Die Rache der Medica - Johanna Geiges - E-Book

Die Rache der Medica E-Book

Johanna Geiges

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Beschreibung

Deutschland zur Stauferzeit: Die Medica Anna kann sich trotz ihrer bevorstehenden Hochzeit nicht vorstellen, ihre Heilkunst aufzugeben. Aber wie soll sie das ihrem Verlobten beibringen, der von ihr erwartet, dass sie das Leben einer Gräfin führt? Doch dann wird Anna zu einem besonders schweren Fall gerufen. Der junge Sohn des Kaisers wurde vergiftet. Anna vermutet ihren Widersacher, den Erzbischof von Köln, hinter dem Anschlag und schwört Rache. Bald schon kämpft sie um alles: das Leben des jungen Königs, ihre große Liebe und ihren Ruf als Heilerin.

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Das Buch

Deutschland zur Stauferzeit: Die junge Medica Anna müsste eigentlich auf Wolke sieben schweben. Graf Chassim von Greifenklau, ihre große Liebe, hat ihr einen Heiratsantrag gemacht. Doch obwohl Anna ihn von Herzen liebt, hat sie Bedenken. Sie kann sich nicht vorstellen, von nun an nur noch das höfische Leben einer Gräfin zu führen. Anna ist sich sicher: Ihr Schicksal ist es, Kranke zu heilen und anderen Menschen zu helfen. Deshalb macht sie sich sofort auf den Weg, als sie hört, dass der junge Stauferkönig Konrad IV., genannt Konrad, das Kind, im Sterben liegt. Gemeinsam mit ihrem Gehilfen Bruder Thomas findet sie heraus, dass jemand versucht hat, den jungen König zu vergiften. Anna hat auch schon einen Verdacht, wer dahinterstecken könnte: Ihr großer Widersacher, der Erzbischof von Köln. Anna lässt nichts unversucht, um den Plan des Erzbischofs zu vereiteln, und bringt dadurch sich selbst und alle, die sie lieben, in höchste Gefahr …

Die Autorin

Johanna Geiges hat jahrelang als Drehbuchautorin für große Fernsehproduktionen gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie in Mem­mingen.

Von Johanna Geiges sind in unserem Hause erschienen:

Das Geheimnis der Medica

Die Rache der Medica

Johanna Geiges

Die Rache

der

Medica

Historischer Roman

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

ISBN 978-3-8437-0647-6

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Fine Pic® (Hintergrund); © Bridgeman (Pflanze und Frau – Detail aus Botticellis Venus and the Three Graces, ca. 1483, Louvre Paris)

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook: LVD GmbH, Berlin

DRAMATIS PERSONAE

Anna von Hochstaden – Medica

Chassim von Greifenklau – Graf

Bruder Thomas – Mönch, einst Infirmarius

Claus von Greifenklau – Chassims Vater

Konrad von Hochstaden – Erzbischof

Ambros – Hütejunge

Jeronimus – Knochenhauer auf Greifenklau

Pater Sixtus – Abt

Pater Severin – rechte Hand des Erzbischofs

Konrad IV. – König, Sohn Kaiser Friedrichs II.

Ludolf von Aspelt – Leibmedicus des Königs

Baldur von Veldern – Ritter, nun geächtet

Jakob ben Ascher – heilkundiger Händler

Georg von Landskron – Graf

Ottgild von Landskron – Gräfin, Chassims Schwester

Caspar Ahrweiler – Annas Ziehvater

Berbelin – Dienstmagd

* * *

Die Schauplätze sind das stolze Zisterzienserkloster Heisterbach an den Hängen der Eifel (nun Trümmerstätte), der Mittelrhein im Herzen Europas, das Rittergut Greifenklau sowie die Städte Köln und Oppenheim in den Jahren 1242/43.

DIE ACHT TÄGLICHEN­ANDACHTEN IM KLOSTER

Die genaue Bestimmung schwankt

je nach Jahreszeit und Region

Mette (Vigil): 2.00 Uhr nach Mitternacht

Laudes (Matutin): zwischen 5.00 Uhr und 6.00 Uhr

Prim: gegen 7.30 Uhr, in der Regel kurz bevor es hell wird

Terz: gegen 9.00 Uhr

Sext: 12.00 Uhr mittags

Non: zwischen 14.00 Uhr und 15.00 Uhr

Vesper: gegen 16.30 Uhr

Complet: gegen 18.00 Uhr

DIE NAMEN DER ZWÖLF MONATE IM MITTELALTER

Hartung – Januar

Hornung – Februar

Lenzing – März

Ostaramond – April

Wonnemond – Mai

Brachet – Juni

Heuert – Juli

Ernting – August

Scheiding – September

Gilbhart – Oktober

Neblung – November

Julmond – Dezember

PROLOG

Es war im Monat Brachet im Jahre des Herrn 1242.

Baldur von Veldern, einst ein geachteter und ehrbarer Ritter, war nach der Rückkehr aus dem Morgenland vom Kreuzzug im Jahre 1229 so hoffnungslos verschuldet und innerlich verroht, dass er beschloss, nahtlos damit weiterzumachen, womit er die letzten Jahre verbracht hatte: Plündern und Rauben. Das hatte er gelernt, und damit wollte er nun seinen Lebensunterhalt bestreiten, denn seine letzten Gewissensbisse hatte er nach einem blutigen Gemetzel bei Jerusalem gegen die Sarazenen endgültig verloren.

Fortan trieb er im Westen des Heiligen Römischen Reiches zusammen mit einer Bande von Gleichgesinnten jahrelang sein Unwesen, bis er in Acht und Bann getan wurde. Von nun an war er ein Rechtloser, auf den jedermann Jagd machen, ihn gefangen nehmen oder töten konnte, er war ein gefürchteter und unbarmherziger Plackerer geworden.

Mehrmals wurde er beinahe gefasst, konnte aber jedes Mal entkommen und wich dann für eine Weile in andere Gegenden aus, bis es ihn wieder in alte Gefilde verschlug.

Bei einem seiner Spähritte mit zweien seiner Kumpane, Endres und Jobst, auf denen sie lohnende Ziele für einen Raubzug auskundschaften wollten, waren sie bei schlechtem Wetter vom Weg abgekommen. Statt das nächste Dorf zu erreichen, wo sie hätten einkehren können, waren sie in ­einen dichten, nicht enden wollenden Buchenwald weitab von jeder Behausung geraten und hatten beschlossen, beim nächstbesten Unterschlupf bis zum Morgen unterzukriechen, weil es immer stärker regnete und sie bereits bis auf die Haut durchnässt waren. Die Nacht war wegen der dichten Wolkendecke schnell hereingebrochen, als Endres, der die feinste Nase hatte, behauptete, den Rauch eines Feuers zu riechen. Sie waren von ihren Pferden abgestiegen und führten sie am Zügel, weil sie die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnten. Endres folgte seiner Nase, und Baldur und Jobst hatten Mühe, Anschluss zu halten. Er ging querwaldein durch nasses Gebüsch, und sie fluchten leise vor sich hin, weil ihnen ständig Zweige ins Gesicht klatschten. Ein ums andere Mal gerieten sie ins Straucheln, weil sie über Wurzeln stolperten oder in Erdlöcher traten. Baldur fing schon an, Endres zu beschimpfen, weil er sie vom Pfad abgebracht hatte und sie in immer dichteres Unterholz zu führen schien. Endres beachtete ihn nicht und hielt plötzlich an. Baldur und Jobst liefen in der Dunkelheit auf sein Pferd auf. Er bedeutete ihnen, endlich mit dem Fluchen aufzuhören und lieber die Ohren zu spitzen.

Sie lauschten und konnten Stimmen hören. Schließlich entdeckten sie am Rand einer kleinen Lichtung eine versteckte Kate, aus deren Ritzen im Strohdach und in den undichten Lehmmauern Licht drang.

Sie zögerten nicht länger und bewegten sich vorsichtig darauf zu. Aus dem Inneren der Kate vernahmen sie eine laut keifende Frauenstimme.

Baldur hatte keine Lust, auch nur einen Moment länger im strömenden Regen herumzustehen. Er drückte Jobst die Zügel seines Pferdes in die Hand, zog sein Schwert und stieß die Tür mit einem kräftigen Fußtritt auf. Was er sah, ließ ihn kurz innehalten. Ein Riese von einem Kerl erhob sich hinter der offenen Feuerstelle, er war muskelbepackt und trug einen Zottelbart und lange Haare und war so groß, dass sein Schädel beinahe an der Decke anstieß. Aber noch mehr beeindruckte Baldur die fürchterliche Streitaxt, die der Mann in seiner Rechten hielt. Ein Treffer, und jeder Gegner war ausgeschaltet. Neben dem Riesen hockte eine alte Frau am Feuer und rührte mit einem Schöpflöffel in einem großen Kessel herum, der an einer Kette von einem Deckenbalken herunterhing. Sie hatte ein Tuch um ihre grauen, lockigen Haare gebunden, war undefinierbaren Alters und schien von Baldurs überraschendem Auftritt völlig unbeeindruckt zu sein. Baldur und der Riese machten gleichzeitig Anstalten, ihre Waffe zu zücken, aber die Alte winkte genervt ab.

»Kommt herein, setzt euch ans Feuer. Das gilt auch für eure Begleiter. Na los, macht schon, von draußen kommt’s kalt herein. Und du – setz dich!«, fügte sie mit einem strengen Blick auf den Riesen mit der Streitaxt hinzu. Sie wartete stumm ab und rührte weiterhin in ihrem Kessel, bis Endres und Jobst auf ein Zeichen von Baldur hin zögernd eintraten, die Tür schlossen und sich, mit misstrauischen Blicken auf den Riesen, der genauso misstrauisch zurückäugte, so an die Feuerstelle setzten, dass sie jederzeit zu ihren Waffen greifen konnten.

»Das ist mein Sohn Karrak«, erklärte die Alte und deutete mit dem Daumen auf den Riesen. »Er tut nur, was ich ihm sage. Also benehmt euch, dann benimmt er sich auch. Wärmt euch am Feuer, und nehmt euch Suppe aus dem Kessel. Es gibt genug für alle, greift nur zu!«

Sie sahen sich an, und als Baldur zustimmend nickte, zögerten sie nicht, nach den Holzschüsseln und Löffeln zu greifen, die die Alte ihnen reichte. Nicht nur, weil sie durchgefroren und ausgehungert waren, sondern weil irgendetwas im Blick der Alten war, das sie gefügig werden ließ. Selbst Baldur konnte sich nicht dagegen wehren. Mit ihrer Schöpfkelle füllte die Alte großzügig die Schüsseln und wartete, bis sie erst vorsichtig probiert hatten und dann gierig die heiße Suppe mit den Gemüse- und Fleischstücken hinunterschlangen.

Zu Baldurs Überraschung fing der sonst so schweigsame Jobst plötzlich zu sprechen an. »Seid Ihr die, von der man sagt, dass sie seit Jahr und Tag im Wald haust und Zauberkräfte hat? Die Alte vom Wald?«, fragte er.

»Ja, die bin ich wohl. Walburga nennt man mich. Und ihr seid Jobst, Endres und Baldur von Veldern.«

Baldur wunderte sich, dass sie ihre Namen kannte, aber die heiße Suppe, die seinen klammen Leib allmählich mit wohltuender Wärme erfüllte, ließ ihn angenehm müde werden und seine Gedanken schwerfällig. Er konnte auf einmal nur noch mit Mühe die Augen offen halten und bemerkte, dass es seinen Gefährten genauso ging. Er hörte wie von weit her, dass Jobst wieder sprach. »Man erzählt sich, dass Ihr in die Zukunft sehen könnt.«

»Ja, das vermag ich. Aber ich mache das nicht für Gottes Lohn.«

»Daran soll es nicht scheitern«, hörte Baldur sich sagen. »Was verlangt Ihr? Unsere Seelen?« Als er diese spöttischen Worte ausgesprochen hatte, erschrak er über sich selbst. Die Alte lachte meckernd. Der Riese an ihrer Seite stimmte in das Lachen mit ein. In was für eine Hexenküche waren sie da nur geraten? Baldur spürte, wie seine Kräfte schwanden. Es fühlte sich an, als wäre er stark betrunken. So sehr er sich auch bemühte, aufzustehen – es ging nicht. Seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht mehr.

»Was wollt Ihr dann?«, hörte er sich sagen.

»Zehn Silberstücke. Das ist der Preis für deine Zukunft, Baldur. Oder ist dir das zu viel?«

»Nein, nein«, entgegnete Baldur, und es gelang ihm tatsächlich mit größter Mühe, seinen Geldbeutel herauszuziehen und die zehn Silberstücke in die gierig ausgestreckte Hand der Alten zu zählen, die sie sofort an ihren Sohn weitergab, der sie in sein Wams schob. Dann schlug die Alte ein schäbiges Stück Tuch auf. Darin lagen verschiedene Knochenstücke, die sie mit beiden Händen zwei Atemzüge lang mit geschlossenen Augen hochhielt, unverständliche Beschwörungsformeln murmelte und sie anschließend auf das Tuch fallen ließ. Sorgfältig studierte sie Lage und Ausrichtung der bleichen Knochen und sah dann mit bohrendem Blick in Baldurs erwartungsvolle Augen, dem es wie eine kleine Ewigkeit vorkam, bis die Alte endlich anfing zu sprechen.

»Baldur von Veldern, du nimmst dir mit Gewalt, was du willst. Und weil man mit Gewalt fast alles erreichen kann, wirst du so weitermachen.«

Sie lehnte sich zurück und sah ihn durchdringend an. Baldur war nicht sonderlich beeindruckt. Das war nichts Neues. Das hatte er alles schon selbst gewusst. Und dafür hatte die alte Hexe zehn Silberstücke eingesackt? Am liebsten hätte er sich seine Münzen mit dem Schwert wiedergeholt. Doch da war dieser Karrak und die seltsame Schwäche, die er in diesem Moment verspürte. Er hätte der alten Vettel schon gezeigt, was man mit Gewalt alles ausrichten konnte. Aber er war zu keiner Bewegung fähig, es schien ihm, als flösse Blei statt Blut in seinen Adern. Verflucht, sie hatte ihn hereingelegt. Endlich wandte Walburga den bannenden Blick von ihm ab, der ihn zu lähmen schien, und sah noch einmal auf die Knochen auf dem Tuch. Er hörte sich sprechen. »Du siehst noch etwas, habe ich recht?«

Sie zögerte, dann antwortete sie ihm. »Ja. Ja, ich sehe noch etwas. Dein Leben ist in Gefahr. Dein Weg führt dich direkt ins Verderben.«

Jetzt wurde Baldur wütend. Was sagte sie da? Wollte sie ihm etwa Angst einjagen? Ihm, Baldur von Veldern? Aber statt sie zu bedrohen oder sie an ihrem schmutzigen Kragen zu packen, was er eigentlich wollte, brachte er nur ein schwaches »Was soll ich also tun?« heraus.

»Nimm dich vor einer Person in Acht, die dir gefährlich werden kann. Wenn du es nicht tust, wird es dein baldiger Tod sein.«

Baldur schluckte. Es dauerte eine Weile, bis seine schwerfällige Zunge ihm gehorchen wollte. »Wer soll das sein? Los, sag mir, wer das sein soll!«

Die Alte schwieg und wickelte die Knochen sorgfältig wieder in das Tuch. Baldur nahm seine ganze ihm noch verbliebene Kraft zusammen und packte Walburga am Handgelenk. »Sag mir den Namen. Sag ihn mir! Dafür habe ich dich schließlich bezahlt!«

Karrak sprang auf und wollte schon eingreifen, aber mit einer abwehrenden Geste der freien Hand hielt ihn Walburga zurück.

»Glaub mir, manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen!«, warnte sie Baldur eindringlich.

»Jetzt hör endlich auf mit dem Gewäsch, und sag mir, was du gesehen hast!«

»Willst du das wirklich erfahren? Du musst wissen, dass diese Erkenntnis gefährlich ist. Es kann dir dein ganzes weiteres Leben vergiften, wenn du nur noch von dem Gedanken besessen bist, dass dieser Mensch deinen Tod bedeuten kann«, sagte die Alte mit Nachdruck.

»Gib mir seinen Namen!«, keuchte Baldur mit einem letzten Rest von Energie und ließ ihr Handgelenk nicht los.

»Den Namen habe ich nicht gesehen. Aber es ist … Es ist eine junge Frau«, antwortete Walburga zögerlich.

»Eine was? Eine junge Frau? Ein Mädchen soll meinen Tod bedeuten?« Baldur lachte verächtlich und schüttelte den Kopf.

Die Alte wand sich unter Baldurs eisernem Griff, aber er ließ nicht locker. Ihr Schädel schnellte plötzlich wie der Kopf einer Schlange nach vorn, und ihr zahnloser Mund spuckte ihm ihre Antwort förmlich ins Gesicht.

»Ja. Wenn du diesem Mädchen begegnest, sind deine Tage gezählt!«

Jetzt endlich ließ Baldur ihre Hand los. Der Schreck war ihm nun doch in die Glieder gefahren. Er versuchte, einen abgeklärten Eindruck zu machen, indem er schief grinste. »Dein Geschwätz ist keine zehn Silberstücke wert. Gib sie mir wieder!«, sagte er. »Oder verrate mir ihren Namen.«

Die Alte winkte verächtlich ab. »Du wirst sie erkennen, wenn es so weit ist.«

»Was redest du da für einen Unsinn? Woran soll ich sie erkennen?«

Walburga ließ sich Zeit mit der Antwort. Ihr schien es Vergnügen zu bereiten, Baldur ausgiebig schmoren zu lassen.

»Das ist nicht weiter schwierig. Sie hat ein braunes und ein grünes Auge.«

Baldur starrte die Alte an. Was sagte sie da? Er sah sich ungläubig und hilfesuchend nach seinen Gefährten um, ob sie dasselbe gehört hatten wie er. Aber Jobst und Endres lagen schon auf dem Boden, ihre Brustkörbe hoben und senkten sich regelmäßig. Sie waren eingeschlafen. Ausgerechnet jetzt mussten sie ihn im Stich lassen. Baldur fluchte innerlich.

Er kannte keinen Menschen mit einem braunen und einem grünen Auge.

Baldur war verwirrt. Diese vermaledeiten rätselhaften Andeutungen der Alten machten ihn ganz konfus. Er schüttelte sich wie ein Hund, wenn er aus dem Wasser kam, um wieder klar zu werden. Aber das Gegenteil trat ein, seine Sinne schwanden zusehends. Er blinzelte und rieb sich die Augen, doch es half nichts. Er sah nur noch verzerrt und verschwommen, und ihm war, als stürze er in einen gähnenden, schwarzen Abgrund. Dann kippte er nach hinten weg.

Als die drei Gefährten allmählich wieder zu sich kamen, hatte es längst aufgehört zu regnen, und die Sonne stand schon hoch an einem strahlend blauen Himmel. Die Pferde grasten friedlich neben ihnen, allerdings waren sie nicht abgesattelt.

Baldur, Endres und Jobst lagen am Waldrand neben einem munter plätschernden Bach, und sie fühlten sich, als hätten sie die ganze Nacht durchgezecht und sich geprügelt. So sehr brummten ihre Schädel, und alles tat ihnen weh. Jobst musste sich im Gebüsch übergeben, und Baldur krabbelte auf allen vieren zum Bach, wo er seinen Kopf ins kühle Wasser tauchte, wie ein Verdurstender trank, bis er nicht mehr konnte und sich dann erschöpft ins Gras fallen ließ. Baldur sah sich um. Wo war die Kate? Hatten sie wirklich die halbe Nacht bei der alten Hexe am Feuer verbracht und sich diese vergiftete Suppe eingelöffelt, oder war das alles nur ein schrecklicher Alptraum gewesen? Wenn er seine Gefährten so anblickte, wie sie sich mühsam wieder aufrap­pelten und zu sich kamen, konnte er sich vorstellen, wie er selbst aussah. Er tastete nach seinem Geldbeutel und fand ihn. Also hatten die Alte und ihr Sohn sie wenigstens nicht bestohlen. Verwirrt nestelte er den Beutel auf und schaute nach. Die zehn Silberstücke fehlten. Dann hatte er doch nicht geträumt! Endres trank jetzt ebenfalls vom Bachwasser und kam mit letzter Kraft wieder auf die Knie. Er sah zu Baldur hoch, das Wasser troff von seinen wirr abstehenden Haaren. »Was machen wir jetzt?«, fragte er. »Gehen wir zurück in den Wald, suchen diese verdammte Kate und brennen sie mitsamt der Hexe und ihrem schwachsinnigen Bastard nieder?«

Baldur dachte nach. Das wäre eigentlich seine normale Reaktion gewesen. Aber zugleich war da die Angst vor dem Unerklärlichen. Er konnte einem Feind oder auch einem Dutzend Auge in Auge mit der Waffe gegenüberstehen und kaltblütig bleiben, bis es zum Kampf kam. Dann verlor er alle Hemmungen und steigerte sich in eine blinde Raserei, bis auch der letzte Gegner vernichtet war und allmählich das Blutrauschen in seinen Ohren wieder nachließ. Aber da gab es ja auch noch eine andere Welt, nicht unbedingt das Jenseits, das die Kirche predigte, und das Fegefeuer, das ihn wegen seiner Todsünden, die er begangen hatte und ohne Reue noch begehen würde, erwartete, das war ihm vollkommen gleichgültig. Nein – es war die Welt der Magie, der Zauberei und des Aberglaubens, die ihm Unbehagen bereitete.

Er atmete tief durch und sah seine beiden gebeutelten Gefährten, die jetzt wieder einigermaßen auf ihren Beinen waren, mit festem Blick an. »Nichts da. Wir steigen auf unsere Pferde und reiten weiter. Und wenn einer von euch diese Geschichte und was da gesprochen wurde auch nur einmal erwähnt, dann schlage ich ihn eigenhändig tot. Diese Angelegenheit bleibt unter uns, die nehmen wir mit ins Grab. Habt ihr verstanden?«

Endres und Jobst konnten sehen, wie ernst es ihrem Anführer damit war. Statt einer Antwort schwangen sie sich auf ihre Pferde. »Worauf wartest du dann noch? Ich habe heute Nacht geschlafen und schlecht geträumt. Das war alles. Wir sollten zusehen, dass wir ein Wirtshaus finden, ich sterbe vor Hunger.« Damit galoppierte Jobst los. Endres wendete sein Pferd und jagte Jobst hinterher. Das konnte der ehrgeizige Baldur nicht auf sich sitzen lassen. Er hatte zwar Mühe, in den Sattel zu kommen, doch dann trieb er sein Pferd an, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Aber er war überzeugt, dass er dem Teufel auch noch von der Schippe springen würde. Er hatte noch nie von jemandem gehört, der ein grünes und ein braunes Auge hatte.

TEIL I

I

Der Monat Scheiding im Jahre des Herrn 1242 fing so an, wie der Monat Ernting aufgehört hatte. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet, es goss in Strömen. Die hügelige, bis zu einem fernen Horizont reichende Landschaft, normalerweise ein Flickenteppich aus Buchenwäldern und grünen Wiesen, ab und zu unterbrochen von felsigem Gestein und Nadelholz, verschwand immer wieder hinter einem trüben Vorhang aus Dunst und Regenschauern. Die Sonne blitzte nur gelegentlich zwischen den schwer am schwarzgrauen Firmament dahinjagenden Wolkentürmen auf.

Eine Gruppe Reisender fuhr auf einem Holzwagen einen holprigen, mit Pfützen und Schlaglöchern übersäten, schlammigen Weg entlang, der einem langgezogenen Hügelkamm folgte. Zwei Reitknechte bildeten die Vorhut, dann folgte der vierrädrige, offene Wagen, gezogen von zwei Pferden. Die Zügel führte ein alter Mann mit Brandnarben auf einer Gesichtsseite, er zählte bestimmt über vierzig Lenze. Neben ihm auf dem Kutschbock kauerte, fest in einen wollenen Kapuzenmantel gewickelt, aus dem nur eine Nasenspitze hervorlugte, eine zierliche, junge Frau, die man aus der Entfernung auch für einen Jungen hätte halten können: Anna von Hochstaden, genannt die Medica. Auf der Ladefläche hockten eine junge, blonde Frau, die den Kopf eines verletzten Mönchs im Schoß hielt, dessen Schulter blutdurchtränkt war, und ein junger, kräftiger Mann, dessen rechtes Bein in einer unförmigen Hülle aus einer grauen, mörtelartigen Masse steckte. Die ungewöhnliche Reisegesellschaft musste bis auf die Knochen durchnässt sein, sie wirkten, als wären sie mit ihren Kräften am Ende, aber sie zogen stoisch ihres Weges. Was blieb ihnen anderes übrig, als in der menschenleeren Gegend, wo es weit und breit kein Dach über dem Kopf gab, der widrigen Witterung zu trotzen?

Wenn der Himmel nicht wollte, waren Mensch und Tier eben den Unbilden des Wetters ausgeliefert. Da half kein noch so dicker Mantel oder eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze, nur die begründete Hoffnung, ihr Ziel, die Burg Greifenklau, bald zu erreichen und dort in trockene Kleidung zu schlüpfen und die Füße am Kaminfeuer der großen Halle wärmen zu können.

Der Mann auf dem Kutschbock mit den Brandnarben im Gesicht war Caspar aus Ahrweiler, der Ziehvater von Anna, die neben ihm saß. Die blonde Frau auf der Ladefläche war ihre Magd Berbelin, die den Kopf von Bruder Thomas in ihren Schoß gebettet hatte. Und dann gehörte noch Chassim von Greifenklau dazu; er hatte sich bei einem Turnierunfall ein Bein gebrochen, und die Medica hatte es mit einem bislang vollkommen unbekannten Verfahren eingegipst, das sie von ihrem jüdischen Medicus Aaron gelernt hatte. Bruder Thomas war Annas Freund und Infirmarius, der sich bei einem Schwertstreich eine Stichwunde eingehandelt hatte, als er die Medica vor einem tödlichen Angriff schützen wollte. Aber letzten Endes waren sie alle noch einmal mit dem Leben davongekommen und jetzt unterwegs nach Burg Greifenklau, um dort bei Chassims Vater Claus Ruhe und Erholung von ihren Abenteuern zu finden und einen Neuanfang zu machen. Dies war wörtlich zu nehmen, denn Anna und Chassim liebten sich und wollten heiraten.

Chassims Reitknechte bildeten die Vorhut und waren ein gutes Stück vorausgeritten; jetzt kamen sie mit Einhalt gebietenden Gesten zurückgaloppiert. Caspar hielt das Gespann an.

»Was gibt es?«, fragte Anna.

Der Bursche mit den Sommersprossen zeigte nach vorne. »Euer Gnaden … Dort unten im Tal … Es sieht nach einem Überfall aus!«

Chassim, der es verfluchte, dass er mit seinem gebrochenen Bein zur Untätigkeit verdammt war, war kurz davor aufzuspringen, was ihm sein Zustand natürlich nicht gestattete. »Fahrt so weit vor, dass wir sehen können, was da vor sich geht!«, befahl er. »Aber achtet darauf, dass wir nicht bemerkt werden.«

Die beiden Reitknechte stiegen von ihren Gäulen und führten die Zugpferde des Karrens am Zügel, bis sie an eine Stelle kamen, wo sich zur linken Hand eine Senke auftat. Einen Steinwurf entfernt, vielleicht dreißig Fuß unter ihnen, war eine Lichtung, über der, wie aus höherer Fügung, die dicke Wolkendecke aufriss und gleißendes Sonnenlicht auf ein erbittert geführtes Hauen und Stechen zwischen zwei Gruppen Bewaffneter warf. Die Kampfgeräusche, schepperndes Geklirr und Schreie, drangen bis zu ihnen herauf. An der Heftigkeit der Auseinandersetzungen konnte es keinen Zweifel geben, es ging um Tod und Leben. Alle starrten sie angestrengt auf das Scharmützel vor ihren Augen, um auszumachen, wer da gegen wen vorging – und wer den Kürzeren ziehen würde. Es handelte sich offensichtlich um einen Überfall auf einen Treck mit einem halben Dutzend schwer beladenen Wagen von Kaufleuten, die eine Handvoll berittene Söldner als Begleitschutz hatten. Zur Überraschung aller sprangen schwer bewaffnete Soldaten aus den mit Planen bespannten Fuhrwerken, als die Wegelagerer gerade die Oberhand zu gewinnen schienen, und entschieden das nun ungleiche Gefecht schnell zu ihren Gunsten. Ein paar der Strauchdiebe suchten ihr Heil in der Flucht und wurden verfolgt und niedergemacht; der Rest, ungefähr zehn Mann, ergab sich der Übermacht. Nur einer wehrte sich aus Leibeskräften und schlug um sich wie ein Rasender, bis auch er ins Stolpern geriet, einen Schlag auf den Kopf bekam und endgültig niedergerungen und gefesselt wurde. Das ganze Schauspiel hatte nicht länger als ein paar Minuten gedauert, und die unfreiwilligen Zuschauer auf dem Höhenweg glaubten schon, sich ungesehen zurückziehen zu können, da wurden sie vom Anführer der Soldaten entdeckt, der mit dem Schwert nach oben in ihre Richtung wies und ein paar Befehle bellte. Sofort ritten drei Männer los, um nachzusehen, ob dort auf dem Hügelkamm etwa die Reserve der Wege­lagerer lauerte, aber nicht einzugreifen wagte.

Der Pferdeknecht mit den Sommersprossen wurde unruhig und fragte den Grafen: »Herr – was sollen wir tun?«

Chassim zuckte mit den Schultern. »Fahren wir ihnen entgegen. Es sind Männer des Vogtes, wir haben nichts zu befürchten.«

Der Weg gabelte sich ein Stück weiter vorne, sie schlugen den nach unten führenden Passweg ein, auf dem ihnen schon die Reiter mit gezückten Waffen entgegenkamen.

»Wer seid Ihr?«, fragte der vorderste, ein Schwarzbärtiger.

Chassim hob seine Hand, um anzuzeigen, dass er das Gespräch führen würde. »Verzeiht, dass ich nicht aufstehen kann, aber ich habe eine Verletzung, die mich daran hindert. Mein Name ist Chassim von Greifenklau.«

Der Bärtige blieb misstrauisch. »Wie ein Graf seht Ihr mir nicht aus.«

Chassim lächelte zuvorkommend. »Das kann ich Euch nicht verdenken. Aber wir sind seit Tagen bei diesem scheußlichen Wetter unterwegs. Bringt uns zum Vogt. Er kennt mich.«

Der bärtige Soldat umrundete auf seinem Pferd argwöhnisch den Wagen und musterte jeden Einzelnen von ihnen. »Folgt mir!«, rief er ihnen zu, ehe er sein Pferd wendete und mit seinen Männern wieder zur Lichtung hinunterritt.

Am Ende der Wagenkolonne erwartete sie der Vogt, ein stämmiger, glatzköpfiger Mann mit Habichtsblick, schon auf seinem unruhigen Pferd. Er erkannte Chassim und begrüßte ihn mit einer angemessenen Verneigung des Kopfes. »Graf Chassim.«

Anna war zu ihrem Freund auf die Ladefläche geklettert und hatte ihm aufgeholfen, damit er dem Vogt einigermaßen würdevoll gegenübertreten konnte. »Gott zum Gruß, Vogt. Sagt, was ist hier geschehen?«

Der Vogt wies mit dem Kinn auf die gefesselten Männer auf den Planwagen. Sie sahen wie vagabundierende Räuber aus: wild, verwegen und schmutzig. Aber Chassim und seine Reisebegleiter machten auch keinen besseren Eindruck, nass wie sie waren.

»Das sind Plackerer, wir sind ihnen schon eine Weile auf den Fersen. Sie sind uns immer wieder entwischt, aber jetzt haben wir ihnen eine Falle gestellt. Das hier …«, er wies auf die Männer, die wie wohlhabende Kaufleute gekleidet ­waren und beim Aufladen der getöteten Männer halfen, »… sind alles kampferprobte Männer, keine Kaufleute. Wir haben durchsickern lassen, dass wir mit einer besonders wertvollen Fracht unterwegs sind, und die Wegelagerer sind darauf hereingefallen. Wir haben Glück gehabt – ihren Anführer Baldur von Veldern haben wir auch erwischt.«

Chassim war erstaunt. »Baldur von Veldern war ihr Anführer? Er war mit meinem Vater auf dem letzten Kreuzzug. Vor weit über zehn Jahren.«

Der Vogt nickte. »Ihr habt richtig gehört. Baldur von Veldern ist ein geächteter Ritter. Er ist seit langer Zeit in Acht und Bann. Aber das hier war sein letzter Überfall.«

Anna schob ihre Kapuze in den Nacken, so dass erkennbar wurde, dass sie nicht etwa Chassims Knappe war, und fragte: »Was geschieht mit den Männern?«

Der Vogt runzelte die Stirn und blaffte sie an: »Wer seid Ihr?«

»Mein Name ist Anna von Hochstaden.«

Der Vogt sah Anna skeptisch an, aber dann ließ er sich von Haltung und Gestus überzeugen, bevor Einsicht und Erkenntnis sein Antlitz überzogen.

»Verzeiht mir, Euer Gnaden, das wusste ich nicht. Ihr seid die Medica?«

»Ja. So ist es.«

»Ich habe schon von Euch gehört. Ihr sollt wahre Wunderdinge vollbracht haben.«

»Die Leute erzählen viel. Ich tue nur, was in meiner Macht steht.«

Der Vogt nickte. »Baldur von Veldern und seine Männer werden in Köln vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Man wird sie ausnahmslos aufknüpfen. Aber es trifft sich gut, dass Ihr hier seid. Es heißt, Ihr versteht Euch auf alle Arten von Krankheiten und Verletzungen. Könnt Ihr mir den Gefallen tun und einmal nach Ritter Baldur sehen? Er wurde ziemlich übel erwischt und gibt keinen Ton mehr von sich. Ich möchte nicht, dass er sich im letzten Moment noch der irdischen Gerechtigkeit entzieht, indem er auf der Fahrt nach Köln sein erbärmliches Leben aushaucht. Darf ich Euch bitten?«

Er hielt ihr die Hand hin, aber Anna sprang einfach vom Wagen und gab ihm zu verstehen, dass sie ihm folgen würde. Der Vogt nickte und ritt voraus zum vorletzten Wagen, wo ein Mann mit langen Haaren und Kettenhemd auf der Ladefläche gefesselt lag. Er blutete aus mehreren Wunden, besonders am Kopf, und sah aus, als habe die Seele seinen Leib schon verlassen. Der Vogt sprang vom Pferd und wollte Anna Hilfestellung geben, aber die Medica kletterte schon gewandt wie eine Katze auf den Wagen und kniete sich vor den Plackerer. Sie drehte ihn auf den Rücken und untersuchte ihn so, wie sie das von ihrem Lehrer, dem Medicus Aaron, gelernt hatte. Schnell stellte sie fest, dass sein Herz noch schlug und er atmete. Anna tastete seinen Kopf ab, der Schädel schien nicht gebrochen zu sein, dann wandte sie sich dem Vogt zu. »Er lebt. Und bis auf seine Kopfwunde kann ich keine Verletzung feststellen, die lebensbedrohlich wäre. Besorgt mir ein paar trockene Tücher, dann werde ich ihn verbinden, damit er nicht verblutet.«

Der Vogt stieg auf sein Pferd und ritt zur Spitze der Wagenkolonne. In diesem Augenblick, als Anna mit Baldur von Veldern allein war, schlug dieser die Augen auf und starrte ihr ins Gesicht. »Nein, das kann nicht sein … Nein …«, stammelte er bei Annas Anblick, und seine Augen weiteten sich vor Schreck. »Wer bist du?«, brachte er schließlich heraus.

»Ich bin eine Medica. Ihr werdet überleben, aber ich weiß nicht, ob das ein Trost für Euch ist. Der Vogt wird Euch und Eure Männer vor Gericht stellen.«

»Sag mir deinen Namen.«

»Anna von Hochstaden.«

»Anna von Hochstaden. Danke. Dann weiß ich wenigstens, wie meine Todesbotin heißt. Du bist das Mädchen mit den verschiedenfarbigen Augen, das mir den Tod bringen wird.« Er lachte ein müdes Lachen. »Na, ich habe ihn allemal verdient. Anna, du kannst mir einen Gefallen tun …«

Er flüsterte nur noch, so dass Anna ihr Gesicht nahe an das seinige bringen musste, um ihn zu verstehen. »In meinem Gürtel steckt ein Dolch. Wenn du eine Medica bist, weißt du, wo du ihn ansetzen musst, damit es schnell geht. Tu es jetzt, dann haben wir’s hinter uns.«

Anna stand auf. »Ich bin nicht Euer Richter. Und Euer Henker schon gleich gar nicht.«

»Aber du bist eine Hexe.«

»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet. Ihr schweigt jetzt besser, sonst kann ich Euch nicht verbinden.«

Der Vogt kam mit einem Leintuch zurück, das Anna geschickt in Streifen zerriss. Sie kniete sich wieder hin und hob den Kopf des Plackerers hoch, während der Vogt zusah. Keiner sagte ein Wort. Ritter Baldur hatte wieder die Augen geschlossen, während Anna seine blutende Kopfwunde straff mit einem Leinenstreifen verband. Dann stand sie wieder auf und sah den Vogt an. »Mehr kann ich hier nicht tun. Aber er wird die Fahrt wohl überleben.«

»Das reicht vollkommen. Ich danke Euch.«

Anna sprang vom Wagen, als sich Ritter Baldur, so gut es ging mit seinen gefesselten Händen und Beinen, aufrichtete und brüllte: »Lebt wohl, Medica. Wenn wir uns das nächste Mal über den Weg laufen, sind wir entweder schon direkt in der Hölle oder auf dem Weg dorthin!« Dann lachte er ein hässliches Lachen.

»Kennt er Euch, oder hat er seinen Verstand verloren?«, fragte der Vogt erstaunt.

»Weder noch, ich fürchte, das ist wohl seine Natur«, antwortete die Medica und ging zu ihrem Wagen zurück. Sie stieg zu Caspar auf den Kutschbock. »Was war mit diesem Ritter? Was hat er von dir gewollt?«, begehrte Chassim zu wissen.

»Nichts von Bedeutung. Fahren wir jetzt endlich zur Burg?«

»Ja«, sagte Chassim. »Hier haben wir nichts mehr verloren.«

Caspar trieb die Zugpferde mit den Zügeln und einem Zungenschnalzen an, und sie ließen das Schlachtfeld hinter sich.

Der Vogt sah ihnen nach. Das war also die Medica. Er hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Viel größer und eindrucksvoller. Dabei war sie nur eine kleine, schmächtige junge Frau. Fast noch ein Mädchen.

II

Es war am Ende des Monats Scheiding im Jahre des Herrn 1242, als Konrad von Hochstaden, der mächtige Erz­bischof von Köln, nach Wochen des selbst auferlegten strengen Fastens und Betens wieder dank Gottes Hilfe in sein normales Leben zurückfand.

Seit er sich nach seiner gescheiterten Mission in Oppenheim in die Abgeschiedenheit seines Klosters Heisterbach im Tal des heiligen Petrus zurückgezogen hatte, kapselte er sich im Wohnbereich des Abtes hermetisch von der Außenwelt ab und hatte zu keiner Menschenseele mehr gesprochen. Niemand hatte Zutritt zu ihm, nicht einmal der Abt des Klosters, Pater Sixtus, dem strengstens jegliche Störung, gleich welcher Art und Wichtigkeit, untersagt wurde. Und wer war Pater Sixtus, dass er sich einer so eindeutigen Anordnung seines Herrn widersetzt hätte? Im Gegenteil, er ging sogar darüber hinaus und befahl, dass von nun an im Umkreis des äbtlichen Aedificiums für alle Mönche und Laienbrüder absolute Schweigepflicht galt. Bei Tag und bei Nacht. Und wenn doch einmal ein Novize im jugendlichen Überschwang eine der schweren Türen im Querhaus zu laut ins Schloss fallen ließ, war eine drakonische Strafe fällig, sollte er dabei erwischt werden.

Der Innenhof des Klosters, dessen Geviert von den Kreuzgängen umschlossen war und in dem der Brunnen friedlich vor sich hin plätscherte, war zur verbotenen Zone erklärt worden, falls Seine Eminenz, der Erzbischof, geruhte, sich dort zur Kontemplation aufzuhalten – was er nicht tat.

Pater Anselm, der Cellerar, brachte auf Befehl seines Abtes einmal am Tag nach der Complet Essen aus dem Refek­torium herüber und stellte es im Gang vor der Tür zu den Abtgemächern ab. Dinkelbrei, Kichererbsensuppe, Gersten­eintopf, Fischsülze, Forelle im Teigmantel, Aalpastete, zimtbestreuter Reis mit Mandelmilch, sogar Rehpfeffer – alles, was die klösterliche Küche zu bieten hatte. Wenn er dann nach der Mette zurückkam, um nachzusehen, waren der Teller und das dazugehörige Fladenbrot stets unberührt.

Der Erzbischof nahm nur mit Wasser verdünntes Bier zu sich und trug ein Cilicium aus Pferdehaaren und Schweineborsten. Nachts kasteite er sich zusätzlich mit einer neunschwänzigen Katze und betete auf dem harten und eiskalten Steinfußboden, bis er vor Schmerzen in den Knien nicht mehr konnte und vornüberfiel. Aber da auch Schlafentzug zu seiner selbst gewählten Askese gehörte, zwang sich der Erz­bischof dazu, wach zu bleiben, indem er endlose Anrufungs­litaneien mit sich selbst in den Boden murmelte. Und wenn er damit fertig war, fing er wieder von vorne an, bis er schließlich doch in einen unruhigen Schlaf dämmerte, in dem ihn unzählige wirre Alpträume apokalyptischen Ausmaßes quälten, bis er nur umso erschöpfter wieder erwachte. Dann flehte er Gott an, bettelte um ein Zeichen für eine Läuterung, eine Vergebung. Aber Gott antwortete seinem treuesten Diener nicht.

Abt Sixtus, der heimlich ab und zu an der Tür zu den Abtgemächern horchte und dann einen Blick durch das Schlüsselloch riskierte, machte sich allmählich größte Sorgen um seinen Herrn und die Zukunft des Klosters, des Bistums und des Reiches. Aber an wen sollte er sich wenden, wenn sich der Zustand des Erzbischofs weiter verschlimmerte? Niemand durfte davon erfahren, die Gegner des Erzbischofs, und davon gab es viele, hätten jede Schwäche sofort zu ihrem Vorteil ausgenutzt. Papst Coelestin IV. war nach nur 17 Tagen Pontifikatdauer im Monat Neblung 1241 gestorben. Nach nun über zehn Monaten Sedisvakanz war immer noch kein neuer Papst in Sicht, den man in dieser heiklen Angelegenheit um Rat hätte angehen können. Verzweifelt betete Pater Sixtus vor dem Altar der Klosterkirche darum, dass der Erzbischof wieder zu alter Stärke und Führungskraft zurückfand. Je länger das selbstzerstörerische Hadern des Erzbischofs andauerte, desto mehr befürchtete Abt Sixtus, dass mit Armageddon Heisterbach gemeint war und der Tag des Jüngsten Gerichts nicht mehr allzu fern war.

Der Erzbischof kniete vor seinem Hausaltar, einem Marienbild. Aber er konnte es nicht ansehen, er konnte nur in sein Inneres blicken, das schwarz war, schwarz wie der abgrundtiefe Groll, den er gegen sich selbst hegte. Bei seinem Vor­gehen gegen Anna, die häretische Hexe aus Ahrweiler, hatte Konrad von Hochstaden als Erzbischof und selbsternannter Inquisitor auf ganzer Linie versagt. Da hatte ihm Gott diese von einem jüdischen Medicus unterrichtete Medica auf dem silbernen Tablett serviert, und ihm war es nicht gelungen, sie dem Scheiterhaufen zu überantworten, wie es sich gehört hätte, um ihre von teuflischen Irrlehren beherrschte Seele zu reinigen. In seiner Verblendung hatte er auch noch übersehen, dass diese Hexe mit den verschiedenfarbigen Augen seine Nichte war. Die totgeglaubte Tochter seines ermordeten Bruders, die ihm diese unglaubliche Tatsache auch noch ins Gesicht spie, als er schon sicher war, sich ihrer für alle Zeiten entledigt zu haben. Nun war sie unangreifbar für ihn. Er wusste nicht, wie er ihrem ruchlosen ketzerischen Treiben als Wunderheilerin ein Ende setzen sollte. Er selbst war gezwungen gewesen, sie für unschuldig zu erklären, beim Gedanken an diesen erniedrigenden und demütigenden Vorgang schoss der blinde Hass wie schwarze Galle in ihm hoch.

Anna von Hochstaden, wie sie wirklich hieß, musste mit dem Teufel im Bunde sein, anders war es nicht zu erklären, wie sie sämtliche Prüfungen, die das Schicksal und der Wille des Erzbischofs ihr auferlegten, nicht nur schadlos überstanden hatte, sondern, wie er zähneknirschend konzedieren musste, nur noch größer daraus hervorgegangen war. Es ging sogar das Gerücht um, dass Graf Chassim von Greifenklau sie ehelichen wollte. Nach seinem schweren Turnierunfall, den normalerweise niemand überlebt hätte, war er halbtot ins Haus der Medica gebracht und dort behandelt worden – auf welche widernatürliche Art auch immer. Nicht nur, dass Anna eine Buhlschaft des Teufels war – in dieser Zeit hatte sie mit ihrer Hexenkunst das gebrochene Bein des Junkers geheilt und die Gunst der Stunde genutzt, indem sie Geist und Seele des jungen Grafen in ihren Bann geschlagen und ihn zu ihrem Liebhaber gemacht hatte.

Und für diese Metze war auch noch sein übereifriger, aber dummer Neffe Gero in den Tod gegangen. Gero von Hochstaden, den der Erzbischof als den Sohn sah, den er nie gehabt hatte, war davon besessen, Anna ins Jenseits zu befördern. In seinem blindwütigen Zorn, der ihn erfasst hatte, als Anna nicht wie von seinem Onkel geplant auf dem Scheiterhaufen endete, wollte er sie eigenhändig vernichten und kam dabei elendiglich ums Leben. Wenn das nicht ein deutliches Zeichen dafür war, dass sie Hexenkräfte besaß und den Fluchzauber ausüben konnte! Jetzt, im Moment der größten Verzweiflung und tiefsten Seelenpein, wünschte sich Konrad von Hochstaden, er wäre auch dazu in der Lage. Dann hätte er seine ketzerische Nichte dahin gewünscht, wo sie hingehörte: in die ewige Verdammnis!

Es dauerte zwölf qualvolle Tage und Nächte, bis er endlich von seiner inneren Zerrissenheit und Selbstzerfleischung erlöst wurde und die lang ersehnte Vision kam, die Eingebung des Herrn.

In seiner Verzweiflung hatte der Erzbischof schon befürchtet, dass der Herr ihn für immer mit Nichtachtung strafen wollte. Doch dann setzte die göttliche Offenbarung auf einmal und völlig unerwartet mit so einer Wucht ein, dass Konrad von Hochstaden glaubte, er würde von den himmlischen Heerscharen emporgetragen, um sich selbst auf dem nackten Steinfußboden zu sehen, wie er da lag, die Arme von sich gestreckt in seinem Büßerhemd, ein armseliges Geschöpf Gottes, einzig und allein Seiner Gnade überantwortet, die nun nicht länger auf sich warten ließ. Ihm fielen plötzlich die Worte aus dem Evangelium des Johannes ein, Kapitel 9, Vers 25, die auf den Torbogen der Hauptpforte des Klosters in Stein gemeißelt waren: »Eines weiß ich wohl: dass ich blind war und bin nun sehend.«

Schlagartig wurde dem Erzbischof dabei bewusst, dass Gott ihn in Seiner unendlichen Weisheit nur auf die Probe gestellt und seinen Glauben geprüft hatte! Warum hatte er sich nicht an Hiob aus dem Alten Testament erinnert, der auf Betreiben des Satans unmenschlich harte Prüfungen durch den Herrn bestehen musste und daran fast zerbrochen wäre? Aber war Hiob nicht am Ende doppelt von Gott für seine Standhaftigkeit belohnt worden?

Konrad von Hochstaden begriff auf einmal nicht mehr, wie er auch nur im Geringsten daran zweifeln konnte, dass der Herr ihn dazu berufen hatte, ein Werkzeug Seines göttlichen Willens zu sein!

Schließlich war nur er, der von Gott und der Kirche eingesetzte Erzbischof, dazu imstande, kraft seines Einflusses, seines Standes und seines Amtes endlich die größte Kathedrale der gesamten Christenheit zur höheren Ehre des Herrn in Köln errichten zu lassen!

Nur er, Konrad von Hochstaden, war dazu in der Lage, dem Heiligen Römischen Reich seinen früheren Glanz und seine ihm zustehende Glorie unter der Führung der Heiligen Mutter Kirche zurückzugeben, indem er die Dynastie der Staufer mit dem ketzerischen Kaiser Friedrich II. und dessen Sohn Konrad IV. an deren Spitze zertrat wie eine lästige Schabe.

Und nur er, Konrad von Hochstaden, war dazu ausersehen, die Hexe Anna, die Medica, zu vernichten.

Er wusste auch schon wie.

Es war so einfach.

Schließlich hatte der Herr ihm in einer Vision gezeigt, was er tun musste.

Er würde noch heute damit anfangen, Gottes Eingebung in die Tat umzusetzen.

Langsam erhob er sich, spirituell so gestärkt an Geist und Seele, dass er halbwegs Herr über seine leibliche Schwäche war, die nach Tagen und Wochen des Fastens und Kasteiens nicht ausblieb. Er zitterte am ganzen Körper, und kalter Schweiß quoll ihm aus allen Poren.

Aber dem Zustand konnte schließlich abgeholfen werden.

Konrad von Hochstaden riss die Tür auf und schrie in den Gang hinaus, so dass der Novize, der auf Geheiß des Abtes ständig auf einem Schemel sitzend vor der Tür auf Befehle des Erzbischofs warten musste, zusammenzuckte und von seiner kauernden Haltung auffuhr, als stünde er dem Leibhaftigen gegenüber.

»Cellerar«, rief Konrad von Hochstaden, »Cellerar!«

Und wahrlich, mit seinem härenen Büßerhemd, das zerfetzt und blutbesudelt war, seinem ausgezehrten, unrasierten Antlitz, den Pockennarben und den fiebrig glänzenden, rot­unterlaufenen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen und aus denen das Feuer des Fanatismus blitzte, wirkte der Erzbischof wie eine fleischgewordene Erscheinung Luzifers.

Der Novize wich instinktiv zwei Schritte zurück, dabei starrte er seinen obersten Dienstherrn schreckensbleich an und bekreuzigte sich unwillkürlich.

Konrad von Hochstaden sah durch ihn hindurch und brüllte, dass es durch das halbe Kloster hallte. »Cellerar, bring mir was zum Essen! Und bring mir Wein. Ich bin von den Toten auferstanden!«

III

Obwohl Ambros, der vierzehnjährige Hütejunge von Burg Greifenklau, scharfe Augen hatte, traute er ihnen nicht ganz, bei dem Anblick, der sich ihm bot. Er war noch im späten Abendlicht und bei strömendem Regen auf dem Zufahrtsweg zur Burg mit zwei bockigen Ziegen unterwegs, die entlaufen waren und die er mühselig wieder eingefangen hatte, als er hinter sich, gerade als er die Ziegen durch das zweiflüglige, offenstehende Tor scheuchen wollte, einen scharfen Pfiff hörte. Als er sich umdrehte, sah er durch den grauen Regenvorhang einen seltsamen Tross, der sich den Weg zur Burg hinaufmühte.

Die Burganlage, bestehend aus steinernem, dreistöckigem Herrenhaus, Stallungen, Gesindehaus, Waschhaus, mehreren geräumigen Vorratsscheunen und ringsum durch eine doppelt mannshohe Palisade aus zugespitzten Holzpfählen mit Wehrgang geschützt, thronte strategisch günstig auf einer Anhöhe. Der Weg zum Tor führte in Serpentinen bergauf, so dass man einen perfekten Blick auf alles hatte, was sich auf die Burganlage zu bewegte. Ambros wusste, dass er sofort Meldung machen musste, wenn sich jemand der Burg näherte – es war schließlich immer wieder Gesindel unterwegs, das darauf aus war, eine gut gefüllte Vorratskammer auszurauben oder Vieh zu stehlen, wenn sich die Gelegenheit bot.

Er überlegte krampfhaft, was er tun sollte. Denn was sich da jetzt den Weg hochkämpfte, sah ihm irgendwie nicht ganz geheuer aus. Ein von zwei Pferden gezogener vierrädriger Karren quälte sich die schlammige Straße hoch. Zwei junge Kerle gingen voraus, sie führten ihre eigenen Pferde am Zügel, und mit der freien Hand zerrten sie die Zugpferde an der Kandare. Die Zufahrtsstraße war absichtlich steil angelegt, um einem potenziellen Angreifer das Näherkommen zu erschweren, und die Zugpferde hatten Mühe, das klobige Gefährt zu ziehen und in Bewegung zu halten. Sie wurden von zwei jungen Frauen und einem älteren Mann unterstützt, die mit all ihrer Kraft den Wagen schoben. Jetzt erkannte Ambros, wer da vollkommen durchnässt auf dem Kutschbock saß und die Pferde mit Rufen und Zügelschnalzen anfeuerte. Sein junger Herr, Chassim von Greifenklau, der ein unförmiges weiß-graues Gebilde an seinem rechten Bein trug. Auf der Ladefläche des Karrens lag ein riesiger Mönch, erkennbar an seiner schwarzen Kutte. Den hageren Mann mit von Brandnarben entstelltem Gesicht, der sich hinten gegen die Bordwand stemmte, hatte Ambros noch nie gesehen. Genauso wenig wie die zwei jungen Frauen, die beim Schieben halfen, klein, dunkelhaarig und mädchenhaft die eine, blond und kräftig die andere. Alles in allem höchst verdächtige und ziemlich verwahrlost wirkende Gestalten, die den Eindruck erweckten, als wären sie die einzigen Überlebenden, die sich mit Müh und Not von einem weit entfernten Schlachtfeld nach Hause durchgeschlagen hatten. Und nach gewonnener Schlacht sahen sie jedenfalls nicht gerade aus. Wenn er nicht seinen Herrn trotz des dichten Regens erkannt hätte, wäre Ambros jetzt doch schleunigst in den Burghof gerannt, hätte die Torflügel geschlossen und Alarm geschlagen, sicherheitshalber.

Als er Chassim heftig winken sah, wurde ihm die schwierige Entscheidung, was er tun sollte, endlich abgenommen. Er löste sich aus seiner Erstarrung, trieb die zwei Ziegen mit seinem mitgeführten Zweig in die Burganlage und rief, so laut er konnte, gegen den prasselnden Regen an. »Unser junger Herr ist zurück! Er braucht Hilfe! Schnell, macht schon!«

Und da kamen sie aus den Stallungen, der Scheune und dem Gesindehaus, wo sie im Trockenen je nach Pflicht und Tätigkeit gearbeitet hatten, Mägde und Knechte, und stürmten ungeachtet des widrigen Wetters durch das Tor den Weg hinunter, um dem Wagen und den sieben klatschnassen Ankömmlingen den beschwerlichen Rest des Berges hinaufzuhelfen und sie alle samt Pferden in der großen Scheune erst einmal ins Trockene zu geleiten.

Claus von Greifenklau, Chassims Vater, war alt und gebrechlich, und seine Sehkraft hatte in den letzten Jahren so stark nachgelassen, dass er fast blind war. Aber sein Lebensmut war ungebrochen, sein Gedächtnis und sein Verstand waren scharf wie eh und je, und sein Gehör funktionierte noch ausgezeichnet. Er trug seine dichten, weißen Haare lang und wurde noch immer als die Autorität respektiert, die er seit vielen Jahrzehnten für seine Untertanen darstellte.

In letzter Zeit fror er häufig, und so war sein Lieblingsplatz am Kamin der großen Halle im Herrenhaus, in der früher so viele und fröhliche Feste stattgefunden hatten, wie er jetzt melancholisch dachte, als er zwei Holzscheite in das prasselnde Kaminfeuer warf. Seit sein einziger Sohn Chassim seine Frau und das Kind bei der Geburt verloren hatte, das war jetzt über drei Jahre her, hatte es keinen Anlass für ein Fest mehr gegeben. Und jetzt war auch noch Chassim beim Turnier in Oppenheim schwer verletzt worden, wie er von seinem Schwiegersohn Graf Georg von Landskron wusste, der ihm regelmäßig durch Brieftauben Botschaften schickte. Seit Wochen wartete Claus von Greifenklau auf eine neue Nachricht. Er wusste nur, dass Chassim zwischen Leben und Tod schwebte und von einer Medica gepflegt wurde, von der es hieß, dass sie es mit dunklen Mächten hielt. Angeblich hatte sie sogar bei hoffnungslosen Fällen eine Heilung bewirkt. Claus von Greifenklau gab nicht viel auf Gerüchte, die einfachen Leute waren oft abergläubisch und redeten viel, wenn der Tag lang war. Er war zeit seines Lebens immer ein Mann der Tat gewesen und nie ein Freund von In­trigen, Kabalen und Verleumdungen. Seine Devise hieß: »Sag ja oder nein, aber nichts dazwischen!« Das hatte sein früherer, im fernen Sizilien weilender Freund und Kampfgefährte, Kaiser Friedrich II., immer so an ihm geschätzt, als er noch an des Kaisers Seite geritten und sein getreuer Gefolgsmann im letzten Kreuzzug gewesen war. Auch heute noch, über ein Jahrzehnt später, war er ein loyaler Anhänger der Staufer und würde es bis in den Tod hinein bleiben.

Bei dem Gedanken an für immer vergangene Abenteuer in fernen Ländern und seine verlorene Jugend wurde ihm dann doch manchmal ein wenig wehmütig ums Herz. Aber dann riss er sich stets gleich wieder zusammen. Bei Gott, er hatte nicht vor, sich in seiner eigenen Sentimentalität und Rührseligkeit zu verkriechen. Seine Sorge galt ganz seinem Sohn, von dem er hoffte, dass er bei dieser Medica, die angeblich Wunder wirken konnte, in guten Händen war und wieder gesund wurde. Er wusste, dass die Medica zusammen mit ihrem jüdischen Lehrmeister das Leben seiner Tochter Ottgild, die mit dem Grafen von Landskron verheiratet war, und deren Sohn bei einer schweren Geburt gerettet hatte und dass Chassim seither ein Auge auf sie geworfen hatte. Das hatte ihm sein Sohn gestanden, bevor er im Sommer mit seinen zwei Pferdeknechten zum Turnier nach Oppenheim aufgebrochen war. Und jetzt war es Herbst geworden. In den langen und einsamen Abendstunden vor dem Kamin, in denen er vor Sorge um seinen Sohn nicht einschlafen konnte, betete er inständig um die Gnade, Chassim doch noch gesund wiederzusehen, bevor Gott der Herr ihn, Claus von Greifenklau, zu sich rufen würde.

Er warf noch einen Scheit in das Kaminfeuer, als er plötzlich von draußen laute Schreie und Stimmen vernahm. Was war da los? Er stemmte sich aus seinem Lehnstuhl, den ihm der Zimmermann des Dorfes, das zu seiner Grafschaft gehörte, nach seinen Angaben geschreinert hatte, und wollte gerade zur Tür gehen, die ins Freie führte, als sie schon aufgerissen wurde und ein aufgeregter Bursche, es war Ambros, wie er an der Stimme erkannte, ohne das übliche Anklopfen laut hereinplatzte und nach Atem ringend kundtat: »Verzeiht, Euer Gnaden – aber Euer Sohn Chassim ist soeben eingetroffen!«

Der alte Graf konnte es nicht fassen – seine Gebete waren erhört worden! Er vernahm laute Stimmen, Lachen, Schritte und dann ein seltsames Geräusch, das sich anhörte, als komme jemand mit einer Krücke über den Steinboden auf ihn zugehumpelt, und dann wurde er von einem kräftigen, wenn auch patschnassen Kerl umarmt, der nur sein Sohn sein konnte. »Chassim«, war alles, was er herausbrachte, als er ihn an sich drückte und vergeblich versuchte, seine Tränen zurückzuhalten, »Chassim … Gott sei Dank, du lebst!«

»Und wie, Vater!«, war die lachende Antwort seines Sohnes, »was bin ich froh, dich gesund und lebendig wiederzusehen!«

»Und ich erst, mein Sohn, und ich erst!«, flüsterte der alte Graf.

Chassim löste sich und legte seinem Vater den Arm um die Schultern. »Vater, ich möchte dir jemand vorstellen.«

»Du hast sie mitgebracht?« Claus von Greifenklau lächelte unter Tränen, für die er sich nicht schämte. »Deine Medica?«

»Ja, Vater. Das ist Anna. Anna, das ist mein Vater.«

Er schob Anna, die genauso nass war wie er, nach vorne. Anna erkannte sofort den Schleier auf den Augen des Grafen und wusste, dass er kaum etwas sehen konnte. Sie machte einen Schritt auf den Grafen zu. »Euer Sohn hat mir schon so viel Gutes über Euch erzählt. Ich freue mich, Euch endlich zu treffen.«

Dann nahm sie ohne jegliche Scheu die rechte Hand des Grafen und führte sie an ihr Gesicht, so dass der blinde alte Mann ertasten konnte, wie sie aussah, was er mit zitternden Händen behutsam tat. »Du bist jung und du bist schön. Und klug bist du auch, das weiß ich von meinem Sohn. Sei mir willkommen.« Er küsste sie auf die Stirn und umarmte sie. Dann breitete er die Arme aus und befahl, weil er zu Recht annahm, dass genügend Neugierige aus seinem Gesinde ­zusammen mit den Gästen hereingekommen waren: »Holt Tische und Bänke herein, entfacht das Feuer im Herd, und bereitet alles vor, was man für ein festliches Bankett braucht! Mein Sohn ist zurück, und er hat eine Frau mitgebracht! Wenn das kein Grund zum Feiern ist!«

Seine Stimme ging im Jubel der Anwesenden unter. Im Nu herrschten wieder Leben und Fröhlichkeit in der düsteren Halle, Fackeln und Kerzen wurden zu Dutzenden entzündet, und ein geschäftiges Treiben begann in den Wirtschaftsräumen. In der Küche, die neben der Halle lag und die eine so große Herdstelle hatte, dass man dort einen ganzen Ochsen braten konnte, setzte man den Befehl des Grafen, so schnell es überhaupt möglich war, in die Tat um. Jeder, egal ob groß oder klein, alt oder jung, packte eifrig mit an. Es wurde Wein geholt und geschlachtet, gekocht, gebraten und gerührt, was Stall, Speicher, Vorratskammern und Keller hergaben.

Die durchnässten Ankömmlinge wurden derweil im daneben liegenden Waschhaus mit trockener Kleidung versorgt. Danach kümmerte sich Anna gleich als Erstes um ihren Famulus und Freund Bruder Thomas, dessen tiefe Fleischwunde während der Fahrt auf dem Wagen wieder aufge­brochen war. Die Medica ließ sich von ihrer Magd Berbelin, die stumm war, frisches Linnen, Nadel und Faden bringen und konnte Bruder Thomas jetzt endlich so versorgen, wie es nach ihrem überhasteten Aufbruch aus Oppenheim nicht möglich gewesen war. Leider hatte sie keinen Schlafschwamm zur Verfügung, mit dem sie ihn hätte betäuben können, ihre ganzen Vorräte waren von der Soldateska des Erzbischofs vernichtet worden, so dass Bruder Thomas mit der alten Methode vorliebnehmen musste: Berbelin gab ihm ein mit Stoff umwickeltes Stück Holz, auf das er beißen konnte, während Anna unter den erstaunten Blicken der neugierigen Mägde mit ihren kundigen Händen die klaffende Wunde mit sechs schnell ausgeführten Stichen vernähte. Bruder Thomas hielt sich tapfer. Zwar stand ihm der Schweiß auf der Stirn, aber er hatte seiner Freundin oft genug zugesehen, um zu wissen, dass sie etwas davon verstand und er nicht besser behandelt werden konnte. Anna bedauerte, dass ihr auch kein Aqua Vitae zur Verfügung stand, mit dem sie gute Erfahrungen gemacht hatte. Wenn sie Hände, Wunde und Instrumente vor der Behandlung damit säuberte, entzündete sich die Wunde meist nicht, und auch der gefährliche Wundbrand wurde so verhindert. Aber für dieses eine Mal musste es eben auch so gehen, sie hoffte auf die robuste Natur ihres Gefährten. Sie war sich mit Bruder Thomas darin einig, dass sie, wenn sie weiterhin als Medica arbeiten wollte, sich schleunigst wieder mit den wichtigsten Utensilien und Arzneien eindecken musste – die Frage war nur, wo?

Doch für heute ließ sie es genug sein. Morgen war auch noch ein Tag, und jetzt war es an der Zeit, sich in die Halle zu begeben, um die Heimkehr von Chassim gebührend zu feiern und ihre eigene Rückkehr ins Leben, nachdem sie praktisch schon mit einem Fuß auf dem Scheiterhaufen gestanden hatte, den der Erzbischof für sie hatte errichten lassen.