Das Geheimnis der Medica - Johanna Geiges - E-Book
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Johanna Geiges

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Beschreibung

Eine Heilerin in dunkler Zeit    Deutschland zur Stauferzeit: Die junge Anna hat eine ganz besondere Gabe. Sie kann Menschen heilen. Der jüdische Medicus Aaron erkennt ihr Talent und wird ihr Lehrmeister. Die Heilverfahren sind ihrer Zeit weit voraus und schon bald steht Anna im Ruf, eine Wunderheilerin zu sein. Doch ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten und die Liebe zu einem jungen Grafen, bringen die Medica in höchste Gefahr: Der Erzbischof von Köln brandmarkt sie als Hexe. Anna weigert sich, ihre Kunst aufzugeben und stellt sich dem Kampf mit einem übermächtigen Feind.

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Das Buch

Deutschland zur Stauferzeit: Die junge Anna hat die seltene Gabe, andere Menschen heilen zu können. Doch ihr ungewöhnliches Äußeres – sie hat zwei unterschiedlich farbige Augen – führt dazu, dass sie von den meisten Menschen für eine Hexe gehalten wird. Der jüdische Medicus Aaron schert sich nicht um abergläubisches Gerede und nimmt Anna bei sich auf. Er erkennt ihr Talent und wird ihr Lehrmeister. Anna lernt schnell und ist schon bald eine anerkannte Medica. Bei einem Patientenbesuch lernt sie den jungen Grafen Chassim von Greifenklau kennen und verliebt sich in ihn. Aber die Standesunterschiede lassen eine solche Liebe nicht zu. Der Erzbischof von Köln, dem Annas ungewöhnliche Heilverfahren schon lange suspekt sind, erfährt von Annas unstandesgemäßer Liebe und sieht seine Gelegenheit gekommen, sie endlich auf den Scheiterhaufen zu bringen…

Die Autorin

Johanna Geiges hat jahrelang als Drehbuchautorin für große Fernsehproduktionen gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie in Memmingen.

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage August 2012 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012 Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München Titelabbildung: © Fine Pic® (Hintergrund); © Bridgeman (Pflanze und Frau – Detail aus Botticellis Venus and the Three Graces, ca. 1483, Louvre, Paris) Satz und eBook bei LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0262-1

DRAMATIS PERSONAE

ANNA AHRWEILER   Famula des Infirmarius

PATER URBAN   Prior und Infirmarius

CASPAR UND GRET   Annas Eltern

GERO VON HOCHSTADEN   Neffe des Erzbischofs

KONRAD VON HOCHSTADEN   Erzbischof

LOTHAR VON HOCHSTADEN   Bruder des Erzbischofs, Graf

PATER SIXTUS   rechte Hand des Erzbischofs, später Abt

LUTZ   Geros Kumpan

OSWALD   Geros Kumpan

AARON   jüdischer Medicus

ESTHER   Schwester des Medicus

REBECCA   Dienstmagd

CHASSIM VON GREIFENKLAU   Graf

KONRAD IV.   König, Sohn Kaiser Friedrichs II.

GEORG VON LANDSKRON   Graf

OTTGILD VON LANDSKRON   Gräfin, Chassims Schwester

BURGKAPLAN   Ketzer- und Hexenjäger

BERBELIN   Dienstmagd

BRUDER THOMAS   Mönch, einst Infirmarius

Die Schauplätze sind das stolze Zisterzienserkloster Heisterbach an den Hängen der Eifel (nun Trümmerstätte), der Mittelrhein im Herzen Europas sowie die Städte Oppenheim und Köln im Jahre des Herrn 1242

DIE ACHT TÄGLICHEN ­ANDACHTEN IM KLOSTER

Die genaue Bestimmung schwankt je nach Jahreszeit und Region

Mette (Vigil) 2.00 Uhr nach Mitternacht

Laudes (Matutin)Zwischen 5.00 Uhr und 6.00 Uhr

PrimGegen 7.30 Uhr, in der Regel kurz bevor es hell wird

Terz Gegen 9.00 Uhr

Sext12.00 Uhr mittags

NonZwischen 14.00 Uhr und 15.00 Uhr

VesperGegen 16.30 Uhr

Complet Gegen 18.00 Uhr

PROLOG

Es war kurz vor Ostern im Jahre des Herrn 1242. Nach einem langen und strengen Winter, der einfach nicht weichen wollte, brach zum ersten Mal seit Monaten die Sonne durch die dicke, bleierne Wolkendecke über dem Rhein. Die ungeheuren Wassermassen des mächtigen Stroms,befreit von den Ausläufern der Eifel, wälzten sich in die weite Ebene der Kölner Bucht nach Norden weiter, bis Himmel und Erde am Horizont eins wurden.

Gleich einem gleißenden Fingerzeig Gottes fiel der Strahl der Morgensonne auf den Petersberg, einen Gipfel des Siebengebirges, wo zwei Reisende die Schöpfung des Herrn bestaunten, die sich wie ein gewaltiges, vor Nässe dampfendes Panorama vor ihnen ausbreitete. Der ausgezehrte, sehnige Mann mit den grauen Haaren hatte gewiss schon mehr als vierzig Winter hinter sich. Er trug eine grobe Tunika aus Zwillich und darüber einen wollenen Umhang, dazu warme Beinkleider und schwere, selbstgemachte Stiefel aus Schweinsleder. Die Frau neben ihm war in seinem Alter, zierlich, mit verhärmten Zügen, auch sie hatte sich in einen wollenen Umhang gewickelt, und eine dicke Haube bedeckte ihre weißen Haare. Früher musste sie eine Schönheit gewesen sein. Der Mann legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie zärtlich zu sich heran, während sie von ihrer hohen Warte aus auf das Tal hinunterblickten, das die Zisterziensermönche einst Tal des heiligen Petrus getauft hatten.

Allmählich begann sich der Dunst aufzulösen und gab den Blick über eine weite, flache Senke frei, die umgeben war von Berghängen mit Buchenwäldern und Landwirtschaft. Dort unten lag das Kloster Maria im Peterstal in Heisterbach, kurz Kloster Heisterbach. Die Wolkendecke riss jetzt vollends auf und brachte die noch junge Klosteranlage in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit zum Vorschein. Eine lange, schnurgerade Pappelallee führte direkt auf die Hauptpforte zu, auf deren Torbogen ein Vers aus dem Evangelium eingemeißelt war, Johannes 9, 25: »Eines weiß ich wohl: dass ich blind war und bin nun sehend.«

Mauern umfriedeten das Kloster, das den einfachen Leuten aus den kleinen Dörfern in der Umgebung schon durch seine Ausdehnung vorkommen musste wie ein neues Weltwunder. Allein die domhafte Abteikirche aus grauem Trachyt-Stein im Zentrum der Anlage, mit ihrer gewaltigen Apsis gen ­Osten, den hochgezogenen, spitz zulaufenden Bogenfenstern und dem zierlichen Glockenturm, maß 280 Fuß in der Längsachse, dazu kam ein Querschiff von 140 Fuß. Im ganzen Heiligen Römischen Reich gab es weit und breit kein Gotteshaus, das sie an Größe überboten hätte. Zwei wuchtige, dreigeschossige Querhäuser schlossen rechtwinklig an das Querschiff und die Westfassade des Längsschiffs an. Das eine war für die Laienbrüder und Gäste, das andere für die Mönche. Das Geviert wurde ergänzt und abgeschlossen durch das Refektorium, den Wohnbereich des Abtes, das Badehaus, das Skriptorium und das Infirmarium. Kreuzgänge verbanden die Gebäude und umschlossen den Innenhof, den ein leise plätschernder Brunnen und niedrige, sorgfältig gestutzte Hecken zierten. Er diente allein der Kontemplation.

Ein Stück weit nach Westen lagen die Obst- und Gemüsegärten, der Hortus botanicus des Infirmarius und die zahlreichen Wirtschaftsgebäude, die Scheunen, Ställe, Werkstätten, die Mühle, das Back- und das Brauhaus sowie die Kelterei, an die sich ein lichter Buchenwald anschloss. Dort, zwischen den Bäumen versteckt, von deren zartgrünen Blattknospen die letzten Wassertropfen der langen Regennacht rieselten, lugten einzelne Grabsteine hervor. Sie gehörten, nebst einer kleinen Kapelle, zum Friedhof der Mönche.

Ein halbes Dutzend Fischteiche, ebenfalls jenseits der Klostermauern gelegen, funkelten wie Edelsteine im Sonnenlicht und trugen dazu bei, dass die gesamte Anlage jedem Besucher, der sie zum ersten Mal sah, wie eine Verheißung auf das himmlische Jerusalem erscheinen musste.

Das Paar auf dem Petersberg, Caspar und Gret aus Ahrweiler, machte sich auf den langen und beschwerlichen Abstieg die Anhöhe hinunter zur Zufahrtsstraße des Klosters, die zu dieser frühen Zeit noch still und einsam im Sonnenlicht lag.

Pater Urban, der Prior und Infirmarius von Heisterbach, zweiter Mann nach dem Abt, ein enger und vertrauter Freund, hatte ihnen durch einen Boten einen Brief in das kleine Dorf Ahrweiler geschickt, in dem geschrieben stand, dass sie kommen sollten. Caspar war des Lesens mächtig. Es sei dringend, es ginge um die Zukunft ihres Kindes, war da geheimnisvoll in dem Brief zu lesen. Caspar und Gret wussten, was das bedeutete. Wenn Pater Urban schrieb, dass es dringend sei, dann mussten sie sich beeilen. Der Prior war kein leichtfertiger Mann, der zu grundlosen Übertreibungen neigte. Seine Nachricht konnte nur bedeuten, dass ihre Tochter in Gefahr war.

In großer Gefahr.

TEIL I

I

Anna wachte noch vor der Prim auf, denn es war, ungewöhnlich für diese Jahreszeit, bitterkalt. An diesem Tag, dem Gründonnerstag vor Ostern, fand die traditionelle Fußwaschung für zwölf Gläubige in der Klosterkirche von Heisterbach statt, und sie war wie stets eingeteilt, dem Prior bei der heiligen Zeremonie als Messdiener zur Seite zu stehen. Doch Anna war Kälte gewöhnt. Ihre winzige Zelle bestand aus nacktem Mauerwerk, das sommers wie winters feucht und klamm war, obwohl sie, weil der Prior und Infirmarius Pater Urban es gut mit ihr meinte, in besonders frostigen Winternächten eine Eisenpfanne mit glühenden Kohlen aus der Küche neben dem Refektorium mitnehmen durfte, um sich warmzuhalten. Ein Privileg, das unter den Novizen des Klosters Heisterbach leicht Neid und Missgunst erwecken würde, wenn es jemand herausbekam. Immer musste sie warten, bis sich die Mönche, Novizen und Laienbrüder in ihr Dormitorium zurückgezogen hatten, damit Prior Urban ihr die eiserne Pfanne ungesehen in die Hand drücken konnte.

Anna wunderte sich manchmal über den fürsorglichen, ja fast väterlichen Umgang, den der Prior mit ihr pflegte. Vermutlich war seine Freundschaft zu ihren Eltern der Grund dafür. Zwischen Prior Urban und ihrem Vater, der seinen christlichen Pflichten stets nachkam, aber kein religiöser Eiferer war, bestand ein geheimnisvolles Band, dessen Ursprung Anna nicht kannte. Ihr Vater war Bauer und hatte ein paar Wiesen und Äcker vom Kloster gepachtet. Damit hatten er und seine Frau ein karges Auskommen, und außer Anna gab es keine Kinder. In mageren Jahren, die es in letzter Zeit immer häufiger gegeben hatte, war es dem Vater nicht leicht gefallen, den Pachtzins zu entrichten. Aber der Prior hatte bei ihm stets beide Augen zugedrückt, obwohl er sonst ein äußerst akribischer Mann war, was die pünktlichen und korrekten Zahlungen an das Kloster anging.

Pater Urban besorgte neben seinen geistlichen Pflichten und den Aufgaben eines Infirmarius auch die Einkünfte des Klosters. Wenn der Erzbischof von Köln einmal im Jahr das Kloster mit seinem hohen Besuch beehrte, war der Prior stets von Stolz erfüllt, eine makellose Bilanz in seinen Büchern vorweisen zu können.

Erzbischof Konrad von Hochstaden war dafür gefürchtet, alles einer genauesten Prüfung zu unterziehen, denn schließlich sollte jedes seiner Klöster so viel Gewinn wie möglich abwerfen. Er war ein reicher Mann und setzte alles daran, seinen Machtbereich zu vergrößern und dem vom fernen Kaiser eingesetzten König Konrad IV. das Leben schwerzumachen. Ehrgeizig, eitel und habgierig, aber auch außergewöhnlich intelligent und zielgerichtet, war er der eigentliche Herrscher in seinem Reich zwischen Köln und Koblenz, gefürchtet für seinen heiligen Zorn, der wie aus heiterem Himmel all jene treffen konnte, die ihm im Weg standen. Aber Prior Urban verstand es, sein Kloster klug zu führen. Bislang hatte sich der Erzbischof nie veranlasst gesehen, öfter als einmal im Jahr anzureisen, um die seinem Bistum und dem Papst zustehenden Abgaben einzufordern.

Anna stand auf und warf einen Blick in das Kohlebecken. Doch dort war nur noch Asche. Schaudernd tastete sie nach dem einzigen Gegenstand in der Zelle, der ein Tribut an ihre weibliche Eitelkeit war: ein spielkartengroßes Stück dünnes Metallblech, das sie unter der Matratze ihres Rollbetts versteckt hatte. Sie zog es hervor, hauchte es an und putzte es mit dem Ärmel ihrer Tunika blank. Undeutlich sah sie ihr Konterfei in dem kleinen Spiegel: das hübsche, aufgeweckte Gesicht eines seit kurzem sechzehnjährigen Mädchens niederen Stands, zu seinem ständigen Leidwesen jünger wirkend, umrahmt von bubenhaft geschnittenen kurzen Haaren mit der üblichen Tonsur. Und mit verschiedenfarbigen Augen. Eine Iris war braun, die andere grün. Eine seltsame Anomalie, die sie noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Abergläubische Leute – und davon gab es mehr als genug – bekreuzigten sich, wenn sie ihr nah genug kamen, um die verschiedenfarbigen Augen zu bemerken. Es galt als Teufelszeichen, und ein Blick von ihr als böser Blick, der einen verzaubern konnte.

In einer kindischen Anwandlung streckte Anna ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und begann, ihre Kleidung anzulegen.

Der kleine, aber deutlich sichtbare Busen musste mit einer Brustbinde eingewickelt und flachgedrückt werden, bevor sie Habit und Skapulier über den Kopf ziehen konnte, die Tracht eines Novizen, die sie trug, obwohl sie als Laienbruder im Kloster war und nicht das Gelübde anstreben durfte. Bis zum heutigen Tag war es Pater Urban und ihr gelungen, das Geheimnis ihres Geschlechts zu bewahren. Das war nur möglich, weil Anna eine Sonderstellung im Kloster innehatte. Als Famulus des Infirmarius hatte sie die Zelle neben der Krankenabteilung nur für sich; sie musste die Nacht nicht im großen Schlafsaal, dem Dormitorium, verbringen wie die anderen Novizen. Außerdem hatte sie eine vom Abt persönlich ausgestellte Dispens, was die regelmäßigen Gebetsstunden anging. Schließlich war es ihre Aufgabe, Tag und Nacht da zu sein, falls einer der Kranken ihrer bedurfte.

Ihre Pflichten nahm sie sehr ernst. Sie hatte viel vom Infirmarius, dem Krankenpfleger, gelernt, und Pater Urban war stolz auf sie. Er hatte sie, seit er sie als siebenjähriges Mädchen unter dem Namen Marian im Kloster aufgenommen hatte, in allem unterrichtet, was er von der Kunst des Heilens wusste. Darin war er ein wahrer Meister. Auch war er stets bestrebt, sich weiterzubilden – natürlich innerhalb der Grenzen, die ihm der kirchenrechtliche Kanon setzte, der seit Jahrhunderten die Kunst der Medizin durch Glaube und Lehre bestimmte. Aber hin und wieder wagte er sich auch mit seinem Famulus an persönliche Forschungen, was allerdings nicht an das Ohr eines der vielen Mönche gelangen durfte, die neugierig und neidisch auf alles waren, was neu und damit ketzerisch war, und jedweden Verdacht sofort dem Abt gemeldet hätten. In der Heilpflege, in der Chirurgie, im Aderlass, im Laxieren und vor allem in der Arzneimittelkunde konnte niemand dem erfahrenen Pater Urban das Wasser reichen. Im Klostergarten war er zuständig für die Bestellung des Hortus botanicus, des botanischen Gartens, und des daran angegliederten Heilgärtleins, in dem alle Arten von Kräutern wuchsen, denen eine medizinische Wirkung zugesprochen wurde. Das Heilgärtlein war mit der Zeit Annas Revier geworden, und sie widmete sich ihm mit besonderer Sorgfalt und Hingabe.

Sie seufzte, als sie die dünne Eisschicht in der Waschschüssel sah, drückte sie vorsichtig ein und wusch sich das Gesicht ab. Als sie sich abtrocknete, klopfte es plötzlich.

Auf ihren Ruf hin öffnete sich die Zellentür, und Pater Urban trat herein.

»Ich komme schon, Pater«, sagte Anna und lächelte ihn an. Pater Urban war ein fröhlicher Mann von mehr als fünfzig Jahren, dessen weißer Bart ihm das Aussehen eines Gelehrten verlieh. Doch heute zeigte sich ungewohnter Ernst auf seinen Zügen, und Anna las ihm an den Augen ab, dass etwas nicht stimmte. Er zog die Tür der Zelle sanft hinter sich ins Schloss.

»Ich habe mit dir zu reden, Anna«, sagte er mit leiser Stimme.

Anna sah ihn besorgt an. Er wandte den Blick ab, und schob mit dem Fuß die Kohlenpfanne zur Seite. Wenn er sie mit »Anna« anredete und nicht mit »Bruder Marian«, wie sie sonst genannt wurde, musste etwas Ernsthaftes vorgefallen sein. Der Prior packte die Kohlenpfanne am Stiel, fasste mit der Hand hinein und rieb ihr etwas Asche ins Gesicht. Anna rührte sich nicht.

»So. Jetzt siehst du eher wieder wie Bruder Marian aus. Und nicht wie ein Mädchen.« Er strich ihr nachdenklich eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Ist etwas passiert, Pater Urban?«, fragte sie.

»Gott will uns prüfen, fürchte ich«, seufzte er aus tiefster Seele und drückte sanft seinen Zeigefinger auf ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Nicht hier.«

Der Prior öffnete die Tür, blickte forschend in den Gang ­hinaus und nickte dann.

»Folge mir, Bruder Marian«, befahl er laut.

Er ging hinaus. Anna zögerte kurz, versteckte das Stück Metallblech, das den aufmerksamen Blicken des Paters nicht entgangen war, wieder unter der Matratze und folgte dem Prior und Infirmarius.

Sie eilten durch den Krankenbereich in den zugigen Kreuzgang, wo sie zwei Novizen begegneten, die sich offensichtlich verspätet hatten und mit wehendem Habit zur Prim eilten. Als sie den Prior sahen, verlangsamten sie ihren unangemessenen Laufschritt und verneigten sich respektvoll. Zu anderer Zeit hätte Pater Urban sie streng zurechtgewiesen, aber heute nickte er nur geistesabwesend und schlug den Weg zur großen Halle des Abtes ein, die er während dessen Abwesenheit als Arbeits- und Empfangsraum für Besucher benutzte. Der Abt des Klosters Heisterbach war schon vor Wochen zum Erzbischof nach Köln beordert worden, unter dessen Vorsitz ein Generalkapitel abgehalten wurde, das kein Ende nehmen wollte, denn bei den Versammlungen des Ordens fanden zahlreiche Ketzerprozesse statt.

PriorUrban öffnete die Tür zur Empfangshalle, wartete, bis Anna eingetreten war, und schloss sie dann überaus sorgfältig hinter ihr. Anna hatte die Empfangshalle des Abtes bisher erst zwei- oder dreimal betreten und staunte auch heute wieder über die Pracht des gewaltigen Raumes. Die Halle war fast so groß wie das Seitenschiff der Klosterkirche, mit prächtigen Wandwirkereien, die die Passion Christi zeigten, und einem offenen Kamin, in den ihre ganze Zelle gepasst hätte.

Neben dem prasselnden Kaminfeuer, um das halbkreis­förmig ein paar Stühle gruppiert waren, stand ein mächtiger Eichenschreibtisch. Dort, im hinteren Drittel des Raumes, wartete ein ärmlich gekleidetes Paar. Der Mann, hager, grauhaarig und barhäuptig, knetete an seiner Kopfbedeckung herum. Seine zierliche Frau blickte den Ankömmlingen bang und erwartungsvoll entgegen. Bei Annas Anblick fingen der alte Mann und seine Frau an zu strahlen.

Anna zögerte kurz, so überrascht war sie, ihre Eltern wiederzusehen. Dann schossen ihr Tränen der Freude in die Augen.

»Mutter! Vater!«

Sie rannte auf die beiden zu und umarmte zuerst ihre Mutter fest und innig und küsste sie auf beide Wangen. Die Mutter wollte sie gar nicht mehr loslassen, aber Anna wandte sich ihrem Vater zu und fiel auch ihm um den Hals. Der Vater kämpfte ebenfalls mit den Tränen. Dann schob er Anna auf Armeslänge von sich weg und musterte liebevoll ihr aschebeschmutztes Gesicht. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, legte der Prior warnend den Zeigefinger auf seine Lippen.

»Kein lautes Wort!«, sagte er in gedämpftem Ton, »die Wände haben Ohren! Nehmt Platz.«

Er wartete, bis Anna und ihre Eltern sich gesetzt hatten und ihn erwartungsvoll ansahen, wobei die Mutter Annas Hand fest drückte und ihren Blick nicht mehr von der Tochter wenden wollte.

Prior Urban blieb stehen und räusperte sich.

»Wie lange ist es jetzt her, dass Ihr Anna in meine Obhut gegeben habt?«

»Es werden gut zehn Jahre sein, Euer Gnaden«, antwortete der Vater mit belegter Stimme.

»Eine lange Zeit. Doch alles hat eine bestimmte Stunde, und jedes Ding unter dem Himmel seine Zeit.«

Er sah Anna an. »Und deine Zeit ist nun gekommen, Anna.«

Die Eltern nickten schweigend und ergeben. Anna hingegen sah den Prior stumm an, mit leichtem Misstrauen, und wartete auf eine Erklärung.

Der Prior fuhr fort: »Anna, du bist jetzt sechzehn Jahre alt und kein Kind mehr. Schon lange nicht mehr. Und ich fürchte, dass du deine … deine Weiblichkeit nicht länger verbergen kannst.«

Anna wollte widersprechen und setzte schon zu einer Verteidigungsrede an, aber der Prior gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen.

»Das ist eine unleugbare Tatsache. Deshalb habe ich deine Eltern um dieses Treffen gebeten. Wir müssen gemeinsam beschließen, was zu tun ist. Hoher Besuch hat sich angekündigt, und ich kann nicht ausschließen, dass bei dieser Gelegenheit das Unterste zuoberst gekehrt wird.«

»Etwa Seine Eminenz, der Erzbischof?«, platzte Anna heraus.

Pater Urban nickte. »Erzbischof Konrad von Hochstaden höchstpersönlich. Ich fürchte, dieses Mal wird es nicht dabei bleiben, dass er meine Bücher und Bilanzen überprüft. Gerüchten zufolge plant er einige grundsätzliche Änderungen.«

Pater Urban fasste Anna sanft an den Schultern und sah ihr eindringlich in die Augen.

»Du warst mir immer wie eine Tochter, Anna. Ich habe dich alles gelehrt, was ich über die Heilkunde weiß. Eine bessere und eifrigere Famula wie dich hätte ich mir niemals wünschen können. Aber niemand im Kloster darf dahinterkommen, was es mit der Abmachung, die deine Eltern und ich damals vor über zehn Jahren getroffen haben, auf sich hat. Dein Vater und deine Mutter haben dich vertrauensvoll in meine Obhut gegeben, weil sie in dir etwas Besonderes sahen. Und damit haben sie recht getan. Auch wenn es manchmal nicht ganz einfach war, dich als Jungen auszugeben. Wenn deine wahre Natur jemals ans Licht des Tages kommen sollte – dann gnade uns allen Gott!«

Er seufzte und bekreuzigte sich mit einem scheuen Blick auf das große Kruzifix, das hinter dem Schreibtisch an der Wand hing.

»Aber unter diesen besonderen Umständen verzeiht der Herr auch einmal eine Notlüge.«

Er wandte sich wieder an Anna.

»Wir haben dich damals im Kloster aufgenommen, um dich zu schützen.«

»Mich zu schützen? Aber wovor, Pater Urban?«

Die Mutter beugte sich nach vorne. Es war das erste Mal, dass sie etwas sagte. Eindringlich flüsterte sie: »Anna, es ist besser, wenn du das nicht weißt. Glaub mir, für jeden von uns ist es besser.«

Sie bekreuzigte sich hastig.

Pater Urban legte beruhigend seine Hand auf die von Annas Mutter.

»Eines Tages wird sie es erfahren müssen.«

Wut brandete in Anna hoch. Eine der sieben Todsünden, das wusste sie. Pater Urban hatte alles getan, ihr das abzugewöhnen und sie jedes Mal dafür bestraft, wenn sie sich nicht beherrschen konnte. So hatte sie schmerzhaft gelernt, dass unbedingte Selbstbeherrschung eine notwendige Tugend war. Doch der Verlauf dieses Gesprächs ging sie schließlich etwas an. Sie war kein Kind mehr, und sie wollte sich auch nicht mehr wie eines behandeln lassen. Ihr Respekt vor der Autorität des Priors gebot ihr zu schweigen, aber sie konnte ihr aufbrausendes Temperament beim besten Willen nicht unterdrücken.

»Was werde ich eines Tages erfahren müssen? Dass es keine Möglichkeit gab, mich als Mädchen zu unterrichten, das weiß ich. Und dafür bin ich Euch auch zutiefst dankbar. Aber bitte, warum sagt Ihr mir nicht die ganze Wahrheit?«

Pater Urban tätschelte sie beruhigend.

»Dazu ist später auch noch Gelegenheit, Anna. Wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen, was mit dir zu geschehen hat. Deine Eltern und ich sind der Ansicht, es wäre das Beste, du gingest in das Nonnenkloster Mariental zu Frauenzimmern und wirst eine Braut Christi. Oder …«

Er zögerte.

Anna biss sich auf die Lippen. »Oder?«

»Oder du heiratest.«

Anna schoss das Blut in die Wangen. Sie wandte sich an ihren Vater.

»Vater – bitte, du hast mir geschworen, dass ich einmal den Mann heiraten darf, den ich will. Weißt du das nicht mehr?«

Annas Vater war sichtlich unwohl zumute.

»Kind – da warst du sechs oder sieben Jahre alt!«

»Gilt dein Versprechen jetzt nicht mehr?«

Pater Urban warf Annas Vater einen eindringlichen Blick zu und gebot ihm mit einer Geste Einhalt.

»Anna – hier geht es nicht darum, was du willst oder was du nicht willst. Hier geht es um deine Zukunft! Du bist jung und musst noch viel lernen. Glaub mir, deine Eltern und ich wissen, was das Beste für dich ist«, sagte er.

Tränen traten Anna in die Augen, ihre Stimme zitterte, als sie erwiderte: »Ich war euch bisher immer eine gehorsame Tochter. Oder eine gehorsame Famula. Über sechzehn Jahre lang. Aber nun bin ich der Ansicht, ich bin alt genug, um über mich und mein zukünftiges Leben selbst zu bestimmen.«

Der Prior schüttelte müde den Kopf.

»Anna, Anna – ich dachte, ich hätte dir mehr darüber beigebracht, in was für einer Welt wir leben. Eine Frau, sei sie von niederem Stand wie du oder von hohem Adel – eine Frau muss ihrem Vater gehorchen. Das hat Gott nun einmal so eingerichtet, und daran sollten wir Menschen nicht rütteln.«

Anna wischte entschlossen ihre Tränen aus dem Gesicht. Es waren Tränen der hilflosen Wut.

»Aber ich möchte nicht fort!«

Sie drehte sich um und stürmte in Richtung Tür. Ihre Mutter wollte sie aufhalten und eilte hinterher.

»Anna, warte, bleib hier! Du versündigst dich!«

* * *

Sobald Annas Schritte im Gang verhallt waren, schloss Pater Urban die Tür und lehnte sich dagegen. Dann breitete er in einer hilflosen Geste die Arme aus.

»Lasst sie. Sie wird wieder zu sich kommen und Vernunft annehmen. Gott hat Anna mit großer Klugheit gesegnet. Wenn sie gründlich über sich nachdenkt, wird sie schon erkennen, was sich ihr als Frau geziemt, und wird sich fügen.«

Die Eltern sahen ihn mit einer Mischung aus Panik und Trauer an. Er rieb sich resigniert die Schläfen.

»Ich habe einen solchen Ausbruch schon lange befürchtet. Ihr Widerspruchsgeist ist groß. Sie hat einen unbeugsamen Willen. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.«

Beschämt sahen Annas Vater und seine Frau zu Boden.

Pater Urban fasste die Eltern beruhigend an den Schultern. »Geht mit Gottes Segen wieder nach Hause. Wenn Anna mit sich und ihrer Bestimmung wieder im Reinen ist, und dafür werde ich sorgen, schicke ich sie rechtzeitig vor der Ankunft des Erzbischofs zu euch. Ich werde der Äbtissin von Kloster Mariental zu Frauenzimmern einen Brief schreiben und sie darum bitten, Anna aufzunehmen. Frauenzimmern liegt im Südwesten des Reiches. Dort ist sie weitab vom Einflussbereich des Erzbischofs und damit vor jeglicher Gefahr sicher. Ich kenne die Äbtissin, sie wird mir den Wunsch nicht abschlagen. In zwei Wochen werde ich euch aufsuchen und dann wird Anna so weit sein, dass sie bereit ist, die Braut unseres Herrn Jesu Christi zu werden. Das Kloster Mariental kann sich glücklich schätzen, eine so gute Infirmaria wie Anna für sich zu gewinnen, glaubt mir.«

Annas Mutter küsste die Hand des Priors und weinte dabei. »Ihr habt so viel für unser Kind getan, Pater Urban. Möge Gott es Euch dereinst vergelten. Mein Mann und ich werden Euch das nie vergessen …«

In diesem Augenblick klopfte es heftig an der Tür.

»Ja?«, sagte Pater Urban unwirsch.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ein Novize traute sich kaum, den Kopf hereinzustecken.

»Ich habe doch ausdrücklich angeordnet, nicht gestört zu werden!«, herrschte der sonst so sanfte Prior den Novizen an.

»Vergebt mir, Euer Gnaden, aber Pater Antonius hat mir ausdrücklich aufgetragen, dass ich Euch unter allen Umständen Bescheid geben muss.«

»Ja und?«, fragte Pater Urban ungeduldig.

»Pater Antonius hat mir befohlen, Euch zu melden, dass Seine Eminenz, der Erzbischof, soeben samt Gefolge eingetroffen ist.«

Bei diesen Worten erstarrte Pater Urban zur Salzsäule. Es dauerte einen Herzschlag lang, bis er einen Satz herausbrachte: »Seine Eminenz … der Erzbischof … er ist hier im Kloster Heisterbach?«

»Ja. Er erwartet Euch in der Kirche. Alle warten in der Kirche auf Euch. Ihr wolltet doch die Messe lesen und die vorösterliche Fußwaschung selbst vornehmen.«

Pater Urban griff sich an den Kopf. Erst jetzt vernahm er überdeutlich die Glocke der Abteikirche, die den Beginn des Gottesdienstes ankündigte.

»Um Gottes willen – ist es schon so spät …«, murmelte er hastig. Aber dann setzte sein Verstand wieder ein, und er winkte den Novizen hinaus. »Geh schon voraus und melde mich bei Seiner Eminenz. Ich komme sofort.«

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er wartete, bis der Novize die Tür wieder geschlossen hatte, und wandte sich dann mit größter Dringlichkeit an Annas Eltern, die ihn mit erstaunten Augen ansahen.

»Dass der Erzbischof heute schon hier ist, ohne sich anzumelden, kann nichts Gutes bedeuten. Herr im Himmel – steh uns bei!«

Pater Urban schob seine Besucher zur Tür. »Ihr müsst sofort aufbrechen. Wartet draußen, bis ich weg bin. Dann schleicht euch aus dem Kloster, ohne dass man euch sieht. Geht am besten durch den Friedhof. Am Ende ist eine Pforte, die verschlossen ist. Hier habt ihr den Schlüssel. Lasst ihn einfach stecken.« Er nestelte einen Schlüssel von einem Bund an seinem Zingulum. »Ich schicke euch Anna nach, sobald es möglich ist. Geht jetzt, geht!«

II

Anna war durch den Gang hinaus zur Pforte gestürmt, die in den Kreuzgang des Klostergartens führte. Sie wollte zur Kirche, schließlich war sie als Messdiener eingeteilt. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und beeilte sich, die Glocke zur Messe läutete schon. Da tauchte ein Schatten hinter einer Säule auf, eine Männerhand packte sie hart am Arm und hielt sie auf. Sie gehörte einem stämmigen jungen Mann mit lockigen roten Haaren in einem teuren, pelzverbrämten Mantel. Er riss Anna herum und fragte in unverschämtem Ton: »He, kleiner Mönch – wo finde ich den Prior?«

Es dauerte einen Moment, bis Anna ihren ersten Schreck überwunden hatte. Sie versuchte, sich aus dem festen Griff zu winden.

»Wer will das wissen?«, fragte sie herausfordernd.

Der Mann ließ nicht los. »Kennst du mich nicht? Ich bin Gero von Hochstaden. Also?«

Anna boxte ihm gegen die Brust.

»Lasst mich los!«

Aber der Mann machte sich einen Spaß daraus, seine überlegenen Körperkräfte auszuspielen und die sich wie eine Katze wehrende Anna in den Schwitzkasten zu nehmen, bis ihre Nasen sich fast berührten. So nah hatte er sie an sich ­herangezogen, dass sie seinen heißen Atem unangenehm spürte, als er sie leise und bedrohlich fragte: »Wie heißt das Zauberwort, Mönchlein?«

Für einen kurzen Augenblick stellte Anna ihre wilden, aber ergebnislosen Befreiungsversuche ein. Gero von Hochstaden lockerte seinen eisernen Griff, und das war ein Fehler. Völlig unvermittelt rammte ihm Anna das Knie, so fest sie konnte, zwischen die Beine.

Der Mann schnappte nach Luft und sackte zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Stöhnend hielt er sich den Schritt.

Anna beugte sich über ihn. Sie konnte es nicht lassen, ihm zu sagen: »Ihr findet den Prior in der Halle des Abtes, Herr. Den Gang runter und dann rechts. Das könnt Ihr nicht verfehlen.«

Dann drehte sie sich um, eilte davon und ließ ihn liegen.

* * *

Als Gero von Hochstaden wieder Luft bekam und sich aufrappelte, wollte er sofort hinter diesem verdammten kleinen Mönch her und ihn am nächsten Glockenseil aufhängen. Aber erst, nachdem er ihm den Bauch mit seinem rasiermesserscharfen Dolch aufgeschlitzt und die Eingeweide herausgeholt hätte. Er war es gewohnt, mit seinem Schwert oder dem im Stiefel versteckten Dolch dafür zu sorgen, dass er den Respekt erhielt, der einem von Hochstaden gebührte. Niemand wagte es, gegen ihn aufzubegehren. Und jetzt? Jetzt lag er im Schmutz vor der Seitenpforte des Refektoriums. In seinem neuen Mantel, den er sich gerade für teures Geld hatte anfertigen lassen. Noch nie war er so gedemütigt worden! Und das auch noch von einem Mönch, der ihm gerade bis zur Brust reichte!

Er versuchte, sich vom Schmutz zu säubern, und sah sich verstohlen um. Nein, Gott sei Dank war niemand Zeuge dieser Erniedrigung geworden, wenigstens das war ihm erspart geblieben. So etwas hätte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen: Gero von Hochstaden, der Sohn des mächtigen Lothar von Hochstaden, Bruder des Erzbischofs, hatte sich von einer kleinen Ratte in einer Mönchskutte aufs Kreuz ­legen lassen. Er wäre zum Gespött seiner Kumpane, schlimmer noch: der einfachen Leute geworden.

Die Glocken der Klosterkirche läuteten. Die Messfeier vom letzten Abendmahl am Gründonnerstag hatte begonnen. Dann war der Prior, den Gero auf Geheiß des Erzbischofs gesucht hatte, wohl inzwischen in der Kirche. Es wurde Zeit, dass auch Gero zur Messe erschien. Der dumme Zwischenfall mit diesem Mönchlein hatte ihn unnötig lange aufgehalten. Schließlich war Gero im Gefolge seines Onkels nach Heisterbach gekommen, um sich vom Prior die Füße waschen zu lassen.

Die Messe war bereits in vollem Gang, als Gero durch den Seiteneingang die Klosterkirche betrat. Die Leute standen dicht an dicht, das Kirchenschiff war bis auf den letzten Platz besetzt. Der an- und abschwellende Gesang der Mönche, die im Chorgestühl hinter dem Lettner saßen und ihr Bestes gaben, trug seinen Teil dazu bei, die Gläubigen in eine erwartungsvolle und feierliche Stimmung zu versetzen.

Aber ganz allmählich kam Unruhe auf – wo war der Prior, ohne dessen Anwesenheit am Altar die Messe üblicherweise nicht begann? Gero zuckte entschuldigend mit den Schultern, als er den fragenden Blick des Erzbischofs auf sich gerichtet sah.

Endlich hastete Pater Urban durch den Lettner herein, sein liturgisches Gewand noch schnell zurechtzupfend, verlangsamte seinen Schritt, grüßte ehrerbietig die erste Reihe der Anwesenden und drehte sich mit feierlich erhobenen Händen mit dem Gesicht zum Altar. Er begann mit dem Glaubensbekenntnis, das die Gemeinde, erleichtert darüber, dass nun doch alles seinen gewohnten Verlauf nahm, mitmurmelte: »Credo in Deum Patrem omnipotentem, Creatorem caeli et terra …«

Ein lauer Wind hatte die letzten Wolken vertrieben, und die Sonne war endlich nach den endlosen Spätwinterwochen hoch genug geklettert, um ihre Strahlen genau in diesem Moment durch die reich verzierten bunten Glasfenster auf den Altar zu schicken und ihn in ein schier übernatürliches Licht zu tauchen, das in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Von dieser fast greifbaren Epiphanie, die beim Volk im Kirchenschiff ein Raunen hervorrief, unbeeindruckt, hielt Gero Ausschau nach seinem Platz in der ersten Reihe, wo schon elf Gläubige, die vom Erzbischof handverlesen waren, warteten, dass der Prior ihnen die Füße wusch. Ganz so, wie es im Johannesevangelium geschrieben stand. Dass Gero unter den Auserwählten war, hatte er dem Einfluss seines Vaters zu verdanken, der ihn in diesem Moment entdeckte und ihm den Platz zwischen sich und dem Erzbischof freigehalten hatte. Vielleicht glaubte sein Vater, durch den heiligen Akt der Fußwaschung würde sein Sohn doch noch auf den Pfad des Glaubens geführt werden, so wie es der Erzbischof immer forderte, der Geros gelegentliche Konflikte mit Recht und Gesetz scharf zu kritisieren pflegte – und sie dennoch deckte. Dem Bruder und dem Namen der Familie zuliebe.

Gero machte ein paar Schritte zum Altar, ging in die Knie und bekreuzigte sich, bevor er sich mit demütig gesenktem Haupt neben seinen Vater begab, wo er strenge und vorwurfsvolle Blicke von Vater und Onkel zugefunkelt bekam.

Für Gero und seinen Vater sowie die anderen Repräsentanten des Reichs war die vom Prior vollzogene Geste der Fußwaschung nicht nur Ritual, sondern politische Pflicht und Demonstration zugleich. Sich dem gemeinen Volk neben dem Erzbischof zu zeigen war ein deutliches Signal dafür, wer im Reich in der Gnade seines Erzbischofs und damit Gottes stand.

Der Prior drehte sich nach dem »Amen« zu den Gläubigen um, während im Gewölbe des Kirchenschiffs der Gesang der Mönche wieder eindrucksvoll anschwoll. Pater Urban nickte zu seiner rechten Seite, wo zwei Messdiener mit einer Waschschüssel und einem Tuch herankamen. Feierlich schritten sie hinter dem Pater die Stufen vor dem Altar hinunter auf die zwölf Gläubigen zu, die nun ihre Beinkleider rafften. Zu seiner Überraschung und mit abrupt aufkochender Wut bemerkte Gero, dass der Novize mit dem Tuch niemand anderer als der kleine Mönch aus dem Klostergarten war. Gewaltsam musste er sich zwingen, nicht sofort aufzustehen und den verfluchten Messdiener mit seinem eigenen Tuch zu erwürgen. Dieser reichte dem Prior nach der Fußwaschung des Erzbischofs das Tuch, damit Pater Urban dessen Füße abtrocknen konnte. Als die Reihe an Gero kam, blickte der Novize kurz in Geros Augen, schlug sie aber sofort wieder nieder. Dieser winzige Moment hatte gereicht, dass Gero die Augen des Messdieners hatte aufblitzen sehen. Vor Schadenfreude womöglich. Aber eine andere Erkenntnis fuhr Gero schlagartig durch alle Glieder: Dieser junge Mönch war vom Teufel besessen! Oder gar eine Inkarnation Luzifers! Zwei verschiedenfarbige Augen waren ein eindeutiger Beweis! Gero versuchte, den Blick des Novizen mit aller Gewalt noch einmal auf sich zu ziehen. Doch der hielt stur den Blick auf den Boden gerichtet und tat alles, um Geros Blick auszuweichen.

Als die Fußwaschung vorüber war und der lateinische Gesang der Chorbrüder im Kirchenschiff verhallte, verschwanden die Messdiener des Priors durch den Lettner neben dem Altar. In Gero arbeitete es. Mit diesem Novizen war er noch nicht fertig. Ganz im Gegenteil. Er würde sich eine fürchterliche Strafe ausdenken. Es würde eine Sühneaktion werden, die, wenn er mit diesem Kuttenträger fertig war, im Moor ihr befriedigendes Ende finden würde, so wie er das mit seinen Kumpanen Oswald und Lutz schon mehrfach bewerkstelligt hatte, wenn ihm jemand in die Quere gekommen war. Dieser Gedanke brachte Gero zum Schmunzeln.

Die Gemeinde kniete nieder, um den Segen des Priors zu empfangen. Gero blieb stehen, ganz in seine Vergeltungsphantasien versunken. Sein Vater musste ihn kurz, aber heftig in die Seite stoßen, bis er reagierte. Endlich ließ sich Gero auf seine Knie nieder, aber das rachsüchtige Grinsen wollte nicht aus seinem Gesicht verschwinden.

III

Es war sehr spät geworden. In der Empfangshalle des Abtes saß Prior Urban am Kamin, das Gesicht dem Feuer zugewandt, das sich in seinen Augen spiegelte. Die anstrengenden Feierlichkeiten hatten sich den ganzen Tag hingezogen, Gäste mussten begrüßt und bewirtet, Bittgesuche gelesen und beurteilt werden. Der Erzbischof hatte sich nach der Vesper aus dem Refektorium zurückgezogen. Er ließ ausrichten, dass er sich unpässlich fühle und ausruhen müsse. Einen Trank, den Pater Urban von seinem Famulus herstellen lassen wollte, hatte er beinahe brüsk abgelehnt.

Pater Urban ahnte, warum. Schließlich hatte er um eine Audienz beim Erzbischof nachgesucht. Er konnte und wollte dieses Gespräch nicht länger hinauszögern, denn unangenehme Dinge pflegte er immer sofort zu erledigen. Doch dieses Mal steckte er in einer Zwickmühle. Eigentlich hatte er dieses heikle Gespräch mit seinem Abt führen wollen. Aber nun, da Erzbischof Konrad von Hochstaden Kloster Heisterbach früher als üblich einer Visitation unterzog, musste sich Pater Urban seinem höchsten Vorgesetzten anvertrauen, ob er wollte oder nicht. Sonst bestand die Gefahr, dass alles, was er in der Absenz des Abtes herausgefunden hatte, unweigerlich auf ihn zurückfiel, wenn es später vom Erzbischof aufgedeckt werden würde. Dann würde man ihn verdächtigen und verurteilen anstelle des wahren Schuldigen.

Pater Urban sah seine Aufgabe als Prior auch darin, der Wahrheit zu dienen. Manchmal erforderte das eine gewisse Auslegung darüber, was Wahrheit war. Sie konnte zum Guten oder zum Bösen verwendet werden, indem man sie mit Halbwahrheiten anreicherte, zum falschen oder richtigen Zeitpunkt ans Licht der Öffentlichkeit brachte oder sie ganz unterschlug. Die Wahrheit war eine heikle Angelegenheit, vor allem dann, wenn es um die Belange der Kirche oder des Reiches ging.

Pater Urban seufzte und nahm einen Schluck aus seinem Becher, der mit verdünntem Wein gefüllt war, als er die Glocke zweimal schlagen hörte. Zwei Uhr nachts. Seit der Vesper ließ ihn der Erzbischof jetzt schon warten. Zum dritten oder vierten Mal verglich er noch einmal die beiden Bücher, die er für den Erzbischof bereitliegen hatte. Niemand wusste davon, er hatte seine Entdeckung für sich behalten. Dazu war die Angelegenheit viel zu heikel. So sehr war er in seine Gedanken vertieft, dass er das mehrmalige Klopfen an der Tür beinahe überhört hätte.

»Ja, bitte!«

Er drehte sich um und erkannte den Laienbruder, der um diese Zeit den Schließdienst versah und nun den späten Gast anmeldete.

»Pater Urban – Seine Eminenz, der Erzbischof.«

Der Prior stand auf und verneigte sich angemessen vor seinem hohen Gast, der in Begleitung eines Mannes hereinkam, den Pater Urban nur zu gut kannte. Es war Infirmarius Sixtus vom Kloster Schönau. Ein unscheinbarer dunkler Mann, den man nicht umsonst den Schatten des Erzbischofs nannte. Beflissen und skrupellos, immer im Hintergrund, stets auf einen Blick oder ein Zeichen seines Herrn lauernd, um einen Befehl sogleich in die Tat umzusetzen. In der Wahl seiner Mittel galt Pater Sixtus dabei nicht gerade als wählerisch.

»Seid willkommen, Eure Eminenz. Kann ich Euch etwas anbieten?«, sagte Prior Urban betont freundlich.

Ungnädig hielt ihm der Erzbischof die beringte Hand zum ehrerbietigen Kuss hin. Trotz seiner angeblichen Unpässlich­keit sah der Würdenträger gesund wie immer aus, groß und breit mit markanten grauen Locken unter seinem violetten Pileolus, dem Bischofskäppchen. Doch sein von zahlreichen Pockennarben entstelltes Gesicht verlieh ihm einen Zug von Grausamkeit. Er legte seinen schweren Mantel ab, bevor er sich ans Feuer setzte, ohne Pater Urbans Begrüßungsworte zu erwidern.

Pater Urban wandte sich Pater Sixtus zu.

»Pater Sixtus – es freut mich, Euch zu sehen!«

Der Pater nickte stumm, in seinen Augen lag wie immer ein stiller Vorwurf, der jedermann sofort ein schlechtes Gewissen machte und ihn innerlich schaudernd nachdenken ließ, welche längst vergessen geglaubten Vergehen gleich ans Licht des Tages gezerrt und einem zum Verhängnis werden würden.

Vom Kamin her ertönte die knarrende Stimme des Erzbischofs.

»Jetzt kommt schon her und setzt Euch. Wir haben unsere Zeit nicht gestohlen. Was kann es so Wichtiges geben, dass wir das nicht im Refektorium vor den Mitbrüdern besprechen können?«

Pater Urban blieb stehen, während sich Pater Sixtus neben den Erzbischof setzte und den Prior mit wichtigtuerischer Miene anstarrte.

»Ich hoffte eigentlich, Euch unter vier Augen sprechen zu dürfen, Eure Eminenz«, sagte Pater Urban vorsichtig.

»Nun, Pater Sixtus genießt mein volles Vertrauen. Genügt das?«

»Wie Ihr wünscht, Eure Eminenz. Euch ist ja bekannt, dass ich nicht nur Infirmarius, sondern auch Buchhalter unseres Klosters und seiner Einkünfte bin.«

»Ja, ja. Ist mir alles bekannt. Also?«

»Leider muss ich Euch mitteilen, dass ich kürzlich auf gewisse Ungereimtheiten gestoßen bin.«

»Ungereimtheiten?« Der Erzbischof runzelte die Stirn.

»Ja, wenngleich dieser Ausdruck viel zu beschönigend sein dürfte für das, was seit Jahren abläuft und so geschickt in den Bilanzen versteckt wurde, dass es sogar mir nicht weiter aufgefallen ist. Bis vor kurzem.«

Der Erzbischof wechselte einen raschen, aber bedeutsamen Blick mit seinem Adlatus, dann fragte er: »Und das wäre? Ich warne euch, Bruder Urban, sollten sich Eure Entdeckungen nicht als wirklich schwerwiegend herausstellen, kann ich sehr nachtragend sein. Ich billige es nicht, wenn meine Zeit für törichtes Gewäsch verschwendet wird.«

»2000 Morgen bestes Ackerland unter der Hand zu verkaufen und ein zweites Abrechnungsbuch zu führen, damit diese ungesetzmäßigen Verkäufe nicht in der offiziellen Buchführung auftauchen – das ist, mit Verlaub, kein törichtes Gewäsch, Eure Eminenz!«

Jetzt war die Katze aus dem Sack.

Der Erzbischof schwieg. Niemand sagte ein Wort. Man könnte einen Engel hereinkommen hören, dachte Pater Urban in diesem unangenehmen Moment.

Schließlich beugte sich Erzbischof Konrad von Hochstaden zum Feuer, griff nach dem Schürhaken und stocherte bedächtig in der Glut herum. Dann durchbrach er das eisige Schweigen.

»Habt Ihr Beweise, Bruder Urban? Eine solche Behauptung, wenn sie sich als Verleumdung erweist, könnte Euch Kopf und Kragen kosten.«

Pater Urban nahm die zwei Bücher, die er eingehend studiert hatte, ein graues und ein blaues, und reichte das graue dem Erzbischof, der es, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen, an Pater Sixtus weitergab. Pater Sixtus fing an, darin herumzublättern.

Pater Urban erläuterte: »Das graue Buch enthält die offizielle Buchführung des letzten Jahres, also des Jahres 1241, so, wie ich es bei unseren Mitbrüdern in Bologna gelernt habe. Jede Seite ist, wie Ihr seht, von unserem Abt abgezeichnet.«

»Ist es so?«

Der Erzbischof hatte sich an Pater Sixtus gewandt. Der nickte bestätigend. »So ist es.«

»Das blaue hingegen«, Pater Urban hielt das Buch hoch, »das blaue ist eine geheime Buchführung. Die wahre, wenn Ihr so wollt.«

Diesmal reichte Pater Urban das Buch gleich an Pater ­Sixtus weiter, der es mit spitzen Fingern entgegennahm, als könnte es jeden Augenblick von selbst in Flammen auf­gehen.

»Wo habt Ihr das blaue Buch her?«, fragte der Erzbischof, noch immer in einem Ton, als rede er über die Exegese einer unwichtigen Bibelstelle.

Der Prior trat an den Schreibtisch des Abtes, der reich mit geschnitzten Blattranken verziert war.

»Von hier«, sagte er und drückte auf einen kleinen Vorsprung, worauf ein Geheimfach aufsprang, in welches das blaue Buch genau hineinpasste. Zu Pater Urbans Erstaunen stand der Erzbischof tatsächlich auf und unterzog das Fach einer genaueren Überprüfung. Pater Urban klappte zur ­Demonstration den Deckel des Fachs wieder zu und löste den Mechanismus noch einmal aus. Wieder sprang das Fach auf.

»Ich bin aus Versehen daran gestoßen. Der Abt hatte mich über dieses Geheimfach nicht aufgeklärt.«

»Ihr meint«, und das sagte der Erzbischof beinahe genüsslich, »der Abt hat davon gewusst?«

»Es ist die Schrift unseres Abtes. Im blauen Buch.«

Der Erzbischof sah Pater Sixtus fragend an, der nickte zur Bestätigung.

Konrad von Hochstaden machte einen Schritt auf Pater Urban zu und fing seinen Blick ein. »Und warum besprecht Ihr das nicht vorher mit Eurem Abt? Wäre das nicht die angebrachte Vorgehensweise, dass Ihr ihn mit eurem Verdacht konfrontiert? Oder gibt es etwa Anlass, Eurem Abt zu misstrauen?«

Der letzte Satz war geflüstert, Konrad von Hochstaden stand jetzt so nahe vor Pater Urban, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Der Prior empfand diesen Moment als körperlich unangenehm, aber er wich nicht zurück, sondern erwiderte: »Selbstverständlich nicht. Deshalb war die Entdeckung des blauen Buches ja so überraschend für mich.«

Der Erzbischof starrte Pater Urban noch kurz in die Augen, dann nickte er und wandte sich wieder dem Kaminfeuer zu.

Leise sagte er: »Ist Euch bekannt, dass Abt Melchior vor zwei Tagen verstorben ist?«

Jetzt wich Pater Urban doch noch vor Schreck einen Schritt zurück und bekreuzigte sich.

»Heilige Mutter Gottes! Der Abt ist tot?«

Der Erzbischof sagte: »Friede seiner Seele« und bekreuzigte sich ebenfalls, Pater Sixtus tat es ihm gleich.

Pater Urban musste sich setzen. »Amen! Was ist mit ihm geschehen?«

Der Erzbischof wandte sich mit unbewegtem Gesicht wieder Pater Urban zu. »Er wurde von mir abgesetzt. Darauf hat Gott ihn zu sich befohlen.«

»Abt Melchior wurde abgesetzt?«

»So ist es. Mir blieb keine andere Wahl. Er hat versucht, mir zu drohen. Das kann ich nicht zulassen. Leider hatte ich bei der Absetzung das fortgeschrittene Alter des Abtes nicht berücksichtigt. So konnte er uns nicht mehr mitteilen, wo er die schriftlichen Unterlagen für seine Verbrechen versteckt hat. Aber das habt Ihr mit Eurer Entdeckung ja Gott sei Dank ans Licht gebracht. Wer weiß, ob wir das Versteck jemals gefunden hätten.«

»Weiß der König davon?«, fragte Pater Urban mit zittriger Stimme.

»Bis jetzt weiß es niemand außer uns.« Erzbischof Konrad deutete auf Pater Sixtus und lächelte Pater Urban kalt an. »Und Euch natürlich.«

Spöttisch fügte er hinzu: »Der König ist jung und hat genug damit zu tun, seine Position zu festigen, die ihm sein Vater, der Kaiser, im Reich aufgebürdet hat. Da wollen wir seine Majestät nicht mit solchen Nebensächlichkeiten belasten. Ihr wisst, was die Regelung derartiger Angelegenheiten angeht, nehme ich sie lieber in meine eigene Hand. Und ich gedenke, den Fall mit all der gebotenen Diskretion zu handhaben. Ich möchte nicht, dass ruchbar wird, ein Diener der Kirche, noch dazu in einer so gehobenen Position, habe Unrecht begangen. Habt Ihr verstanden, Pater Urban?«

Pater Urban erfasste durchaus die Tragweite dessen, was der Erzbischof gesagt hatte. Sein Herrschaftsanspruch und der unbedingte Willen, ihn durchzusetzen, waren unüberhörbar gewesen. Mit einer bangen Ahnung im Herzen fragte Pater Urban: »Was gedenkt Ihr nun zu tun, Eure Eminenz?«

Der Erzbischof drehte gedankenverloren an dem goldenen, mit seinem Wappen geschmückten Bischofsring, dem Zeichen seiner Würde. Dann sah er hoch, mit strengem Blick.

»In meinem Auftrag wird Pater Sixtus im Kloster Heisterbach eine gründliche Revision durchführen. Euren üblichen Obliegenheiten, Pater Urban, werdet Ihr wie immer nachgehen, so als sei nichts geschehen. Aber Ihr werdet alles, was Euch auffällt, Pater Sixtus berichten, wie nebensächlich es auch sein mag. Ihn setze ich als Abt des Klosters ein. Ohne meine ausdrückliche Erlaubnis wird fortan niemand dieses Kloster verlassen oder betreten, bis die Untersuchungen ­abgeschlossen sind. Meine Soldaten werden alle Zugänge strengstens bewachen. Diesen Raum hier wird niemand außer Pater Sixtus betreten. Habt Ihr verstanden?«

Pater Urban verbeugte sich vor dem Erzbischof. »Gewiss, Eure Eminenz.«

Der Erzbischof gab ihm mit einer herablassenden Geste zu verstehen, dass seine Anwesenheit nicht weiter erwünscht war. Aber Pater Urban blieb stehen und räusperte sich.

»Ist noch etwas?«, fragte der Erzbischof.

»Ja, Eure Eminenz. Ich glaube zu wissen, wohin die Gelder geflossen sind. Und wer jetzt im Besitz der Grundstücke ist.«

Jetzt war der Erzbischof mit einem Mal ganz Ohr.

»Woher wisst Ihr das?«

»Es lagen noch mehr Dokumente in dem Geheimfach.«

»Wohin sind die Gelder geflossen?«

»In den zukünftigen Dombau in Köln.«

»Und wer soll jetzt im Besitz der Grundstücke sein?«

»Verzeiht, Eure Eminenz, es ist …« Pater Urban zögerte, der Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Sprecht. Ihr braucht keine Angst vor der Wahrheit zu haben. Die Angelegenheit bleibt unter uns.«

»Euer Bruder, Graf Lothar von Hochstaden, er ist jetzt im Besitz der Grundstücke.«

Dem Erzbischof war keine Erschütterung anzumerken. Mit unbeweglicher Miene fragte er: »Wo sind die Dokumente jetzt?«

»In meiner Zelle. Unter der Matratze.«

»Dann geht und holt sie! Auf der Stelle!«

So aufgebracht hatte Pater Urban den Erzbischof selten ­gesehen. Er machte, dass er hinauskam.

Mit wehendem Habit eilte Pater Urban durch die Gänge. Vor lauter Anstrengung, Aufregung und Seelenqual keuchte er heftig. Er stieß die Tür zu seiner Zelle auf. Das vor sich hinglimmende Kaminfeuer bekam Durchzug und flackerte wieder hoch. Pater Urban bückte sich ächzend und zog die Dokumente unter der Strohmatratze hervor, wo er sie versteckt hatte. Er rollte sie zusammen und verbarg sie unter seinem Skapulier. Dann hastete er wieder hinaus. Bevor er um die Ecke zur Halle des Abtes zurückeilte, blieb er auf einmal stehen, unschlüssig, machte dann auf dem Absatz kehrt und lief zum Infirmarium. Er durchquerte den Krankensaal, ohne auf die Patienten zu achten.

* * *

Nach der Vigil hatte sich Anna in ihre Zelle zurückgezogen und versuchte zu schlafen, was ihr aber nicht gelang. Der ­Besuch ihrer Eltern ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie plagte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht einmal von ihnen verabschiedet hatte. Plötzlich vernahm sie Schritte im Gang. Dann wurde die Zellentür aufgestoßen, und Pater Urban stand vor ihrem Lager. Anna blinzelte ihn erstaunt an, sie war bei seinem Eintreten sofort vom Bett hochgefahren.

Eindringlich packte der Pater das Mädchen an den Schultern. »Anna, hör mir gut zu! Du musst auf der Stelle verschwinden!«

»Jetzt? Warum?«

»Ich habe jetzt nicht viel Zeit für Erklärungen. Es wird eine offizielle Untersuchung des Erzbischofs geben. Gott allein weiß, was sie mit uns machen, wenn dein Geheimnis offenbar wird …«

Jetzt bekam es auch Anna mit der Angst zu tun.

»Bitte, Pater Urban – was soll ich denn jetzt tun?«

»Mach dich auf den Weg ins Dorf deiner Eltern und versteck dich da!«, wies der Pater das Mädchen an. »Nimm die Pforte hinter dem Friedhof, der Schlüssel wird noch stecken. Ich komme nach, sobald ich kann, und erkläre dir alles.«

»Und was ist mit Euch? Mit den Kranken?«

»Mach dir keine Gedanken um mich. Die Kranken sind in meiner Obhut gut aufgehoben. Gott segne dich, mein Kind!«

Er deutete hastig mit seinem Daumen das Kreuzeszeichen auf Annas Stirn an, erhob sich mühselig und hetzte zur Tür hinaus.

Anna saß fassungslos da. Aber dann stand sie entschlossen auf, riss das Tuch von der Strohmatratze, machte einen Sack daraus und packte die wenigen Habseligkeiten, die ihr gehörten, hinein, so schnell sie konnte.

***

Ein Laienbruder brachte dem unruhig auf und ab gehenden Erzbischof und Pater Sixtus einen Krug mit Wein und drei Becher. Konrad von Hochstaden wartete, bis der Diener die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann fingerte er hastig einen Beutel aus seinem Wams.

»Schnell, Pater Sixtus, schenkt den Wein ein.«

Pater Sixtus tat, wie befohlen. Der Erzbischof holte etwas aus dem Beutel und gab es Pater Sixtus in die Hand. Pater Sixtus drehte sich zum Kaminfeuer um und sah das Pulver an, das in dem durchsichtigen Röhrchen weiß leuchtete.

»Wie viel?«

»Alles«, antwortete der Erzbischof. »Aber rasch!«

Geschickt, wie man es seinen dicken, beringten Fingern gar nicht zugetraut hätte, entfernte Pater Sixtus den Korken des Fläschchens und ließ den Inhalt in einen vollen Becher mit Wein rieseln. Kaum hatte er das Röhrchen geleert, wurde die Tür der Halle aufgerissen und Pater Urban kam atemlos herein. Schnell verbarg Pater Sixtus das Fläschchen in seinem weiten Ärmel.

Pater Urban schloss die Tür und blieb stehen.

»Habt Ihr alles, was noch fehlte?«, fragte ihn der Erzbischof in gemessenem Ton.

»Alles, was ich im Geheimfach vorgefunden habe, Eure Eminenz!«, antwortete Pater Urban und holte die eingerollten Dokumente unter dem Skapulier hervor.

Der Erzbischof zeigte auf den Schreibtisch und nahm ­einen Becher Wein entgegen, den Pater Sixtus ihm reichte. »Legt die Papiere einstweilen hierher. Lasst uns besiegeln, dass nichts von dem, was hier besprochen wurde, jemals nach außen dringt.«

Pater Sixtus gab Pater Urban den zweiten Becher, den dritten behielt er selbst in der Hand und erhob ihn nun zum Trinkspruch. »Ita nobis deus adiuvat!«

Pater Urban nickte. »Ita me deus adiuvat!« Dann trank er und leerte wie seine beiden Gäste den Becher bis zur Neige.

IV

Der Morgen graute schon, als Anna mit dem Sack über der Schulter, in dem sie ihre Habseligkeiten verstaut hatte, heimlich in den Pferdestall des Klosters geschlichen kam.

Sie hievte das Sattelzeug des Priors von der Stange und ging auf die Box eines Schimmels zu, der sich gelassen satteln und das Zaumzeug anlegen ließ. Sie band den Sack am Holster fest und führte das Pferd vorsichtig, eine Hand über die Nüstern haltend, zum hinteren Stallausgang.

Misstrauisch spähte sie durch die Bretterritzen nach draußen. Erste Lichtstrahlen drangen durch die Wolken. Als sie nichts Verdächtiges sah oder hörte, drückte sie das Tor auf. Niemand war da. Der große Hof lag menschenleer und verlassen. Sie zog sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und führte das Pferd hinaus.

Nach einer Weile erreichte sie den Friedhof und ging, mit dem Pferd im Schlepptau, zwischen den Grabsteinen hindurch zur hinteren Pforte, in der, so hoffte sie inständig, der Schlüssel steckte, so wie der Prior es ihr gesagt hatte. Als sie fast an der Pforte war, hob sie den Kopf ein wenig, um unter dem Rand ihrer Kapuze etwas sehen zu können, und erstarrte: Vor ihr stand ein Ritter mit gezücktem Schwert und herrschte sie barsch an.

»Niemand verlässt das Kloster! Befehl des Erzbischofs. Wer bist du überhaupt?«

Mit der Spitze seines Schwertes schob ihr der Ritter die Kapuze vom Kopf, und ein breites Grinsen stahl sich in sein Gesicht.

»Ja, wen haben wir denn da? Der kleine Novize mit dem Pferdefuß! Wolltest dich wohl heimlich aus dem Staub machen, was? Aber nicht mit mir.«

Hass blitzte aus Gero von Hochstadens Augen. Er setzte Anna die Schwertspitze an die Gurgel.

»Knie nieder!«

Anna gehorchte, wenn auch widerstrebend.

»Deinen Namen. Wie heißt du, Mönchlein?«

»Bruder Marian«, brachte Anna mit Müh und Not heraus.

»Wo wolltest du denn hin in aller Herrgottsfrüh, Bruder Marian? Hast du vielleicht vom Klosterschatz etwas mitgehen lassen und geglaubt, du könntest damit ungesehen fortziehen?«

»Es … es gibt keinen Klosterschatz, Herr«, krächzte Anna, aber Gero von Hochstaden achtete nicht weiter darauf.

Er riss den Sack vom Sattelknauf des Pferdes und schüttelte den Inhalt einfach auf dem Boden aus, ohne Anna aus den Augen zu lassen. Als nichts von Belang zum Vorschein kam außer ein wenig Wäsche, eine Ersatzkutte, Schreibzeug sowie ein Buch über Kräuterheilkunde, stieß er Anna grob an der Schulter an die Klostermauer. Sorgfältig achtete er darauf, seinen Unterleib mit der Schneide des Schwertes vor einer unvorhersehbaren Attacke durch Annas Füße zu schützen. Fast spielerisch stieß er Anna mit der Spitze seines Schwertes an.

»Du kommst jetzt mit zum Erzbischof. Wenn du versuchst davonzulaufen, bekommst du meine Schwertspitze zu spüren. Hast du verstanden?«, befahl er. Zur gleichen Zeit konnte er den Blick nicht von Annas Augen lösen und steckte den linken Daumen zwischen Zeige- und Mittel­finger.

Er hat Angst vor meinem bösen Blick, dachte Anna.

Schließlich wandte sich Gero von Hochstaden ab und sagte nur: »Vorwärts, auf zum Erzbischof. Na los, mach schon!«

Es dauerte einen Augenblick, bis Anna klar wurde, dass sie für dieses Mal noch mit dem Leben davongekommen war. Sie hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Aber dass sie jetzt zum Erzbischof gebracht wurde, konnte nur bedeuten, dass irgendetwas von ihrem Geheimnis herausgekommen war. Hatte Pater Urban gestanden? Ihre wahre Identität verraten? Das konnte sie sich nicht vorstellen, er war ihr all die Jahre wie ein Vater gewesen.

Sie ging dem Ritter voran. Er führte den Schimmel am Zügel und stupste sie immer wieder mit seinem Schwert in den Rücken, um sie zu anzutreiben. Vielleicht wollte er sie auch reizen. Aber Anna beging nicht den Fehler und versuchte zu fliehen. Dann hätte Gero von Hochstaden einen Grund gehabt, sie niederzustrecken. Den Gefallen wollte sie ihm nicht tun.

Als sie das Nebengebäude mit der Empfangshalle des Abtes erreichten, standen zwei Bewaffnete an der Mauer und vertrieben sich die Zeit damit, ihre Messer auf die Holztür zu werfen, auf die sie mit Kreide eine Zielscheibe gemalt hatten. Einer hatte einen glattrasierten Schädel, der andere war hager, hatte braunes Haar und trug eine Augenklappe. Der Glattrasierte zog sein Messer aus dem Holz und zeigte damit auf Anna. »Schau sich einer dieses Bürschchen an! Wo kommst du denn her?«

Gero schubste Anna in den Rücken, so dass sie dem Hageren in die Arme stolperte, der sie grob wieder wegstieß.

»Wollte Reißaus nehmen, das kleine Mönchlein«, höhnte Gero und schubste Anna wieder zurück. Der Hagere packte sie derb am Kragen und hielt sie fest, bis Gero den Schimmel an einem Ring an der Mauer angebunden hatte.

Dann nickte Gero dem Hageren zu und nahm Anna wieder in Empfang.

»Haltet die Augen offen«, befahl Gero den beiden Bewaffneten. »Und wenn Ihr noch jemanden seht, der zu fliehen versucht, dann packt ihn und bringt ihn mir.«

Er stieß Anna zur Tür.

»Mach schon auf«, herrschte er sie an.

Anna öffnete, und Gero versetzte ihr einen derben Tritt, so dass sie vor ihm in den Gang stolperte, der zur Halle führte.

* * *

»Bruder Marian, richtig?«, fragte der Erzbischof.

Anna stand ihm in der Empfangshalle gegenüber. Er schaute geringschätzig zu ihr hinab, Anna hatte den Blick scheinbar demütig auf den Boden gerichtet. Im Hintergrund saßen ­Pater Sixtus, der Adlatus des Erzbischofs, und Graf ­Lothar von Hochstaden auf den Stühlen am Kamin. Sie ­sahen ernst und staatstragend aus, stellte Anna fest, die versuchte, aus dem Augenwinkel zu erkennen, was sie erwartete.

Gero von Hochstaden hielt sie am Oberarm fest und sagte: »Er wollte sich mit dem Pferd des Priors aus dem Staub machen.«

»Habe ich dich etwas gefragt, Gero?«, fuhr ihn der Erzbischof scharf an.

»Nein, Eure Eminenz«, antwortete Gero kleinlaut.

»Dann lass ihn los. Er kann für sich selbst sprechen. Also?«

Anna glaubte zuerst, dass sie keinen Laut hervorbringen würde. Als sie dann mühsam zu reden begann, klang es, wie wenn ihre Stimme gar nicht zu ihr gehörte.

»Ja, Eure Eminenz. Bruder Marian werde ich genannt.«

Anna stand mit hängenden Schultern da und wandte den Blick nicht vom Boden, während der Erzbischof sie lauernd umkreiste und mit seinem Verhör fortfuhr.

»Was hast du um diese Zeit mit dem Pferd des Priors vorgehabt?«

»Eure Eminenz, bin ich der Famulus des Priors. Er hat mir für ein paar Tage frei gegeben, um meine Eltern zu besuchen. Und dafür hat er mir sein Pferd ausgeliehen.«

Eine bessere Ausrede war Anna nicht eingefallen.

Aber der Erzbischof war anscheinend auf etwas anderes aus.

Er fragte: »War Prior Urban in letzter Zeit krank?«

»Pater Urban? Nein. Er hat über das eine oder andere Zipperlein geklagt, das jedoch seinem fortgeschrittenen Alter zugeschrieben.«

Zum ersten Mal wagte Anna es, den Erzbischof anzusehen. Warum stellte er diese Frage?

»Du hast zwei verschiedenfarbige Augen«, stellte der Erzbischof unvermittelt fest. Anna schlug den Blick sofort wieder nieder, aber es war zu spät. Er fasste sie am Kinn und zog ihren widerstrebenden Kopf erneut nach oben.

»Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«, sagte er, und eine seltsame Schwingung war in seiner Stimme zu vernehmen, als er Annas Augen fixierte. »Tatsächlich. Ein grünes und ein braunes!«

»Er hat den bösen Blick, Eure Eminenz!« Gero konnte sich nicht länger zurückhalten.

»Rede gefälligst nur, wenn du gefragt wirst!«, zischte ihn der Erzbischof an.

»Verzeihung, Eure Eminenz«, entschuldigte sich Gero kleinlaut.

Inzwischen waren die anderen beiden Herren neugierig herangekommen, um ebenfalls Annas Augen zu inspizieren. Anna schlug jetzt nicht mehr demütig die Augen nieder, sondern starrte sie bockig an.

Sollen sie doch meine Augen sehen, dachte sie bei sich. Gott hat mich eben so gemacht, wie ich bin!

Der eine Mann machte drei Schritte rückwärts und bekreuzigte sich. »Heilige Mutter Gottes, steh uns bei!« Er starrte den Erzbischof an. »Kann das möglich sein, Konrad?«

»Wenn man das Undenkbare ausschließt, Lothar, dann bleibt nur eines: Ja, es ist möglich.«

Für Anna sprachen die beiden in Rätseln. Was wollen die von mir? Mich wegen meiner Augen dem Scheiterhaufen übergeben?

Zuzutrauen war es ihnen, selbst im Kloster kursierten Gerüchte über die Grausamkeit des Erzbischofs, was Häretiker und Hexen anging. Anna merkte, wie ihr der Angstschweiß ausbrach.

Der Erzbischof näherte sich ihr. »Wer bist du wirklich, Bruder Marian? Wie lautet dein wahrer Name?«

»Und woher kommst du?«, mischte sich der andere ein, indem er Anna an der Kutte packte. Der Erzbischof sagte kein Wort und ließ ihn gewähren. »Also, Bursche? Und halt mich nicht zum Narren. Du weißt, wer ich bin?«

»Ja, Herr.«

»Dann sag es.«

»Graf Lothar von Hochstaden.«

»Ganz recht. Ich habe mich vorgestellt. Und jetzt bist du an der Reihe. Also – wer bist du?«

»Ich bin Bruder Marian, der Famulus von Pater Urban. Meine Eltern sind einfache Leute. Bauern. Sie leben in Ahrweiler, einem Dorf einen guten Tagesritt von hier.«

Lothar von Hochstaden ließ sie wieder los. Schaute den Erzbischof an. »Glaubst du ihm?«

»Das ist jetzt unerheblich. Es gibt wichtigere Brände, die zu löschen sind.«

Konrad von Hochstaden verschränkte die Arme vor der Brust und stellte Anna die nächste Frage.

»Wann hast du den Prior zum letzten Mal gesehen?«

Anna schluckte, um Zeit zu gewinnen. Dann sagte sie: »Gestern. Bei der Fußwaschung.«

»Nun … dann sollst du wissen, der Prior ist heimgegangen ins Reich Gottes.« Dabei bekreuzigte sich der Erzbischof routiniert, die anderen Herren ebenfalls. Währenddessen ließ Konrad von Hochstaden Anna nicht aus den Augen.

Diese wurde leichenblass, als die Bedeutung der Worte allmählich in ihr Bewusstsein sickerte.

»Pater Urban ist … gestorben? Aber … was ist denn geschehen?«

Der Erzbischof fuhr in gleichmütigem Ton, als plaudere er über das Wetter, fort:

»Man fand ihn tot vor dem Kamin. Offenbar hat ihn ein Herzschlag dahingerafft. Pater Sixtus …«, er wies zu seinem Adlatus, der sich wieder zum Kamin begeben hatte, »… hat Pater Urbans Leichnam in dessen Zelle gebracht.«

Anna schlug die Hände vors Gesicht. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Ein Schluchzen durchfuhr ihren Körper, und sie sank vor Schmerz auf die Knie.

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