mit den bloßen Fäusten auf ihr Opfer einzuprügeln.

»Aufhören! Sofort aufhören!« Als sie plötzlich wie aus dem Nichts diese Worte hörten, erstarrten die drei Burschen förmlich. Irritiert sahen sie hoch, von wem dieser unerwartete Einwand kam. Er war es, der Jüngling auf seinem Rappen, der zwischen der Sonne und ihnen auf seinem hohen Ross unbemerkt herangeritten war und ihnen nun mit lauter Stimme Einhalt geboten hatte. Sie blinzelten ihn an, konnten sein Gesicht aber nicht eindeutig erkennen, weil die südliche Sonne genau über seinem Kopf stand.

Doch Abeline wusste, dass es ihr Reiter war, genauso alt wie die Schläger, deren Anführer sich Blut und Rotz mit dem Ärmel seiner Tunika von der Nase wischte, bevor er sagte: »Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Dreck.«

Der Reiter zögerte nur einen Wimpernschlag lang, dann gab er seinem Pferd mit leichtem Druck seiner Fersen das Kommando, auf die drei Burschen loszupreschen. Darauf waren sie nicht gefasst – zwar duckten sie sich instinktiv, aber der Rappe sprang auf Geheiß seines Reiters einfach über sie hinweg, als wären sie ein natürliches Hindernis. Dabei streifte ein Huf den Schädel des Burschen mit der Zahnlücke und warf ihn zu Boden. Die anderen zwei waren zunächst mit dem Schrecken davongekommen, aber als sie sahen, dass der kleine Reiter mit seinem riesigen Pferd kehrt- und Anstalten machte, sie diesmal tatsächlich über den Haufen zu reiten, warfen sie ihre Stöcke von sich und suchten ihr Heil in der Flucht. Der vom Pferdehuf Getroffene rappelte sich stöhnend auf, tastete seinen blutenden Kopf ungläubig mit den Fingern ab und sah sich einem Gegner gegenüber, der sein Pferd schon wieder herumgerissen hatte, um eine neue Attacke zu reiten. Bevor es dazu kommen konnte, stolperte er seinen Kumpanen hinterher, so schnell es ging, es sah aus, als rannte er um sein armseliges bisschen Leben.

Der Reiter wartete, bis alle drei hinter dem nächsten Felsvorsprung verschwunden waren, dann stieg er aus dem Sattel und kniete sich vor den Verprügelten hin, um ihm aufzuhelfen. Der nahm die ausgestreckte Hand dankbar an, erhob sich mühsam und sagte: »Gott segne dich, mein Freund. Du bist zur rechten Zeit gekommen. Sag mir – warum hast du mir geholfen? Unser Zwist ging dich doch gar nichts an. Hast du nicht gelernt, dass man sich nicht in fremde Händel einmischen sollte?«

»Ich bitte dich! Drei gegen einen! Ich kann es nun mal nicht leiden, wenn man so feige ist. Das ist nicht ritterlich.«

»Wie ist dein Name?«, wollte der Rothaarige wissen und wischte sich Schmutz, Schweiß und Blut aus dem Gesicht.

Der Reiter erwiderte nicht ohne eine reichliche Portion Stolz in seiner Stimme: »Mein Name ist Paolo de Gasperi. Meiner Familie gehört das Land, auf dem du stehst.«

Der rothaarige Junge nickte und schien gebührend beeindruckt zu sein.

»Und du?«, fragte der Reiter. »Wer bist du?«

Der Rothaarige brachte, obwohl ihm sicherlich sämtliche Knochen im Leib schmerzen mussten, ein Lächeln zustande, als er schniefend antwortete: »Das Land, auf dem wir beide stehen, hat deine Familie von mir zum Lehen. Ich bin Friedrich Roger von Hohenstaufen, König von Sizilien.«

IV

Kloster Mariaschnee in der Nähe von Hirschlingen hatte eine einzigartige Lage. Es war rechtsrheinisch auf einer Halbinsel in einer natürlichen Schleife errichtet worden, die der mächtige Fluss bildete, nachdem er von Osten kommend in einem weiten Bogen Richtung Norden ins Elsässische weiterfloss. So boten die Wasser des Rheins einen natürlichen Schutz nach drei Seiten hin. Das Kloster mit der Kirche, den Wirtschaftsgebäuden, dem Infirmarium, dem Lang- und dem Querhaus mit Dormitorium, Refektorium und Skripto­rium war nur von Nordosten her zugänglich, hohe Schutzmauern schotteten die Gebäude gegen das regelmäßig wiederkehrende Hochwasser ab.

So weit das Auge reichte, gehörten die Ländereien dem Kloster, sie wurden mit Hilfe von unfreien Bauern bewirtschaftet, die im nahe gelegenen Dorf Lienheim in recht armseligen Katen ihr Leben von dem Anteil an den Erträgen fristeten, der ihnen zukam. Der Löwenanteil der Ernten und Einkünfte floss in die Schatulle der Äbtissin; Mariaschnee hatte den größten Grund- und Waldbesitz weit und breit, und jedes Jahr kamen durch Schenkungen oder Erbschaften erhebliche Ländereien dazu, wenn Eltern für ihre Töchter bezahlten, damit sie als Novizinnen im Kloster aufgenommen wurden, oder wenn sich Grundbesitzer angesichts des nahenden Todes plötzlich daran erinnerten, dass es angebracht war, der Kirche im letzten Augenblick ein namhaftes Stück Land zu übereignen, um ihren Aufenthalt im Fegefeuer zu verkürzen.

Der Legende nach war die Heilige Jungfrau Maria der späteren ersten Äbtissin, Kunigunde von Schachen, erschienen, um ihr aufzutragen, an der Stelle am Rhein ein Frauenkloster errichten zu lassen, wo im Sommer aus heiterem Himmel Schnee fallen würde. Da dieses Wunder über Nacht unweit von Hirschlingen auf der Halbinsel im Rhein vor etlichen Zeugen geschah und Kunigunde von Schachen den damaligen Fürstbischof von Konstanz, Gebhard II. von Bregenz, von ihrer Vision überzeugen konnte, wurde dort im Gedenken an die Erscheinung der Muttergottes das Kloster Mariaschnee gegründet und im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ausgebaut. Weil der Zugang von der Landseite gelegentlich bei Hochwasser nur schwer möglich oder zeitweise gar unmöglich war, beschloss das zuständige Klosterkapitel, das nur aus Männern unter dem Vorsitz des Fürstbischofs von Kon­stanz bestand, einen sicheren und stabilen Damm zu bauen, über den man Mariaschnee nun jederzeit trockenen Fußes erreichen konnte. Den Friedhof, eine kleine Kapelle und einige Wirtschaftsgebäude legte man landaufwärts am Rand eines Waldstückes an, das sich bis auf eine Anhöhe am Horizont hinzog.

Mitten im Sommer im Jahre des Herrn 1206 tauchte ein Reiter kurz vor der einsetzenden Abenddämmerung dort am Waldrand auf. Vor ihm saß ein Mädchen im Sattel, und sie galoppierten auf den Klosterdamm zu, als säße ihnen der Leibhaftige im Nacken. Es war Philip von Melchingen mit der zwölfjährigen Abeline. Sie waren genauso abgekämpft wie das schweißnasse Pferd, dem die Schaumflocken nur so von den Lefzen flogen. Dass der Graf von Melchingen sein schnellstes Pferd nicht geschont hatte und jetzt das Letzte aus ihm herausholte, obwohl ihm klar sein musste, dass er es damit zuschanden reiten konnte, war ihm an diesem Tag gleichgültig. Abeline war vor lauter Erschöpfung unterwegs immer wieder eingenickt. Aber jetzt, als ihr Vater das Tempo angesichts des nahen Ziels noch einmal anzog, war die Müdigkeit verflogen, als sie die auf der Halbinsel thronende Klosteranlage erkannte, in der sie einmal mit ihren Eltern anlässlich der Zweihundertjahrfeier zu Besuch gewesen war. Sie ahnte vage, warum ihr Vater sie nach Mariaschnee brachte, weil sie es in einem diffusen Traum gesehen hatte, aber das hatte sie ihm nicht gesagt. Nein, sie hoffte und betete inständig, dass ihr Traum diesmal nicht Wirklichkeit wurde, doch sie befürchtete, dass es wie immer sein würde: So selten sie träumte – aber wenn sie sich am Morgen danach an ihren Traum erinnerte, so lebhaft, als wäre sie dabei gewesen, dann erfüllte sich dieser Traum, ob sie wollte oder nicht. Es war Fluch und Segen zugleich, sie konnte sich freuen, wenn sie etwas Schönes geträumt hatte, und bekam Angstzustände, wenn etwas Schlimmes bevorstand. Inzwischen war sie so klug, ihren Eltern nichts mehr von den Träumen zu erzählen, weil sie damit nur Schmerz und Schrecken bei ihnen auslöste und sie sich beredte Blicke zuwarfen, von denen sie meinten, ihre Tochter würde sie nicht bemerken. Noch immer glaubten sie, Abeline sei das unschuldige und unwissende kleine Mädchen, das außerstande war, die Sorgen und Probleme der Erwachsenenwelt zu begreifen. Der enorme Entwicklungssprung ihrer Tochter, der sie vieles erfassen ließ, was noch nicht für ihr kindliches Gemüt und ihre Seele bestimmt war, hätte ihre Mutter und ihren Vater bestimmt noch mehr in Angst und Sorge versetzt, aber das wollte Abeline unbedingt vermeiden. Die beiden hatten schon genug Probleme. Seit geraumer Zeit fingen ihre Eltern plötzlich an, zu flüstern oder zu schweigen, wenn sie unerwartet hinzukam. Doch den Grund verstanden ihre Eltern vor ihr zu verbergen. Nein, Abeline behielt ihre Visionen lieber für sich.

Gestern Nacht hatte sie wieder so einen schlimmen Traum. Sie wusste, ihrer Mutter würde etwas zustoßen, etwas so Furchtbares, dass nicht einmal ihr Vater etwas dagegen unternehmen konnte. Aber sie sah es nur undeutlich, vielleicht, weil sie noch nicht verstand, was da vor sich ging. Zuerst träumte sie vom Kloster Mariaschnee, sie sah sich selbst im Habit einer Nonne mit weißem Kopftuch und dem schwarzen Schleier darüber, doch dann verwandelte sich ihr Gesicht in das ihrer Mutter. Ihr Antlitz war inmitten einer Aureole aus Feuer, wie ein Heiligenschein, die Flammen züngelten in Gelb, Orange und Blau, schienen ihr aber nichts anhaben zu können. Auf einmal loderte ihr schönes Haar unheilvoll und zischend auf, aber sie verzog keine Miene und ertrug es mit stoischer Gleichgültigkeit. Was konnte das bedeuten? Es war ein so schrecklicher und grauenhafter Moment, dass Abeline nur noch schreien wollte, aber aus ihrem Mund kam kein Ton.

Als sie aufschreckte, war sie vollkommen verwirrt, sie wusste nicht mehr, ob alles nur Einbildung oder Wirklichkeit war. Jedenfalls war die Vision so heftig gewesen, dass sie davon aufwachte, weil sie das beklemmende Gefühl hatte, vom Rauch des Feuers zu ersticken und keine Luft mehr zu bekommen. Sie schnappte nach Luft, und nach zwei oder drei Atemzügen erkannte sie endlich, dass sie in der Sicherheit ihrer Schlafkammer war, doch die Angst verging nicht. Im Gegenteil, ihr Herz war wie von einer kalten Klammer umfangen, die allmählich enger und enger wurde. Sie versuchte, tief und regelmäßig zu atmen, das hatte sie sich angewöhnt, wenn ein Alptraum sie weckte. Als sie sich ganz auf ihren Atem konzentrierte, ließ der Druck allmählich nach, und sie konnte nach einer Weile wieder Schlaf finden. Doch dann war ihr Vater noch vor Anbruch des Tages in ihre Schlafkammer gekommen, hatte sie aus dem Bett geholt, ihr beim raschen Anziehen geholfen und ihr mitgeteilt, dass sie sofort losreiten mussten. Einen Grund hatte er nicht genannt, obwohl sie danach fragte. Erst als sie vor ihm auf dem Pferd saß und sie aus dem Burgtor hinausritten, ohne dass sie sich von ihrer Mutter verabschieden konnte, merkte sie, dass sie nicht in einem Traum war, sondern dass ihr Vater und sie wirklich gen Osten ritten, der aufgehenden Sonne entgegen. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen, denn ihr Vater, der ihr sonst alles durchgehen ließ, weil sie sein Liebling war, antwortete auf keine ihrer Fragen und hatte einen so strengen und in sich gekehrten Gesichtsausdruck, dass ihr wirklich angst und bange wurde und sie sich auf dem ganzen langen Ritt nicht mehr traute, ihn anzusprechen.

Kurz vor dem mit quer liegenden Holzbohlen bedeckten Damm zum Kloster zügelte der Vater das Pferd, sprang aus dem Sattel und half Abeline herunter. Sie war noch ziemlich wacklig auf den Beinen, nach dem stundenlangen unbequemen Ritt tat ihr jeder einzelne Knochen im Leib weh, und ihr war ganz schlecht vor Hunger. Der Vater ging vor ihr in die Knie, legte seine Hände auf ihre Schultern und sah sie beschwörend an. »Hör mir jetzt gut zu, Abeline. Es ist sehr wichtig, was ich dir nun sage.«

Er wartete, bis er sicher war, dass seine Tochter ihm aufmerksam zuhörte, dabei entging ihm nicht, dass sich eine gehörige Spur Angst in ihren Augen widerspiegelte. Aber es gab keine Alternative, wenn er ihr Leben retten wollte. Er musste sie belügen, um ihrer selbst willen. »Ich habe nicht viel Zeit, weil ich zurück und mich um deine Mutter kümmern muss.«

»Aber warum …«

Der Vater legte ihr sanft seinen Zeigefinger auf ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich werde dir irgendwann alles erklären. In der Eile will ich dir nur so viel sagen: In unserer Burg ist eine schlimme Krankheit ausgebrochen. Darum habe ich dich so schnell wie möglich hierher gebracht, damit du nicht auch noch krank wirst. Im Kloster bist du in Sicherheit. Die Äbtissin weiß Bescheid, dass du kommst.«

»Aber Papa …«

Philip von Melchingen schüttelte den Kopf. »Es geht nicht anders, mein Engel. Es ist der einzige Zufluchtsort für dich, der deine Unversehrtheit garantiert.«

Er sah ihr noch einmal eindringlich in die Augen. Dann griff er in sein Wams und holte etwas heraus. »Das soll ich dir von deiner Mutter geben.« Er drückte es Abeline in die Hand. Sie sah es an – es war ein silbernes Medaillon an einer silbernen Kette. Abeline sah verunsichert hoch. »Aber warum? Das trägt sie doch immer um den Hals!«

»Es gehört jetzt dir. Sie will es so. Zeige es niemandem, sonst nimmt man es dir noch weg, hast du verstanden?«

»Ja, aber …«

»Steck es weg!«

Abeline schob das Medaillon nach kurzem Zögern in die Innentasche ihrer Tunika.

»Versprich mir eines, Abeline!«

Abeline wusste, wenn er ihren Namen aussprach, dann war es ernst gemeint, furchtbar ernst.