Die Muschelsammlerin - Katryn Berlinger - E-Book

Die Muschelsammlerin E-Book

Katryn Berlinger

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Beschreibung

Sommer 1885: Lilly, Süßspeisenköchin in Heiligendamm, Deutschlands erstem Seebad, sitzt verzweifelt am Strand. Neben ihr liegt ein Kochbuch mit dem Titel Cuisine d'amour. Ihm verdankt sie ihre gute Stellung in einem Luxushotel. Doch sie hat einen folgenschweren Fehler gemacht, der nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Liebe in Gefahr bringen kann … Die Muschelsammlerin von Katryn Berlinger: ein gefühlvoller, historischer Roman - auch als eBook erhältlich!

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Katryn Berlinger

Die Muschelsammlerin

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

MottoKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Nachwort
[home]

»Ein ganz klein wenig Süßeskann viel Bitteres verschwinden machen.«

(Francesco Petrarca)

 

 

»Süßes Verlangen – flüchtig wie die Schaumblase des Meeres salzig seine Perlen der Begierde, Perlen der Lust.«

(frei über Aphrodite)

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Kapitel 1

Seit Stunden trieben schwere Regenwolken über das Meer. Von Nordosten wühlte ein kalter Wind die See vor der Küste Heiligendamms auf, jagte schäumende Wellen an den Strand. In ihnen rieben sich Kiesel aneinander, und die Wellen schoben sie raschelnd im immer gleichen Rhythmus auf und ab. Zwischen ihnen schimmerten Mies- und Plattmuscheln, Tang und Krebse. Seemöwen jagten über sie hinweg. Das Tosen des Meeres übertönte ihr Geschrei. Kein vertrauter Laut war hier in der sichtgeschützten Bucht unterhalb des Steilufers zu hören, weder das Flattern der Fahnen an der Seebrücke und auf den Dächern der großherzoglichen Sommerresidenzen noch das Stampfen der Turbinen der Ausflugsdampfer, weder Walzerklänge noch Marschmusik.

Alles lag fernab, nur dieser Wall aus legendenumwobenen Steinen, die das Meer einmal vor langer Zeit aufgeschichtet hatte, verband Lilly Alena Babant noch mit ihrem früheren Leben.

Sie fror, war erschöpft, ja geradezu benommen vom unaufhörlichen Schlag der Wellen. Ihre blonden Locken flatterten um ihr bleiches Gesicht. Haut und Kleider, so kam es ihr vor, waren längst vom salzigen Seewind mürbe geworden. Hätte es Bernsteine geregnet, sie hätte es kaum mehr bemerkt.

Am frühen Nachmittag war sie hierher geflüchtet, verzweifelt über das, was ihr geschehen war. Der Verlust ihrer Arbeit war ihr zunächst unverständlich und ganz und gar ungerecht erschienen. In ihrem Aufruhr hatte sie Muscheln um sich geschichtet und eine nach der anderen mit einem keilförmigen Kiesel zertrümmert. Irgendwann war ihr bewusst geworden, dass sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Sie hatte ihr Glück verspielt, ihr Leben zerstört.

Ihr blieb keine Hoffnung, kein Ziel mehr. Am meisten verbitterte es sie, dass sie nie mehr erfahren würde, warum der Mann, der sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr in ihren Träumen begleitete, sie einst zurückgestoßen hatte: Clemens von Rastrow. Jetzt war ihr auch dieses Rätsel gleichgültig.

Es wurde Zeit, dass dieser Tag, der 15. Juli 1885, ein Ende nahm.

Lilly Alena erhob sich, füllte ihre Kleidertaschen mit Kieseln. Schon umspülte der salzige Schaum ihre Stiefeletten. Eine kraftvolle Welle schlug ihr entgegen. Das Wasser weichte rasch ihre Sohlen auf, drang durch Ösen und Schäfte … Schneller, Lilly, du musst schneller gehen! Sie atmete tief ein und stürzte sich den Wellen entgegen. Wenn doch endlich der Grund unter ihr wegbrechen würde … Da spritzte eine Fontäne neben ihr auf. Der Kopf eines weiß-braunen Terriers lugte aus den Wellen, den wachen Blick auf sie gerichtet. Im selben Moment packte sie eine Hand fest um die Taille und riss sie zurück.

»Sie haben wohl den Verstand verloren!«, schrie ihr ein bärtiger, kahlköpfiger Mann ins Ohr und zerrte sie an den Strand zurück. Dort, zwischen Kieseln und groben Steinen, lag ein schwarzer Borsalino, den der Wind ihm vom Kopf gefegt hatte.

»Es hat doch keinen Zweck mehr! Lassen Sie mich!« Sie entwand sich dem Griff des Fremden, riss ihr Schürzenband auf und schleuderte die Schürze in den Wind. Entschlossen lief sie auf die Wellen zu.

»Einen Teufel werd ich tun!« Der Fremde schnellte vor und fasste so hart zu, dass sich sein Daumen schmerzhaft in ihre Armbeuge drückte. Der Terrier sprang kläffend um sie herum, schnappte sich ihre nasse Schürze und schüttelte sie wie eine Beute. Der Mann packte Lilly an den Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Herrgott, nehmen Sie doch Vernunft an! Ich will Sie retten, und Sie wollen wieder zurück ins Wasser? Sind Sie wahnsinnig?«

»Ich will frei sein! Frei! Verstehen Sie nicht?« Sie zitterte vor Kälte, merkte aber, wie sich ihr innerer Aufruhr endlich Bahn brach.

Der Fremde verzog sein Gesicht. »Und ich? Ich käme wegen unterlassener Hilfeleistung ins Gefängnis! Wollen Sie das?« Ohne dass Lilly sich dagegen wehren konnte, riss er sie energisch an sich und nahm sie in die Arme. »Ist Ihnen denn Ihr Leben so wenig wert?« Er strich ihr ihre nassen Locken aus dem Gesicht. »Nicht wir bestimmen, wann es zu Ende ist. Wir nicht.«

Schluchzend lehnte sie sich an die Schulter dieses Fremden. Mein Gott, er hat recht, was hab ich nur getan? Erst als sie aufgehört hatte zu weinen, nahm sie die kühle Ruhe wahr, die sich in ihr ausbreitete. Und da wurde ihr bewusst, dass es nicht allein die Gegenwart dieses Fremden war, die sie gerettet hatte. Nein, es war das Meer selbst, das ihre Verzweiflung und Wut fortgeschwemmt hatte. Mit klammen Fingern griff sie in ihre Kleidertaschen, ließ die Kiesel in den Sand fallen und zog ein nasses Taschentuch heraus.

Der Fremde lächelte und reichte ihr ein trockenes. »Ein Badetuch kann ich Ihnen leider nicht bieten. Aber damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben: Franz Xaver von Maichenbach. In meiner Heimat, der Pfalz, hätte ich mir nie vorstellen können, eines Tages eine Meerschaum-Venus retten zu müssen.«

Lilly wollte etwas sagen, doch ihre Zähne klapperten vor Kälte. Mühsam putzte sie sich ihre Nase. Ihr kam es vor, als hielte sie das nasse Mieder wie eine Eiszange umschlossen. Sie musste so schnell wie möglich nach Hause und ins Bett. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen, wobei sie von Maichenbach beobachtete, wie er seinem Borsalino hinterherlief, den der Wind hochwirbelte. Der Pfälzer war mittelgroß, sicher kaum älter als vierzig. Schmutzige Sandspuren waren auf der Rückseite seines hellen Sommeranzugs zu sehen. Er musste sie also vom Buchenwald her gesehen haben und das Steilufer zu ihr herabgeglitten sein. Sein rechtes Hosenbein war hochgerutscht, entblößte ein blasses, mit dunklen Härchen bewachsenes Schienbein. Jetzt setzte er seinen Hut auf und kehrte zu ihr zurück. Lilly tat, als suche sie nach ihren Kämmen, die sie vorhin aus Verzweiflung aus dem Haar gerissen hatte. Tatsächlich fand sie zwei ihrer Hornkämme mit Bernsteinbesatz. Ihre nassen Locken hochsteckend, wandte sie sich zum Gehen. Doch wohin? Durch den Wald, wo sie niemand sehen würde, oder durch das Seebad, wo sicher auch bei diesem stürmischen Wetter Kurgäste unterwegs sein würden? Sie zögerte, nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie von Maichenbach sein Hosenbein bis zu den durchweichten Gamaschen hinunterzog.

»Sie haben sich meinetwegen Ihre Kleider ruiniert.« Sie war verlegen, wusste nicht, wie sie ihm ihre Dankbarkeit zeigen sollte.

Er lächelte. »Nur Ihretwegen? Haben Sie eine so schlechte Meinung von sich?«

Ja, eine furchtbar schlechte, dachte Lilly bitter, aber das erzähle ich Ihnen nicht. Ich will … Sie schlang ihre Arme um sich und schaute zurück aufs Meer. Ich will die Wahrheit wissen. Ich will wissen, ob ich jemals wieder kochen darf. Und warum du, Clemens von Rastrow, damals einen Freundschaftsschwur ablehntest und mich dennoch so rätselhaft ansahst. Warum ich deinen Gesichtsausdruck nie vergessen konnte. Sie suchte mit ihren Blicken den Horizont ab, als könne ihm eine riesige Kammmuschel entsteigen, sich öffnen und ihr die ersehnte Antwort geben.

Warum nur, Clemens?

Sie fuhr mit ihrer Zungenspitze über ihre aufgesprungenen Lippen, die salzig schmeckten. Sie warf von Maichenbach einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. Er bemerkte sie nicht, weil er damit beschäftigt war, seinen Terrier einzufangen, der mit ihrer sandverschmutzten Schürze über den Kieselstrand rannte. Lilly lief dem Hund nach, erhaschte einen Schürzenzipfel und zog daran. Der Terrier zerrte ebenfalls, und so ging es eine Weile hin und her. Schließlich lächelte Lilly.

»Ihr Hund scheint einen stärkeren Willen zu haben als ich. Behalten Sie die Schürze. Ich brauche sie nicht mehr.« Dann lief sie davon, dem Ostwind entgegen. Der Fremde rief ihr etwas nach, doch sie achtete nicht mehr darauf.

Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder.

 

Es begann zu regnen. Auf der Lindenallee, die Heiligendamm und Doberan verband, waren nur noch wenige Droschken unterwegs. Die Kutscher, die sie kannten, warfen Lilly unter ihren Kapuzen hervor neugierige Blicke zu und machten die eine oder andere spöttische Bemerkung. Keiner der Fahrgäste aber hieß sie anhalten, um Lilly mitzunehmen. Sie fror, biss die Zähne zusammen. Sandkörner rieben ihr in den nassen Stiefeletten die Haut auf. Irgendwann schmerzte es so sehr, dass sie beschloss, barfuß weiterzulaufen.

Woher kam das Rauschen? Vom Regen? Vom Meer? Vom Großen Wohld? Vom Spott der Geister des Gespensterwaldes, die ihr ihren eisigen Atem nachbliesen? Lilly war wie benommen vor Erschöpfung und Kälte. Sie hatte die Doberaner Rennbahn erreicht, doch noch nie zuvor war ihr der Weg so lang erschienen. Sie hatte das Gefühl, als sei sie so langsam wie eine Krabbe auf Glas. Sie raffte ihr nasses Kleid und beschleunigte ihre Schritte. Dabei dachte sie an frühere Jahre zurück.

All die Sommer, die sie dank der Ersparnisse ihres Vaters allein bei ihrem Onkel und Cousin in Doberan hatte verbringen dürfen, waren heilsam für sie gewesen. Ihre Freunde, aber auch Landschaft und Meer hatten ihr geholfen, das Elend in Berlin zu vergessen, das Leid ihrer Mutter Hedwig, den frühen Tod ihres Vaters. Stets hatte sie Trost in ihrer Heimat gefunden, die, wie jeder wusste, Gottes Engel selbst »taurechtgemudelt« hatten. Es war ein liebliches, grün-blau-gelbes Naturgewebe mit sanften Hügeln, fast kreisförmigen Seen mit Mooren und Quellen, verzweigten Flüssen und Bächen, gewaltigen Findlingen, Heide und uralten Wäldern. Selbst die Sommernächte waren wie verzaubert gewesen, hatten Lilly stets Geborgenheit gegeben. Wo aber war der Duft der Linden, von Hauhechel, Goldrute, Feldrittersporn und Kamille?

Alles war anders, und sie fragte sich, wie es für sie weitergehen sollte. Sicher war nur eines: Für den Reichskanzler Otto von Bismarck, den man Anfang August zu den Doberaner Renntagen erwartete, würde ein anderer Koch Desserts kredenzen.

Nicht sie.

Hatte Maître Jacobi, Chefkoch der »Strandperle«, ihr etwa gekündigt, um selbst glänzen zu können? Lilly Alena wollte nicht mehr nachdenken. Wichtig war vorerst nur eines: Ihre Mutter Hedwig musste geschont werden.

 

In Doberan angekommen, bog Lilly von der Dammchaussee, die Heiligendamm mit Doberan verband, rechts in die lange Goethestraße ein, bis sie die Höhe des dreieckigen Kamps – der früheren Kuhweide und jetzigen Parkanlage und Festwiese – erreicht hatte. Rechter Hand führte eine Gasse direkt zum Markt, der von einer Reihe einfacher Bürgerhäuser eingesäumt war. Wie immer war die Tür des zweistöckigen, ziegelgedeckten Babantschen Hauses unverschlossen.

Lilly trat ein. In der Diele war es dunkel. Alles war still. Nur die Katze schlich lautlos über den Holzboden und strich ihr schnurrend um die Beine. Lilly atmete auf. So schliefen sicher Onkel und Cousin bereits. Sie nahm die Katze auf den Arm und huschte die Treppe zur Dachkammer hinauf. In der aufgestauten Hitze vergangener Tage roch es durchdringend nach alter Schafwolle, Staub, Kamillentee – und gegorener Buchweizengrütze.

»Du kommst spät!«

Erst als Lillys Augen sich an den Schein der Öllampe gewöhnt hatten, sah sie ihre Mutter halb aufgerichtet in ihrem Bett liegen.

»Und du hast deine Grütze nicht gegessen«, erwiderte Lilly und setzte ihr die schnurrende Katze auf den Schoß.

»Lilly, du … du … riechst so komisch, bist du ins Wasser gefallen? Was … ist passiert?« Hedwig streichelte die Katze, begann aber zu husten.

»Es regnet, das ist alles. Lass mich jetzt. Ich bin todmüde.«

»Lilly!« Es klang wie ein Vorwurf.

»Nein, Mama, es ist alles in Ordnung. Ich will nur schlafen. Erst diese Hitze heute Vormittag, dann dieser Sturm. Es war einfach anstrengend. Ich war nur noch ein wenig am Strand. Das ist alles.« Sie zerrte ihre feuchten Kleider vom Leib.

Auf einmal hörte sie, wie jemand mit der Faust gegen das Fachwerk schlug. Kurz darauf wurde die Tür aufgezogen, im Erdgeschoss polterte es. Dumpfes Getrampel ertönte, gefolgt von Stöhnen und Rülpsen. Plötzlich klirrten Flaschen. Sie hörte Onkel und Cousin fluchen. Dann fielen krachend die Türen ihrer Schlafkammern ins Schloss. Angestrengt lauschten Lilly und ihre Mutter, doch es blieb still.

»Dein Onkel wird sich noch zu Tode saufen. Es wird nichts mehr mit ihm. Und Victor traue ich nicht.«

»Ich auch nicht, aber bis jetzt lässt es sich mit ihm aushalten.«

»Er hat mir sogar heute Mittag Tee gebracht.«

»Na, siehst du. Er kann ganz freundlich sein.«

»Ja, das hat er sich angewöhnt.« Hedwig hüstelte wieder.

»Und warum hast du nichts gegessen?« Lilly gähnte.

»Ich hab mich heute einfach nicht gut gefühlt.«

»Siehst du? Da haben wir was gemeinsam. Also, gute Nacht. Schlaf jetzt.« Eine Weile blieb es still.

»Lilly? Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Ich spüre es.«

Lilly antwortete nicht. Sie tat, als sei sie eingeschlafen, denn sie mochte nicht noch mehr lügen. Reglos lag sie da und wartete, bis ihre Mutter sich wieder hingelegt hatte, die Katze zu ihren Füßen.

Ich habe meine Arbeit verloren und könnte morgen ausschlafen. Aber ich will nicht! Ich würde viel lieber wie immer in der Früh aufstehen, Milchsuppe und Bratkartoffeln für alle bereiten, auch wenn Alfons und Victor schlecht gelaunt sind – wenn ich nur wieder kochen könnte. Das nicht mehr tun zu können, bereitete ihr einen Schmerz, der größer war als alles, was sie früher hatte erdulden müssen.

Ein letztes Mal glitten Lillys Gedanken zu Franz Xaver von Maichenbach zurück. Er war ihr nicht unsympathisch gewesen, von einer Freundlichkeit, die harmlos und undurchschaubar zugleich war. Ob er über ihre Begegnung in geselliger Runde erzählte? Oder würde er wie ein Kavalier schweigen? Plötzlich fuhr sie hoch.

Wenn er ausplauderte, was sie, Lilly, getan hatte, wäre ihr Ruf ruiniert und ihre Freundschaft zu ihrem alten Jugendfreund Joachim gefährdet. Wo mochte er nur sein? Seit Tagen hatte sie ihn nicht gesehen. Sie fand keine Ruhe. Sie musste irgendetwas tun.

Sie lauschte. Ihre Mutter schlief. Sie stand auf und tastete im Dunkeln nach dem Buch, mit dem alles begonnen hatte. Lilly schlug das weiße Leinen zurück und strich über die goldenen Lettern auf dem bordeauxroten Einband des Buches: Cuisine d’Amour, murmelte sie und küsste die Buchstaben ein letztes Mal.

Dann nahm sie ihre feuchten Kleider, schlich hinunter in die Küche, wusch sie im Zuber aus und hängte sie im Vorraum ihrer Dachkammer auf. Die aufgestaute Hitze würde reichen, morgen früh wenigstens wieder ein trockenes Unterkleid anziehen zu können. Denn sie wollte nicht nach Meer und Tang riechen, wenn sie zum Antiquar ging, um das kostbare Buch zu verkaufen.

 

»Lilly, wach auf!«

Lilly fuhr erschrocken hoch. Noch nie hatte ihre Mutter so verärgert geklungen. Schlaftrunken blinzelte Lilly sie an. Hedwig stand an ihrem Bett, ihre vom Vortag noch feuchten, aufgerauhten Lederstiefeletten in den Händen.

»Du verschweigst mir etwas!« Hedwig schwenkte die Stiefeletten vor Lillys Nase hin und her. »Und du hast mich gestern angelogen. Du warst nicht am Strand. Du bist im Wasser gewesen. Deine Stiefeletten sind völlig ruiniert. Und in die linke ist eine winzige Muschel hineingerutscht. Hast du sie nicht gespürt? Sie muss dich blutig gescheuert haben. Also, sag, Lilly, was ist passiert?«

Lilly schlug die Bettdecke beiseite. Tatsächlich entdeckte sie eine lange blutige Schürfwunde an ihrer Wade. »Also gut. Ich wollte dich gestern Abend schonen. Ich hätte es dir noch erzählt. Auch wenn ich weiß, dass ich mit allem allein fertig werden muss.« Sie klang zu anklagend. Vergeblich versuchte sie zu lächeln.

»Weiter!« Mit ernstem Gesicht zog Hedwig ihr Schultertuch enger um die Brust.

»Maître Jacobi hat mich rausgeworfen. Einfach so.«

Hedwig sank erschüttert auf die Kante des Bettes. »Das darf nicht sein. Sag, dass das nur eine seiner gemeinen Launen ist. Alle mochten dich. Jacobi hat dich damals eingestellt und dich von seinem Sous-Chef ausbilden lassen. Dein Lohn war gut, man hat deine Kochkunst gelobt … Ich verstehe das nicht. Bestimmt holt er dich wieder zurück. Er muss! Was wollen sie denn ohne dich tun, wo doch bald die Renntage beginnen? Sogar Bismarck soll kommen, hast du mir erzählt. Und dann die vielen anderen anspruchsvollen Gäste! Wie will er das denn ohne dich schaffen?«

»Für jeden gibt es Ersatz, Mutter, ob in der Fabrik, im Laden, in der Küche.«

»Aber wer ein solches Talent hat wie du, ist einzigartig. Ein Mädchen wie dich kann auch ein Jacobi nicht einfach so vor die Tür setzen. Was wirft er dir denn vor?«

»Er wird mich nicht zurückholen, Mutter. Mach dir keine Hoffnungen. Denn niemand stellt eine vermeintliche Giftmischerin wieder ein.«

»Was?! Er sagt, du seiest eine Giftmischerin? Du?« Hedwig wurde totenblass und schlug die Hände vors Gesicht. »Nein, das glaube ich nicht! Das ist ja furchtbar. Lilly, was hast du getan? Wenn das stimmt, hast du unser bisschen Leben zerstört.«

»Ich weiß, es tut mir auch leid. Aber ich habe doch nur seinem Bruder, Professor Jacobi, einen harmlosen Streich gespielt.«

»Dem früheren Hauslehrer von Joachim? Ich denke, er lebt in Rostock?«

»Ja, seit Joachims Abitur vor fünf Jahren ist er am dortigen Mädchengymnasium angestellt, kommt aber jeden Sommer hierher, um zu kuren. In Wirklichkeit soll er aber immer noch mit Frau von Stratten ein heimliches Verhältnis haben. Wie dem auch sei, vor einer Woche fing er mich nach einem Festessen im Kurhaus ab, für das ich spezielle Desserts geliefert hatte. Er meinte, ich sähe prächtig aus. Der Erfolg hätte mich zu meinen Gunsten verändert. Ob mir bewusst sei, dass ich ihm all dieses Gute zu verdanken habe? Und so bat er mich um seinen Lohn. Ich solle ihm eine besondere Süßspeise kochen … Du weißt, wie ich das meine.«

»Dieser Hund! Und? Hast du ihm gegeben, was er wollte?«

»Nein, natürlich nicht. Aber es reizte mich, ihm einen Denkzettel zu verpassen. Wie oft habe ich mich früher über seine Arroganz geärgert, nur weil er sich Professor nennt. Dabei ist das lediglich der französische Begriff für ›Lehrer‹. Er nutzt das Unwissen der anderen aus, die ihn tatsächlich für einen ›Hochschullehrer‹ halten, den man gleichzeitig achten und bedauern kann. Schließlich hat er jahrelang als Privatlehrer gearbeitet. Nun, vorgestern habe ich ihm eine kleine Lektion erteilt …«

»Mit Gift?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Lebt er noch?«

»Natürlich lebt er, das ist ja das Schlimme. Ihm geht es gut, und ich habe wegen einer Kleinigkeit meine Stellung eingebüßt.«

»Dann wird sich sicher alles wieder einrenken. Hauptsache ist doch nur, dass du … unversehrt bist.« Hedwig stand auf und ging heftig atmend in der Kammer auf und ab. »Was für ein falscher Hund! Ich hab ihn nie gemocht. Und dann dieses Buch, das du ihm damals zum Übersetzen gabst. Mein Gott, Lilly. Hätte ich dich nur davon abgehalten, für andere zu kochen, die höheren Standes sind als wir. Aber du warst so leidenschaftlich dabei. Selbst mir machte es Freude, dich so zu erleben. Jetzt muss ich einsehen, dass diese Süßspeisen die Männer nur auf schlechte Gedanken bringen.«

»Nein, du weißt, dass das nicht so ist.« Lilly sprang erregt aus dem Bett und zog sich an. »Zwischen Träumen und schlechten Gedanken ist ein großer Unterschied. Ich liebe meine Arbeit, vergiss das nicht, Mutter. Sie ist eine Kunst.«

Hedwig blieb stehen und lachte heiser auf. »Du bist eine unverbesserliche Romantikerin, Lilly. Oder immer noch naiv. Oder beides. Aber jetzt musst du mir alles beichten. Was hast du denn nun wirklich getan?«

»Ich habe ihm in Safran getunkte Hefeteigbällchen gebacken, mit Karamellpudding gefüllt und mit Geleesternen umrahmt.«

»Geleesterne?«

»Gelee aus ungekochtem Holundersaft.« Lilly lächelte. »Du weißt doch, was passiert, wenn man ungekochten Holundersaft trinkt?«

Hedwig kicherte und unterdrückte einen erneuten Hustenreiz. »Und was geschah dann?«

»Nun, Professeur Jacobi bekam Koliken mit … na ja. Doch obwohl es ihm sterbenselend ging, fand er die Kraft, alles Frau von Stratten zu erzählen. Du weißt, dass sie unsere Familie nicht mag. So kam eines zum anderen. Man unterstellt mir, der Erfolg sei mir zu Kopf gestiegen, und ich hätte Joachims ehemaligen Lehrer vergiften wollen. Dass es sich nur um ungekochten Holundersaft handelte, wollten sie mir nicht glauben. Natürlich weiß ich, dass der Saft in rohem Zustand ungenießbar ist, aber er ist niemals tödlich. Du kannst dir denken, dass mein Streich für Joachims Mutter die beste Gelegenheit war, mich bei Maître Jacobi in ein schlechtes Licht zu rücken. Gestern rief er mich zu sich und entließ mich mit der Begründung, er könne mir kein Vertrauen mehr schenken.« Lilly wurde von einem heftigen Hustenanfall Hedwigs unterbrochen und sprang auf, um einen Löffel und Eibischsirup, den sie jede Woche neu auf Flaschen aufzog, zu holen. Als sie zurückkam, lag Hedwig heftig hustend auf ihrem Bett und presste das mit Stroh gefüllte Kopfkissen gegen ihre Brust.

»Ich hole dir nachher eine bessere Medizin.« Lilly wartete, bis Hedwig sich etwas beruhigt hatte, dann flößte sie ihr den Eibischsirup ein. »Schlaf noch ein bisschen, nimm ein wenig Laudanum. Ich muss noch etwas erledigen.«

»Sieh zu, dass du wieder eine Arbeit findest«, keuchte Hedwig und ergriff Lillys Hand. »Aber eine, bei der du rein bleibst, rein wie die Lilie. So sagt man doch, oder?« Sie lächelte gequält und hustete erneut. Lilly brachte ihr den Spucknapf und fühlte ihre Stirn. Nein, sie fieberte nicht. Das war wenigstens ein gutes Zeichen.

»Ich werde mich beim Apotheker nach neuem Hustensaft erkundigen.«

»Geh nur«, flüsterte Hedwig. »Sorg dich nicht um mich.«

Mitleidig betrachtete Lilly ihre Mutter. Sie war in letzter Zeit zusehends abgemagert. Der Arzt, der sie im Armenkrankenhaus in Berlin untersucht hatte, hatte ihr geraten, an die See zu gehen. Dort würde sie wieder gesund werden. Das werde ich tun, hatte Hedwig damals gemeint, aber nur, um im Haus meiner Vorfahren sterben zu können. Jetzt lebten sie schon vier Jahre hier, und nichts hatte sich gebessert. Im Gegenteil, ihre Mutter hustete immer mehr. Wovon sollte Lilly ihr nur weiterhin die Medizin kaufen, wenn sie keine Arbeit hatte? Nervös stand sie auf und trat ans geöffnete Dachfenster. Fahrig begann sie, ihr Kleid zuzuknöpfen. Der Himmel hatte aufgeklart, die Sonne stand schon hoch. Sie musste sich beeilen.

»Ich bin gleich wieder bei dir«, rief sie ihrer Mutter zu. Sie setzte ihren Strohhut mit den seidenen Kornblumen auf, nahm den verblichenen Sonnenschirm ihrer verstorbenen Tante Bettine und beeilte sich, das Haus zu verlassen.

 

Am Doberaner Kamp hielt Lilly inne. Noch zögerte sie, den schmerzlichen Schritt zu tun. Sie ließ ihre Blicke über die geschichtsträchtigen Gebäude gleiten, die den Kamp umschlossen.

Auf den Dächern der großherzoglichen Repräsentationsbauten an der östlichen Seite des Kamps flatterten Fahnen. Zahlreiche Kutschen fuhren vor Logierhaus, Salongebäude und Prinzenpalais hin und her. Die einen in nördliche Richtung nach Heiligendamm, die anderen in südliche, zum Stahlbad.

Lilly erinnerte sich, dass Herzog Friedrich Franz I. nach der Gründung des Seebades Heiligendamm-Doberan im Jahre 1793 als Erstes das Logierhaus hatte bauen lassen. Im Laufe der Jahre hatte es viele Berühmtheiten beherbergt: Könige und Kapellmeister, Fürsten und Feldmarschälle, Prinzen und Professoren, Kanzler und Künstler, Bischöfe und Generäle, Sänger und Schauspieler aus ganz Europa. Sie alle hatten, nach dem vormittäglichen Baden am Heiligen Damm, am frühen Nachmittag gegen halb zwei Uhr an der täglichen »Table d’hôte« im Salongebäude des Herzogs gespeist, Champagner getrunken und getanzt – vor allem aber die Etikette vergessen dürfen. Denn der bei Adel und Volk gleichermaßen beliebte Herzog hatte angeordnet, während der Badesaison die höfische Rangordnung aufzuheben. So konnten die Sommergäste frei und ungezwungen miteinander umgehen, in der im Logierhaus eingerichteten Spielbank Pharao und Roulette spielen und so manches hübsche Doberaner Mädchen im Englischen Garten verführen. Noch immer gab es ältere Doberaner, die aus jener Zeit anzügliche Anekdoten zu berichten wussten.

Vieles hatte sich in der Zwischenzeit geändert. Das Salongebäude, das zwischen Großherzoglichem Palais an der Nordseite und dem Logierhaus am Südende des Kamps lag, präsentierte sich längst nicht mehr als Tanz- und Speisehaus. Denn seit Doberan als ehemals großherzogliche Sommerresidenz im Jahre 1879 Stadtrecht erhalten hatte, diente es als Rathaus und Amtsgericht.

Auch die Zeit des einstmals berühmten Theaters am südlichen Zipfel des Kamps war vorüber. Früher waren dort regelmäßig die Schauspieler des Schweriner Hoftheaters sowie Deutschlands berühmteste Schauspieler wie die Catalani oder Ludwig Devrient aufgetreten, und mehr als fünfhundert Menschen hatten ihnen applaudiert. Jetzt wollte man die Jugend fördern, den Musentempel abreißen, ein Gymnasium aufbauen, auch wenn die Großherzogin Alexandrine dagegen protestierte. Vielleicht würde sie zustimmen, könnte man den namhaften Zwickauer Architekten Gotthilf Ludwig Möckel, der bereits das Münster restaurierte, dafür gewinnen.

Alexandrine war die Tochter der preußischen Königin Luise und hatte 1822 mit ihrem Gemahl, dem Erbgroßherzog Paul Friedrich, im Prinzenpalais ihre Flitterwochen verbracht. Es war ein schönes, mit vier ionischen Säulen verziertes Gebäude, das der großherzoglichen Familie noch heute als Wohnsitz diente. Alexandrine hingegen lebte nach dem frühen Tod ihres Mannes in einem romantischen Cottage in Heiligendamm.

Insgesamt besehen, dachte Lilly, konnten die Doberaner stolz darauf sein, dass der große Architekt Carl Theodor Severin auch ihrem kleinen Städtchen eine elegante klassizistische Note gegeben hatte.

Sie ging ein Stück weit in den Park hinein, in dem sich in der Zwischenzeit rege Betriebsamkeit ausgebreitet hatte. In den Blumenrabatten jäteten Gärtner Unkraut, schnitten Büsche, mähten Gras, harkten die Wege. Mehrere Frauen mit weißen Kittelschürzen putzten die Fenster der beiden Pavillons. Herzog Friedrich Franz I. hatte sie bereits im Frühjahr 1813 für die Sommergäste errichten lassen, und noch immer diente der kleinere Pavillon als Café, der größere als Musik- und Tanzsaal. Am achteckigen, mit Eichenschindeln gedeckten Zeltdach des kleinen Pavillons lehnte eine Leiter. Gerade eben stieg ein Mann mit Eimer und Putzutensilien auf ihr hinauf, um die Mohnkapsel, die die Dachspitze zierte, zu polieren. Lilly warf einen Blick auf den großen Pavillon. Sein Dach zierten eine Windrose und ein fernöstlich anmutender Fisch. Beide blitzten, je nachdem, wie der leichte Wind sie im Morgenlicht wendete.

Vom nahen Münster schlug in dunklem Ton die Glocke zehn Mal. Ihr Klang riss Lilly aus ihren Gedanken. Wenn sie hier noch länger stünde und über die Geschichte dieses beliebten Kurortes nachdächte, würde sie womöglich sentimental werden. Sie presste das wertvolle Buch an sich und ging rasch zur Severinstraße an der Nordseite des Kamps hinüber. Vor dem dreistöckigen ehemaligen Wohnhaus des vor vielen Jahren verstorbenen italienischen Küchenmeisters Gaetano Medini blieb sie stehen. Er hätte ihr wunderbares Buch mit französischen Rezepten bestimmt nicht verkauft. Er hätte es zu würdigen gewusst und behalten. Aber er hatte auch die Ehre gehabt, vom Herzog anerkannt zu werden … Andere Zeiten, ein anderes Schicksal.

Lilly, reiß dich zusammen. Du findest keinen Trost in der Geschichte. Handele. Versilbere, was dir drei Jahre deines Lebens vergoldet hat.

 

Als Lilly auf das Haus des Antiquars zuging, öffnete dieser die Tür und verabschiedete unter wiederholten Verbeugungen drei Herren und eine Dame. An ihrer Sprechweise erkannte Lilly die Ersteren sofort als Schweden, die Dame als Russin. Diese trug einen grauen Spitzenschleier, lange Handschuhe und hatte einen kleinen Hund auf dem rechten Arm. Seine Stirn war weiß gefleckt, die Ohren lang behaart, die Nase ein wenig stumpf – auf den ersten Blick erinnerte er Lilly an eine Katze. Das Besondere aber war der Ausdruck seiner Augen. Noch nie war sie so angestarrt worden. Sie war sich sicher: Zu solch einem blasierten Blick wäre selbst Maître Jacobi in seiner launischen Arroganz nicht fähig gewesen.

»Er mag Sie«, sagte die Russin amüsiert, woraufhin die Herren lachten.

Lilly aber erschrak. Erkannte man sie? Machte man sich bereits über sie lustig? Ihr lief es siedend heiß über den Rücken. Doch da eilten die vier Kurgäste auch schon auf den kleinen Pavillon zu, wo zwei Kellner die Stühle mit Polstern bezogen hatten und nun damit begannen, trotz der Putzarbeiten Kaffee, Schokolade und Tee auszuschenken.

»Lilly Babant«, begrüßte der Antiquar sie leutselig, »was bringst du mir Schönes?«

»Dieses Buch, ich fand es auf dem Dachboden. Sagen Sie mir bitte, was ist es wert?« Sie legte es auf den Ladentisch und schlug das Leinentuch zurück. Die goldenen Lettern des Titels spiegelten das Sonnenlicht wider. Früher, dachte Lilly, hätte ich es für ein Zeichen der Aufmunterung gehalten. Jetzt aber … jetzt ist es nichts als ein Aufflackern eines Abschiedsgrußes.

»Ah, ein französisches Buch.« Er überflog den Titel, blätterte die mit Goldschnitt verzierten Seiten durch. Er schürzte die Lippen. »Appetitlich, sehr appetitlich, diese Abbildungen. Sehr französisch.« Er senkte sein Kinn auf die Brust. »Ich hätte mir nie vorstellen können, dass dein Onkel damals eine solche Kriegsbeute mitgebracht hat. Kannst du den Titel denn überhaupt aussprechen?«

Stolz tat sie, worum er sie bat.

»Und das heißt ›Küche der Liebe‹, jaja.« Er überlegte. »Einundsiebzig war Alfons noch bei den Siegesfeiern in Paris dabei. Lass mich nachdenken: Wie alt ist dein Cousin Victor jetzt?«

»Was spielt denn das für eine Rolle? Ich möchte das Buch verkaufen, nicht mit Ihnen darüber spekulieren.«

»War Bettine damals vielleicht guter Hoffnung? Weißt du, ich würde mir deinen Onkel ja gerne als liebevollen Ehemann vorstellen, der im Feindesland an seine Gattin hier in Doberan denkt. Aber heute genießt er ja einen etwas anderen Ruf als damals.«

»Sie kennen den Grund. Wollen Sie mich beleidigen?«

Er seufzte. »Ich wollte dir und deiner Familie nicht zu nahe treten. Es tut mir leid. Ich möchte dir etwas erklären. Dieses Buch ist nur ein Kochbuch, eine schlichte Kriegsbeute. Es hat nur einen ideellen Wert, keinen materiellen. Und wenn wir an die letzten Jahre denken, daran, was uns – im Nachhinein betrachtet – die Reparationszahlungen der Franzosen eingebrockt haben, können wir gleich das Gespräch beenden. Dann hätte es nämlich keinen Zweck mehr, über Wert und Unwert dieses Buches zu verhandeln.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Sicher ist dir bekannt, dass nach dem Krieg umgerechnet fast vier Milliarden Mark ins Land flossen. Dieses Geld kurbelte zwar das Schwungrad unserer deutschen Wirtschaft kräftig an, aber es stieg auch vielen zu Kopf! Gerade du weißt doch darüber Bescheid, Lilly. Dein Onkel hat es allen vorgelebt. Alfons Babant als erfolgreicher Stuckateur, als stolzer Aktienbesitzer … und dann bankrottierte er. Wie so viele. Am französischen Geld klebt nichts Gutes.«

»Aber die gebildeten Kurgäste lieben die französische Küche, die Mode, die Literatur …«

Er machte eine verächtliche Miene. »Die Franzosen sind ein vergnügungssüchtiges Volk, das seine wollüstige Seite in den Kaschemmen auf dem Montmartre ausschwitzt. Verzeihung, ich übertreibe, das liegt an meinem hohen Blutdruck. Was ich sagen will, ist Folgendes, Lilly: Wir sind jetzt dank Otto von Bismarck ein geeintes deutsches Reich, und da wollen wir uns auf unsere eigenen Wurzeln besinnen.« Er verschränkte abwehrend die Arme. »Und nun kommst du mit diesem Buch. Ich kann dir nur sagen: Nimm es wieder mit.«

»Wollen Sie sagen, es ist nichts als Papier?« Sie konnte es kaum glauben.

»Nun, in St. Petersburg oder Paris würde man dir sicher etwas geben. Ich könnte es natürlich auch einem Kollegen nach Berlin schicken, der bessere Kontakte hat, doch das wäre allein schon wegen der Versandkosten ein Geldverlust, nicht? Lilly, du musst einsehen, hier in Doberan ist es nichts wert. Und das, was an ihm wertvoll ist, hast du im Kopf, nicht? Es ist doch so: Die Kurgäste wollen genießen, nicht lesen. Und wenn die weiblichen Kurgäste etwas lesen, dann das hier!« Er trat an eines der dichtgefüllten Bücherregale und entnahm ihm drei prächtig gebundene Ausgaben. »Hier: Goldelse, Das Geheimnis der alten Mamsell, Die zweite Frau von unserer erfolgreichen Thüringerin Eugenie Marlitt aus Arnstadt. Was glaubst du, in wie viele Sprachen ihre Werke schon übersetzt sind. So etwas wird verschlungen. Nicht nur von den deutschen Leserinnen. Die ausländischen Gäste bringen die schönsten Prachtausgaben von zu Hause mit, lesen sie während der Kur und überlassen sie dann mir.«

»Ich hatte noch nie die Zeit dazu, mir genügte dieses eine Buch hier«, erwiderte Lilly und wies auf ihr Kochbuch.

»Dann solltest du sie dir vielleicht einmal zur Weiterbildung nehmen. Neulich erklärte mir nämlich eine Dame, die Marlitt schriebe keine billigen Liebesgeschichten. In Wahrheit sei sie eine Aufklärerin, wolle ihren Leserinnen eine humanistisch-christliche Erziehung bieten, ihren Willen zur Eigenständigkeit fördern. Alles verpackt in anständige Liebesgeschichten. Erzähl mir doch irgendwann einmal, ob du das auch so siehst. Die Marlitt selbst soll ja nicht viel Glück in der Liebe gehabt haben. Heute lebt sie bei ihrem Bruder und dessen Familie in einer großen Villa, die sie selbst finanziert hat.« Er holte eine Schnupftabakdose, streute einige Tabakkrumen auf seinen Handrücken, schniefte. »Da könnte man schon denken, sie tröstet sich selbst mit ihren gedruckten Träumen, oder?« Gedankenverloren ruhte sein Blick auf Lilly.

Lilly wurde es zu viel. Zerstreut nickte sie ihm zu. »Das ist möglich, ja, warum nicht?« Sie nahm ihr Buch noch einmal in die Hände. Ihre Finger fächerten die Blätter auf. Dem letzten Rezept »Bénédictine au chocolat« folgten Register und Nachwort. Letzteres aber hatte sie nie beachtet. Sie hatte Joachims ehemaligen Lehrer Jacobi nur gebeten, die Rezepte zu übersetzen. Jetzt sah sie es an. Es umfasste eine knappe Seite, war an seinen Rändern mit kaum lesbaren handschriftlichen Notizen versehen. Hier und da waren Wörter in einer kleineren Schrifttype gesetzt, andere mit winzigen Zeichen aus Tinte versehen. Und auf einmal wurde ihr bewusst, dass dieses Buch schon einmal einem Menschen viel bedeutet haben musste. Jemand, der vielleicht mehr Sinn, mehr Verständnis gehabt hatte als sie. Sie musste sich von ihm trennen, ohne sein letztes Grußwort gelesen zu haben. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. »Ich brauche es nicht mehr.« Ihre Stimme klang heiser.

»Ich verstehe.« Der Antiquar zog seine Kasse auf und entnahm ihr ein paar Münzen. »Zwei Mark fünfzig, Lilly. Es tut mir leid für euch.«

Dafür hätte ich fast einundzwanzig Strohhüte nähen müssen, zwei bis drei Tage lang. Oder einen Tag kochen … Wie konnte sie nur so denken? Lilly verstand sich selbst nicht. Sie hatte das Gefühl, der Preis für das Buch sei gar nicht so gering. Oder irrte sie?

Mit einem knappen Dank drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ das Antiquariat. War es wirklich richtig gewesen? Sie fühlte sich auf einmal so leer. Aber was hätte sie sonst tun sollen? Ihre Mutter brauchte dringend etwas anderes als Laudanum, Eibischaufguss und Zwiebelhonigsaft. Entschlossen betrat Lilly die Apotheke und erkundigte sich nach dem wirkungsvollsten Hustenmittel.

»Egerscher Fenchelhonig-Extract, von Seiner Majestät König Wilhelm von Preußen persönlich empfohlen, ist das Beste!« Der Apotheker hielt das Fläschchen stolz gegen das Licht und las: »Gegen katarrhalische Beschwerden, Brust-, Keuch- und Krampfhusten! Seiner Majestät persönlich hat es bestens geholfen.«

Dann würde es nicht billig sein.

»Ist es für dich, Lilly, oder für deine Mutter? Dann nämlich solltest du eine größere Menge mitnehmen.« Er las ihr die Antwort an ihren Augen ab, verschwand im Hinterzimmer und kam mit einer größeren Flasche zurück. »Eine Mark zehn«, sagte er.

Sie legte ihm die Münzen auf den Ladentisch. Er nickte zerstreut und schaute an ihr vorbei auf den Kamp hinaus. »Da reiten sie wie zu Zeiten des alten Großherzogs quer über den Kamp, die Herren von Stratten, Recklin und Bastorf. Jung und unbesorgt.« Er nahm Lillys Münzen und ließ sie klirrend in seine Kasse fallen.

Joachim! Lilly hastete zur Tür, riss sie auf und trat mit klopfendem Herzen auf die Schwelle hinaus. Er ritt gerade zwischen den Bäumen auf den Kleinen Pavillon zu. Lilly hob ihre Hand, winkte. Tatsächlich bemerkte er sie und grüßte knapp zurück. Da galoppierte ein weiterer Reiter, vom Rosenwinkel kommend, auf den Kamp zu. Joachim riss sein Pferd herum und ritt ihm entgegen. Lilly strengte sich an, konnte jedoch dessen Gesicht unter dem breiten Panamahut nicht erkennen. Sie beobachtete, wie beide Männer Seite an Seite an der Reihe der großherzoglichen Gebäudezeile entlangritten. Am nördlichen Ende des Kamps gesellten sich die anderen beiden Reiter hinzu. Rasch verschwanden alle vier hinter der Ecke des Palais in Richtung Klosteranlagen. Ob Joachim mir meinen Streich an seinem ehemaligen Lehrer verzeihen wird? Oder würde er die Partei seiner launischen, kapriziösen Mutter ergreifen?

»Die Medizin! Willst du sie nicht mitnehmen, Lilly?«

Sie schreckte auf. »Natürlich, danke.« Sie steckte die Flasche und das restliche Geld in ihre Kleidertasche und eilte nach Hause. Hedwig war in der Zwischenzeit vor Erschöpfung wieder eingeschlafen, und so stellte Lilly den neuen Hustensaft auf einen Hocker neben ihr Bett. Dann fiel ihr ein, dass Brot fehlte. Und so machte sie sich erneut auf den Weg.

 

Lilly lief die beschauliche Goethestraße mit ihren hübschen Bürgerhäusern in Richtung Alexandrinenplatz entlang. Dort befand sich ihr Lieblingsbäcker. Sie hörte hinter sich eine Kutsche heranrollen, kümmerte sich aber nicht darum, sondern trat nur beiseite, um in einem Schaufenster neu ausgestellte Weißstickereien zu betrachten.

»Lilly!«

Seine Stimme!

Ihr Herz stolperte. Im Glas spiegelte sich, sitzend in einer offenen Kutsche, der Mann, den sie liebte: Clemens von Rastrow!

Doch er war nicht allein. Neben ihm saß seine Mutter Isa und ihm gegenüber deren Schwester Norma von Stratten – Joachims Mutter – und Helen Marchant, ihre Jugendfreundin, die seit über zwei Jahren in einem Lübecker Mädchenpensionat lebte.

Das war doch nicht wahr! Das durfte nicht wahr sein! Was, um Himmels willen, hatte Helen mit den Gutsherrenfamilien von Rastrow und von Stratten zu tun? Lilly hatte das Gefühl, der Boden bräche unter ihren Füßen weg. Nur mit allergrößter Mühe drehte sie sich zur Straße hin um. Die beiden adeligen Schwestern tuschelten miteinander, ohne sie zu beachten. Es war ihr gleichgültig, denn nur er zählte für sie, die rätselhafte Wachheit seines Blickes.

Alles um sie herum wurde plötzlich unscharf: Gesichter, Bewegungen, Geräusche. Ganz so, als glitte ein in Wasser getränkter Pinsel über ein Bild, in dessen Fokus sie sich verlor.

Nun winkte Helen ihr zu. »Lilly! Wie schön, dich zu sehen! Ich bin erst seit gestern aus Lübeck zurück. Wir sehen uns bald, ja?«

Lilly nickte, doch ihr Mund war wie verschlossen. Ihr Blick glitt zu Clemens zurück, der dem Kutscher auf die Schulter klopfte, auf dass dieser die Pferde anhielt. Er lächelte ihr zu und lüftete grüßend seinen Hut. »Wie geht es dir, Lilly? Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Hat Joachim dir erzählt, dass ich komme?«

»Nein, ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesprochen«, erwiderte Lilly tonlos.

»Wir müssen uns unbedingt treffen, es gibt viel zu erzählen.«

Lilly schenkte ihm einen dankbaren Blick. Schon holte sie Luft, um etwas zu sagen, da sah sie, wie Isa von Rastrow Clemens die Hand auf den Arm legte. »Du wirst dich doch wohl besinnen, Clemens? Wie kannst du mit diesem Mädchen sprechen? Bitte achte auf den Anstand, auf unsere Ehre.« Sie hob stolz ihren Kopf. »Jeder weiß, dass sie ein leichtes Temperament hat und einen hochgelehrten Mann aus Rache zu vergiften suchte, nur weil dieser sie abgewiesen hatte.«

Lilly stockte der Atem, ihr wurde schwindlig vor Empörung. Tränen traten ihr in die Augen, als sie Clemens’ irritiertem Blick begegnete. »Stimmt das?«

»Das ist nicht wahr«, wehrte sie sich schwach.

»Mutter, du irrst. Ich kenne Lilly gut genug, um zu wissen, dass du einer üblen Nachrede Glauben schenkst.«

Da wandte ihm Isa von Rastrow ihr Gesicht zu. Ihre Miene war hart wie Marmor. »Eine Mutter irrt nicht, solange sie ihre Gefühle zu beherrschen versteht. Impulsivität ist eine Eigenschaft der Gosse, und es ist meine Pflicht als Mutter, auch einen erwachsenen Sohn vor gefühlsmäßigen Entgleisungen dieser Art zu schützen. Habe ich nicht recht, Norma?«

»Ich stimme dir ausnahmsweise einmal zu.« Norma von Stratten wich Lillys Blick aus, nickte und tippte dem Kutscher mit dem Griff ihres Sonnenschirmes auf die Schulter. »Fahren Sie weiter. Rasch!«

»Giftmischerin«, hörte Lilly Isa von Rastrow zischen, so dass eine Handvoll Kurgäste und Dienstmädchen, die zu beiden Seiten der gepflasterten Straße unterwegs waren, Lilly verwundert musterten.

Nun war es geschehen. Es hätte keine Zeitungsmeldung dafür gebraucht, um sie öffentlich zu verunglimpfen. Lilly konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie war vor Clemens gedemütigt worden. Vor ihm, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte. Und nun, im Augenblick ihres ersten Wiedersehens, musste sie befürchten, ihn gleich doppelt verloren zu haben: an ihre Freundin Helen und an seine Mutter.

Und diese hatte sie sogar öffentlich beleidigt, als sei sie eine Hexe aus dem Mittelalter. Ihr Onkel würde sie schlagen, wenn er erführe, dass sie den Namen ihrer Familie beschmutzt hatte. Lilly merkte, dass sie keine Kraft mehr hatte, Brot zu kaufen. Sie musste fort von hier. Sofort.

Sie überlegte, wohin sie gehen sollte, um Ruhe zu finden. In die weiten Buchenwälder rund um Doberan? In den Klostergarten? Ins Münster?

Nein, sie würde dorthin gehen, wo sie gestern ihre schwerste Stunde erlebt hatte: ans Meer. Sie würde sich ihm noch einmal stellen, seinen Wellen, die verspielt tänzeln, aber auch zuschlagen konnten wie tödliche Pranken. Sie würde mit ihm, dem Meer, noch heute ihren Frieden schließen. Ihm Abbitte leisten für das, was sie hatte tun wollen – und was sie wirklich getan hatte: Sie hatte seine Schätze, die sie liebte, mutwillig, wenn auch aus Verzweiflung, mit einem Kieselstein des Heiligen Dammes zerrieben.

Heute würde sie sie wieder sammeln, als Zeichen dafür, dass sie sie zu würdigen wusste und bereit war, das Leben in all seiner Süße und Bitternis wieder anzunehmen.

 

Lilly lief zum Markt zurück, holte ihren Emailleeimer und schlug den Weg westlich der Dammchaussee über das Bollhägener Fließ, einer abwechselnd flachen, dann wieder welligen Niederung, ein. In Gedanken versunken wanderte sie über Wiesen, durch Erlenbrüche, vorbei an vermoorten Senken, kleinen Gehölzen, blühenden Hecken und Kopfweidenreihen. Sumpfdotterblumen und Fieberklee, Hyazinthen und wilde Orchideen zogen immer wieder ihre Blicke auf sich. Schwalben zwitscherten hoch über ihr, und ab und zu war der Ruf eines Eichelhähers zu hören. Saphirgrüne Libellen mit blau gefleckten Flügeln sanken anmutig auf Wiesengräser nieder.

Langsam wurde sie ruhiger, ihr Verstand klarer.

Warum war Clemens’ Mutter – Isa von Rastrow – ihr derart feindselig begegnet?

Und wie kam es, dass ausgerechnet Helen mit den standesbewussten Schwestern Norma von Stratten und Isa von Rastrow Umgang pflegte? Sie war eine Bürgerstochter, der Vater war Juwelier in Doberan, die Mutter entstammte einer Lehrerfamilie. Als Mädchen war sie rundlich gewesen, scheu und schweigsam. Je älter sie wurde, desto stärker ekelte sie sich vor ihrem eigenen Körpergeruch. Sie war nicht hübsch, hatte große, etwas wässrig wirkende Augen, ein fliehendes Kinn, was sie stets dazu veranlasst hatte, selbst bei Sommertemperaturen Stehkragen zu tragen. Was hatte sie mit diesen beiden Frauen zu tun, einer emotionalen und unberechenbaren Ehefrau eines Rittergutsbesitzers und einer gefühlskalten und egoistischen Berliner Bankiersgattin? Und beide waren ihre, Lillys, Feindinnen. Schlimmer noch: Ihre Söhne – Clemens von Rastrow und Joachim von Stratten – hatten mit ihr, Lilly, in den Sommerferien gespielt, nicht mit Helen. Ihre Söhne waren mit ihr, Lilly, durch die Natur gestreift, hatten ihr Segeln und Reiten, Bogenschießen und Floßbauen beigebracht, nicht Helen.

Mit ihnen hatte sie sich zum Freundschaftsschwur getroffen …

Dem Rätsel, warum Clemens sich ihr damals entzogen hatte, war nun ein weiteres hinzugekommen: Welche Rolle spielte Helen in ihrem Kreis?

Oder war alles nur harmlos? Sollte Helen nur beiden Damen die neuesten Schmuckkreationen ihres Vaters präsentieren? Schließlich würden ihnen die berühmten Doberaner Renntage Anfang August genug Anlässe bieten, elegant und mit auffallendem Schmuck ausstaffiert Festessen, Bälle und Soireen zu besuchen. Hatte Helen nicht ein Köfferchen auf ihrem Schoß gehalten?

Lillys Gedanken glitten zu Clemens zurück. Wo mochte er all die Jahre gewesen sein? Vier Jahre war es her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten. War er wirklich nur wegen der Renntage gekommen? Er liebte Pferde, hatte jedoch nie Wert auf Wettkämpfe gelegt. Um ihr, Lilly, das erzählen zu können, was er in der Zwischenzeit erlebt hatte, würde er aber seiner Mutter beweisen müssen, wie wichtig ihm seine persönliche Freiheit war.

Ob ihm das gelänge?

Und wenn wir uns jemals wiedersähen, was würde ich ihm sagen wollen?

Ich würde ihn von der Wahrheit überzeugen. Ich würde mir wünschen, dass er mir zuhörte. Ich könnte es nie ertragen, ihn an eine Mutter zu verlieren, die ihren erwachsenen Sohn in aller Öffentlichkeit wie ein Kind maßregelt, das Birnen gestohlen hat. Er war jetzt vierundzwanzig Jahre alt, hatte sicherlich studiert und Erfahrungen gesammelt – und dann das!

Ein Mann wie er konnte, durfte nicht das Eigentum einer kaltherzigen, egoistischen Mutter sein. Je mehr diese Empörung von Lilly Besitz ergriff, desto stärker fühlte sie sich. Bestimmt, dachte sie, hatte dieser von Maichenbach recht. Sie sollte ihrem Leben einen Wert beimessen und nicht so schlecht von sich selbst denken, auch wenn sie nur das Kind der Strohhutnäherin Hedwig Babant und des einfachen Arbeiters Paul Pächt war.

Kämpfe, Lilly, kämpfe. Für dich und um den Mann, den du liebst. Aber wie? Und … würde sie ihr Ziel erreichen?

 

Als Lilly Heiligendamm erreicht hatte und die Schönheit des Blicks auf eine friedliche Ostsee sie umfing, wurde sie von einem Gefühl der Aufregung ergriffen. Sie grüßte einige Kutscher, die an der Kutschenstation auf Gäste warteten, und lief zwischen Kurhaus und »Grand Hotel« auf die Promenade zu.

Wie immer zur Zeit der Sommersaison herrschte auch heute in Deutschlands erstem und vornehmstem Seebad reges Treiben. Wohin Lilly auch sah, überall promenierten Sommerfrischler auf den Wegen um das altbewährte Kurhaus in der Mitte des Gebäudeensembles aus acht wunderschönen Villen im Osten, dem »Grand Hotel«, der »Burg Hohenzollern« und den großherzoglichen Logierhäusern »Villa Krone«, »Marien-Cottage« und »Alexandrinen-Cottage« im Westen. Von überallher strebten frohgelaunte Ausflügler auf die Seebrücke zu, wo ein geflaggter Dampfer für einen Ausflug nach Lübeck, Travemünde oder Kopenhagen auf sie wartete. Weiter draußen auf dem Meer schnitten Segelboote durch die Wellen. Auch an Land blies ein warmer, kräftiger Wind. Die Sonne schien, und am Himmel war kein einziges Wölkchen zu sehen.

Es war, als hätte es diesen unglückseligen Vormittag und die düsteren Stunden des gestrigen Tages nicht gegeben. Lilly zwang sich, weder an das eine noch an das andere zu denken. Stattdessen suchte sie einen Moment lang Schutz im Schatten jener Bäume, die um den berühmten Gedenkstein Heiligendamms gepflanzt worden waren. Der riesige Findling aus rotem Granit, den man einst auf dem Acker des Elmenhorster Bauern Schmitt gefunden hatte, wog gut zweihundertzwanzig Tonnen. Man hatte ihn unter Hofbaumeister Demmlers Anleitung mit großem Aufwand und Muskeleinsatz über elf Kilometer hierhertransportiert und zum fünfzigjährigen Bestehen des Seebades 1843 an dieser Stelle aufgestellt.

Einen Moment lang verlor Lilly sich im Anblick der Villen, ihrem Charme, ihrer klassizistischen Eleganz. Und dann blieb ihr Blick am berühmten Sinnspruch Heiligendamms hängen, der in goldenen Lettern im Gesims des Kurhauses, über dem säulengeschmückten Portal, prangte: HEIC TE LAETITIA INVITAT POST BALNEA SANUM. Hier erwartet dich Freude, entsteigst du gesundet dem Bade …

Konzerte, Liederabende, Billard- und Kartenspiel, Tanz und Genuss, ja, diese Freuden waren wichtiger Bestandteil der Badekur, doch nicht für sie. Sie war nur sicher, vom Meer selbst geheilt worden zu sein. Sie erinnerte sich an den Moment, als von Maichenbach sie gerettet hatte. Es war wie ein verhaltenes Aufatmen gewesen, eine kühle, leichte Ruhe. Ein gutes Gefühl, das sie gerne länger genossen hätte, wäre von Maichenbach nicht so neugierig gewesen. Ob sein Hund wohl noch immer mit ihrer Schürze spielte? Und wer mochte wohl eines Tages ihr Kochbuch Cuisine d’Amour kaufen? Oder würde es wie die anderen Bücher in den Regalen des Antiquars einstauben? Verzauberte es gar bereits jemanden, der seine Rezepte so schätzte wie sie?

Schon jetzt bereute sie, es verkauft zu haben.

Sie ließ die Schönheit der Prachtbauten Heiligendamms hinter sich und spazierte die Promenade westwärts, am »Grand Hotel«, der »Burg Hohenzollern« und den großherzoglichen Villen unterhalb der Steilküste entlang. Vor der Bucht, wo sie ihrem Leben hatte ein Ende setzen wollen, beschleunigte sie ihre Schritte. Dann begann sie zu laufen, bis sie außer Atem war und endlich die Ruhe fand, dem Meer Abbitte zu leisten – und sich selbst das zu verzeihen, was sie gestern noch hatte tun wollen.

Dann begann sie, wie schon so oft, Muscheln zu suchen: zarte Platt- und Baltische Tellmuscheln – weiß, gelb, orange, rosa –, große Sandklaff- und Islandmuscheln, Venus- und stachelige Herzmuscheln, gedrungene Trogmuscheln – graugelb, hell- und dunkelbraun –, weißliche, hell- bis grünlichbraun genetzte Wellhornschnecken, orangene und gelbe Strandschnecken, die eine und andere Krause Bohrmuschel. Wählerisch aber war Lilly auch heute bei den Kammmuscheln. Sie liebte ihre Form, weil sie sie einmal dazu gereizt hatten, sie neu zu füllen …

Die See war weit und frei. Die Möwen jagten mit dem Wind. Kurze eilige Brandungswellen verwischten Lillys Spur. Es war wie ein Sog, der sie zwang, dem langgezogenen Band des Strandes zu folgen.

Sie merkte kaum, wie die Sonne immer höher stieg und auf sie herabbrannte. Längst begegnete sie niemandem mehr. Nur der Wärter des Leuchtturms Buk auf dem Signalberg bei Bastorf, der diesen Teil der Wismarer Bucht überwachte, würde sie vielleicht mit dem Fernglas beobachten können. Kühlungsborn war nicht mehr weit, ihr Eimer gefüllt mit Muscheln, die leise aneinanderrieben. Nur der unaufhörliche Schlag des Wassers klang wie der Herzschlag der Ewigkeit. Und erst jetzt wurde Lilly bewusst, dass sie schon immer gelaufen war, um einer zehrenden Kraft, einer tief verborgenen Sehnsucht zu entkommen.

Ja, die heutige unerwartete Begegnung mit Clemens und seiner Mutter hatte etwas in ihr in Bewegung gebracht.

Je länger sie nachdachte, desto klarer wurde es ihr. Mit ihm, Clemens, hatte alles vor vielen Jahren begonnen. Sie hatte ihn von Anbeginn an geliebt. Auch er hatte in Berlin, allerdings im vornehmen Zehlendorf, gewohnt und die Sommerferien abwechselnd bei Joachim auf dem Strattenschen Rittergut und dem väterlichen Rittergut bei Rostock verbracht.

Jahrelang hatten sie als Kinder diese Zeit miteinander geteilt, bis zu diesem Sommerabend ’78. Sie war vierzehn, Clemens und Joachim waren siebzehn Jahre alt gewesen.

Sie hatten, wie so oft, den ganzen Tag miteinander gespielt, waren ausgeritten, in die Kirschbäume gestiegen, hatten Brom- und Himbeeren vom Strauch gegessen, am frühen Abend am Teich Fische gebraten, heimlich eine Flasche mit Mirabellengeist aus dem Gutsherrnkeller geholt, bis Joachim spät in der Nacht auf die Idee gekommen war, einen ewigen Freundschaftsbund zu schließen. Lilly war sofort einverstanden gewesen, sie vertraute ihm und wusste, wie sehr er sie mochte. Aber Clemens schüttelte sanft den Kopf, zog sich an einen Birnbaum zurück, lehnte sich an den Stamm und schaute ihnen mit einem unvergesslich rätselhaften Ausdruck in seinen Augen zu. Diesen Blick hatte sie nicht vergessen können. Bestürzt hatte er sie, bestürzt und aufgewühlt. Sie verstand ihn damals nicht und verstand ihn auch heute nicht. Im Jahr darauf feierte Clemens sein Abitur. Danach verloren sie sich aus den Augen. Drei Jahre lang arbeitete sie ohne Sommerpause in der Strohhutfabrik – bis zu ihrer Rückkehr im Frühjahr vor vier Jahren.

Erst mit dem Buch Cuisine d’Amour war etwas in ihr berührt worden, dessen sie sich nicht bewusst gewesen war. Doch heute wusste sie: Das Buch hatte auf eine indirekte Weise etwas mit ihrer Sehnsucht nach Clemens zu tun. Es war für sie stets mehr gewesen als nur eine Sammlung hübsch illustrierter Blätter mit außergewöhnlichen Rezepten. Es hatte ihr geholfen, in Maître Jacobis Küche ihrer Sehnsucht nach Clemens entkommen zu können, indem sie kulinarische Traumwelten entwarf. Dieser Höhenflug der Sinne, dieser Rausch von Zunge, Herz und Gaumen, war ihr Trost gewesen.

Jetzt vermisste sie ihn, als sei er ein verlorengegangener Teil ihrer Seele.

Sie vermisste das Buch. Sie vermisste Clemens. Sie vermisste ihre Süßspeisen. Ihre Welt. Ihre Liebe.

Was blieb ihr noch?

Nichts als ihre Kleidertaschen, die Muscheln und die zehrende Lust des Suchens nach jener besonderen Kammmuschel, die ihren Schmerz für immer in sich einschließen würde.

Ihr Weg war die Suche, das Sehnen nach dieser einen Muschel.

Das war ihr Geheimnis, das in ihrer Seele verborgen war wie ein Bernstein auf dem Meeresgrund.

Sie stellte ihren gefüllten Eimer ab, weil sie eine besonders schöne, großbauchige Herzmuschel zwischen den nass glänzenden Kieseln entdeckt hatte. Sie bückte sich und umschloss sie mit ihren Händen. Zu ihren Füßen schwappten leise die Wellen an den Strand. Die Sonne breitete ein Netz aus silbrigen Lichtreflexen über dem Meeresblau aus. Es war, als höbe die ätherische Leichtigkeit des Himmels sie empor, als wiege das Spiel der Wellen sie auf und ab, auf und ab.

Frei und geborgen sein, unbeschwert und getragen, was für ein herrliches Gefühl!

Das ist ein Glück, das mir niemand nehmen kann. Niemand.

Für das aber, was du liebst, Lilly, wirst du selbst kämpfen müssen.

Ich liebe dich, Clemens, so wie ich das Meer, das Licht, den Himmel, die Luft liebe. Niemand wird dich je ersetzen können. Niemand. Ich möchte dir helfen, den Weg zu mir zu finden. Aber wie?

Und wie soll ich dich davon überzeugen, dass ich keine Giftmischerin bin?

Die Herzmuschel fest in der einen, den mit den anderen Muscheln und Schnecken gefüllten Eimer in der anderen Hand, kehrte Lilly nachdenklich nach Heiligendamm zurück.

 

An der Seebrücke hatte ein Ausflugsdampfer angelegt. Zwischen den aussteigenden Sommerfrischlern entdeckte Lilly ihren Lebensretter Xaver von Maichenbach und den weiß-braunen Terrier an der Leine. Hechelnd und schwanzwedelnd zerrte der Hund seinen Herrn zu Lilly hin.

»Ah, was für ein glücklicher Zufall!«, rief von Maichenbach und kam Lilly mit einem herzlichen Lachen entgegen. »Wie schön, dass ich Sie wiedersehe. So ist die Meerschaum-Venus doch nicht davongeschwommen.«

Sie mussten ein wenig beiseitetreten, um den zahlreichen Familien mit Kleinkindern und älteren Ehepaaren Platz zu machen, die es eilig hatten, die Seebrücke zu verlassen, um Hunger und Durst zu stillen. Lilly gestand sich ein, froh zu sein, von Maichenbach wiederzubegegnen. Sie begrüßte ihn und bückte sich sogar zu dem Hund hinab, um ihn zu streicheln.

»Ich bin Ihnen gestern ohne Abschied davongelaufen«, sagte sie verlegen.

»Das ist verständlich, schließlich waren Sie ja reichlich durcheinander, nicht? Wollen Sie mir nun bitte Ihren Namen verraten?«

»Lilly Alena Babant«, sagte sie scheu.

»Lilly? Was für ein schöner Name. Kommen Sie, wir müssen uns unbedingt unterhalten. Ich habe die ganze Zeit an Sie gedacht und habe Fragen über Fragen, die mir doch arg zu schaffen machen. Ich würde gern ein wenig mehr darüber erfahren, warum Sie mir gestern die Chance gaben, etwas Gutes zu tun. Dürfte ich Sie zu einer Spazierfahrt einladen?«

Lillys Gedanken überschlugen sich. Was mache ich jetzt? Soll ich es wagen? Kann ich ihm vertrauen? Er hat gestern meine verzweifelte Lage nicht ausgenutzt. Im Gegenteil, er war geradezu ritterlich. Und ich? Ich möchte mich noch einmal aussprechen hören, was ich erlebt habe. Ja, das ist es. Sie gab sich einen Ruck.

»Also, wohin wollen wir?«

Sie zögerte, doch dann schlug sie vor, hinaus nach Börderende, einem Fischerdorf vier Kilometer östlich von Heiligendamm, zu fahren. »Ich danke Ihnen noch einmal für gestern«, flüsterte sie ihm zu, als sie nebeneinander in der Kutsche saßen, den Terrier zwischen sich. »Ich fürchte, ich habe wirklich etwas Furchtbares getan.«

»Allerdings. Nun, auf ans Meer!«

Am Damm von Börderende angekommen, löste von Maichenbach seinen Hund von der Leine, der sofort begeistert den Seemöwen nachjagte. So setzten sie sich fernab des Trubels an den Strand, die glitzernde Ostsee vor sich, den zwischen Wiesen gelegenen Conventer See hinter sich.

Lilly legte Schirm und Hut ab. Der warme Wind zupfte an ihren blonden Locken. »Herrlich ist es hier!« Sie breitete die Arme aus. Für einen Moment genoss sie den wolkenfreien Himmel, der sich wie ein seidenes Tuch über das glitzernde Meer wölbte. Ein Stück weiter westlich schimmerte die schneeweiße Perlenkette Heiligendamms, Kur- und Logierhäuser sowie großherzogliche Villen. Von der Seebrücke legten mehrere Segelschiffe ab, die unter dem sich rasch aufblähenden Großsegel Fahrt aufnahmen. In der Nähe trat ein alter Fischer auf den Strand und begutachtete ein Netz, das zwischen Staken aufgespannt war. Alles sah so friedlich aus, als habe es nie einen stürmischen Nordost gegeben, nie solch düstere Stunden wie gestern, an die sie vorhin von Maichenbachs Nähe noch einmal schmerzlich erinnert hatte. Ihre Finger glitten über die glatten Kiesel.

»Vielleicht haben Sie jetzt Lust, mir alles zu erklären«, begann von Maichenbach ruhig. »Niemand wirft sein Leben einfach so fort. Erst recht nicht jemand wie Sie. Dafür braucht es schon einen sehr triftigen Grund.«

Lilly schwieg. Sie wusste nicht, womit sie anfangen sollte. Mit Berlin? Dem Gutshof der Strattens? Dem Haus ihrer Großeltern? Der Terrier bellte auffordernd, schaute zwischen beiden hin und her.

»Wer sind Sie, Lilly?«, drängte von Maichenbach leise. »Wissen Sie, was mir gestern auffiel? Sie rissen Ihre Schürze ab und sagten, alles sei sinnlos. Es ist eine Kochschürze, nicht wahr? Hat die Schürze etwas mit Ihrer Verzweiflung zu tun?«

»Wo ist sie eigentlich?«

»Ich lasse sie gerade waschen … Brauchen Sie sie denn so dringend?«

Lilly gab sich einen Ruck. »Nein, jetzt brauche ich sie nicht mehr. Ich bin, ich war Süßspeisenköchin in der ›Strandperle‹, Herr von Maichenbach.«

Er erblasste. »Sie sind es nicht mehr?«

Stumm schüttelte sie den Kopf.

»Haben Sie dort noch vorgestern Abend gekocht?«

Sie nickte.

»Dieses Dessert … Mohn-Vanille-Parfait mit Schokolade und …« Er überlegte.

»… und einer Schaumcreme aus Sanddorn und Honigmelone«, ergänzte sie leise.

»Serviert in einer kristallenen Schale …«

»Sie hat die Form einer Großen Kammmuschel. Es war meine Idee, die Desserts so anzurichten …«

Fassungslos und voller Bewunderung schaute er sie von der Seite her an. Er lupfte seinen Borsalino. »Ich habe eine Venus gerettet, eine Köchin der Liebe! Ich muss sagen, das hätte ich mir niemals vorstellen können. Sie müssen wissen, bis zu Ihrer unseligen Tat habe ich mich über die Langeweile hier geärgert: die Spielbank geschlossen, die Damen nicht nach meinem Geschmack, das Meer zu kalt, eine Bekannte, die ich erwarte, noch nicht eingetroffen. Ich möchte nicht ironisch sein, aber durch Sie hat sich für mich alles geändert. Erlauben Sie mir meine Neugier …«

»Ich habe drei Jahre lang erfolgreich in der ›Strandperle‹ gearbeitet und war sehr stolz darauf. Denn ich hatte schlimme Jahre hinter mir.« Sie machte eine kurze Pause. Nein, alles würde sie ihm nicht erzählen. »Kurz gesagt: Mir gelang es, mich aus äußerst ungünstigen Verhältnissen zu befreien. Aber durch einen dummen Fehler habe ich vor zwei Tagen mein ganzes Glück verspielt. Und das nur wegen eines Buches, mit dem alles begann. Es hieß Cuisine d’Amour.«

»Küche der Liebe. Sie verstehen also Französisch?«

Der Hund legte sich neben sie. Lilly streckte ihre Hand nach ihm aus und kraulte ihm den Kopf. »Nein, ich kann kein Französisch«, murmelte sie.

»Das dachte ich mir. Ein Kochbuch über die Liebe … Es hat Ihnen wohl ein Gast als Anerkennung geschenkt, nicht?«

»Was denken Sie von mir? Ich fand es auf dem Dachboden meines Onkels in Doberan. In einer Kiste mit dem Hausrat meiner verstorbenen Tante Bettine.«

»Verstehe, Ihr Onkel war Soldat im Frankreich-Feldzug und brachte es mit. Eine etwas ungewöhnliche Kriegsbeute. Aber warum nicht? Auf jeden Fall konnten Sie in dem Buch nicht lesen. Also, was geschah dann?«

Sie fasste das Erlebte zusammen, bis zu dem Punkt, wo ihr besonderes Dessert ins Spiel kam.

»Safranbällchen mit Karamellpudding!«, wiederholte von Maichenbach. »Himmlischer Orient! Köstlich! Und die Geleesterne?«

»Aus ungekochtem Holundersaft. Sie wissen natürlich, was passiert, wenn man ungekochten Holundersaft trinkt?«

»Beginnt man dann noch mehr zu schwitzen?«

»Nein, das geschieht nur, wenn der Holundersaft heiß ist. Dann hilft er gegen Fieber und ist gut bei Erkältungen. Nein, im rohen Zustand genossen, bekommt man Koliken und, na ja … Jedenfalls rief mich Professor Jacobis Bruder, Maître Jacobi, gestern zu sich und entließ mich.«

»Das ist bedauerlich. In der Tat. Ihre Arbeit fehlt Ihnen sicher sehr, oder?«

»Ja, seit ich denken kann, habe ich es geliebt, in der Küche zu experimentieren. Und so habe ich mich eigentlich immer als Spezialistin für süße Geschmacksträume gesehen.« Lilly merkte, wie ihr die Worte leicht über die Lippen kamen. Ihrer Mutter gegenüber hätte sie sich nicht so frei äußern können, sie hätte sie doch nicht ganz verstanden. »Süßes inspiriert mich, es regt meine Phantasie an. Sie wissen doch: Nach einem mehrgängigen Menü erwartet der Genießer von einem Dessert, dass ihm etwas Besonderes geboten wird. Ich war immer der Meinung, dass es nicht einfach ein deftiger, süßer oder sahniger Paukenschlag sein darf. Nein, ein gutes Dessert muss wie eine romantische Melodie sein, im Gast weiterklingen, ihn zum Lächeln bringen. Es sollte ihn verzaubert haben, bevor er die Tafel verlässt. Können Sie das verstehen?«

»Aber ja, sicher. So, wie Sie es beschrieben haben, klingt es wunderbar anschaulich. Und glauben Sie mir, die Desserts in der ›Strandperle‹ haben auch genauso geschmeckt. Mein Kompliment. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie diese Geschmacksmelodien komponiert haben … Das ist doch wunderbar. Quasi gedoppelte Süße und Schönheit. Ich darf das sagen – ich esse nämlich sehr gern sehr gut.«

»So sind Sie ein Gourmet, Herr von Maichenbach?«

»Allerdings, für mich gibt es kaum Schöneres, als das Gute aus allerlei Küchen zu genießen. Ich sagte Ihnen ja schon, ich bin Pfälzer … und damit ein Genießer durch und durch. Also, Lilly, Sie haben ein großes Talent. Sie verstehen Ihr Handwerk, mehr noch, Sie lieben es. Warum gehen Sie nicht in eine Großstadt? Nach Dresden, Berlin oder Hamburg?«

»Wahrscheinlich weil ich das wenige Schöne in meinem Leben nur hier erlebt habe.« Einen Augenblick lang verharrte Lilly in der bittersüßen Schwere der Erinnerung. Doch dann besann sie sich und sagte: »Ich möchte hierbleiben. Dies ist meine Heimat, die Heimat meiner Mutter, meiner Vorfahren. Auch wenn mir mein Onkel und mein Cousin das Leben schwermachen. Denn hier habe ich meine besten Freunde. Außerdem muss ich für meine Mutter sorgen. Sie ist lungenkrank.«

»Ihre Mutter braucht also Ihre Pflege, und Sie leben bei Ihrem Onkel.«

»Ja, auf dem Dachboden.«

»Auf dem Dachboden? Die Süßspeisenköchin der ›Strandperle‹? Das ist geradezu impertinent.«