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Die Liebe strahlt am hellsten in der Dunkelheit: Der berührende Ostseeroman »Das Inselhotel der Träume« von Katryn Berlinger als eBook bei dotbooks. Ist die Farbe für immer aus ihrem Leben gewichen? Vor zwei Jahren hat Alisa ihren geliebten Mann bei einem tragischen Unfall verloren. In der Hoffnung, sie von ihrer Trauer abzulenken, macht ihre Großtante Wanda ihr nun ein besonderes Geschenk: Die Villa Bernstein auf Usedom, die einst ein beliebtes Gasthaus für die Besucher der Insel war. Und tatsächlich, die salzige Seeluft, die milde Brise und die neue Aufgabe scheinen Alisa gut zu tun. Während es ihr Stück für Stück gelingt, dem Hotel seinen alten Glanz zurückzugeben, erwacht eine zarte Hoffnung in ihr: Kann der Zauber der Insel ihr auch dabei helfen, neues Glück zu finden? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der gefühlvolle Roman »Das Inselhotel der Träume« von Katryn Berlinger für die Fans von Johanna Leclaire und Hannah Hope. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 357
Über dieses Buch:
Ist die Farbe für immer aus ihrem Leben gewichen? Vor zwei Jahren hat Alisa ihren geliebten Mann bei einem tragischen Unfall verloren. In der Hoffnung, sie von ihrer Trauer abzulenken, macht ihre Großtante Wanda ihr nun ein besonderes Geschenk: Die Villa Bernstein auf Usedom, die einst ein beliebtes Gasthaus für die Besucher der Insel war. Und tatsächlich, die salzige Seeluft, die milde Brise und die neue Aufgabe scheinen Alisa gut zu tun. Während es ihr Stück für Stück gelingt, dem Hotel seinen alten Glanz zurückzugeben, erwacht eine zarte Hoffnung in ihr: Kann der Zauber der Insel ihr auch dabei helfen, neues Glück zu finden?
Über die Autorin:
Katryn Berlinger arbeitete lange Zeit als Direktionsassistentin, entschied sich dann aber für ein Studium der Germanistik und Systematischen Musikwissenschaft. Nach ihrem Abschluss war sie in einem Hamburger Schallplattenunternehmen tätig. Einige Jahre später tauschte sie dann den Beruf gegen die Familie ein. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Norddeutschland.
Katryn Berlinger veröffentlichte bei dotbooks bereits die historischen Romane »Der Kuss der Champagnerfürstin«, »Die Frauen von Ahlbeck«, »Die Malerin von Genua«, »Die Zuckerbäckerin von Riga« und »Die Liebe der Zuckerbäckerin« erschienen; letztere sind im Sammelband »Das Schokoladenmädchen« zusammengefasst.
Außerdem veröffentlichte sie bei dotbooks den Familiengeheimnis-Roman »Die Insel der Herzkirschen«, den humorvollen Liebesroman »Mit dem falschen Mann fing alles an« und den Familienroman »Das Inselhotel der Träume«.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2023
Dieses Buch erschien bereits 2002 unter dem Titel »Villa Bernstein« bei Knaur.
Copyright © der Originalausgabe 2002 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-557-6
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Katryn Berlinger
Das Inselhotel der Träume
Roman
dotbooks.
An einem heißen Freitagnachmittag ließen Alisa und Henrik ihre Büros in Hamburg hinter sich und fuhren mit kleinem Koffer und leerem Picknickkorb an die Ostsee. Die überraschend leere Autobahn schien ihre spontane Idee zu belohnen.
Seit zweieinhalb Jahren waren sie glücklich verheiratet. In einem Crashkurs für Wirtschaftsenglisch hatten sie sich kennen gelernt. Sie sollte ihm bei einem Rollenspiel einen supergenialen Büroroboter schmackhaft machen, er sollte Gründe dagegen bringen. Die Anstrengung, die richtigen Vokabeln zu finden, führte schnell zu witzigen Umschreibungen und noch witzigeren Repliken. Keine Frage, sie waren sich auf Anhieb sympathisch – und dies war ihr erster Flirt.
Damals ein Freitag – heute ein Freitag. Mit dem Unterschied, dass vor zwei Jahren der Winter tobte, heute aber über dreißig Grad draußen herrschten. Und natürlich gab es jetzt auch keinen Schulungsleiter wie diesen Tom Sharidon, diesen kauzigen Amerikaner, der sich damit gebrüstet hatte, bereits eine Woche nach dem Mauerfall DDR-Wirtschaftslenker in Ostberlin unterrichtet zu haben.
Sharidon mochte Alisa, nicht aber Henrik. Verständlich, denn als er mitbekam, dass sie ein Paar geworden waren, konnte er seine Eifersucht nicht mehr verbergen. Bis in die ungerechtfertigt schlechten Noten in Henriks Zeugnis hinein war das zu spüren.
Zum Abschied war dieser Sharidon sogar so dreist, dass er Alisa beiseite nahm und zu ihr sagte: »Whenever you want, come and see me in Chicago. Your English is excellent. I am sure that some of my friends could offer you interesting jobs. See the world, have fun, get some money! He is not the right guy for you!«
Sie hatte es Henrik nie erzählt. Dafür liebte sie ihn einfach viel zu sehr. Das Schicksal hatte ihr nun einmal die Chance auf Liebe zuerst geboten und nicht die Chance auf Karriere. So sollte es sein, und so war es gut.
Alisa warf Henrik einen glücklichen Blick zu. Er war ein Muster an Beherrschung. Obwohl die Autobahn fast frei war, raste er nicht. Dabei hätte es gut zu ihm gepasst. Henrik sah mit seinen dreiunddreißig Jahren, seinem durchtrainierten Körper und dem sexy Dreitagebart eigentlich wie ein Dressman aus. Nach der Wende hatte er rasch im Westen Fuß gefasst und arbeitete jetzt als Controller bei der BP in Hamburgs City Nord. Seine vollen Lippen verbargen einen – wirklich – nur leicht schrägen Schneidezahn, was Alisa gleich beim ersten Date erregt hatte. Sie fand es einfach erotisch, wenn Henriks Zungenspitze zwischen Lippe und Zahn spielte. Für sie zum Verrücktwerden!
Sie selbst war achtundzwanzig und hielt sich für durchschnittlich. Henrik sah es glücklicherweise anders.
»Du hast die niedlichsten Grübchen der Welt, den knackigsten Po, die schönste aller großen Nasen, und wenn du mir mit deinen langen braunen Strähnen die Brust kitzelst, machst du mich damit so an, dass ich dich von oben und unten gleichzeitig auffressen möchte.«
»Und meine blauen Augen?«, fragte sie einmal anklagend. »Die gefallen dir nicht?«
»So gut wie die von Catherine Zeta Jones«, schwärmte er. »Und so schön wie die meiner Mutter.«
Klar, das war ein Scherz. Aber Henrik liebte sie. Er war ein beständiger Typ. Und auch wenn er mal anderen Frauen nachguckte, zog er anschließend immer denselben Vergleich: »Toll – aber der Pfeffer fehlt. Und du weißt ja, dass ich es gerne scharf mag.«
Mit ihrer Arbeit waren sie beide zufrieden. Und seit Henrik bei der BP war, träumten sie von einem Häuschen im Grünen.
»Klar, mit Blick aufs Meer, Kamin und alten Rosen. Gibt’s auch an der Ostsee. Und deshalb spielst du ab morgen Lotto.«
»Und wenn ich nicht gewinne, was dann?«, meinte Alisa. Dann muss ich mal meinen Stammbaum durchgehen. Vielleicht stolper ich dabei ja zufällig über eine gaaanz alte Tante in den USA.«
»Und wenn die alte Tante nicht in den reichen USA, sondern im armen Rumänien lebt?«
»Dann fangen wir mit einer Blockhütte an. Ich hab da im Übrigen schon lange einen Plan … Bekanntlich erspart die Axt im Haus den Zimmermann.«
Alisa war bei Henrik auf alles gefasst. Hatte er etwa schon mehr als eine Idee? Zuzutrauen war es ihm. Alisa versuchte sich auszumalen, wie man eine Blockhütte einrichten könnte. Es fiel ihr schwer. Irgendwie schweiften ihre Gedanken immer wieder ab.
Ach was, sagte sie sich, unsere Wohnung am Lattenkamp tut es doch. Immerhin brauchen wir bloß zehn Minuten bis zur Alster. Mit Vergnügen erinnerte sie sich daran, wie es ihnen beiden gelungen war, ihr Singlemobiliar zu einem praktischen und originellen Stilmix zu vereinen. Henriks Ausrüstung ging noch auf IKEA zurück, Alisas Küchenmöbel, Bett und Regale waren irgendwas Dänisches. Daneben hatte sie ein pseudobarockes Flohmarkttischchen eingebracht und er einen dunkel gebeizten Vitrinenschrank aus der Gründerzeit. Klar, dass jeder irgendwie Federn lassen musste, aber im Laufe der Zeit wuchs alles harmonisch zusammen. Eure Wohnung hat Stil, fanden sogar ihre Eltern. Richtig stolz waren sie auf den gigantischen amerikanischen Kühlschrank. Und wenn Henrik samstags an ihrem megageilen Gastronomieherd aus Edelstahl kochte, gab’s von den Freunden regelmäßig neidische Bemerkungen.
Im Moment war also alles gut. Noch mehr wäre Luxus pur. Die Nacht verbrachten sie in einer kleinen Pension. Gleich nach dem Frühstück ging es an den Strand, mit Badetasche und auf dem Markt aufgefülltem Picknickkorb.
Flach auslaufend rollten die Wellen mit schmalen Schaumkrönchen an den breiten feinkörnigen Sandstrand. Die Sommersonne stand schon tief über dem Land, aber sie hatte noch genug Kraft, Alisas Rücken zu wärmen. Henrik, die Schirmmütze nach hinten gedreht, saß neben ihr und zog genüsslich an einer langen Schnur. Vor Stunden hatte er das eine Ende um den Hals einer Weißweinflasche gebunden, die seitdem im Ostseewasser lag. Das rote Herz eines Luftballons markierte die Kühlstelle und tanzte auf dem Wasser. Hinter ihm erstreckte sich bis zum Horizont das dunkle Blau der See, die unter den Strahlen der Abendsonne mit unendlich vielen gleißenden Flecken bedeckt war.
Endlich war es so weit. Als würde er dabei meditieren, zog Henrik die Flasche Zentimeter um Zentimeter aus dem Meer – der Luftballon taumelte im Wind.
Junge und alte Paare spazierten am Strand entlang, die einen mit Schuhen in der Hand, die anderen mit um die Schulter gehängten Pullovern. Es wurde geplaudert, geraucht und fotografiert, Kinder tollten herum, suchten Muscheln oder erschreckten Möwen. Ein struppiger Hund sprang hechelnd über Alisa hinweg, doch vor der Flasche und dem Luftballon stoppte er so abrupt, dass der Sand aufspritzte. Neugierig beschnupperte er das kuriose Objekt, schien Henrik dabei anzulachen und schnappte verspielt nach dem Luftballon. Henrik gab ihm einen leichten Klaps – Tropfen sprühten umher, es roch nach nassem Fell und Salzwasser.
»Tschuldigung, das ist Tobi. Und der ist immer so«, sagte ein kleines Mädchen in hochgekrempelten Ringelhosen und dutzenden von gerollten Haarschnecken mit bunten Spangen um den Kopf.
»Er ist wohl genauso alt wie du?«
Alisa neigte den Kopf und krauste die Stirn.
»Wie soll denn das gehen?«, entgegnete das Mädchen entrüstet und schaute Alisa mit seinen dunkelbraunen Augen selbstbewusst an. »Er ist doch gerade erst eins geworden.«
»Na, ich dachte, ein Hundejahr sind sieben Menschenjahre«, sagte Alisa schmunzelnd.
»Stimmt. Dann bin ich ein Jahr älter!«, meinte das Mädchen lachend und lief weiter.
Alisas Blick verlor sich in der Ferne.
Das Mädchen war so süß.
Henrik mochte Kinder. Sagte er zumindest. Aber näher darüber gesprochen hatten sie noch nie. Bestimmt wäre er ein wundervoller Vater.
»Wenigstens etwas kühl«, murmelte Henrik zufrieden, als er die Flasche von der Schnur losband und den Korkenzieher in den Korken drehte. »Aber lieber ein nicht ganz exakt temperierter Weißwein am Strand als Champagner im Büro.«
Henrik stand auf und nahm die Flasche zwischen die Füße. Doch selbst nach Aufbietung aller Kräfte bewegte sich der Korken keinen Millimeter. Er steckte fest, als wäre er mit dem Glas verwachsen.
»Ach, und wenn schon«, sagte Henrik.
»Hat meinem Helden letzte Nacht etwa irgendwas die Kraft weggezaubert?«
»Letzte Nacht? War da was?«, fragte Henrik scheinheilig und band, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, das Schnürende um das Mittelbändchen von Alisas Bikinioberteil. Das andere Ende der Schnur wurde wieder an der Flasche festgemacht, und zusammen mit dem Luftballon trug er sie erneut ins Wasser.
»Bin gleich wieder da, mein Schatz.«
Glücklich sah Alisa ihm zu, wie er am Wasser nach einem Stein suchte. Dabei atmete sie tief die jetzt leicht nach Tang riechende Seeluft ein und blinzelte ein paarmal in den Himmel. Als sie sich umdrehte, stand die Sonne in tiefem Orange hinter den Kiefern der Promenade.
Es war fast zu schön. Wenn es Glück gibt, dachte Alisa, dann ist das, was du hier gerade erleben darfst, Glück.
Halte es fest. Sie schaute in ihre Hand und ballte sie langsam zur Faust. Da ist jetzt dein Glück drin, sagte sie sich. Aber was passiert, wenn du die Faust wieder aufmachst? Fliegt es dann davon?
Alisa konnte sich eines Schauers nicht erwehren. Der Wind – blies er wirklich kälter, oder war das nur Einbildung?
»So.« Henrik kam mit einem großen weißen Kiesel zurück.
Alisa spürte die Kraft, die er ausstrahlte, seine Lebensfreude. Trotz des langen Tages am Strand roch er immer noch ein wenig nach Sandelholz. Alisa bekam Lust, ihn auf der Stelle zu vernaschen.
»Man muss sich eben zu helfen wissen«, brummte Henrik vergnügt. »Der Stein, der Weißwein und ich.«
Nach wenigen kräftigen Schlägen auf den Korkenzieher bewegte sich der Korken. Alisa schmiegte sich an Henrik und streichelte ihm die breiten Schulterblätter.
»Ein Mann für alle Lebenslagen«, schnurrte sie und knabberte an seinem Ohrläppchen.
»Hm – für Lagen aller Art!«
»Ich hoffe, auch für Dünenlagen«, hauchte Alisa.
Nach dem letzten Schlag spritzte der Weißwein heraus. Henrik steckte den Finger in den Flaschenhals und hielt die Flasche schräg. Alisa stand mit einem Glas bereit. Mit einem blubbernden Schwall ergoss sich der Wein ins Glas. Und der Korken schwamm unschuldig wie ein Spielzeug in der Flasche.
»Auf uns!«, flüsterte Henrik.
Aug in Aug tranken sie einander zu.
Alisa brach das Baguette in Stücke. Dazu gab es schwarze und grüne Oliven, die sie mit kleinen Holzspießen aufpickten. Zwei Hühnchenschlegel und ein paar Käsehäppchen rundeten das Mahl ab. Glutrot ging die Sonne in ihrem Rücken unter. Das Meer plätscherte nur noch, der Wind hatte sich gelegt.
Nach einer Stunde hatten sie den Strand für sich allein. Die Flasche war geleert, und der Korken lag gestrandet auf dem gläsernen Flaschenboden. Alisa wickelte sich in einen wadenlangen Pareo. Ihr langes Haar fiel weich über die Schultern. Sie fühlte sich leicht und schön.
Nach einem Stück am Wasser entlang bogen sie in die Dünen ab. Es wurde wärmer, fast stickig. Das Dünengras kitzelte Alisa unter den Füßen. Irgendwann blieb sie stehen, und Henrik drehte sich um. Der Himmel war jetzt samtig dunkelblau. Nicht mehr lange, und die ersten Sterne würden zu sehen sein.
»Hier«, flüsterte Alisa.
Sie standen in einer kleinen Dünensenke, geschützt wie in einer Burg.
Lange standen sie da und küssten sich. Henrik wurde immer erregter. Und auch sie wollte ihn jetzt ganz haben. Alisa ließ sich nach hinten fallen, sich den Pareo von den Hüften zerrend. Henrik küsste sie, verwöhnte sie. Als sie es nicht mehr aushielt, zog sie Henrik über sich und umspannte seine Hüften, die sich wie glattes Ebenholz anfühlten. Es war wie ein Sternschnuppenregen der Lust. Noch nie war es so schön gewesen.
Alisa hätte weinen können vor Glück. Als sie in den Himmel schaute, spannte er sich wie ein mit glitzernden Perlen besetztes Fischernetz über sie.
Die Glocken von St. Petri und St. Jacobi schlugen zwei Uhr. Alisa saß mit einem wackersteinschweren Big-Mac im Bauch vor ihrem PC und ließ das Rechtschreibkonverter-Programm die Briefe vom Vormittag checken. Alte Rechtschreibung – neue Rechtschreibung. Dr. Spengler, ihr Chef, bestand darauf. Da war er pedantisch. Was ihn nicht hinderte, sich jedes Mal von neuem darüber aufzuregen, dass aus dem »Kompromiß« ein »Kompromiss« geworden war.
»Denn ’ne Miss ist eine Frau. Ein Kompromiß aber bezeichnet stets die Unfähigkeit, sich durchzusetzen.«
Alisa schaute aus dem Fenster. Dr. Spengler war noch nicht von der Mittagspause zurück. Sie konnte es also ruhig angehen lassen. Dieser 4. März mit seinem grauen Himmel war bald geschafft.
Wenn bloß die Füße endlich warm würden. Konnte der Frühling nicht mal ein bisschen schneller kommen? Mit Sonne, Licht und Wärme? Oder gab es die lachenden Frühlinge nur in den Bilderbüchern aus der Kindheit? »Wahrscheinlich«, sagte sie gedankenverloren und schaute auf den Bildschirm. »Jawoll, ›daß‹ mit ss.«
Cora kam. Ihre Kollegin. In einer Wolke aus Zimt, Vanille und Jasmin. Ihr neuer aphrodisierender Duft. Cora gab ein Viertel ihres Gehalts für Parfüm aus.
»Himmel! Pass doch auf!«, rief Alisa, als ihr Schreibtisch erzitterte.
Doch da war es schon passiert. Cora Möller, ihre Assistant-Secretary, war mit solcher Wucht gestolpert, dass der Kaffeebecher umkippte und sich über die Tastatur ergoss. Und als ob das nicht reichte, musste Alisa auch mit ansehen, wie ihre offene Handtasche kopfüber in den Papierkorb stürzte.
»Cora, du magst gut riechen, aber wenn’s ums Gucken geht, musst du noch üben.«
»Ach ja! Dann stell du deinen blöden Weinkarton aber auch so hin, dass man ihn sieht! Mensch, immer du und dein Wein!«
»Mein Wein, meine Tastatur. Hier, nix geht mehr!« Alisa drückte die nächstbeste Taste. »Ruf den Service an.« »Quatsch«, sagte Cora und rieb sich mit Leidensmiene den Oberschenkel. »Ich zahl dir ’ne neue Tastatur. Kostet um die fünfzehn Euro. Du kannst dich ja mit einer von deinen Flaschen revanchieren.«
»Schon gut. Typisch, heute ist eben Mittwoch«, lenkte Alisa ein. »Mittwoch war schon immer mein Unglückstag.«
»Ah, jetzt kapier ich! Deshalb der Wein, wie?«
»Nein. Aber Essen ohne Wein ist für uns eben einfach so fad wie ungesalzene Hühnersuppe.«
»Oh, für uns«, sagte Cora schnippisch, doch es klang auch traurig.
Alisa schaute sie erwartungsvoll an. Noch eine Spitze? Was konnte sie dafür, dass Cora trotz Parfüm und – wie sie ihr mal verraten hatte – Dessous der anspruchsvollen Art keinen vernünftigen Mann fand. Deswegen hatte ihr Freund sie bestimmt nicht im zweiten Monat sitzen gelassen. Coras zweite Abtreibung. Dabei wünschte sie sich so sehr Kinder. Es war schon tragisch.
»Tut’s noch weh?«, fragte Alisa, stand auf und ging in die Büroküche, wo sie von der Zewa-Rolle einen knappen Meter Papier abriss.
»Weh?«, rief Cora ihr hinterher. »Das war ein echter Body-Shock.«
Die Tür ging auf. Cora straffte sich.
Der Chef.
Er rauschte herein wie ein Wasserfall und warf weit ausholend Mantel und Schal auf den Besuchersessel.
»Haben Sie aber gute Laune, Herr Dr. Spengler«, sagte Alisa. »Es ist doch erst Mittwoch.«
»Für Sie, Frau Ganzow«, kam die schnodderige Antwort. »Für mich ist Freitag. Ich fliege nachher nach Teneriffa.«
»Neid!«, rief Cora.
»Schön wär’s. War nur ein kleiner Scherz. In mein Büro allerdings dürfen Sie mitfliegen, Cora. Und zwar gleich. Ich muss nämlich was loswerden.«
Alisa brachte schnell die Sache mit der Tastatur zur Sprache. Dr. Spengler murrte ärgerlich.
»Ich hab das schon mit Cora geregelt. Keine Angst. Bin in einer halben Stunde zurück.«
»Von mir aus. Wenn’s unbedingt jetzt sein muss.«
Dr. Spengler richtete seine Gedanken auf Wichtigeres. Er stelzte in sein Büro, das Jackett am kleinen Finger, die Ärmel hochgekrempelt, die Krawatte gelockert. Er liebte derartige Business-Man-Auftritte und war Alisa nicht zuletzt deswegen unsympathisch. Von der Statur her glich er eher einem kurznackigen Ringer, der auf einem Management-Seminar gelernt hatte, smart aufzutreten. Dazu schillerten seine olivbraunen Augen oft so ironisch und kalt, dass Alisa versucht war zu glauben, in Wirklichkeit nichts als eine Marionette für ihn zu sein.
Cora hatte ihm gegenüber ein dickeres Fell, aber wahrscheinlich auch bloß, weil sie sich geschmeichelt fühlte, dass ihr Chef kaum etwas lieber tat, als ihr zu diktieren. Denn Dr. Spengler verabscheute einsames Sprechen. Er brauchte weibliche Präsenz. Cora war bestens für seine Diktatorgien gerüstet. Ihr Schreibbüro zierten ein halbes Dutzend erste Preise des Deutschen Stenographenvereins. Für sie war es Sport. So ein Stenogramm baue echt Wut ab, behauptete sie gerne. Steno halte sie in der Mitte zwischen Denken und Automatismus. Dabei sei sie in einer Art Trance, dies aber hochkonzentriert. Die einzig wirkliche Meditationsübung, die es für sie im Büro gab.
Alisa war wieder allein. Das Fax surrte. Irgendwelche Zahlenkolonnen, dazu ein paar Bemerkungen vom Assistenten des Vorstands.
Ach ja, die Handtasche! Sie lag noch immer kopfüber im Papierkorb. Alisa seufzte und begann den Papierkorb durchzuwühlen. Zum Glück war niemand erkältet und auch keine Bananenschale drin. Also, Feuerzeug und Aspirin. Ganz unten klirrte der Hausschlüssel, und da lag auch das Handy. Dazwischen fanden sich Lippenstift und Kosmetikproben wieder. Was war das? Ein Kondom. Alisa schmunzelte. Henrik kam ohne aus. Und sie ohne Pille und Spirale. Sollte sie das Ding also gleich im Abfall lassen?
»Du hebst ja doch immer alles auf«, begann sie ein Selbstgespräch. »Sonst könntest du die Kaugummis und das Uralt-Mundspray ja auch entsorgen.«
Alisa fischte noch die Tempos heraus, den Parker-Kuli, den Brigitte-Kalender und zuletzt den kleinen blauen Brief, den ihr die Postbotin heute Morgen in die Hand gedrückt hatte. Richtig – eine gewisse Wanda Wiegand hatte ihr geschrieben. Alisa erinnerte sich dunkel, diesen Namen schon einmal gehört zu haben. Irgendwer aus der Familie. Adresse und Absender waren jedenfalls mit steilen Buchstaben geschrieben, sehr akkurat. Unzweifelhaft war dies die Schrift einer schon älteren Frau. Aber sie musste doch los, die Tastatur kaufen.
Ach was, zwei Minuten hast du noch.
Alisa riss den Umschlag auf und las die wenigen Sätze, die mit blassblauer Tinte auf blassgelbes Papier geschrieben waren.
»… ist es an der Zeit, dass wir uns endlich kennenlernen. Ich bin nächste Woche wegen der Picasso-Ausstellung in Hamburg. Wenn es deine Zeit erlaubt… usw. … denn es gibt da etwas, das mir am Herzen liegt.
Liebe Grüße, Wanda«
Das klang spannend. Alisa hätte gerne die Ruhe gehabt, diesen wenigen Zeilen nachzusinnen, doch selbst noch durch die gepolsterte Zwischentür dröhnte Spenglers kraftvolle Stimme. Er diktierte mal wieder mit Leidenschaft.
Alisa stopfte den Brief in die Handtasche und eilte zur Garderobe.
Eine Tastatur musste her. Für Windows 98 und mit Programmschnellstart über den Nummernblock.
Henrik war bereits zu Hause. Er saß frisch geduscht in einer Art baumwollenen Kaftan vor seinem Laptop.
»Hm – das ist was Feines«, sagte er. »Guck dir diese Kurven an.«
»Wie bitte?« Alisa stürzte zur Couch. Henrik grinste. Ein neuer Bildschirmschoner: Mädchen nackt und halb nackt, schwarz-weiß. »Geht ja noch«, sagte sie halb böse, halb belustigt. »Sollte ich dich allerdings auf ›thehun.net‹ erwischen, dann, mein Gutster…«
»Woher kennst du …?«
»Cora. Die hatte mal, während Spengler eine Diktat-Pinkelpause einlegte, in seinem Verlaufsmenü spioniert. Nach dem Diktat haben wir uns dann die Freiheit genommen …«
»Und?«
»Cora meinte nur, der Spengler tue ihr leid. Denn wer auf das stehe, was da gezeigt wird, der könne alles Normale ja unmöglich noch genießen.«
»Aha«, sagte Henrik gedehnt. »So psychologisch denkt die moderne Frau! Der moderne Mann dagegen ist ein fixer Praktikus. Guck mal in die Küche!«
Alisa stieß einen Jubelschrei aus. Der Tisch war gedeckt, und in seiner Mitte standen in den vier handbemalten spanischen Lieblingsschüsselchen je vier Tüten mit dem Aufdruck eines Feinkostgeschäfts. Und im noch warmen Backofen lagen zwei aufgebackene Baguettes.
»Und ich hab den Wein!«, rief Alisa. »Und einen geheimnisvollen Brief dazu.«
Sie verschwand ins Badezimmer. Ob sich Henrik wohl noch überraschen ließ?
»Augen zu!«, sagte sie.
»Wow!«
Nur in Pumps stand sie da.
»Das gibt’s nicht nur im Web«, schnurrte sie. »Auch zu Haus.«
Henrik glitt von der Couch und begann sie vom Knöchel aufwärts abzuküssen. Alisa drehte sich, griff sich ins Haar und spielte den Vamp.
Dann auf einmal ging alles sehr schnell.
Ganz so, wie sie es sich gewünscht hatte.
Feierabend. Es wurde ein lukullisch-erotisches Geschmause. So ist es schön. So könnte es immer sein, dachte Alisa entspannt und biss in den köstlichen Rohmilchkäse.
Von wegen Picasso-Ausstellung! Tante Wanda hatte zwei Tage später ein Telegramm geschickt.
Influenza. Fieber.
Alisa war wirklich enttäuscht gewesen. Aber dies war jetzt vergessen. Denn sie war auf der Autobahn Frankfurt-Stuttgart, und das am Freitagabend. Die rechte Spur gehörte den Lastern, die mittlere nur zur Hälfte den Pkw und die linke den Dränglern. Spurenhopping brachte so gut wie nichts.
»Mit mir nicht, du Idiot«, murmelte Alisa und sah in den Innenspiegel.
Stur fuhr sie auf der mittleren Fahrbahn, dem Verkehrsfluss angepasst. Das Problem war, dass ihr Hintermann meinte, ihr Abstand sei zu groß. Er ließ sich zurückfallen, fuhr dann fast bis zur Stoßstange auf und entblödete sich nicht, irgendwann sogar die Lichthupe zu betätigen. Alisa ließ sich nicht beirren. In dem Auto schon gar nicht. Sie fuhr nämlich einen schicken roten BMW mit einer herrlichen Stereoanlage. Zwar nur ein Mietwagen, aber er war genau die richtige Karosse für einen Kurztrip in den Schwarzwald, wo sie endlich Tante Wanda treffen würde – Chef sei Dank.
Dr. Spengler wollte sie heute Vormittag unbedingt bei der Verkaufsdirektorenkonferenz dabeihaben. Sozusagen als Statussymbol. Sie solle ruhig was aus sich machen, hatte er ihr am Mittwochabend zum Abschied gesagt – und sie dabei das erste Mal mit den Augen ausgezogen. Alisa fühlte sich gleichermaßen geschmeichelt wie abgestoßen. Sie wurde aus ihrem Chef einfach nicht schlau. Doch sie hatte beschlossen, die Sache von der angenehmen Seite zu sehen. Sie durfte gestern erste Klasse fahren, und die letzte Nacht war ihre erste in einem Sheraton-Hotel. Was sie bei der Konferenz dann zu tun hatte, war allerdings ein Witz. Sie war die Schöne im gelben Kostüm, die teuerste Folienreicherin aller Zeiten. Ihr Chef präsentierte und dozierte per Overhead-Projektor, sie saß am Konferenztisch neben ihm und hatte nichts anderes zu tun, als ihm auf Stichwort die Folien zu reichen. Wobei sie sich natürlich laufend von ihrem Platz erheben sollte. Was die Präsentation offensichtlich sehr erfolgreich machte. Ihr Chef bekam großen Applaus, den er huldvoll weiterreichte, mit einer Geste, die besagte: Schaut her, Kollegen, ist sie nicht knackig in ihrem Kostüm? Hat sie nicht Schenkel zum Reinbeißen? Und einen Hintern, einfach zum Anfassen? Der Drängler hinter ihr scherte aus und überholte von rechts.
»Und das mit ’nem 08/15-Ford! Angeber! Hast es wohl nötig!«
Der Fordfahrer zwängte sich ihr vor die Nase und machte ein paar Warnbremsungen. Dann ließ er das Lenkrad los und klatschte über seinem Kopf in die Hände.
Alisa wurde wütend. Potenzprotzer und dabei mit anderer Leute Leben spielen. Typisch Blödmann.
Das hätte Henrik sehen müssen. Er hätte sich noch viel mehr aufgeregt.
»I’m lonely, but I’m free. Your spirit is with me. And tomorrow I'll love you and you’ll kiss me.«
Alisa drehte den Lautstärkeregler hoch und begann zum Song, der gerade lief, einen Phantasietext mitzusingen. Egal, wie kitschig er war, im Moment war sie in Toplaune. Das Leben meinte es gerade gut mit ihr. Mit ein bisschen Glück fand sie diese Nacht noch einen romantischen Schwarzwaldgasthof mit eigener Forellenzucht. Alisa bekam sofort Appetit. Herrlich, es ging auf den Frühling zu.
Karlsruhe, neunzehn Uhr.
Stau.
Zwischen den hohen dunklen Tannen des Schwarzwaldes waberte der Nebel, der im Fernlicht erschrocken auseinanderstob. Alisa fühlte sich, als führe sie durch ein Filmset für englische Krimis. Die Dunkelheit hatte etwas Magisches an sich. Minutenlang begegnete ihr kein einziges Auto. Es war ihr geradezu unheimlich, als sie auf einem der Wanderparkplätze eine Pause einlegte. Dieses Knistern um sie herum, die traurigen Farne, der Nebel – Alisa konnte sich einbilden, er greife nach ihr, um sie einzuspinnen.
Ihr BMW kam ihr jetzt wie eine sichere Burg vor – Türen zu, Motor an, das wunderbare Leuchten der Armaturen. Aber sie war mit ihrer Kraft am Ende. Wo zum Kuckuck gibt es hier endlich einen Gasthof?, fragte sie sich. Angeblich sollte der Schwarzwald doch voll davon sein. Was ja nicht ganz falsch war, doch die Gasthöfe, an denen sie vorbeifuhr, waren so trostlos wie dunkel, und die, in denen Licht brannte, waren keine Gasthöfe, sondern Hotels mit dem Flair von Kliniken. Und das für seine Fresstempel berühmte Baiersbronn war eine gesichtslose Ansammlung spießig verputzter Allerweltshäuser.
Gab es im Schwarzwald keine Romantik mehr? Keine typischen Schwarzwaldhäuser mit ihren gewaltigen Dächern, unten weiß gekalkt, oben aus Holz? Mit Mühlrad? Schließlich tauchte wie aus dem Nichts ein Holzpfeil vor ihr auf – »Gasthof zur Tanne« stand in weiß gemalten Buchstaben drauf. Schnell riss sie das Lenkrad nach links, nahm die Abbiegung im dritten Gang, fuhr weiter durch den Wald, bis er endete und sie Lichter und Umrisse eines kleinen Dorfs sah.
Direkt vor ihr tauchte eine Katze auf. Ein eisiger Schreck erfasste sie.
»Hau ab!«, schrie sie und trat mit aller Kraft auf die Bremse. Die Reifen quietschten fürchterlich. Jetzt ist sie tot, war ihr erster Gedanke, als sie mit zitternden Knien ausstieg und unter das Auto guckte. Nichts zu sehen. Alisa atmete tief durch. Im selben Augenblick schlug die Kirchturmuhr.
»Miau« – zwei grüne Augen starrten sie an. Gleich darauf strich die Katze ihr am Bein entlang. Doch als Alisa sie streicheln wollte, machte sie einen Satz und war schon zwischen den Farnen verschwunden. Aber hinter den Farnen und dem Gebüsch glomm Licht. Jetzt nahm Alisa auch Zigaretten- und Bierdunst wahr. Sie setzte sich wieder ins Auto und parkte wenige Meter weiter vor dem Holzzaun eines kleinen Gasthofs. Über einen gepflasterten Hof, den eine Scheune und Ställe säumten, ging es über zwei Stufen zu einer angelehnten Glastür. »Vom ADAC empfohlen« stand an der Wand. Die Speisekarte, die daneben hing, war typisch schwäbisch: Fleischkäse, Rahm- und Zwiebelrostbraten, Forelle blau und Forelle Müllerin.
Drinnen säumten Holzbänke die Wände, die Tische waren blank. Gelächter erfüllte die Stube, am Stammtisch wurde gewürfelt. Ein kleiner Junge in Cordhose und Pokémon-Sweatshirt lief auf wackligen Beinchen einem kalbsgroßen Mischlingshund hinterher. Er jauchzte, warf Alisa einen strahlenden Blick zu und zog ruckartig am Schwanz des Hundes. Der blieb die Ruhe selbst und trottete quer durch die Gaststube.
Alisa setzte sich. Ihr gegenüber hing eine Ahnenreihe der Hausbesitzer, allesamt Bartträger – Vollbart, Backenbart, Zwirbelbart, Schnauzbart. Ernst und aufmerksam schienen sie unter ihren struppigen Augenbrauen Alisa zu mustern. Während sie die Speisekarte studierte, hatte sie das Gefühl, als würden die Herren sich über sie unterhalten. Als sie einmal aufblickte, bildete sie sich ein, der mit dem Vollbart würde lächeln. Nach der Bestellung dann meinte sie, der mit dem Zwirbelbart schaue strafend.
»Weil das Frauchen ein Weinchen trinken will, wie?«, sagte sie leise und schloss für ein paar Sekunden die Augen.
Sie war müde, irgendwie auch enttäuscht. Nur Henrik hätte sie aufmuntern können.
Der Wein kam. Ein Riesling, eiskalt im beschlagenen Henkelglas.
»Haben Sie auch ein Zimmer zum Übernachten?«, fragte Alisa.
»Geht klar«, bekam sie mit deutlichem Akzent zu hören. »Ich sag Bescheid.«
Das Mädchen war keine Schönheit, aber schlank. Sie trug abgelatschte Hausschuhe. Ihr Haar war pechschwarz und mit einem rot-weißen Tuch hinter dem Kopf zusammengebunden.
Eine Türkin im Schwarzwald? Alisa war überrascht. Irgendwie war alles anders, als sie es sich eigentlich vorgestellt hatte.
Das Essen aber war vorzüglich. Der schwäbische Salatteller mit Blattsalaten und Gemüse genauso wie der Rahmbraten mit den tatsächlich handgeschabten Spätzle. Alisa sprach der Wirtin ein Kompliment aus, als die an ihren Tisch kam und den Zimmerschlüssel brachte.
»Oh, Sie sind aber auch von woanders«, sagte die Frau sehr hochdeutsch. »Ich darf Sie nur bitten, noch ein kleines Weilchen hier zu sitzen. Ihr Zimmer ist ein wenig kalt. Wir heizen aber ordentlich ein. Gewöhnlich verirren sich nur im Hochsommer ein paar Wanderer zu uns.«
»Und Sie haben sich aus dem Norden hierher verirrt?«
»O ja. Die Liebe eben. Und so weiter. Ich komme aus Cuxhaven.«
Es klang einfach nur resigniert. In die Pause knallten zwei harte Schläge eines Gehstocks.
Der alte Mann, der an dem kleinen Tisch neben dem Stammtisch vor der Bild-Zeitung und einem Schoppen Rotwein saß, drehte sich um und rief: »Hanne! Erzähl deiner Aischa mal, dass bei ihr daheim in einer Disco vierzig Leut verbrannt sind.«
»Weiß sie doch!«, rief Hanne ärgerlich zurück und warf ihrem Mann, der mit geschultertem Geschirrtuch und Kochmütze gerade an den Stammtisch trat, einen anklagenden Blick zu.
»So geht es jeden Tag«, erklärte Hanne, die Wirtin, bitter. Dann brach es aus ihr heraus. Mit Tränen in den Augen sagte sie, wenn sie einen Wunsch frei hätte, dann diesen: mit ihrem Mann und den Kindern zurück nach Cuxhaven oder einfach nur in den Norden zu ziehen, um dort eine badische Gastronomie aufzumachen.
»Aber der Vater dort drüben, dem gehört halt alles. Und er will nicht verkaufen. Wart halt, bis ich zwei Meter tiefer lieg, sagt er. Dann von mir aus verprass alles bei deinen Fischen.«
Die Frau wischte sich mit dem Zipfel der Schürze die Tränen aus den Augen und sagte, das Zimmer sei jetzt bestimmt warm.
»Grüßen Sie mir den Norden«, trug sie Alisa auf. »Zahlen tun Sie morgen dann bei Aischa.«
Am nächsten Morgen präsentierte sich Alisa der Schwarzwald sonnig und frühlingshaft. Es duftete nach Harz und Erde, und ein leichter Wind ließ die Tannen rauschen und ächzen. Alisa schaute in den Straßenatlas.
Alpirsbach war nicht mehr weit, noch ungefähr vierzig Kilometer. Sie konnte es langsam angehen lassen. Bestimmt hatte sie noch die Zeit, sich das Kloster anzusehen.
Die Seniorenresidenz Klosterruhe in Alpirsbach lag an einem Südhang. Eine Serpentinenstraße, die von kerzengeraden Tannen gesäumt war, führte zu ihr hinauf. Alisa fuhr durch ein Holztor und stellte den BMW auf dem gekiesten Parkplatz ab. Über ein paar Stufen kam sie in einen Garten, der von zwei mächtigen Kastanien beherrscht war. Alle Bänke, die in der Sonne lagen, waren besetzt. Offensichtlich lebten hier recht rüstige Senioren.
Niemand beachtete Alisa. Der mit Natursteinen gepflasterte Weg führte zum Haupteingang. In die hellen schweren Holztüren waren ein Bauern- und ein Bäueringesicht eingeschnitzt, der rechte Flügel stand einladend offen. In der gemütlichen, vitrinenreichen Eingangshalle lagen die Ausstellungsstücke stickender und klöppelnder Heimatkünstlerinnen. Neben einer mit Bauernmalerei verzierten riesigen Truhe standen zwei samtgrün bezogene Armlehnsessel, zwischen den Vitrinen hochlehnige Stühle mit niedrigen Tischchen. Ansonsten viel Blumenschmuck. Die Dame am Empfangstresen nickte, als Alisa nach Wanda Wiegand fragte. Sie erhob sich, beugte sich vor und schaute nach links und rechts.
»Ah, ich glaube, Sie werden schon erwartet«, sagte sie lächelnd und deutete in Richtung eines der bodentiefen Fenster.
Alisa erblickte dort eine Dame im Rollstuhl, die aus dem Fenster schaute.
»Frau Wiegand! Ihr Besuch!«, rief die Empfangsdame. Quietschend drehten sich die Gummireifen des Rollstuhls auf dem Stein. Alisa sah eine bejahrte Dame, deren Gesicht von einer großen honigfarbenen Sonnenbrille verdeckt war. Ihr weißes Haar war mit Kämmen zusammengesteckt, über ihren Knien lag eine rote Wolldecke. Weder die Nase noch die geschminkten schmalen Lippen erinnerten Alisa an irgendjemanden aus ihrer Familie.
»Du bist also Alisa«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang streng, aber auch warm. Sie nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Brusttasche ihrer dicken beigefarbenen Wildseidenbluse. Dann klatschte sie in die Hände und lachte laut auf. »Komm, lass dich umarmen! Ich beiße nicht.«
Tante Wandas Lachen hatte für Alisa etwas Befreiendes, und ohne Sonnenbrille sah sie gleich viel freundlicher aus. Ihre Augen blitzten fröhlich, und die anfangs so verkniffenen Lippen lächelten entspannt.
Alisa sank in ihre Arme.
»Oh, ist das schön«, sagte Tante Wanda. »Du hast zupackende Hände. Das mag ich. Das macht mir das Herz gleich leicht.«
Tante Wandas Stimme strahlte verhaltene Wärme aus, und Alisa spürte sofort, dass diese Frau sie mochte.
Das war ein guter Anfang, trotzdem machte sich etwas Verlegenheit in ihr breit.
»Welches Parfüm trägst du? Das, hm, das duftet ja wunderbar!«, sagte sie, während sie sich wieder aufrichtete. Tante Wanda griff nach ihrer Hand. Schmunzelnd erwiderte sie: »Ah, du liebst das Schöne! Das ist wunderbar. Aber nun komm, erzähl mir von dir, Alisa. Dann verrate ich dir auch, wie mein Parfüm heißt.«
Alisa spürte einen überraschend kräftigen Händedruck, und schon rollte ihre Tante mit Schwung ins Café, das gerade mit frischen Torten und Gebäck beliefert wurde. »Na, da ist ja Ihr Besuch, Frau Wiegand. Und dann so ein netter.«
Eine Frau mit bestickter Schürze und spitzenbesetzter weißer Bluse, die für Alisa wie das leibhaftige Klischee einer Gouvernante aussah und auftrat, streckte ihr die Hand hin. »Frau Wiegand, wissen Sie, war nämlich bestimmt aufgeregter als Sie.«
Sie trat hinter den Rollstuhl und schob ihn an einen Tisch. Er war reserviert und auch bereits gedeckt.
»Danke«, sagte Tante Wanda mit äußerster Herablassung. »Weißt du«, fuhr sie dann zu Alisa gewandt fort, »seit ich im Rollstuhl sitze, behandeln die mich, als wäre auch mein Geist gebrechlich. Aber ich komme aus dem Ding schon wieder raus. Die Wanda hat’s schließlich nur ein bisschen am Knie und ist längst in der Rekonvaleszenz. Die so genannten freien Gelenkkörper sind wegoperiert und die Gelenksperre damit wohl hoffentlich ein für alle Mal behoben.«
»Ich verstehe«, sagte Alisa. »Du bist bloß ein bisschen gehandikapt. Aber das Personal hier sieht nur den Rollstuhl, und – schwupps – ist die alte Dame darin ein mittelschwerer Pflegefall. Und wer im Rollstuhl sitzt, der muss natürlich auch geistig angeschoben werden.«
Die Gouvernante rollte einen Teewagen mit zwei kleinen halben Torten und je einem Kännchen Kaffee und Tee heran.
»So, Frau Wiegand. Sie hatten sich die Champagnercreme gewünscht und den Tee. Was darf ich denn Ihnen Gutes tun?«
Alisa entschied sich ebenfalls für die Champagnercreme-Torte, wählte aber Kaffee.
»Na, da hab ich wohl einen sechsten Sinn bewiesen«, sagte Tante Wanda.
»Durchaus«, erwiderte Alisa.
»Wunderbar. Dann bitte, Frau Kress, seien Sie noch so gütig und bringen Sie mir zur Feier des Tages einen Cognac. Kindchen, du auch?«
»Wenn du einen nimmst …«
»Also zwei.«
Tante Wanda sprach in einem Ton, der keine Widerrede duldete. Alisa war fasziniert. Diese ihr immer noch so unbekannte alte Dame wusste, was sie wollte. Und sie konnte sich auch durchsetzen. Jene gouvernantenhafte Frau Kress verzog zwar den Mund, enthielt sich aber weiterer Kommentare.
»Du hast ein tolles Parfüm, trinkst Cognac – jetzt wirst du mich gleich noch in Erstaunen versetzen und kramst einen Zigarillo hervor«, sagte Alisa. »Ich gestehe, ich habe dich mir anders vorgestellt. Aber so – das ist noch viel, viel besser. Ich weiß jetzt, meine Reise hierher steht unter einem guten Stern.«
»Ja, die Sterne«, sagte Tante Wanda, ohne näher auf Alisas Worte einzugehen.
Sie schaute Alisa versonnen an, goss sich dann ein Tröpfchen Sahne in den Tee und rührte bedächtig um. Schweigen ist wahrscheinlich besser, als gleich so viel zu reden, rief sich Alisa zur Räson. Verstohlen betrachtete sie Tante Wandas Hände. Sie waren gepflegt, die Nägel lackiert. Alisa fielen all die Ringe ins Auge, die Tante Wanda trug. Goldreifen, schmal, manche breit, mit leichtem Kupferton und hauchdünnen Kratzern. Sie ähnelten, fand Alisa, den feinen Falten der bejahrten Frau, wirkten wie Lebensspuren. Zweifellos handelte es sich um alten Schmuck. Alisa bewunderte die kunstvoll geschliffenen Edelsteine: zierliche Diamantsplitter, ein tropfenförmiger Lapislazuli, ein wunderschöner Aquamarin und als Auge einer goldenen Schlange, die den rechten kleinen Finger schmückte, ein geheimnisvoll schimmernder Rubin. Tante Wanda setzte die Tasse mit einem Aufseufzer ab. Hat sie meine Blicke gespürt?, fragte sich Alisa. Bin ich zu neugierig? Ach was, das wäre wohl jeder, beruhigte sie sich. Tante Wanda jedenfalls hatte eine charakteristische Angewohnheit. Sie strich sich mit den Fingerkuppen der Rechten ständig über die beringten Glieder der linken Hand. Hin und her und her und hin, es machte Alisa nervös, je länger sie zusah.
Um irgendwas zu sagen, griff sie nach dem Cognacschwenker. » À votre santé, Tante Wanda!«
»Fast, Kindchen«, bekam Alisa zu ihrer Verblüffung zu hören. »Ganz richtig wäre: › À votre santé, Frau Wiegand.‹ Das andere klingt nach Kolleginnen-Deutsch – Du, Frau Pumuckl, gehst du zum Chef? Oder: Sie, Katinka? Ach, ich bin immer so besserwisserisch. Nimm es mir bitte nicht übel.«
»Natürlich nicht. Aber für so ’ne ganz Ahnungslose wie mich – da kriegt man ja einen Schreck!«
Tante Wanda lachte und hob ihr Glas.
»Auf uns, Alisa. Ich bin Gott dankbar, dass er uns endlich zusammengeführt hat. Denn es ist ja nun mal so: Blut ist dicker als Wasser. Und darum bist du jetzt hier!«
Alisa schüttelte unbewusst den Kopf.
»Doch, doch«, sagte Tante Wanda. »Ich weiß, du denkst, die Alte mit dem Cognac spricht in Rätseln. Aber verwandt sind wir, da kannst du gar nichts machen. Pass auf: Alwine, die Mutter deines Vaters, hatte eine Schwester, und das bin ich.« Sie schaute Alisa bedeutungsvoll an. Alisa stockte der Atem. »Aber wie die Liebe so fällt und die Familienehre es so will, kann es passieren, dass man, nun ja, geächtet und …« – sie machte eine kurze, hastige Pause –»... vergessen wird.«
»Wie meinst du das?«, fragte Alisa bestürzt und runzelte die Stirn. »Es gibt ein altes Konfirmationsfoto von Vaters Mutter, das kenne ich. Darauf trägt sie ein langes schwarzes Kleid mit weißem Spitzenkragen und schwarzen Strümpfen. Das Mädchen neben ihr sah ihr kaum ähnlich, und doch bist es also du und nicht ihre Schulfreundin, wie man mir immer sagte. Ich verstehe, eine Lüge, aber warum?«
»Ganz einfach, die Liebe zum falschen Mann, Kindchen.« Sie lächelte. »Alwine, deine Großmutter, war das ernsthafte fleißige Lieschen und ich schlicht der Luftikus ohne Moral und sonstigen Anstand … Was soll’s, das ist alles vorbei.«
»Ja, aber die Lüge …«, warf Alisa ein. »Warum …?«
»Ich erzähl’s dir ein andermal«, unterbrach sie Tante Wanda. »Denn jetzt, da du hier bist, ist anderes wichtiger. Und bei all den alten Geschichten … ich weiß gar nicht, ob der Deckel doch so fest draufsitzt, wie ich mir einbilde.« Sie versuchte zu lächeln. »Du gefällst mir, das bringt mich ein bisschen durcheinander. Nun, das ist vielleicht auch gut so. Auf jeden Fall möchte ich …« – sie räusperte sich –»… noch für die Zukunft planen …«
Aus dir werde ich jetzt wirklich nicht schlau, dachte Alisa mit einem Anflug von Ärger. Du bestellst mich hierher und ergehst dich in mir nicht nachvollziehbaren Andeutungen. Oder bin ich schwer von Begriff?
»Alisa«, sagte Tante Wanda auf einmal bestimmt, »es ist alles ganz einfach. Ich habe nichts als einen Wunsch.«
»Und der wäre?«, fragte Alisa und versuchte so arglos wie möglich zu klingen. Tatsächlich war sie jetzt ungehalten. Sie fühlte sich unwohl. Der Sessel unter ihr brannte, sie konnte nicht mehr sitzen. Zudem war es stickig geworden. Das Café hatte sich gefüllt, etliche der Senioren rauchten. Alisa rutschte an den Tisch heran, stützte demonstrativ die Ellbogen auf und starrte an Tante Wanda vorbei in den Raum. »Bitte, Tante Wanda, red Tacheles«, setzte Alisa noch einmal an. »Sonst platze ich vor Ungeduld.«
Die Großtante schmunzelte.
»Dein Vater jedenfalls ist nicht interessiert«, sagte sie.
»Tante Wanda, bitte!«, rief Alisa ärgerlich. »Nicht interessiert? Woran nicht? Hast du einen Schatz vergraben?«
Die Tante lachte heiser auf.
»Das auch. Wunderbar. Du hast Biss. Den wirst du auch brauchen. Es geht um ein Lebenswerk. Und das ist eine Villa an der Ostsee. Im Pommerschen. Heute eine Pension.«
Alisa stockte der Atem. Sie war kurz davor zu schreien, denn sie verstand immer noch nichts.
»Genauer gesagt in Heringsdorf«, fuhr Tante Wanda beiläufig fort. »Ich hoffe, du hast schon mal von dem Ort gehört? Die drei Kaiserbäder – Bansin, Heringsdorf, Ahlbeck – ist dir das ein Begriff?«
Alisa nickte und begann zu ahnen, was Tante Wanda für einen Wunsch hatte. Die Großtante machte eine Pause und schaute an Alisa vorbei auf die dunklen Tannen des Schwarzwalds. Alisas Gedanken überschlugen sich. Wenn dies wirklich wahr wäre … Nein, so etwas gab es nur im Kino! Aber dafür war sie jetzt hellwach. Ihre Verärgerung hatte sich in Interesse verwandelt. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie noch einen Cognac vertragen können. »Dein Urgroßvater«, begann Tante Wanda wieder zu erzählen, »war Tuchhändler aus Sachsen. So um 1894 zog er nach Berlin und ließ, weil es damals Mode war, eine Villa in Heringsdorf bauen. Selbst die Kronprinzessin Victoria fuhr mit ihren Söhnen dorthin an die See, später Kaiser Wilhelm, Maxim Gorki, Thomas Mann, die ganze High Society der vergangenen Jahrzehnte, ob kaiserlich, adlig, ob Künstler, Bankiers oder später SED-Größen wie Erich Mielke …«
Abrupt brach sie ab.
Alisa starrte sie ungläubig an – und kniff sich in den Arm. »Kneif dich ruhig, mein Kindchen.« Ihre Tante lächelte schmerzlich und setzte sich dann in ihrem Rollstuhl zurecht. »Mein Wunsch ist, dass du, Alisa, die Villa als Erbe annimmst. So einfach ist das. Da dein Vater, der ja der rechtmäßige Erbe wäre, nicht will und ich keine eigenen Kinder habe, hoffe ich, dass du nicht Nein sagst.«
Sie schwieg und schaute mit verschleiertem Blick in die Ferne.
»Ja, aber…«
»Seit der Enteignung 1953 bin ich immer wieder rübergefahren in meine Heimat«, sagte die Tante mit unüberhörbarem Schmerz in der Stimme. »Vier Wochen im Jahr waren erlaubt. Jetzt habe ich die Villa wieder. Freilich nur auf dem Papier.«