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Eine Liebe unter der warmen Sonne Italiens: Der bewegende historische Roman »Die Malerin von Genua« von Katryn Berlinger jetzt als eBook bei dotbooks. Ende des 19. Jahrhunderts reist die junge Engländerin Fiona nach Ligurien, um das Porträt des bekannten Tuchfabrikanten Fabricio Perlucci zu malen … und verliebt sich leidenschaftlich in dessen Sohn Saverio. Doch dann wird ihrem Auftraggeber ein überaus wertvolles Damasttuch gestohlen – und jeder hält Fiona für die Schuldige. Sie ahnt, dass es in der Vergangenheit der Familie ein dunkles Geheimnis gibt, das sie lüften muss. Nicht nur, um ihren Ruf zu retten – sondern auch ihre Liebe zu Saverio. Denn der alte Perlucci ist überzeugt, dass Fiona versucht, seine Familienehre zu zerstören, die er mit aller Macht bewahren will ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der ergreifende Roman »Die Malerin von Genua« von Katryn Berlinger. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 464
Über dieses Buch:
Ende des 19. Jahrhunderts reist die junge Engländerin Fiona nach Ligurien, um das Porträt des bekannten Tuchfabrikanten Fabricio Perlucci zu malen … und verliebt sich leidenschaftlich in dessen Sohn Saverio. Doch dann wird ihrem Auftraggeber ein überaus wertvolles Damasttuch gestohlen – und jeder hält Fiona für die Schuldige. Sie ahnt, dass es in der Vergangenheit der Familie ein dunkles Geheimnis gibt, das sie lüften muss. Nicht nur, um ihren Ruf zu retten – sondern auch ihre Liebe zu Saverio. Denn der alte Perlucci ist überzeugt, dass Fiona versucht, seine Familienehre zu zerstören, die er mit aller Macht bewahren will ...
Über die Autorin:
Katryn Berlinger arbeitete lange Zeit als Direktionsassistentin, entschied sich dann aber für ein Studium der Germanistik und Systematischen Musikwissenschaft. Nach ihrem Abschluss war sie in einem Hamburger Schallplattenunternehmen tätig. Einige Jahre später tauschte sie dann den Beruf gegen die Familie ein. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Norddeutschland.
Von Katryn Berlinger erscheinen bei dotbooks die historischen Romane »Der Kuss der Champagnerfürstin«, »Die Frauen von Ahlbeck«, »Die Zuckerbäckerin von Riga« und »Die Liebe der Zuckerbäckerin« erschienen; letztere sind im Sammelband »Das Schokoladenmädchen« zusammengefasst.
Außerdem veröffentlichte sie bei dotbooks den Familiengeheimnis-Roman »Die Insel der Herzkirschen« und den humorvollen Liebesroman »Mit dem falschen Mann fing alles an«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2023
Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel »Im Schatten der Olivenbäume« bei Knaur
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nacht. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Light and Vision, Aleksey Nazarov
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-664-1
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Katryn Berlinger
Die Malerin von Genua
Roman
dotbooks.
Wer einen Olivenbaum
sein Eigen nennt,
stirbt niemals arm.
Ligurisches Sprichwort
»Zwei Flüssigkeiten gibt es, die dem menschlichen Körper angenehm sind, innerlich der Wein, äußerlich das Öl, beide von Bäumen kommend, aber das Öl etwas notwendiger.«
aus: Plinius, Naturalis Historia
Dichte Frühlingsnebel wallten über Schottlands gebirgige Highlands. Dort, wo der Wind das eintönige Weiß auseinander riss, tauchten Äcker, Weiden, Torfstellen und vereinzelt Kiefern auf. Es war ein milder Winter gewesen, und so hielt sich der Schnee nur noch in Mulden oder an nördlichen frostigen Waldrändern. Einem schwarznassen Teppich gleich überzogen Moore und Heidekraut das weite Land. Noch fehlte der Sonne Kraft, doch dort, wo ihr weißliches Strahlenbündel eine Lücke im Nebel fand, warf sie ein glitzerndes Netz auf Teiche und Bäche.
Kein Laut, kein Rauch drangen aus den Weilern und einsamen Gehöften. Sie wirkten verlassen, und man hätte glauben können, sie hätten die Stille um sich herum aufgesogen, um geduldig darauf zu warten, bis die Natur kraftvoll genug war, ihr altes Gestein mit frischen Moosen und Flechten samtig einzukleiden. Es war das Antlitz einer Landschaft, die sich selbstgenügsam und karg gab. Befremdlich hingegen, weil es schien, als würden sie von nervöser Gier getrieben, wirkten die Fuhrwerke und Leiterwagen, die an diesem Märztag des Jahres 1894 auf einer schmalen Landstraße auf ein Castle jenseits des Tay-Tals Zufuhren.
Es war um die Mittagszeit, als auf einem der zahlreichen Hügel, die das Tal säumten, eine Kutsche hielt, aus der eine junge Frau ausstieg. Sie warf sich ein mit weißem Pelz gefüttertes Cape über die Schultern und winkte dem Reiter zu, der ihr seit Dundee, wo sie beide aufgebrochen waren, nicht von der Seite gewichen war.
»Jefferson!«, rief sie. »Jefferson, wir sind da! Nun, was sagst du? Habe ich zu viel versprochen?«
»Nein. Schottisch leben heißt nun mal romantisch leben. Trotzdem, welch ein Glück für mich, dass ich kein Romantiker bin, sondern ein amerikanischer Impressionist.« Der junge Mann, der dies so freimütig wie fröhlich sagte, zügelte sein Pferd und sprang ab, noch ehe es zum Stehen gekommen war. »Aber es tut gut, sich wieder frei zu fühlen, Fiona. Ich glaube, es wäre besser, diesen munteren Fuchs hier zu behalten und zu schwören, die nächsten sechs Monate nie mehr einen Fuß in eine geschlossene Kutsche zu setzen.« Er klopfte dem Pferd die Flanke und schob seine Samtmütze in den Nacken. Mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen schaute er Fiona an. Die feuchtkalte Luft machte ihm sichtlich nichts aus. »Ich finde, es ist besser, das Leben unter freiem Himmel zu genießen, als Landsitze oder Stadtvillen zu sammeln, unter deren Dächern es zwar behaglich sein mag, wo aber bald die Seele ausdörrt und man lebendigen Leibes vermodert.« Er streckte seinen Arm in Richtung des Castle aus. »Das also ist es, ja?«
Fiona ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ja«, sagte sie schließlich, und es klang, als wäre sie aus einer anderen Gedankenwelt aufgetaucht. »Wenn es einen Ort gibt, wo ich habe Kind sein dürfen, dann war es hier. Ich durfte während der Sommermonate spielen und toben, den Nebel anschreien, die Leute auslachen, Schabernack treiben ‒ kurzum, ich durfte alles.« Sie lachte. »Jeder musste mir gehorchen. Wenn mir einfiel, unsichtbar sein zu wollen, musste man mir die Mahlzeiten an geheime Orte bringen, ohne dass man mich ansah, und wenn ich Lust hatte, mit anderen Kindern Räuber zu spielen, war ich die Räuberhauptfrau, die in einer Ponykutsche hinausfuhr und andere antrieb, eine Hütte aus Pfählen, Stroh und Moos zu bauen.« Fiona kehrte für einen Moment in Gedanken in eine dieser Hütten zurück, bevor sie mit leiser Stimme fortfuhr: »Weißt du, Jefferson, ich hatte immer Ideen, was man so alles anstellen könnte. Der Spaß ließ erst nach, als ich erleben musste, wie es ist, wenn man im Sommer im Bach steht und sich ein Aal langsam um dein Bein windet. Wenn dann niemand da ist, der dein Schreien hört, und du vor Grauen fast das Atmen vergisst, wirst du vorsichtiger. Irgendwann kam dann der Tag, wo mich die Wildnis hier langweilte. Von da an habe ich das Leben in London und Aufenthalte in Bath schätzen gelernt.«
»Aha, dann schlug die Kultur zu.«
»Ja, so ungefähr.« Nachdenklich betrachtete Fiona das Gemäuer aus grauem Stein, dessen neblige Hülle das unruhige Treiben, das dort herrschte, kaum verbergen konnte. Menschen drängten durch alle möglichen Türen, schleppten Möbel, Truhen und Hausrat heraus, beluden Fuhrwerke und zurrten die Ladung mit Tauen fest. »Es sieht wie Leichenfledderei aus«, sagte sie verdrossen. »Die Wagen erinnern mich an Ameisen, die davonschleppen, was sie tragen können. Oder noch schlimmer, sie sind wie dicke, schwarze Mistkäfer, die heimtückisch im Nebel auftauchen und dann mit ihrer Beute wieder im Nebel verschwinden.«
»Sehr expressiv ausgedrückt, Miss Turlington«, sagte Jefferson betont gespielt. »Sie sollten es malen. Aber zu Ihrer Beruhigung, ich empfinde ebenso.«
Fiona straffte sich, ging aber nicht auf Jeffersons Ton ein. »Mutter hat nicht gewartet«, sagte sie bitter. »Eigentlich hätte ich es wissen sollen. Sie ist uns zuvorgekommen.«
»Sie wird sich nach dem Termin deiner Abschlussprüfung erkundigt haben, die du ihr verheimlicht hattest, Liebes. So wie du sie mir geschildert hast, wollte sie die Auflösung ihres Castle selbst in Angriff nehmen. Vielleicht sogar, um dich zu schonen.«
»Du meinst, damit ich meine Prüfung bestehe?« Fiona schüttelte den Kopf. »Nein, Jefferson, so weit geht ihre Liebe zu mir nicht. Sie hat meine Prüfungssituation ausgenutzt, um das Castle auszuweiden und alles, wirklich alles zu Geld zu machen.«
»Glaubst du tatsächlich, sie wollte nicht, dass du dir aus eurem Besitz aussuchst, was du behalten möchtest?«
»Natürlich, Jefferson.« Fiona klang so wütend wie verzweifelt. »Nur so konnte sie sich dafür rächen …«
»… dass du mich, einen Künstler und noch dazu einen Amerikaner, liebst? Wolltest du das sagen?«
Er zog sie an sich, doch anstatt ihn anzulächeln, sah Fiona ihn nur ernst an und erwiderte: »Geld, Jefferson, ist mir leider nicht unwichtig. Ich werde meinen Teil bekommen, verlass dich drauf. Selbst wenn ich ihn meiner Mutter abpressen muss.«
»Beruhige dich«, meinte Jefferson mild. »Der Verkauf einer eurer Stadtvillen ‒ hat er nichts eingebracht? Besser gesagt, nicht genug?«
»Sie hat es mir nicht verraten«, antwortete Fiona. »Aber ich weiß, dass es reichen müsste, Vaters Pensionsdasein mit einem hübschen Inselanwesen auf Jersey zu versüßen. Was du aber vor dir siehst, ist mein Kinderschloss, verstehst du? Und das heißt, ich werde meine Erbrechte einfordern, sobald meine Eltern aus China zurück sind.«
»Und wann ist das?«
»Sie wollten zu Weihnachten wieder hier sein. So schrieb es Vater zumindest in seinem letzten Brief. Aber komm jetzt. Einmal noch, ein einziges Mal noch möchte ich da unten über eine der Türschwellen das Reich meiner Kindheit betreten.«
»Wenn’s nicht mehr ist«, meinte Jefferson und setzte seinen Fuß in den Steigbügel. »Du weißt ja, ich mag diesen Landstrich nicht, Fiona. Ich fürchte sogar, dass es nicht allein die Highlands sind, sondern auch seine Menschen, mit einer Ausnahme ‒ und die bist du.«
»Du redest wie Vater«, sagte Fiona leise und musterte Jefferson liebevoll. »Aber jetzt lass dir bitte nichts anmerken. Highlander sind nämlich kriegerisch.«
»O ja, sicher. Sie lieben Bürgerkriege noch mehr als wir Amerikaner«, entgegnete Jefferson trocken.
Er gab seinem Fuchs die Sporen und galoppierte dem Castle entgegen, während Fiona sich durch den Wagenschlag zwängte und sich im Spiegel die Frisur richtete.
Im großen Entree des Castle überraschte Fiona Hausmeister Kidney im Gespräch mit Mr. Pines, dem Vermögensverwalter ihrer Eltern. »Die Anweisungen Ihrer Frau Mutter werden genau befolgt, Miss Turlington«, unterbrach Pines das Gespräch, als er Fionas ansichtig wurde. Ihm war anzusehen, dass er sich bemühte, seiner Überraschung Herr zu werden und einen selbstsicheren Eindruck zu vermitteln.
»Das sehe ich, Mr. Pines«, entgegnete Fiona schroff und bot ihm und Hausmeister Kidney, der sich stumm verbeugte, die Hand. »Aber sagen Sie bitte, wann hat meine Mutter den Ausverkauf des Castle angeordnet?«
Pines tat, als würde er überlegen. »Es muss vor gut drei Wochen gewesen sein, Miss Turlington. Sie erinnerte mich daran, dass es schon seit langem einen Interessenten für den Besitz gebe …«
»Ach, in der Tat? Mr. Pines, auch ich weiß, dass die Courtneys schon seit gut einem halben Jahrzehnt ihr Familieneigentum zurückkaufen wollen. Sie sind die Nachfahren des Erbauers, der einst wegen einer Fehlinvestition bankrottierte und all seine Immobilien zu Geld machen musste. Nun gut, wenigstens kommt dann alles wieder in die richtigen Hände.« Fiona wandte sich Jefferson zu. »Aufschlussreich, wie? Vor drei Wochen schrieb ich meinen Eltern, dass du aus Amerika zurückkommst. Glaubst du mir jetzt?«
»Ich muss es wohl«, murmelte Jefferson. »Deine Mutter wollte sich tatsächlich an dir rächen.«
Fiona nickte. Um Fassung bemüht, griff sie nach Jeffersons Hand und sagte bitter: »Sie haben schnell gehandelt, Mr. Pines. Vorbildlich.«
»Das ist auch meine Pflicht, Miss Turlington.«
Fiona presste die Lippen zusammen. Der Vermögensverwalter schlug die Augen nieder.
»Ich hoffe, Mr. Pines«, sagte sie eisig, »dass die Verhandlungsprovision Ihnen wenigstens ein paar gute Flaschen Whisky eingebracht hat. Guten Tag.« Sie wandte sich brüsk ab und eilte durch das Entree zur Kellertreppe. Jefferson beschied sie, draußen zu warten. »Versteh das bitte, Jefferson, aber ich möchte ein letztes Mal hier mit meinen Erinnerungen allein sein.«
Die Treppe führte Fiona in einen der tonnenförmigen Gewölbekeller. Doch statt mit sich allein zu sein, hörte sie schon nach der ersten Biegung das Tratschen und Feilschen der Dorffrauen, die Vorratsschränke öffneten und neugierig die schweren Bewahrtruhen aufklappten, um ausgemustertes Geschirr oder Küchentücher auf weitere Verwendbarkeit zu prüfen. Ob Waschtröge, Kübel, Weinregale, Zinnwannen, Korbflaschen ‒ Fiona hörte ein unablässiges Schwatzen und wurde Zeuge, wie ein Stück nach dem anderen aussortiert wurde.
Sie sind so gierig, dass sie mich gar nicht bemerken, dachte sie. Ob sie sich eigentlich im Klaren sind, dass sie in meiner Kindheit herumwühlen? Wissen sie, wie oft ich hier unten war und mich zwischen den Truhen versteckt habe? Fiona räusperte sich. Die Frauen schauten auf, eine schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.
Sie grüßten verlegen, aber keine von ihnen senkte die Augen. Fiona hatte plötzlich das Gefühl, als wäre sie der Eindringling und nicht diese Dorffrauen, die ihr jetzt so fremd waren, obwohl sie sie schon seit ihrer Kindheit kannte. Lass sie, sagte ihr eine innere Stimme. Sie können wirklich vieles gebrauchen.
Fiona wünschte einen guten Tag und ging wieder nach oben. Sie durchwanderte beide Stockwerke, schaute in jeden Raum und stand schließlich vor ihrer Lieblingstreppe, der »knarzenden Lady«, wie sie sie einst für sich getauft hatte. Die Treppe führte auf den Dachboden, wo sie hoffte für ein paar Minuten Ruhe und Besinnung zu finden ‒ wie früher, wenn sie hier oben die Staubstrudel in den Sonnenstreifen beobachtete, malte, träumte oder las.
Hier wenigstens werde ich ein paar Schätze wiederfinden, dachte sie und suchte nach den vertrauten Koffern, in denen sie vor ihrem Studienbeginn Handarbeiten, Puppen, Schulhefte, Bilder, Briefe, Märchenbücher und Zeichnungen verstaut hatte.
Da vorne, hinter dem alten Paravent, bei der Luke … Fiona schaute um die Ecke und blieb wie elektrisiert stehen. Weder die großen Korbtaschen noch die Koffer waren vorhanden. Auch der Dachboden war wie leergefegt. Selbst die Spinnweben, die, seit sie denken konnte, zwischen den Dachbalken hingen, waren verschwunden. Geschockt und verwirrt hastete sie zurück ins Entree, wo ihr Heather, ein ehemaliges Dienstmädchen, über den Weg lief.
»Meine Puppen, meine Spielsachen, meine Bücher ‒ wo ist das alles?«
Das Dienstmädchen errötete und senkte den Kopf. »Heather, wo?«, fragte Fiona aufgebracht und packte sie am Arm.
»Kommen Sie, Miss, kommen Sie«, flüsterte Heather und vermied es, den Blicken von Kidney und Pines zu begegnen, die in der Tür standen und sie misstrauisch ansahen. Heather eilte über den Hof, an leerstehenden Stallungen vorbei, zu dem kleinen Steinhaus, in dem seit Generationen Schinken, Würste und Fisch geräuchert wurden.
»Du wirst mir doch wohl nicht erzählen wollen …«, begann Fiona zornig, doch sie verstummte mitten im Satz, als Heather die rostige Metalltür aufzog, die im Räucherhaus zu einem zusätzlichen Raum mit Kamin führte. Dort war ihre ganz persönliche »Zündelstelle«, wo sie einst mit kindlicher Lust Abfälle verbrannt und auf einem Dreibein Fliederbeersuppe gekocht hatte.
Fiona schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte auf. »Es tut mir so leid, Miss Turlington«, sagte Heather, »aber Ihre Mutter hat es so befohlen. Es war ihr wichtig, so wichtig, dass sie mir und Margie gedroht hat, dafür zu sorgen, dass uns die Courtneys nicht übernehmen, wenn wir es nicht tun würden.«
»Ihr habt alles … wirklich alles verbrannt?«
Fiona kämpfte mit den Tränen, Heather rang die Hände. »Ja, Miss. Sogar Ihr Taufkleid, genauso wie Ihre Märchenbücher, Ihre Schühchen und all die anderen Anziehsachen. Selbst Ihre Kinderbibel war darunter. Sie hat sie eigenhändig ins Feuer geworfen. Ich habe geweint, Margie auch. Aber Ihre Mutter stand völlig unbeeindruckt mit dem Schürhaken da und hat das Feuer unterhalten, bis alles Asche war.«
Fiona schwindelte.
Ihr kam es so vor, als würde ihre Mutter sie in diesem Moment auslachen und sich an ihrem Entsetzen ergötzen. Sie hat gewusst, dass ich kommen würde, dachte sie. Aber ich werde nicht weinen, Mutter, hörst du? Ich werde das hier genauso überstehen wie dein borniertes Gerede.
Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Noch einmal beschwor sie die Stimme ihrer Mutter, ihre stahlgrauen Augen, ihren Stolz: Ich will, dass du hier auf dem Castle lebst, Fiona, und nicht in Edinburgh oder London, wo du glaubst dir einbilden zu können, dieses unstatthafte Handwerk zu lernen. Ein Mann muss einen Beruf haben, Fiona, aber nicht unsereiner. Wir sind da, um zu leben, hörst du? Ein Mann darf Künstler sein, aber nicht eine Frau. Ein Mann kann Maler sein, aber nicht du. Ein standesgemäß aufgewachsenes Mädchen, das es sich leisten kann zu leben, gehört hierher, an den Platz seiner Kindheit. Und zwar so lange, bis dein Vater und ich einen Mann für dich gefunden haben. Merke dir, diesen Amerikaner, in den du dich verguckt hast, werde ich nie, niemals als Schwiegersohn akzeptieren. Hast du verstanden?
Ein Luftzug fuhr in den Aschehaufen und wirbelte weiße und graue Flöckchen auf. Jefferson war gekommen. Heather knickste und eilte nach draußen.
»Sie hat alles verbrannt, alles, was ich als Kind geliebt habe«, flüsterte Fiona. Jefferson legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Schweigend standen sie eine Weile nebeneinander. Als Fiona kalt wurde, sagte sie bitter: »Sie hat immer gemeint, ich müsse dankbar sein …«
»… dafür, dass sie dich verwöhnten?«
»Nein, dafür, dass ich nicht in Internaten aufwachsen musste, so wie mein Vater.«
»Ihr scheint euch nicht zu mögen …«
»Ich entspreche nicht dem Bild, das sie sich von mir gemacht hat.«
»Und dein Vater? Liebt wenigstens er dich so, wie du bist?«
»Ja, er ist ganz anders als Mutter ‒ tolerant, liebevoll, großzügig. Ich glaube, er ist heimlich stolz darauf, dass ich meinen eigenen Weg gehe. Und doch, er liebt uns beide ‒ mich als sein Kind und Mutter aber als die Frau, die ihn auf ihre Art fasziniert und nie langweilt. Manchmal verstehe ich ihn nicht, doch wer kann schon verstehen, warum Menschen einander lieben?«
Jefferson küsste Fiona auf den Mund. »Ich weiß, warum ich dich liebe. Ist das nicht die Hauptsache? Komm, Fiona, Liebes, lass los. Wir fangen ein neues Leben an, ein anderes. Weit weg von hier.«
Fiona brauchte eine Weile, um sich zu fangen, dann sagte sie: »Ja, bald, Jefferson. Aber jetzt will ich erst, dass sie erfahren, dass wir Ostern heiraten.«
»Endlich sagst du ja!« Er fasste Fiona um die Taille und wirbelte sie einmal um die Achse. »Vielleicht sollten wir beide in der Kutsche zurückfahren?«, neckte er sie. »Was meinst du?«
»Was ich meine? Ich meine, einer Frau steht es zu, frei zu entscheiden …«
»So? Was soll ich mir darunter vorstellen?«
Sie lächelte, küsste ihn auf die Stirn und lief über den Hof zurück. Dort bestieg sie kurzerhand seinen Fuchs und galoppierte davon.
Erst als sie auf der Landstraße alle Fuhrwerke überholt hatte, fiel ihr auf, dass der Nebel sich verzogen und die Sonne die Landschaft in ein weiches, helles Licht getaucht hatte. Doch statt der altvertrauten Wälder ragten Baumstümpfe aus der Erde, stapelten sich hier und da Baumstämme. Und es war nicht zu leugnen, fast alle Bauernhäuser standen leer. Man hat die Bauern verjagt, dachte sie, verjagt wie Kaninchen aus dem Bau für Holz und Siedlungen, für noch mehr Äcker, Torf- und Weideflächen. Highland Clearances accompli ‒ die Landreform war abgeschlossen.
Sie spornte den Fuchs an, um so schnell wie möglich nicht nur ihre Kindheit, sondern auch das hinter sich zu lassen, was neu und anders war ‒ riesige Schafherden mit schmutzigem Fell und Rotwild, das unter dem Hufschlag ihres Pferdes in seinen Gehegen auseinander stob wie ein Fliegenschwarm.
Wälder würde es hier nie mehr geben.
Am Empfang des Hotels Sedley, in dem sie seit der Abreise ihrer Eltern mit Jefferson wohnte, erreichte Fiona eine Woche später die Nachricht, dass es wichtige Neuigkeiten gebe. Jefferson bat sie, so schnell wie möglich in den Lesesaal des Britischen Museums zu kommen. »Du kennst ja meinen Platz«, schrieb er. »Nichts tut mir so gut wie euer himmelblauer Kuppelbau, wenn mich die Sehnsucht nach Licht ergreift.«
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Miss Turlington«, sagte der Portier, nachdem sie die Nachricht überflogen hatte, »Mr. Cork war wirklich guter Laune.«
»Warum hat er dann nicht auf mich gewartet?«, fragte Fiona verwundert.
»Nun, ich glaube, er hat es hier nicht mehr ausgehalten«, antwortete der Portier. »Er sagte, er sei in der Stimmung, Lord Eigins griechische Statuen zu umarmen.«
»Aha. Wollen wir uns das mal lieber nicht genauer vorstellen.«
Sie lachten. Der Portier winkte ihr eine Droschke, und keine halbe Stunde später eilte Fiona durch das größte Museum der Welt direkt in den Lesesaal.
»Denk dir«, zischte ihr Jefferson zu, »mein Vater hatte einen Autounfall.«
»Und deshalb bist du so vergnügt?«
»Unter anderem.«
Jefferson schlug den Folianten zu, in dem alle Gewürzpflanzen der Welt verzeichnet waren, und wies in die Richtung, wo sich der Teeraum befand. Dort würde er ihr alles erzählen.
»Nun sag schon«, drängelte Fiona. Sie hatten das Glück, einen freien Tisch zu finden, denn der Teeraum des Museums war nach den langen Wanderungen durch die Ausstellungsräume stets die erste Anlaufadresse, um sich zu erholen. Kinder, Mütter, Väter, Großeltern und Gouvernanten tranken hier ihr Tässchen Tee und stärkten sich mit einem Sandwich oder einem Teller verschiedener Butter-Cookies.
»Also, mein Vater, typisch Detroiter, wollte mit seinem neuen Wagen einmal ganz rasant sein: Er war bei der Einweihungsfeier einer Turbinenhalle seines Freundes Matt D. Pratt und machte sich ein wenig angeheitert auf den Rückweg in die eigene Fabrik. Du weißt ja, er stellt Kugellager her. Der Weg führt über eine Stahlbrücke eines Seitenarms des Detroit-River. Dad war gerade in der Mitte, da gefiel es ihm, Gas zu geben, zu viel Gas, und das auf einem Eisfeld! Sein Wagen brach aus, schlitterte auf die Brüstung zu und kippte vornüber. Wohl eine Minute schwebte er in der Luft, die eine Hälfte über dem Fluss, die andere über der Brücke. Und weil das noch nicht reichte, schlug die Fahrertür auf. Dad rutschte, konnte sich nicht halten und… fiel.«
»Das ist ja entsetzlich!«, rief Fiona aus. »Ein Albtraum.«
»Stimmt. Aber einer, der fast so endet, wie Albträume zu enden pflegen. Dad ist nämlich nicht in den eiskalten Fluss gestürzt, sondern auf einen Haufen Gummireifen, weil just ein Lastkahn unterwegs war.«
»So was liest man immer nur in den Zeitungen …«
»Ja, ich hab diese Storys auch nie geglaubt. Dad aber hat überlebt. Er stürzte knappe zehn Meter und brach sich ein paar Rippen, den rechten Unterschenkel und rechten Arm, aber sein Kopf blieb so gut wie unverletzt.«
»Ein Wunder«, sagte Fiona.
»Das ist wahr. Vor allem, wenn du dir vorstellst, dass sein Wagen unmittelbar hinter dem Heck des Lastkahns in die Fluten klatschte.«
Fiona studierte Jeffersons Miene, ob sie nicht doch irgendeine verräterische Spur entdeckte, dass er gerade flunkerte. Aber Jefferson konnte, wie sie wusste, nur schlecht schauspielern.
»Die Geschichte ist also wahr. Doch warum bist du so merkwürdig aufgeregt?«
Jefferson fasste in die Innentasche seines Jacketts und zog einen Zettel hervor. Doch bevor sie erkennen konnte, was darauf stand, steckte ihn Jefferson wieder ein. Er lächelte schelmisch. »Dad hat den Unfall als Wink des Schicksals begriffen. Und das heißt, er will und wird sein Leben ändern. Er will sich der Muße widmen, mit dem Gärtnern beginnen, vor allem aber den Weg nach Westen in Miniaturform nachbauen ‒ Trecks mit Planwagen, Pferden, Schienen, Zügen, Bahnstationen.«
»Und das, glaubst du, bringt uns unserem Traum näher?«
»Ja, Liebes. Weil er nämlich sein Testament gemacht hat. Mein Bruder Morton übernimmt die Geschäftsführung, ein Viertel des Aktienvermögens aber wurde mir überantwortet. Zusätzlich bekomme ich das hundert Hektar große Stück Land zwischen Windsor und Point Pelee, auf das wir uns zurückziehen können, wenn wir satt von der Welt sind und Arthritis in den Fingern haben. Zusätzlich erhalte ich ab sofort eine zeitlebens garantierte Apanage von fünfundsiebzigtausend Dollar im Jahr. Dad und Morton wollen, dass ich ein ernsthafter Künstler werde ‒ unter der Bedingung, dass ich ein anständiges Leben führe und keine Negativschlagzeilen mache.«
»Dann bist du also frei…«, sagte Fiona leise.
»Ich? Wir! Hier lies.« Er zog den Durchschlag eines Telegramms aus der Tasche, in dem er ihre Eltern in China um die Hand ihrer Tochter bat.
Fiona traten die Tränen in die Augen. Sie küssten sich über den kleinen Tisch hinweg, so als stünde er für den stürmischen Ozean, der jetzt endgültig überwunden war.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Niemals werde er, Arthur Turlington, der Gatte der Tochter des angesehenen Seiden- und Teeimporteurs Justin Förster Turlington, einem Amerikaner seine Tochter anvertrauen, und schon gar nicht einem labilen Künstler. Im Übrigen sei man selbst finanziell solid ausgestattet und sehe die wahren Werte in Prinzipien wie moralischer Festigkeit, die ein Mensch ohne Tradition und Geschichte nicht haben könne.
Unterzeichnet war diese Ohrfeige in Worten nicht nur von Arthur Turlington, sondern auch von Geraldine Turlington, Fionas Mutter. Jefferson war im ersten Moment so wütend, dass er fantasierte, das Turlington’sche Geschäft aufzukaufen, um diesen Handelsnamen für immer vom Erdboden zu tilgen. Nur mit Mühe gelang es Fiona, Jefferson davon zu überzeugen, dass in erster Linie ihre Mutter die Schuld an dieser, wie sie es nannte, Verweigerung trage.
Jefferson aber hielt jetzt nichts mehr in England. Nie mehr, schwor er Fiona, werde er seinen Fuß auf diesen Erdflecken setzen, dessen Oberschicht so snobistisch sei wie sein Land groß.
Aufgewühlt packten sie ihre Koffer. Jeffersons Laune besserte sich erst, als sie sich eine gute Woche später bei strömendem Regen in Portsmouth einschifften. Das Ziel war die französische Küste, Le Havre.
»Wir müssen endlich dorthin, wo das Licht Seele hat, Fiona«, beschwor er sie, »wo die Magie des Lichtes nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch die Natur selbst verändert. Dort werden wir aufblühen. In Italien, Liebes, heiraten wir. Dann sind wir endlich frei von allem, was uns beschwert.«
Fiona widersprach nicht, aber die richtige Begeisterung wollte sich bei ihr nicht einstellen. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter sich durchgesetzt hatte. Und einen kurzen Moment lang wirkte ihre Macht so stark, dass Fiona der Gedanke durch den Kopf schoss, Jefferson zu heiraten könne tatsächlich nicht richtig sein.
Jefferson hatte ihr vom ersten Augenblick an gefallen, und bis zum heutigen Tag fühlte sie sich bei ihm sicher und bestätigt. Doch ihren Kopf hatte sie ‒ anders als die Heldinnen romantischer Geschichten ‒ nie verloren.
Liebte sie ihn wirklich so, wie eine Frau einen Mann lieben sollte? Oder sehnte sie sich in Wahrheit nach mehr, nach mehr Freiheit in ihrem Herzen?
Der Dampfer stampfte durch die rollenden Wellen des Ärmelkanals. Fiona starrte auf die dichte Regenfront. Irgendwo vor ihnen lag die Küste der Normandie, von der sie wusste, dass sie schön sein musste, denn impressionistische Künstler ‒ angefangen bei Jean-Baptiste-Camille Corot und Charles-Francois Daubigny über Johan Jongkind bis zu Claude Monet, Auguste Renoir und Alfred Sisley ‒ rühmten sie in ihren Bildern. Sie alle hatten in der Normandie gemalt und versucht, deren herben Zauber in ihren Bildern einzufangen. Heute schien die Landschaft vor ihr allerdings, als hätte ein Schwamm die noch nassen Farben eines Bildes verwischt. Auch Jefferson war wegen des Regens verärgert.
»Da steuern wir auf eine der berühmtesten Kulissen Frankreichs zu und können sie nicht sehen. Schön soll sie sein, die normannische Küste, doch wir kennen sie nur von den Gemälden. Wie gerne hätte ich mich von jener maritimen Stimmung faszinieren lassen, von der so viele Maler schwärmen ‒ Fischerboote, Segelschiffe mit geblähtem Tuch, das Spiel der Lichtreflexe auf dem Wasser. Aber wir haben uns natürlich Regen ausgesucht! Als hätten wir Sonne nicht nötig.«
Er stützte die Fäuste auf die Reling.
Fiona war nicht minder niedergeschlagen, doch um ihn zu trösten, sagte sie: »Ein andermal wird es genau umgekehrt sein. Da werden wir uns an diese Stunden erinnern und sagen: Weißt du noch, damals, als es so regnete? Irgendwann werden wir hier Halt machen und das prächtigste Wetter haben. Nun sag mir lieber: Wo wollen wir heiraten?« Jefferson streckte den Arm aus und rief: »Ach, am liebsten dort! In Honfleur bei Le Havre, wo Courbet, Millet und Corot sich im Gasthof der Mere Toutain einnisteten und das Meer malten. Oder in Fontainebleau, wo Monet, Renoir und Sisley durch die Wälder streiften und es sich im Gasthof Cheval-Blanc gut sein ließen, wo die Sternstunden der Geschichte der Freilichtmalerei und des Impressionismus waren.«
»Ständig denkst du an deine Impressionisten. Soll ich mein Leben nach ihnen ausrichten?«, empörte Fiona sich. »Abgesehen davon tust du wieder einmal so, als ob es vor ihnen keine großen Meister in der Malerei gegeben hätte. Missachte doch nicht immer alle Tradition!«
»Und ob ich das tue! Was legt sie uns denn anderes als Fesseln an?«
»Willst du jetzt auch noch streiten, Jefferson?«
»Nein, heute wohl besser nicht«, entgegnete er knapp. »Wir sollten nie über Kunst streiten«, sagte Fiona bestimmt und legte ihre Hand auf die seine.
»Du hast Recht«, sagte er und drehte sich zu ihr um. »Ich bin immer noch wütend auf deine Eltern. Was maßen sie sich mir gegenüber an? Meinen Antrag abzulehnen, als wäre ich ein dahergelaufener Kohlenschlepper. Was bilden sie sich ein? Dein Vater ist nichts als der Schwiegersohn eines britischen Seiden- und Teeimporteurs. Mein Vater dagegen baute sein Unternehmen ganz alleine auf.«
»Ich weiß, Jefferson«, beschwichtigte Fiona ihn. »Glaub mir, mein Vater ist nicht so stolz und hartherzig, wie du denkst. Er ist ein umgänglicher Mensch, aber er hängt eben an meiner Mutter. Sie ist es, die ihn in der Hand hat. Er ist zu großherzig, um sich gegen sie aufzulehnen. Mutter dagegen hat mich seit meiner Kindheit abgelehnt, weil ich, wie gesagt, ihren Vorstellungen nicht entsprach, und jetzt ist ihre Stunde der Rache. Wir benötigen all unsere Vernunft, uns davon nicht beeinflussen zu lassen.«
So sachlich wie Fiona klang, fühlte sie sich nicht. Sie brauchte nur das Wort Mutter auszusprechen, schon spürte sie wieder diesen Knoten im Hals, in dem sich all die Jahre über der Gram gesammelt hatte. Ihre Mutter war wie ein Schatten, den sie nicht loswurde, ganz gleich, ob sie glücklich oder verstimmt war. Es kostete sie stets große Anstrengung, so zu tun, als ginge sie ihre Mutter nichts mehr an. Aber auch wenn sie diesen Kampf gewann, fühlte sie sich danach jedes Mal ausgelaugt und aller Seelenkraft beraubt.
»Du hast Recht«, sagte Jefferson. »Ich weiß ja, dass auch du mit der Tradition gebrochen hast, denn auch du hast dich ihrer Vorstellung widersetzt, eine unterwürfige, dumme Tochter zu sein. Dass dir dieser Protest nichts als Schmerzen beschert hat, werde ich nie vergessen. Das macht dich in meinen Augen ja auch so liebenswert.« Er lächelte und strich Fiona über den Rücken. »Und natürlich werden wir heiraten, ob es ihnen nun gefällt oder nicht. An einem hübschen Plätzchen, romantisch oder mondän. Warum nicht Ligurien? In San Remo oder in Imperia an der Riviera di Ponente? In Genua, Rapallo oder Portovenere an der Riviera di Levante? Liebes, wo immer du willst.« Er nahm Fionas Kopf zwischen die Hände und küsste sie auf den Mund. »Dort, wo Licht und Kultur dir helfen, zu dir selbst zu finden, dort wird es sein.«
»Ja«, antwortete Fiona und erwiderte beruhigt Jeffersons Kuss.
Am Quai Voltaire nahe dem Louvre besuchten sie das berühmte Malergeschäft von Gustave Sennelier. Seine Leidenschaft, mit Farben zu experimentieren, ermöglichte es den Impressionisten, die Ateliers zu verlassen und im Freien zu malen. Niemand musste mehr mit Schweinsblasen voller Farbe vor seiner Staffelei sitzen, denn nun gab es Metalltuben, die die neu entwickelten Farben frisch und streichfähig hielten und in kleinen Mengen ins Freie mitgeführt werden konnten. Paul Cezanne kaufte hier ein, Camille Pissarro, Pierre Bonnard und viele andere Impressionisten, zu denen Sennelier enge Beziehungen pflegte. Auch Fiona schätzte die Leuchtkraft und Haltbarkeit seiner Farben, die, wenn sie ausgetrocknet waren, ihren Glanz behielten und nicht stumpf oder brüchig wurden. Jefferson ließ sich die Verarbeitungsprozeduren erklären, studierte die Vorrichtungen zum Zermahlen der Pigmente und überschüttete Sennelier mit Fragen. Welche chemischen Vorgänge bei der Herstellung von Pigmentabtönungen abliefen oder wie er auf die Idee gekommen sei, Farben, die zuvor noch vielfach aus teuren Halbedelsteinen hergestellt wurden, durch mineralische und organische Pigmente zu ersetzen.
»Nun, es kam mir darauf an, dass die Künstler sie so leicht wie möglich mischen können«, sagte Sennelier. »Ich wollte helfen, das Prismatische des Lichts, seinen Zerfall in einzelne Elemente abbildbar zu machen. So schaffe ich auf dem materialen Feld die Voraussetzung, die Erscheinungen der Dinge verändert wiederzugeben. Das sensible Auge der echten Impressionisten erkennt, wie sich unser Sonnenlicht strahlengleich zerlegt. Das macht ihre Bilder so einzigartig.«
Jefferson war mehr als beeindruckt. Seit sie Senneliers Ladengeschäft am Quai Voltaire betreten hatten, hatte ihn eine beinahe fanatische Begeisterung ergriffen. Fiona, die auch eine klassische Malausbildung genossen hatte, fühlte sich jedoch mehr von dem Stil der Alten Meister angezogen, besonders vom Stil der Niederländer, die sie kurz zuvor im Louvre bewundert hatte ‒ Vermeer, Rubens, Frans Hals, van Dyck und Rembrandt. Deren Gestalten, fand sie, sprachen den Betrachter direkt an, schienen zu atmen, zu schwitzen, zu flüstern. Manche von ihnen waren so sinnlich, dass sie erschauderte, andere verträumt und rätselhaft, als wären sie stumm geworden über eine Lebensgeschichte, die sie erschüttert oder berührt hatte, und die so wirkten, als wäre es der Pinselstrich des Malers selbst, der den Bann des Schweigens auf ihren Mund gelegt hatte. Das Scheppern leerer Ölfarbentöpfe riss sie aus ihren Gedanken. Fiona straffte sich und sagte abrupt: »Grüßen Sie Monsieur Monet von uns. War er nicht auch in Italien? In Bordighera? Vor sechs Jahren? So leid es uns tut, wir müssen uns ein wenig beeilen. Sonst wird es wieder Winter, bis wir in Ligurien ankommen.«
Sennelier hob eine Augenbraue und ließ ein amüsiertes Lächeln um seinen Mund spielen. »Ich verstehe, Sie sind in Eile, Mademoiselle. Aber glauben Sie mir, der Sommer liegt noch vor Ihnen und ist lang. Andernfalls, vergessen Sie nicht, das Licht in Italien ist zu jeder Stunde und jeder Jahreszeit studierenswert. Selbst in den Wintermonaten wird es Sie faszinieren, das versichere ich Ihnen. Sie werden es auf jeden Fall lieben lernen, dieses Licht, ein Leben lang.« Er verbeugte sich. »Selbstverständlich werde ich Monsieur Monet Ihren Gruß ausrichten … Monsieur Cork und Mademoiselle Turrington, nicht wahr?«
»Turlington.«
»Verzeihen Sie.«
Damit wandte Sennelier sich Jefferson zu, der Fiona wütend anblickte. Jefferson hätte noch gerne länger mit ihm über Farben und Licht gefachsimpelt, doch davon abgesehen ärgerte er sich, dass Fiona Sennelier jetzt allen Vorwand gegeben hatte, ihnen ironisch zu begegnen. Denn dass der Herr der Farben sich überhaupt dazu herabließ, ihnen seine Zeit zu widmen, lag allein daran, weil er hoffte, ein gutes Geschäft zu machen.
Fiona sah ihren Fehler ein und setzte ihr schönstes Lächeln auf. Um Sennelier und Jefferson wieder versöhnlich zu stimmen, sagte sie schnell: »In der Tat, Monsieur Sennelier, ich war ein wenig ungestüm. Entschuldigen Sie bitte. Darf ich Sie trotzdem bitten, Monsieur Cork all die Farben zusammenzustellen, die auch Monsieur Monet für erforderlich gehalten hat, um seinen Lichtstudien nachgehen zu können?«
»Selbstverständlich, mit Vergnügen.«
»Wunderbar. Ich bitte übrigens um dieselbe Auswahl.«
»Sie können sich auf mich verlassen.«
Sennelier machte einen tiefen Diener und beeilte sich, sein großes in Schweinsleder gebundenes Buch aufzuschlagen, um die Bestellung zu notieren. Gleich darauf klingelte er nach einem Angestellten und rief ihm ein paar Abkürzungen und Signaturen zu.
Fiona reichte ihm ihre Karte. »Wir können uns auf Ihre schnelle Belieferung verlassen? Die Unkosten, die dabei entstehen, nehmen wir natürlich in Kauf. Wichtig ist nur, dass wir arbeiten können.«
Sennelier nickte beflissen, während er sich den Namen einprägte und ein paar Sekunden bei der schlichten Berufsbezeichnung »painter/peintre« verweilte.
»Keine Ursache, Miss Turlington. Ob Sie nach Kreta, Honolulu oder Taiwan reisen, meine Tuben folgen Ihnen, wohin immer Sie es wünschen. Eine Depesche von Ihnen, und wir erfüllen Ihnen jeden auch noch so speziellen Malerwunsch. Monsieur, Mademoiselle?«
Er kam hinter dem Ladentisch hervor, küsste Fiona die Hand und entließ sie auf die Straße.
Jefferson hielt es nur wenige Schritte still neben ihr aus, dann machte er seinem Ärger Luft. »Weißt du eigentlich, wie du mich vor ihm gedemütigt hast, meine Liebe? Meine Bestellung hätte ich auch selbst aufgeben können. Und dann ‒ Monet zu grüßen! Von uns völligen Unbekannten! Was soll Sennelier jetzt von uns halten? Doch wohl nichts anderes, als dass ich ein Pantoffelheld und Weichling bin und du mit einem Schuss Größenwahn gesegnet bist. Ich will ein schlichter Künstler sein, Fiona. Nichts anderes. Verstehst du das nicht?«
»Auch nicht mein Ehemann, Jefferson?«
»Ist es dir wichtiger, verheiratet als Künstlerin zu sein?« Jefferson stemmte die Arme in die Hüften und starrte sie wütend an. Sie waren vor dem Schaufenster des Antiquariats schräg gegenüber stehen geblieben. Der Verkehr in ihrem Rücken war so lärmig wie in London, mit dem einzigen Unterschied, dass die Kutscher französisch und nicht englisch fluchten.
»Ich dachte, du liebst mich«, erwiderte Fiona betont schnippisch. »Eigentlich gehe ich nämlich davon aus, dass Harmonie in der Ehe genauso wichtig ist wie Harmonie in der Kunst.«
Beherzt hakte sie sich bei Jefferson unter und zog ihn weiter.
»Harmonie heißt dann bei dir also nachgeben, oder?«
»Ja, aber das gilt für beide Seiten, Jefferson. Freu dich doch, ich habe die Farben bezahlt.«
»Willst du mich noch einmal demütigen, Fiona? Spielt Geld bei mir, bei uns jetzt noch eine Rolle? Wir haben genug. Ist es nicht vollkommen gleichgültig, wer was und wie viel bezahlt?«
»Geld macht stark.«
»Du willst mir deine Stärke beweisen?«
Einen Moment lang musterte er sie fassungslos.
»Dir nicht«, flüsterte Fiona erschrocken. »Verzeih mir. Doch du musst mir glauben, dass es mir nützt, leben zu können, wie ich es will.«
»Das mag sein, Geld macht schließlich unabhängig, ja«, lenkte Jefferson ein, doch Fiona spürte, dass er noch immer ärgerlich war. »Geld ist aber nur Mittel zum Zweck und nicht das höchste Gut der Erde.«
»Geld, Jefferson, erlaubt mir aber, tun zu können, was ich will«, beharrte sie störrisch.
»Was du haben willst, meinst du wohl.« Er schwieg aufgewühlt. »Und wenn ich das zu Ende denke, hätte ich dann nicht auch Anspruch auf eine Art von Lohn? Dafür nämlich, dass ich an deiner Seite deine Eskapaden dulde?«
»Du willst streiten, Jefferson. Ich glaube wirklich, du liebst mich nicht.«
»Und du? Du nimmst mich nicht ernst. Weil du es gar nicht erst vorgehabt hast. Ich habe das Gefühl, in deinen Augen durch meine finanzielle Unabhängigkeit nur gesunken zu sein. Ein schnöder Amerikaner mit künstlerischen Ambitionen, der es den neumodischen Impressionisten gleichtut, um endlich die Tradition der Alten Welt zu zerstören.«
»Und wenn es so wäre?«
»Ist es das, Fiona?«
»Nein, natürlich nicht. Komm, lass uns gehen.«
Sie machten sich schweigend auf den Weg zum Ufer der Seine. Schließlich war Jefferson die schlechte Stimmung leid. Er fasste Fiona an den Schultern und lächelte sie an. »Natürlich liebe ich dich, Fiona. Das ist so wahr, wie es wahr ist, dass alles gedeiht, worauf das Licht fällt.«
Sie schaute ihn spöttisch an, dann riss sie ihm plötzlich die Samtmütze vom Kopf und rief: »Also lass Licht an dein Haar, sonst bist du bald kahlköpfig!« Sie lachte und lief mit der Mütze am Ufer entlang, wobei sie ein paarmal so tat, als wollte sie sie ins Wasser werfen.
»Ich wusste es doch, du nimmst mich nicht ernst!«
Statt Fiona nachzulaufen, warf Jefferson einen Stein ins Wasser und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Genauso nachdenklich wie zuvor starrte er auf den Fluss und tat so, als würde er im Wasser nach Antworten suchen, die ihren Streit schlichten könnten. Schließlich fragte er: »Hier, siehst du? Das Wasser ‒ es ist… Nein, warte, sag du, welche Farben du siehst.«
»Das Wasser ist schmutzig, Jefferson.«
»Du bist Malerin, und du siehst nichts?«, rief er ungläubig.
Fiona machte sich von ihm los und breitete die Arme aus. »Wenn ich ein Bild malen sollte, würde ich den Fluss in den Hintergrund treten lassen und dafür Menschen und Gesichter malen ‒ sie sind wichtig.«
Fassungslos schaute Jefferson sie an. »Du siehst wirklich nicht eine einzige Farbe in diesem Wasser?«
Sie holte tief Luft: »Also gut, Jefferson, natürlich sehe ich sie. Auch ich kann mein impressionistisches Auge bemühen. Dort ist das Wasser grün, da schwarz und dort gelb. Und an anderen Stellen scheint es rostig, je nachdem, wie das Licht auf das fällt, was das Wasser widerspiegelt oder wie es seine Wellen beleuchtet.«
Erleichtert nahm er sie in seine Arme. »Wunderbar, mein Schatz. Und ich dachte schon, du liebst mich nicht und verstehst mich auch nicht.«
Nach einem langen Kuss murmelte er: »Wir sollten uns beeilen, nach Ligurien zu kommen, Liebling. Diese Düsternis, dieser Lärm, ich kann das nicht mehr ertragen.
Und ich glaube auch, dass dies alles unserer Liebe nicht gut tut.«
»Da sind wir uns ja endlich wieder einig.«
Die letzte Nacht, die sie in Paris verbrachten, war kurz ‒ für ein paar Stunden wenigstens genossen sie ein bisschen Savoir-vivre…
Später hätte Fiona nicht zu sagen gewusst, ob es Zufall war oder ein Fingerzeig des Schicksals: Sie hatten geplant, am nächsten Morgen über die Senfstadt Dijon und die Seidenweberstadt Lyon nach Marseille aufzubrechen, um von dort aus mit dem Dampfer nach Genua zu fahren, doch es kam anders.
Auf dem Weg zum Bahnhof zwangen ein Unfall und ein Stau den Kutscher, einen Umweg durch eine Seitenstraße zu nehmen, in der ein Auktionshaus zum Verkauf von »Objets precieux« einlud. Das goldumrahmte Schild wie auch der rote Teppich auf dem Trottoir weckten Fionas Neugierde, zumal eine Gruppe Interessenten eilig durch die Flügeltür ins Innere strebte.
»Wir verpassen den Zug!«, protestierte Jefferson, als Fiona dem Kutscher zurief, er solle halten.
»Lass uns den Abendzug nehmen. Haben wir nicht alle Zeit der Welt?«
»Du hast Recht, also gut. Doch nur unter einer Bedingung, Fiona, meine Liebe.«
»Ja?«
»Ich möchte nichts …«, er wedelte mit den Händen und machte ein strenges Gesicht, »… aber auch wirklich nichts tragen müssen.«
»Nicht mal die kleinste Kleinigkeit?«
»Auch nicht die kleinste Kleinigkeit.«
»Warum?«
»Das weißt du nicht?« Jeffersons Augen blitzten. »Weil ich dich bereits auf den Händen trage!«
Lachend wich Fiona seinem Kuss aus. »Galant sein steht Ihnen nicht, Mr. Cork.«
»Sollen meine Hände etwas anderes mit Ihrem schönen Körper anstellen, als ihn nur zu tragen?«, fragte er und schob sie unter ihre Jacke. Er streichelte sie, und sie erwiderte seinen Kuss. Ein wenig zerzaust betraten sie als Letzte den Auktionssaal.
Die Objekte würden, wie Pierre Tabauchon erklärte, aus dem Haushalt von Eugenio Pattalucci stammen, der für einige vielleicht kein gänzlich Unbekannter sei. Seine Eltern, las er von einem Stichwortzettel ab, seien in den vierziger Jahren aus Siena ausgewandert und hätten hier in der Nähe ein Delikatessengeschäft eröffnet, womit sie zu Wohlstand gekommen seien. Eugenio Pattalucci aber habe immer weniger Freude an diesem Geschäft gehabt, nachdem seine Brüder im 1870er Krieg gefallen waren. Bis zum Tode seiner Eltern habe er das Geschäft noch weitergeführt, dann jedoch begonnen, Kuriositäten zu sammeln. Sie sollten nach seinem Tode sämtlich zu Gunsten eines Waisenhauses versteigert werden, daher die heutige Auktion. »Sie können Kerzenleuchter aus baltischem Silber erwerben, eine Küchenwaage aus St. Petersburg, deutsches Rubinglas, eine afrikanische Schildkröte aus Messing, Bilder mit orientalischen Genreszenen und holländische Stillleben. Es gibt aber auch einen Stapel maurischer Kacheln, einen Keuschheitsgürtel, Bernsteinbestecke, eine zerlegte Laterna magica, eine Kirschholz-Recamiere aus der Praxis eines hiesigen Psychiaters, Damasttücher aus dem Haushalt des göttlichen Marquis und noch vieles mehr.«
»Mich interessiert das Bett dort mit dem weißen Baldachin«, unterbrach Fiona. »Die Maserung des Holzes ist sehr auffällig. Können Sie uns etwas über das Bett sagen, Monsieur?«
»Ja, es ist aus Olivenbaumholz. Drechsler und Schnitzer lieben dieses Holz. Sehen Sie die Äderungen, die dunklen Augen, die hellen Schleifen? Das Holz wirkt dadurch äußerst lebendig. Übrigens werden Sie an diesem Bett keinen einzigen Nagel finden. Allein Leim, Zapfen, Nut und Feder halten es zusammen. Ich bin mir sicher, dass dieses außergewöhnliche Bett Generationen über Generationen dienen kann. Es wird Ihnen bestimmt friedvolle Träume bescheren.«
Einige Herren lachten. Einer von ihnen mit Spitzbart und Monokel erhob sich, drehte sich zu Fiona um und sagte gewichtig: »Ich muss noch auf die alten antiken Legenden verweisen. Der Olivenbaum war den Griechen heilig und das Symbol für Frieden, Weisheit und Fruchtbarkeit. Nur Jungfrauen und keusche Männer durften die heiligen Olivenhaine betreten. Und in der Tat, Homer berichtet, dass Odysseus nach seinen Irrfahrten sein Ehebett auf dem Wurzelstock eines wilden Olivenbaums errichtet hat. Somit ist der Olivenbaum auch das Symbol für den sicheren Bestand der Ehe. Tausend Jahre alt kann er werden, ist genügsam und widerstandsfähig.«
»Schön und gut, aber neben all diesen Geschichten, Monsieur, interessiert mich vor allem der Preis«, wandte Jefferson ein wenig mürrisch ein. »Odysseus und seine Frau Penelope jedenfalls haben in diesem Bett nicht geschlafen.«
»Können Sie uns etwas über die Herkunft des Bettes erzählen, Monsieur Tabauchon?«, fragte Fiona.
»Nun, um ehrlich zu sein, wir wissen kaum etwas. Signor Pattalucci erzählte mir einst, dass seine Eltern es im Gästezimmer aufgestellt hätten. Doch da sie hauptsächlich Kontakte zur unmittelbaren Nachbarschaft pflegten, blieb es so gut wie unbenutzt.«
»Es ist fürwahr ein kurioses Möbel. Ich werde dafür bieten«, sagte eine Dame und gab ihr Angebot. Darauf folgte ein lebhaftes Bieten und Überbieten, bis Fiona schließlich siegte, weil sie das jeweils letzte Gebot immer wieder aufstockte.
»Was willst du bloß damit?«, raunte Jefferson gereizt. »Vielleicht nur … schlafen?«, antwortete sie lächelnd. Selbstbewusst trat sie nach der Auktion auf Monsieur Tabauchon zu und wies ihn an, das Bett zerlegen und verpacken zu lassen. Sie wolle es jetzt sofort über die Alpen an die ligurische Küste mitnehmen.
»Madame, das geht nicht«, wandte Tabauchon verlegen ein. »Ich brauche meine Angestellten …«
»… für dieses Olivenholzbett, Monsieur. Beeilen Sie sich, mein Kutscher wartet.« Sie reichte ihm ein Bündel Scheine. »Ist Ihnen hiermit gedient?«
Tabauchon dankte, verbeugte sich mit hochrotem Kopf und pfiff nach seinen Angestellten.
»Darf ich Sie vielleicht noch um einen Kaffee bitten?«, fragte Fiona.
»Selbstverständlich, Madame«, erwiderte er. »Darf es auch ein Gläschen Cognac sein?« Er tupfte sich die Stirn und füllte sich selbst das Glas, nachdem Fiona dankend abgelehnt hatte.
»Kaffee für die Dame, Cognac für uns Herren …«, sagte Jefferson lächelnd. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden …« Tabauchon verstand, schenkte schnell ein weiteres Glas ein und reichte es ihm. Sie prosteten einander zu ‒ verbunden in dem männlichen Einverständnis, dass Frauen, besonders hübsche junge Engländerinnen, zuweilen etwas verrückt sein konnten.
Der Kauf des Bettes warf die Reiseplanung um. Statt nach Marseille zu fahren, um sich von dort nach Genua einzuschiffen, war Fiona nun in der Laune, über das Elsass, den St.-Gotthard-Pass und Mailand zu reisen. Das Großgepäck samt Bett wurde auf die Gotthard-Bahn verladen und gen Süden transportiert. Ein bisschen Abenteuer könne ihnen nicht schaden, meinte Fiona, und so bestiegen sie in Altdorf am Vierwaldstätter See eine Kutsche. Sie wolle, warb sie bei Jefferson um Verständnis, sich und der Welt beweisen, dass der Verlust ihrer Kindheit und ihrer Heimat sie nicht gebrochen habe.
Jefferson fügte sich und ließ sich schließlich sogar von Fionas Abenteuerwut anstecken. Ihre Idee, den Pass zu Fuß zu nehmen, gefiel ihm.
»Was sind schon siebenundzwanzig Kilometer, oder?«
»Eben. Kaum mehr als die Strecke von unserem ehemaligen Castle bis zum nächsten Krämerladen.«
So wurde die Strecke zwischen Andermatt im Kanton Uri und Airola im Kanton Tessin Fionas erste Bergwanderung. Sie kauften Nagelschuhe, dicke Mäntel, Handschuhe, Fellmützen und wattierte Hosen ‒ und als Alpenstöcke gut drei Meter lange Stangen, mit denen sie sich wie Stabhochspringer selbst über Klüfte hätten schwingen können.
Bei ihrer Anreise durch das Tremola-Tal legte sich Eisregen auf das Kopfsteinpflaster der St.-Gotthard-Straße. Immer wieder geriet der Verkehr ins Stocken. Später, als sie die Kutsche verlassen hatten, setzte Schneetreiben ein, und kurz vor der Passhöhe blies der Wind mit eisiger Kraft. Er zog Fiona unter Mantel und Rock und vereiste den Saum. Das Gehen wurde ihr schwer, und sie begann zu frieren. Schließlich bat sie Jefferson um eine der wattierten Hosen, die er sicherheitshalber in den Rucksack gepackt hatte. Nachdem sie sie angezogen hatte, raffte sie Rock und Mantel an den Seiten und schnürte sie zusammen. Als sie Stunden später auf dem Pass vor dem alten Hospiz standen, zeichnete der Vollmond ihren Schatten in Form eines grob geschmiedeten Ankers auf den Schnee ‒ ihr Kopf war zum Roring geworden, ihr Leib zum Schaft, die vereisten schaufelförmigen Ausstülpungen an der Seite zu Armen und Flunken.
Jefferson, euphorisiert von der Höhenluft, begann zu lachen, als er gewahr wurde, welcher Metamorphose Fiona hier in den Alpen erlegen war. Doch so erschöpft sie waren, sie fanden in der Nacht nur wenige Stunden Schlaf. Sicher lag es an dem Sauerstoffrausch, den die leichte Luft mit sich brachte. Doch Fiona war noch aus einem anderen Grund aufgewühlt. Hier oben, auf zweitausendeinhundertacht Metern Höhe, auf der Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Nordsee, wurde ihr bewusst, dass von ihrem einstigen Leben nur noch eines übrig geblieben war ‒ die Hoffnung, in Genua so schnell wie möglich Zugriff auf den Rest ihres Vermögens in London nehmen zu können.
Erst in den Morgenstunden fiel sie in kurzen, tiefen Schlaf. Am späten Nachmittag trafen sie wieder auf ihre Kutsche und erreichten tags darauf Biasca und damit das Ende der einhundertzehn Kilometer langen St.-Gotthard-Straße. Darauf ging es weiter bis Bellinzona, und kurz hinter Lugano überschritten sie endlich die Grenze nach Italien.
Ein Schwall gleißenden Lichts ergoss sich über die Poebene und den in der Ferne zu erahnenden Ligurischen Apennin. Endlich übernahmen Himmel und Licht die Herrschaft, das dämmrige Grau des Nordens war besiegt. Fiona schob ihre Ärmel weit nach oben und badete Arme und Gesicht im Sonnenschein. Jefferson kniete sich vor sie und band ihr die schweren Bergstiefel auf. Wattierte Hosen, Mütze und Mantel verstaute er im Koffer und öffnete für ein paar Minuten beide Wagenschläge, als könnte er damit das Licht für sie einfangen.
»Ich liebe dich«, sagte sie, wobei sie ihm durchs Haar fuhr. Er sah schelmisch zu ihr auf.
»So schnell, wie du es jetzt sagst, werde ich es nicht tun können.«
»Später, my love«, flüsterte sie und zog ihn an sich.
In Como stiegen sie in einem kleinen Hotel ab und nahmen am nächsten Morgen den Zug Mailand, Pavia, Tortona, Genua. Nach wenigen Stunden kam die markante Bergkette des ligurischen Hinterlands in Sicht und mischte Erd- und Grüntöne in den blauen Himmel. Genua, die ligurische Hauptstadt, war nah.
Wenig später breitete sich das Ligurische Meer vor ihnen aus. Dunst lag über der unsichtbaren Linie des Horizonts, das Licht aber war fein, wie gesiebt. Überwältigt fielen sich Fiona und Jefferson in die Arme.
Quartier nahmen sie in einem Hotel an der Via Assarotti unweit der Kirche Maria Immacolata und setzten sich das erste Mal seit Tagen wieder mit gespanntem Appetit in einen Speisesaal. Hungrig und erschöpft freuten sie sich auf die ligurische Küche und ergötzten sich am Duft des frischen Basilikums, der der bestellten Minestrone vorauseilte. Sie schmeckte ihnen nicht minder gut wie die mit Gemüse gefüllten und mit Pesto servierten Stockfischschwänze. Verschiedene Schafs- und Ziegenkäse in Öl, süße Brezeln und reichlich Arancino, ein Orangenlikör, rundeten ihr erstes ligurisches Mahl ab.
Einen ganzen langen Tag schwelgten Fiona und Jefferson in dem überwältigenden Gefühl, endlich im Land ihrer Sehnsucht angekommen zu sein. Unbeschwert genossen sie ihre Liebe und Lust und die Köstlichkeiten aus der Küche des Hotels. Erst am übernächsten Tag nach ihrer Ankunft verließen sie das Hotel. Sie spazierten über die Via Assarotti zur Piazza Corvetto und überließen sich dem flirrenden Flair der Via Roma in Richtung der Citta Vecchia, der Altstadt. Es gefiel ihnen, im Gewirr der engen Gassen, der Carruggi, die Orientierung zu verlieren, und sie legten wegen der hohen Mauern immer wieder den Kopf in den Nacken, um sich zu versichern, dass es noch einen Himmel über ihnen gab.
Winzige Rechtecke von ätherischem Blau schnitten diese Mauern aus ihm heraus. Fiona und Jefferson liefen Steintreppen hinauf und hinunter, hasteten schmale Stiegen auf und ab, passierten Türme und Kirchenportale. Nichts glich einander, und doch schien alles ähnlich ‒ Plätze, gerade groß genug, dass zwei Hunde umeinander streichen konnten, Osterien, Gemüseläden, Bäckereien, Wein- und Käsehändler, Bogengänge, Portale, Tore.
Irgendwann rochen sie das Salz des Meeres.
»Im alten Hafen«, begann Jefferson zu erzählen, »landeten vor langer Zeit die Handelsschiffe, die Genua reich gemacht haben. Sie brachten Alaun, Pelze, Sklaven, Gewürze, Stockfisch, alles, womit sich Geld verdienen ließ. Vor allem aber Gold und Silber. Du weißt, dass im 16. Jahrhundert die spanische Krone Genuas Stadtväter dafür belohnte, dass sie ihre Eroberungszüge in Übersee finanzierte. Das spanische Königshaus brauchte ständig Geld, die Genueser gaben Kredite und profitierten von hohen Zinsen und der Aussicht auf Edelmetalle. Wir sind in der Stadt des Geldes, Fiona.«
»Ich weiß. Auch ich habe hier noch etwas zu erledigen. Ich möchte wissen, ob mein Anwalt erfolgreich war.«
»Lass uns noch ein wenig warten. Dein Erbe wird dir sicher gefolgt sein. Schau dir lieber diese alten Häuser an, sehen sie nicht aus wie eine Festungsmauer? Als ob sie die Stadt gegen das Meer abgrenzen wollten ‒ das Meer, das den Reichtum gebracht hat.«
Vier- und fünfstöckige, eng nebeneinander gebaute Häuser wandten ihre Front dem Meer zu. Fiona legte die Hand über die Augen und schaute über Molen und Docks hinweg auf die glitzernde Wasserfläche, auf der Dampfer, Ruderboote, Fracht- und Segelschiffe dümpelten, und zum alten Leuchtturm, der Lanterna, hinüber. Er hatte sie alle gesehen ‒ Söldner, Piraten, Kaufleute, Händler, Admirale, die Eroberer fremder Kontinente, Häftlinge und Dogen.
Und die Schiffe, die hier gezimmert worden waren. Was war von den Werften geblieben? Über der Geburtsstätte der ligurischen Seemacht herrschte Stille.
Sie setzten sich in ein Café und beobachteten das Gedränge von Seeleuten und Hafenarbeitern, anlandende Segelschiffe und Dampfer, denen Touristen aus aller Herren Länder entstiegen. In den salzigen Geruch von Meer und Tang mischten sich die Düfte, die Kisten, Fässern, Körben und Säcken entstiegen ‒ Blumen, Fisch, Leder, Kaffee, Muskat, Tee, Madeira, Essig und Rum. Holzkarren klapperten über das Pflaster, Rufe und Flüche waren zu vernehmen, dazwischen das Geplauder britischer und französischer Touristen.
»Lass uns ein Haus suchen, so schnell wie möglich, Fiona. Ich brauche endlich meine Freiheit zurück.«
Sie sah ihn überrascht an. »Wie meinst du das?«
Er lachte. »Nicht so, wie du vielleicht dachtest. Natürlich heiraten wir. Wenn du willst, jetzt gleich.«
»In der Stadt des Geldes?«, fragte sie ungläubig, dann überlegte sie. »Vielleicht hast du Recht, Jefferson. Lass uns hier alles Formale erledigen, meine Erbangelegenheit und unsere Heirat.«
»Alles andere finden wir weiter draußen an der Küste«, stimmte er ihr zu.
Noch am selben Tag suchten sie die britische Gesandtschaft auf und baten um die Vermittlung eines Priesters, der ihre Trauung würde vollziehen können. Das Angebot einer großzügigen Spende für die anglikanische Kirche beschleunigte den Vorgang, und am nächsten Tag traute Father Matthew Fiona und Jefferson im Palazzo des britischen Gesandten.
Fiona hieß nun Turlington-Cork, doch sie lege, hatte sie Jefferson erklärt, Wert darauf, weiterhin mit ihrem Mädchennamen angesprochen zu werden.
Als Eheleute wanderten sie an ihrem Hochzeitstag zum Castello-Hügel hinauf, den Ort, an dem die Stadt im 8. Jahrhundert vor Christus ihren Anfang genommen hatte. Von hier aus war sie die Hügel abwärts gewachsen, hinunter bis zu ihrem Hafen, der sich wie ein Amphitheater der Welt zuwandte.
Um sie herum lagen die Ruinen des San-Silvestro-Klosters und von wildem Wein überwucherte Mauerreste ehemaliger Wachtürme, vor ihnen die wie Steinschollen aussehenden Dächer der Stadt, dazwischen die Spitzen von Leuchtturm und Kirchen. Dahinter glänzte das Mittelmeer wie ein ausgespanntes blaues Seidentuch.
Schmetterlinge flatterten auf sie zu.
»Morgen suchen wir uns ein ruhiges Haus direkt am Strand, mit einem schönen Garten«, sagte Jefferson. »Ich möchte endlich wieder malen und mit dir allein sein können.«
Fiona griff nach seiner Hand. »Ja, das werden wir tun.«
»Ich liebe dich.« Er zog ihr Gesicht zu sich und schaute ihr tief in die Augen.
»Ich möchte mit dir glücklich sein, Jefferson«, erwiderte sie leise.
»Bist du es noch nicht?«, flüsterte er und begann sie zärtlich zu küssen. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und presste sich an ihn. »Komm.«