Das italienische Mädchen - Lucinda Riley - E-Book

Das italienische Mädchen E-Book

Lucinda Riley

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Beschreibung

Der neue Bestseller von der Autorin von "Das Orchideenhaus"

Mit elf Jahren begegnet Rosanna Menici zum ersten Mal dem Mann, der ihr Schicksal bestimmen wird. Der junge Tenor Roberto Rossini ist in seiner Heimat Neapel bereits ein umschwärmter Star und schenkt dem schüchternen Mädchen, das bei einer Familienfeier singen soll, kaum Beachtung. Doch als die ersten Töne den Raum erfüllen, kann er seine Augen nicht mehr von Rosanna lösen, so rein und einzigartig ist diese Stimme. Sechs Jahre später treffen Rosanna und Roberto an der Mailänder Scala wieder aufeinander – und gemeinsam treten sie einen unvergleichlichen Siegeszug durch die Opernhäuser der Welt an. Doch ihre leidenschaftliche Liebe wird zu einer Obsession, die sie für alles um sie herum blind werden lässt …

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Buch

Mit elf Jahren begegnet Rosanna Menici zum ersten Mal dem Mann, der ihr Schicksal bestimmen wird. Der junge Tenor Roberto Rossini ist in seiner Heimat Neapel bereits ein umschwärmter Star und schenkt dem schüchternen Mädchen, das bei einer Familienfeier singen soll, kaum Beachtung. Doch als die ersten Töne den Raum erfüllen, kann er seine Augen nicht mehr von Rosanna lösen, so rein und einzigartig ist diese Stimme. Sechs Jahre später treffen Rosanna und Roberto an der Mailänder Scala wieder aufeinander – und gemeinsam treten sie einen unvergleichlichen Siegeszug durch die Opernhäuser der Welt an. Doch ihre leidenschaftliche Liebe wird zu einer Obsession, die sie für alles um sie herum blind werden lässt …

Weitere Informationen zu Lucinda Riley sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Lucinda Riley

als Lucinda Edmonds

Das italienischeMädchen

Roman

Deutschvon Sonja Hauser

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Aria« bei Simon & Schuster, London.Die vorliegende Ausgabe folgt einer von der Autorin überarbeiteten Fassung.Diese aktualisierte Fassung erschien 2014 bei Pan Books,einem Imprint von Pan Macmillan, London.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe April 2014

Copyright © der Originalausgabe

1996 by Lucinda Edmonds

Copyright © der aktualisierten Ausgabe 2014 by Lucinda Riley

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Wilhelm Goldmann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Jill Battaglia/Arcangel Images; Getty Images/ © Walter Bibikow; Ralf Niemzig/VISUM; FinePic®, München

Redaktion: Irmgard Perkounigg

CN · Herstellung: Str.

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

ISBN: 978-3-641-11907-2

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meinen Sohn Kit

Anmerkung der Autorin

Die Geschichte von Rosanna und Roberto, die ich vor siebzehn Jahren geschrieben habe, erschien seinerzeit als Aria, unter meinem Pseudonym Lucinda Edmonds. Letztes Jahr erkundigten sich meine Verleger dann nach meiner Backlist. Ich antwortete, die früheren Bücher seien alle nicht mehr lieferbar, doch sie baten mich, sie ihnen zukommen zu lassen. Also ging ich in den Keller und holte die acht Romane hervor. Sie waren mit Mäusedreck und Spinnweben bedeckt und rochen feucht, aber ich schickte sie trotzdem los. In dem Begleitbrief erklärte ich, dass ich damals noch ziemlich jung und unerfahren gewesen sei und es gut verstehen könne, wenn sie die Bücher sofort in den Papierkorb werfen würden. Zu meiner Überraschung war die Reaktion jedoch ausgesprochen positiv, und man fragte mich, ob ich Interesse an einer Neuauflage habe.

Was bedeutete, dass ich die Romane ebenfalls wieder lesen musste. Und wie jeder Schriftsteller, der sich seinen Werken von früher zuwendet, schlug ich Aria mit einem mulmigen Gefühl auf. Es war eine merkwürdige Erfahrung, weil ich mich kaum noch an die Geschichte erinnerte und mich darauf einlassen konnte wie meine Leser. Und tatsächlich: Ich las schneller und schneller, denn ich war gespannt, was als nächstes passieren würde. Am Ende hatte ich das Gefühl, dass das Buch aktualisiert und überarbeitet werden musste, doch Handlung und Figuren stimmten. Also setzte ich mich ein paar Wochen an den Schreibtisch, und das Ergebnis ist Das italienische Mädchen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß damit!

Lucinda Riley, Januar 2014

»Vergesse nie die heutige Nacht, denn sie ist der Anfang der Ewigkeit.«

Dante Alighieri

METROPOLITAN OPERA HOUSE

NEW YORK

Mein liebster Nico,

es ist merkwürdig, eine so komplizierte Geschichte zu Papier zu bringen, obwohl Du sie möglicherweise niemals lesen wirst, und ich weiß auch nicht, ob das Schreiben über die Vergangenheit eher mir oder Dir nützen soll, mein Schatz.

Ich sitze in meiner Garderobe und frage mich, wo ich anfangen soll. Vieles von dem, was ich erzählen werde, ist vor Deiner Geburt geschehen, als ich jünger war als Du jetzt. Vielleicht sollte ich in Neapel beginnen, der Stadt meiner Geburt …

Ich weiß noch, wie Mamma die Wäsche über eine Leine quer über die Straße hängte. In den engen Gassen von Piedigrotta hatte man wegen der bunten Kleidungsstücke über einem das Gefühl, als würde überall gefeiert. Dazu der Lärm, der ständige Lärm; nicht einmal in der Nacht war es still. Die Erwachsenen sangen und lachten, und die kleinen Kinder weinten … Die Italiener sind, wie Du weißt, ein lautes, emotionales Volk, und die Familien von Piedigrotta teilten Freude und Trauer, wenn sie in der Sonne auf der Schwelle ihrer Türen saßen. Besonders im Hochsommer war die Hitze unerträglich. Dann versengte der Boden die Fußsohlen, und die Mücken stürzten sich auf das nackte Fleisch. Ich habe noch immer die Gerüche in der Nase, die durch mein offenes Schlafzimmerfenster hereinwehten – der Übelkeit erregende Gestank aus der Kanalisation, jedoch auch der köstliche Duft frisch gebackener Pizza aus Papàs Küche.

In meiner frühen Kindheit waren wir arm, aber bei meiner Erstkommunion hatten Papà und Mamma durch harte Arbeit bereits ziemlich großen Erfolg mit ihrem kleinen Café ›Da Marco‹. Sie servierten würzige Pizza nach Papàs Geheimrezept, das in Piedigrotta im Lauf der Jahre einen gewissen Ruhm erlangte. In den Sommermonaten wimmelte es in unserem Café von Touristen, und im Innern standen die Holztische so dicht beieinander, dass man kaum zwischen ihnen hindurchkam.

Unsere Familie lebte in einer kleinen Wohnung darüber. Wir hatten unser eigenes Bad, genug zu essen und Schuhe an den Füßen. Papà war stolz darauf, es aus dem Nichts so weit gebracht zu haben. Und ich fühlte mich glücklich, meine Träume reichten kaum weiter als bis zum nächsten Sonnenuntergang.

Dann, eines warmen Augustabends, als ich elf Jahre alt war, geschah etwas, das mein Leben veränderte. Kaum zu glauben, dass ein Mädchen in diesem Alter sich verlieben kann, doch ich erinnere mich noch ganz genau an den Moment, als ich ihn das erste Mal sah …

1

Neapel, Italien, August 1967

Rosanna Antonia Menici stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt sich am Waschbecken fest, um in den Spiegel zu schauen. Sie musste sich ein wenig nach links neigen, weil sich ein Sprung darin befand, und konnte nur ihr rechtes Auge sowie ihre rechte Wange und nichts von ihrem Kinn sehen; dazu war sie sogar noch auf Zehenspitzen zu klein.

»Rosanna! Kommst du wohl endlich aus dem Bad!«

Seufzend ging Rosanna über den schwarzen Linoleumboden zur Tür und entriegelte sie. Sofort wurde die Klinke heruntergedrückt, und Carlotta hastete herein.

»Warum sperrst du zu, du Dummkopf? Hast du was zu verbergen?« Carlotta drehte die Hähne der Badewanne auf und steckte ihre langen dunklen Locken oben am Kopf zusammen.

Rosanna zuckte verlegen mit den Achseln; sie hätte sich gewünscht, von Gott genauso hübsch geschaffen worden zu sein wie ihre ältere Schwester. Mamma hatte ihr erklärt, Gott gebe jedem etwas mit, und Carlotta habe er nun einmal ihre Schönheit geschenkt. Rosanna beobachtete, wie Carlotta den Bademantel auszog, unter dem ihr wohlgeformter Körper mit der makellosen Haut, den vollen Brüsten und den langen schlanken Beinen zum Vorschein kam. Die Gäste des Cafés sangen ein Loblied auf Mammas und Papàs schöne Tochter und prophezeiten, dass sie eines Tages einen reichen Mann heiraten würde.

Das kleine Bad füllte sich mit Dampf, als Carlotta die Hähne zudrehte und in die Wanne stieg.

Rosanna setzte sich auf den Rand. »Kommt Giulio heute Abend?«, fragte sie ihre Schwester.

»Ja.«

»Meinst du, du wirst ihn heiraten?«

Carlotta begann, sich einzuseifen. »Nein, Rosanna, das habe ich nicht vor.«

»Ich dachte, du magst ihn?«

»Ja … Ach, du bist zu jung, um das zu verstehen.«

»Papà kann ihn gut leiden.«

»Das weiß ich. Er kommt aus einer wohlhabenden Familie.« Carlotta hob eine Augenbraue und stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Ich finde ihn langweilig. Papà würde mich am liebsten schon morgen mit ihm vor dem Traualtar sehen, aber ich möchte zuerst noch ein bisschen Spaß haben und das Leben genießen.«

»Macht Heiraten denn keinen Spaß? Man trägt ein hübsches Hochzeitskleid, bekommt jede Menge Geschenke und eine eigene Wohnung und …«

»… eine Horde schreiender Kinder und einen Bauch«, führte Carlotta den Satz für sie zu Ende, während sie mit der Seife über ihren schlanken Körper glitt. »Was starrst du so? Verschwinde, Rosanna, und lass mir zehn Minuten meine Ruhe. Mamma braucht dich unten. Und mach die Tür hinter dir zu!«

Rosanna verließ schweigend das Bad, ging die steile Holztreppe hinunter und betrat das Café. Die Wände waren gerade erst geweißelt worden, und über der Bar im hinteren Bereich des Raums hing ein Gemälde der Madonna neben einem Poster von Frank Sinatra. Die dunklen Holztische waren hochglanzpoliert, auf jedem stand eine leere Weinflasche mit einer Kerze.

»Da bist du ja! Wo hast du gesteckt? Ich rufe schon die ganze Zeit nach dir. Hilf mir mal beim Aufhängen.«

»Ja, Mamma.« Rosanna zog einen Holzstuhl unter einem der Tische hervor und rückte ihn zu dem Bogen in der Mitte des Cafés.

»Beeil dich, Kind! Gott hat dir deine Beine zum Laufen gegeben und dich nicht als Schnecke erschaffen«, sagte Antonia Menici, die bereits auf einem Stuhl stand, eine Ecke eines bunten Lakens in der Hand. Der Stuhl geriet unter ihrem beträchtlichen Gewicht gefährlich ins Wanken. Rosanna ergriff das andere Ende des Stoffs und kletterte hinauf.

»Schieb die Schlaufe über den Nagel«, wies Antonia sie an.

Rosanna tat, wie ihr geheißen.

»Und jetzt hilf deiner Mamma herunter. Wir wollen sehen, ob es gerade hängt.«

Rosanna sprang auf den Boden und stützte Antonia beim Herunterklettern. Die Handflächen ihrer Mutter waren feucht, Rosanna bemerkte den Schweiß auf ihrer Stirn.

»Bene, bene.« Antonia betrachtete ihr Werk zufrieden.

Rosanna las laut die Worte auf dem Transparent: »Herzlichen Glückwunsch zum dreißigsten Hochzeitstag – Maria und Massimo!«

Antonia legte die Arme um ihre Tochter und drückte diese zu ihrer Verwunderung an sich. »Das wird eine wunderbare Überraschung! Sie glauben, es gibt bloß ein Abendessen mit Papà und mir. Ich bin auf ihre Gesichter gespannt, wenn sie alle ihre Freunde und Verwandten sehen.« Sie strahlte. Antonia löste sich von Rosanna, setzte sich auf den Stuhl und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab. Dann beugte sie sich vor und winkte Rosanna zu sich. »Rosanna, ich verrate dir was. Ich hab Roberto geschrieben. Er kommt zu dem Fest eigens aus Mailand und singt für seine Mamma und seinen Papà, hier im Café! Morgen wird die ganze Piedigrotta von uns reden!«

»Ja, Mamma. Er singt Schnulzen, stimmt’s?«

»Schnulzen? Was sagst du da? Roberto Rossini ist kein Schnulzensänger, sondern lernt an der scuola di musica der Mailänder Scala. Eines Tages wird er in der Scala auftreten.«

Antonia presste die Hände auf ihren Busen. Rosanna erinnerte das ein wenig an den Gottesdienst in der Kirche.

»Geh jetzt Papà und Luca in der Küche zur Hand. Es gibt viel zu tun vor dem Fest, und ich möchte mir noch bei Signora Barezi die Haare machen lassen.«

»Hilft Carlotta auch?«, fragte Rosanna.

»Nein. Sie begleitet mich zu Signora Barezi. Wir müssen heute Abend schön sein.«

»Was soll ich anziehen, Mamma?«

»Du hast doch das rosafarbene Kleid für die Kirche.«

»Das ist mir zu klein. Darin sehe ich albern aus«, jammerte Rosanna.

»Ach was. Eitelkeit ist eine Sünde, Rosanna. Wenn Gott deine eitlen Gedanken hört, reißt er dir in der Nacht alle Haare aus. Dann wachst du am Morgen kahl auf wie Signora Verni, nachdem sie ihren Mann wegen einem Jüngeren verlassen hatte! Und jetzt ab in die Küche.«

Rosanna entfernte sich. Warum, fragte sie sich, hatte Carlotta noch alle Haare auf dem Kopf? Als sie die Küchentür öffnete, schlug ihr Hitze entgegen. Ihr Vater Marco bereitete an einem langen Holztisch den Pizzateig vor. Marco war schlank und drahtig, das genaue Gegenteil seiner Frau, und seine Glatze glänzte bei der Arbeit von Schweiß. Luca, ihr großgewachsener älterer Bruder mit den dunklen Augen, rührte am Herd in einem riesigen dampfenden Topf. Rosanna sah einen Moment lang fasziniert zu, wie Papà den Teig mit den Fingerspitzen über dem Kopf drehte und ihn rund auf den Tisch klatschte.

»Mamma hat mich geschickt. Ich soll euch helfen.«

»Trockne die Teller ab und staple sie auf dem Tisch«, sagte Marco, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

Rosanna nahm ein sauberes Tuch aus einer Schublade und wandte sich gottergeben dem Geschirrberg zu.

»Wie seh ich aus?«

Carlotta blieb an der Tür stehen, um sich von den anderen Familienmitgliedern bewundern zu lassen. Sie trug ein neues, zart zitronengelbes Satinkleid mit tiefem Ausschnitt und einem Rock, der straff auf ihren Hüften saß und knapp über dem Knie endete. Ihr dichtes schwarzes Haar war so gekämmt, dass es in glänzenden Locken auf ihre Schultern fiel.

»Bella, bella!« Marco ging mit ausgestreckter Hand auf Carlotta zu. »Giulio, ist meine Tochter nicht wunderschön?«

Der junge Mann, dessen knabenhafte Gesichtszüge in seltsamem Kontrast zu seinem muskulösen Körper standen, erhob sich schüchtern lächelnd vom Tisch.

»Ja, sie ist so schön wie Sophia Loren in Hochzeit auf Italienisch«, antwortete Giulio.

Carlotta trat zu ihrem Freund und küsste ihn leicht auf die gebräunte Wange. »Danke, Giulio.«

»Und Rosanna, findet ihr die denn nicht auch hübsch?«, fragte Luca und schenkte seiner Schwester ein Lächeln.

»Doch, doch«, antwortete Antonia nur.

Rosanna wusste, dass ihre Mutter log. Das rosafarbene Kleid, das Carlotta einmal so gut gestanden hatte, ließ Rosannas Haut blass erscheinen, und durch die eng geflochtenen Zöpfe wirkten ihre Ohren noch größer als sonst.

»Trinken wir etwas, bevor die Gäste kommen«, sagte Marco und holte eine Flasche orangefarbenen Aperol, die er mit großer Geste öffnete, bevor er sechs kleine Gläser füllte.

»Ich auch, Papà?«, fragte Rosanna.

»Ja, du auch.« Marco reichte jedem ein Glas. »Möge Gott uns ein langes Leben bescheren, uns vor dem bösen Blick schützen und diesen Tag zu etwas ganz Besonderem für unsere besten Freunde Maria und Massimo machen.« Marco hob sein Glas und leerte es in einem Zug.

Rosanna nahm einen kleinen Schluck von dem bitteren Getränk und begann zu husten.

»Alles in Ordnung, piccolina?«, erkundigte sich Luca und klopfte ihr auf den Rücken.

»Ja, Luca.«

Ihr Bruder ergriff ihre Hand und flüsterte ihr ins Ohr: »Eines Tages wirst du viel hübscher sein als deine Schwester.«

Rosanna schüttelte den Kopf. »Nein, Luca, aber das ist mir egal. Mamma sagt, ich habe andere Gaben.«

»Ja, das stimmt.« Luca legte die Arme um den schmalen Körper seiner Schwester und zog sie zu sich heran.

»Mamma mia! Da kommen die ersten Gäste. Marco, bring den Prosecco, und Luca, schau nach dem Essen, schnell!« Antonia strich ihr Kleid glatt und eilte zur Tür.

Rosanna verfolgte von einem Tisch am Rand, wie sich das Café mit Freunden und Verwandten der Ehrengäste füllte. Carlotta, die inmitten einer Gruppe junger Männer stand, warf lächelnd die Haare in den Nacken. Giulio beobachtete sie eifersüchtig von einem Platz in der Ecke aus.

Da verstummten plötzlich alle und wandten sich der Tür zu.

Er war deutlich größer als Antonia und musste sich zu ihr hinunterbeugen, um sie auf beide Wangen zu küssen. Rosanna starrte ihn mit offenem Mund an. Bis dahin war es ihr nie in den Sinn gekommen, einen Mann als »schön« zu bezeichnen, doch für ihn fiel ihr kein anderes Wort ein. Er war groß, hatte breite Schultern und muskulöse Unterarme, die unter seinem kurzärmligen Hemd deutlich zu sehen waren. Die glatten rabenschwarzen Haare hatte er so aus der Stirn gekämmt, dass sie seine markanten Gesichtszüge betonten. Rosanna konnte nicht erkennen, welche Farbe seine Augen hatten, aber sie waren groß und glänzten, und seine Lippen wirkten voll und männlich und hoben sich deutlich von seiner für einen Neapolitaner ungewöhnlich hellen Haut ab.

Rosanna, die ein merkwürdiges Ziehen im Bauch, ein ähnliches Gefühl wie vor Prüfungen in der Schule, verspürte, blickte zu Carlotta hinüber. Auch sie starrte den Mann an.

»Willkommen, Roberto.« Marco gab Carlotta ein Zeichen, ihm zur Tür zu folgen, wo er Roberto auf beide Wangen küsste. »Ich freue mich so, dass du uns heute die Ehre erweist. Das ist meine Tochter Carlotta. Als du sie das letzte Mal gesehen hast, war sie noch ein Kind.«

Roberto musterte Carlotta von oben bis unten. »Ja, Carlotta, aber jetzt bist du eine erwachsene Frau.«

Beim Klang seiner Stimme begannen die Schmetterlinge in Rosannas Bauch wieder zu flattern.

»Und was ist mit Luca und … äh …?«

»Rosanna?«, führte Papà den Satz für ihn zu Ende.

»Ja, Rosanna. Bei meinem letzten Besuch war sie erst ein paar Monate alt.«

»Beide machen sich gut und …« Marco schaute hinaus. »Leise, da kommen Maria und Massimo!«

Sofort verstummten alle, und wenige Sekunden später ging die Tür auf. Maria und Massimo blieben verblüfft am Eingang stehen, als sie die vertrauten Gesichter sahen.

»Mamma, Papà!« Roberto trat einen Schritt vor und umarmte seine Eltern. »Schönen Hochzeitstag!«

»Roberto!« In Marias Augen glänzten Tränen, als sie ihren Sohn an sich drückte. »Ist das zu fassen?«, sagte sie immer wieder.

»Mehr Prosecco für alle!«, rief Marco aus, der sich diebisch über die geglückte Überraschung freute.

Rosanna half Luca und Carlotta, den Prosecco einzuschenken.

»Ruhe bitte.« Marco klatschte in die Hände. »Roberto möchte etwas sagen.«

Roberto kletterte auf einen Stuhl. »Heute ist ein ganz besonderer Tag. Meine geliebten Eltern feiern ihren dreißigsten Hochzeitstag. Wie ihr alle wisst, haben sie ihr gesamtes Leben hier in Piedigrotta verbracht und eine beliebte Bäckerei sowie einen großen Freundeskreis aufgebaut. Sie sind für ihre Freundlichkeit und ihr köstliches Brot gleichermaßen bekannt. Wer ein Problem hat, weiß, dass er bei Massimo immer ein offenes Ohr und guten Rat findet. Sie sind die liebevollsten Eltern, die man sich wünschen kann …« Auch Robertos Augen wurden feucht. »Sie haben große Opfer gebracht, um mich auf die beste Musikschule in Mailand schicken zu können. Und allmählich beginnt mein Traum Gestalt anzunehmen. Ich hoffe, dass es nicht mehr lange dauert, bis ich an der Scala singe. Das habe ich nur ihnen zu verdanken. Lasst uns auf ihre Gesundheit und eine gute Zukunft anstoßen.« Roberto hob das Glas. »Auf Mamma und Papà – Maria und Massimo.«

»Auf Maria und Massimo!«, fielen die Gäste ein.

Roberto stieg von dem Stuhl herunter und ließ sich unter dem Jubel der Anwesenden von seiner Mutter umarmen.

»Rosanna, komm. Wir müssen Papà helfen, das Essen zu servieren«, sagte Antonia und schob Rosanna in Richtung Küche.

Später beobachtete Rosanna, wie Roberto sich mit Carlotta unterhielt, und als Marco Schallplatten auflegte, die er aus der Wohnung geholt hatte, sah sie, dass Robertos Arm sich beim Tanzen wie selbstverständlich um Carlottas schmale Taille legte.

»Was für ein schönes Paar«, flüsterte Luca, der Rosannas Gedanken zu erahnen schien. »Giulio scheint nicht gerade begeistert zu sein, was?«

Giulio verfolgte von einer Ecke aus missmutig, wie seine Freundin fröhlich in Robertos Armen lachte. »Nein«, pflichtete sie ihm bei.

»Möchtest du tanzen, piccolina?«, fragte Luca.

»Nein, danke. Ich kann nicht tanzen.«

»Natürlich kannst du das.« Luca zog sie auf die Tanzfläche.

»Sing für mich, Roberto«, hörte Rosanna Maria ihren Sohn bitten, als die Schallplatte zu Ende war.

»Ja, sing für uns, sing für uns«, forderten die Gäste.

Roberto wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Gut, aber ohne Begleitung ist es schwierig. Ich singe ›Nessun dorma‹.«

Es wurde leise im Raum.

Rosanna lauschte gebannt, und als er schließlich voller Leidenschaft die Hände ausstreckte, hatte sie das Gefühl, als gelte diese Geste ihr allein.

In dem Moment wusste sie, dass sie ihn liebte.

Donnernder Applaus. Nur Rosanna konnte nicht klatschen, weil sie nach ihrem Taschentuch suchte, um ihre Tränen wegzuwischen.

»Zugabe! Zugabe!«, riefen alle.

Roberto winkte lächelnd ab. »Tut mir leid, aber ich muss meine Stimme schonen.« Enttäuschtes Gemurmel, als er seinen Platz neben Carlotta wieder einnahm.

»Dann soll Rosanna das ›Ave Maria‹ singen«, schlug Luca vor. »Komm, piccolina.«

Rosanna schüttelte entsetzt den Kopf.

»Ja!« Maria klatschte in die Hände. »Rosanna hat so eine schöne Stimme. Ich würde mich sehr freuen, das ›Ave Maria‹ von ihr zu hören.«

»Nein, bitte, ich …« Doch da hob Luca Rosanna bereits auf einen Stuhl.

»Sing so, wie du es immer für mich tust«, flüsterte er ihr zu.

Rosanna blickte in die lächelnden Gesichter vor ihr, holte tief Luft und machte den Mund auf. Anfangs war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, doch als sie ihre Nervosität vergaß und ganz in der Musik aufging, wurde sie lauter und kräftiger.

Roberto, dessen Blick bis dahin auf Carlottas tiefen Ausschnitt gerichtet gewesen war, spitzte, als er die Stimme hörte, ungläubig die Ohren. Konnte es sein, dass dieses schmale kleine Mädchen in dem schrecklichen rosafarbenen Kleid so himmlisch sang? Plötzlich nahm er ihre blasse Haut und ihre zu langen Arme und Beine nicht mehr wahr, nur noch ihre riesigen braunen Augen und die leicht geröteten Wangen.

Roberto war klar, dass er kein Schulmädchen hörte, das sein Liedchen zum Fest präsentierte. Eine solche Mühelosigkeit und natürliche Beherrschung der Stimme konnte man nicht erlernen.

»Entschuldige mich«, flüsterte er Carlotta zu, als die Gäste applaudierten, und gesellte sich zu Rosanna, die sich gerade aus Marias begeisterter Umarmung löste.

»Komm, setz dich zu mir, Rosanna. Ich möchte mit dir reden.« Er schob sie zu einem Stuhl, nahm ihr gegenüber Platz und ergriff ihre Hände.

»Bravissima, meine Kleine. Das war wunderschön. Nimmst du Gesangsunterricht?«

Rosanna schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf.

»Das solltest du aber. Man kann gar nicht früh genug anfangen. Wenn ich früher begonnen hätte …« Roberto zuckte mit den Achseln. »Ich werde mit deinem Papà reden. Mein früherer Gesangslehrer wohnt hier in Neapel. Er gehört zu den Besten seines Fachs. Du musst unbedingt zu ihm gehen.«

Zum ersten Mal sah Rosanna in seine dunkelblauen Augen. »Finden Sie meine Stimme gut?«, flüsterte sie ungläubig.

»Ja, meine Kleine, sogar besser als gut. Und durch Unterricht ließe sie sich weiterentwickeln. Dann könnte ich eines Tages voller Stolz behaupten, dich entdeckt zu haben.« Er küsste lächelnd ihre Hand.

Rosanna strahlte.

»Sie hat wirklich eine anrührende Stimme, nicht wahr, Roberto?«, fragte Maria, die hinter Rosanna auftauchte und ihr die Hand auf die Schulter legte.

»Sie ist mehr als anrührend, Mamma, sie ist …«, Roberto breitete die Arme aus, »… eine Gabe Gottes wie die meine.«

»Danke, Signor Rossini«, brachte Rosanna nur heraus.

»Ich gehe jetzt zu deinem Papà«, sagte Roberto.

Als Rosanna auffiel, dass einige Gäste sie mit der gleichen Bewunderung betrachteten wie sonst Carlotta, breitete sich ein warmes Gefühl in ihrem Körper aus. Zum ersten Mal im Leben hatte ihr jemand gesagt, sie sei etwas Besonderes.

Um halb elf war das Fest noch in vollem Gange.

»Rosanna, es wird Zeit fürs Bett«, ermahnte ihre Mutter sie. »Verabschiede dich von Maria und Massimo.«

»Ja, Mamma.« Rosanna schlängelte sich zwischen den Tanzenden hindurch. »Gute Nacht, Maria.« Rosanna küsste sie auf beide Wangen.

»Danke, dass du für mich gesungen hast, Rosanna. Roberto schwärmt immer noch von deiner wunderschönen Stimme.«

»Stimmt.« Roberto gesellte sich zu ihnen. »Ich habe deinem Papà und Luca den Namen und die Adresse meines Lehrers gegeben. Bevor Luigi Vincenzi sich vor ein paar Jahren nach Neapel zurückgezogen hat, war er Gesangslehrer an der Scala. Er ist einer der Besten in Italien und nimmt nach wie vor begabte Schüler. Sag ihm, dass ich dich schicke.«

»Danke, Roberto.« Rosanna wurde rot.

»Rosanna, du besitzt eine ganz besondere Gabe, die du pflegen musst. Ciao, meine Kleine.« Roberto hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. »Eines Tages sehen wir uns wieder, da bin ich mir sicher.«

In dem Zimmer, das Rosanna sich mit Carlotta teilte, schlüpfte sie in ihr Nachthemd und holte ihr Tagebuch unter der Matratze und einen Bleistift aus der Unterwäscheschublade hervor, legte sich ins Bett und begann, die Stirn konzentriert gerunzelt, zu schreiben.

»16. August. Massimos und Marias Fest …«

Rosanna kaute am Stift, während sie sich an die genauen Worte Robertos zu erinnern versuchte. Sie notierte sie verzückt lächelnd und schloss das Tagebuch. Dann sank sie in die Kissen zurück und lauschte auf die Musik und das Lachen von unten.

Als sie wenige Minuten später merkte, dass sie nicht einschlafen konnte, setzte sie sich auf, schlug das Tagebuch noch einmal auf und fügte einen Satz hinzu:

»Eines Tages werde ich Roberto Rossini heiraten.«

2

Als Rosanna aus dem Schlaf hochschreckte, war es fast schon hell. Unten hörte sie den ratternden Müllwagen seine Morgenrunde machen, und auf dem Bett neben ihr saß Carlotta. Ihre Schwester trug nach wie vor das inzwischen ziemlich verknitterte zitronengelbe Kleid, und die Haare hingen ihr zerzaust über die Schultern.

»Wie spät ist es?«, fragte Rosanna Carlotta.

»Sch, Rosanna, sonst weckst du Mamma und Papà! Schlaf weiter. Es ist noch früh am Tag.« Carlotta schlüpfte aus Schuhen und Kleid.

»Wo warst du?«

»Nirgends.« Carlotta zuckte mit den Achseln.

»Aber du musst doch irgendwo gewesen sein, wenn du jetzt erst schlafen gehst«, beharrte Rosanna.

»Willst du endlich still sein?«, zischte Carlotta verärgert, jedoch auch ein wenig nervös, warf ihr Kleid auf einen Stuhl und zog ihr Nachthemd an. »Wenn du Mamma und Papà erzählst, dass ich so spät heimgekommen bin, rede ich nie wieder ein Wort mit dir. Versprich mir, dass du nichts sagst.«

»Nur, wenn du mir verrätst, wo du dich rumgetrieben hast.«

»Na schön.« Carlotta setzte sich zu Rosanna aufs Bett.

»Ich war mit Roberto zusammen.«

»Ach. Und was habt ihr gemacht?«

»Wir … sind spazieren gegangen.«

»Mitten in der Nacht?«

»Das wirst du verstehen, wenn du älter bist, Rosanna«, antwortete Carlotta, erhob sich abrupt, ging zu ihrem eigenen Bett und schlüpfte unter die Decke. »Und jetzt halt den Mund und schlaf weiter.«

Im Haushalt der Menicis schliefen an jenem Morgen alle lang. Als Rosanna zum Frühstück nach unten kam, saß Luca mit einem schrecklichen Kater am Küchentisch, und Antonia bemühte sich, das Chaos im Café zu beseitigen.

»Hilf mir, Rosanna, sonst können wir heute nicht aufmachen«, forderte Antonia ihre Tochter auf.

»Kann ich zuerst frühstücken?«

»Erst wenn das Café aufgeräumt ist. Bring den Müll raus.«

»Ja, Mamma.« Rosanna nahm die Schachtel, die ihre Mutter ihr gab, und trug sie durch die Küche, wo ihr Vater mit fahlem Gesicht den Pizzateig ausrollte.

»Papà, hat Roberto mit dir über meine Gesangsstunden geredet?«, fragte sie ihn. »Er hat es mir versprochen.«

»Ja.« Marco nickte müde. »Rosanna, er wollte nur höflich sein. Wenn er meint, wir hätten das Geld, dich zu einem Gesangslehrer am anderen Ende von Neapel zu schicken, täuscht er sich.«

»Papà … Er sagt, meine Stimme ist eine Gabe Gottes.«

»Rosanna, noch bist du ein kleines Mädchen, aber eines Tages wirst du erwachsen und einem Mann eine gute Ehefrau sein. Du musst Kochen und Haushaltsführung lernen und solltest deine Zeit nicht mit Hirngespinsten vergeuden.«

»Aber …« Rosannas Unterlippe bebte. »Ich möchte singen wie Roberto.«

»Roberto ist ein Mann, Rosanna. Er muss arbeiten. Du wirst irgendwann einmal mit deiner schönen Stimme deine Kinder in den Schlaf singen. Das soll dir genügen. Bring jetzt den Müll raus und hilf dann Luca beim Abspülen.«

Als Rosanna den Abfall zu den Mülltonnen im Hinterhof hinaustrug, kullerte eine Träne über ihre Wange. Nichts hatte sich verändert, alles war wie immer, so, als hätte der gestrige Tag – der beste Tag ihres Lebens, an dem sie etwas ganz Besonderes gewesen war – überhaupt nicht stattgefunden.

»Rosanna!«, erscholl Marcos Stimme aus der Küche. »Beeil dich!«

Sie wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und ging wieder hinein. Ihre Träume blieben im Hof beim Müll zurück.

Als Rosanna später erschöpft von einem langen Tag, an dem sie Gäste bedient hatte, die Treppe hinaufstieg, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.

»Warum so niedergeschlagen, piccolina?«

Rosanna wandte sich Luca zu. »Wahrscheinlich bin ich einfach nur müde«, antwortete sie achselzuckend.

»Rosanna, du solltest glücklich sein. Nicht jedes Mädchen rührt einen ganzen Raum voller Menschen mit seinem Gesang zu Tränen.«

»Luca …« Rosanna setzte sich auf die oberste Stufe der schmalen Treppe, und ihr Bruder nahm neben ihr Platz.

»Sag mir, was los ist, Rosanna.«

»Ich habe Papà heute Morgen nach den Gesangsstunden gefragt. Er meint, Roberto ist nur höflich gewesen; er glaubt nicht wirklich, dass ich Sängerin werden könnte.«

Luca stieß einen leisen Fluch aus. »Das ist nicht wahr. Roberto hat allen vorgeschwärmt, was für eine wunderbare Stimme du hast. Du musst Gesangsunterricht bei seinem Lehrer nehmen.«

»Das geht nicht. Papà sagt, er hat dafür kein Geld. Ich glaube, Gesangsstunden sind sehr teuer.«

»Ach, piccolina.« Luca legte die Arme um seine Schwester. »Warum nur ist Papà bei dir so blind? Wenn es um Carlotta ginge …« Luca seufzte. »Gib die Hoffnung nicht auf. Schau«, er nahm einen Zettel aus seiner Hosentasche, »Roberto hat mir Namen und Adresse dieses Lehrers aufgeschrieben. Egal, was Papà sagt: Wir gehen zu ihm, ja?«

»Aber wir haben kein Geld. Es ist zwecklos.«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Überlass das deinem großen Bruder.« Luca drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut, Rosanna.«

»Gute Nacht, Luca.«

Beim Gedanken an eine weitere lange Nacht in der Küche seufzte Luca. Eigentlich, das wusste er, hätte er dankbar sein sollen dafür, dass er eine sicherere Zukunft vor sich hatte als die meisten anderen jungen Männer in Neapel, doch er fand nur wenig Gefallen an seiner Arbeit. Er trat an den Küchentisch, um mit tränenden Augen Zwiebeln zu hacken. Während er sie in die Bratpfanne schob, dachte er an die Weigerung seines Vaters, über Gesangsstunden für seine kleine Schwester nachzudenken. Rosanna besaß eine Gabe, und Luca würde dafür sorgen, dass sie sie nutzte.

An seinem nächsten freien Nachmittag fuhr Luca mit Rosanna im Bus in das vornehme Hügelviertel Posillipo mit Blick auf die Bucht von Neapel.

»Luca, wie schön! So viel Platz! Und die Luft ist so kühl!«, schwärmte Rosanna, tief ein- und ausatmend, beim Aussteigen.

»Ja, hier ist es tatsächlich sehr schön«, pflichtete Luca ihr bei und ließ den Blick über die Bucht schweifen. Auf den glitzernden Wellen tanzten Boote, andere hatten vor dem Ufer geankert. In der Ferne lagen die Insel Capri und der Vesuv.

»Wohnt Signor Vincenzi tatsächlich hier?« Rosanna betrachtete die eleganten weißen Villen, die sich über ihnen an den Hügel schmiegten. »Er muss schrecklich reich sein!«, bemerkte sie, als sie die kurvige Straße hinauftrotteten.

»Ich glaube, sein Haus ist da drüben«, erklärte Luca und blieb vor einem Tor stehen. »Da wären wir, das ist die Villa Torini. Komm, Rosanna.« Luca nahm seine Schwester bei der Hand und führte sie die Auffahrt zu einer mit Bougainvillea bewachsenen Veranda hinauf. Nach kurzem Zögern klingelte er.

Kurz darauf wurde die Tür von einer Bediensteten mittleren Alters geöffnet.

»Sì? Cosa vuoi? Was willst du?«

»Wir würden gern mit Signor Vincenzi sprechen, Signora. Das ist Rosanna Menici, und ich bin ihr Bruder Luca.«

»Habt ihr einen Termin?«

»Nein, aber Roberto Rossini …«

»Ohne Termin empfängt Signor Vincenzi niemanden. Auf Wiedersehen.« Sie schloss die Tür.

»Lass uns nach Hause gehen, Luca.« Rosanna zupfte nervös am Ärmel ihres Bruders. »Wir haben hier nichts verloren.«

Da hörten sie im Haus jemanden Klavier spielen. »Nein! Wir haben den Weg hierher nicht umsonst gemacht. Komm mit. Du wirst Signor Vincenzi vorsingen.« Luca zog seine Schwester vom Eingang weg.

»Wo willst du hin, Luca? Ich möchte nach Hause«, flehte sie ihn an.

»Rosanna, bitte, vertrau mir.« Luca packte Rosanna am Arm und folgte dem Klang der Musik, der ihn um die Villa herum zu einer großen Terrasse mit riesigen Tontöpfen voll zart rosafarbener Geranien und lilafarbenem Immergrün führte.

»Warte hier«, flüsterte Luca und lief geduckt die Terrasse entlang, bis er eine Tür erreichte, die offen stand, um die nachmittägliche Brise hereinzulassen. Er lugte vorsichtig hinein.

»Er ist da drin«, flüsterte er Rosanna zu, als er wieder bei ihr war. »Sing, Rosanna, sing!«

Sie sah ihn verwirrt an. »Wie bitte?«

»Sing das ›Ave Maria‹, schnell!«

»Ich …«

»Mach’s!«, drängte er sie.

Rosanna, die ihren sanftmütigen Bruder noch nie so entschlossen erlebt hatte, folgte seiner Aufforderung.

Luigi Vincenzi nahm gerade seine Pfeife in die Hand, um einen Nachmittagsspaziergang im Garten zu machen, als er die Stimme hörte. Er lauschte einige Sekunden lang mit geschlossenen Augen, dann durchquerte er den Raum und trat neugierig hinaus auf die Terrasse, wo ein Mädchen von höchstens elf Jahren in einem ausgewaschenen Baumwollkleidchen sang.

Die Kleine verstummte in dem Moment, in dem sie ihn bemerkte. In ihrem Gesicht flackerte Angst auf. Ein junger Mann, seinem Aussehen nach zu urteilen ein Verwandter von ihr, stand neben ihr.

Luigi Vincenzi applaudierte.

»Danke, meine Liebe, für dieses reizende Ständchen. Aber darf ich fragen, was ihr zwei auf meiner Terrasse macht?«

Rosanna versteckte sich hinter ihrem Bruder.

»Entschuldigen Sie, Signore, Ihr Dienstmädchen hat uns abgewiesen«, antwortete Luca. »Ich wollte ihr erklären, dass wir Ihre Adresse von Roberto Rossini haben.«

»Verstehe. Darf ich eure Namen erfahren?«

»Das ist Rosanna Menici, und ich bin ihr Bruder Luca.«

»Kommt mal lieber rein«, sagte Luigi.

»Danke, Signore.«

Luca und Rosanna folgten ihm ins Haus. Der große Raum hinter der Terrassentür wurde von einem weißen Flügel auf glänzend grauem Marmorboden beherrscht. Bücherregale säumten die Wände, in denen sich unordentlich Noten stapelten. Auf dem Kaminsims befanden sich zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos von Luigi in Abendkleidung mit Leuten, deren Gesichter Luca und Rosanna aus Zeitungen und Illustrierten kannten.

Luigi Vincenzi setzte sich auf den Klavierhocker. »Warum hat Roberto Rossini dich zu mir geschickt, Rosanna Menici?«

»Weil …«

»Weil er der Meinung ist, dass meine Schwester Gesangsstunden bei Ihnen nehmen sollte«, antwortete Luca für sie.

»Welche Stücke kennst du sonst noch, Rosanna Menici?«, fragte Luigi sie.

»Nicht … viele. Hauptsächlich Kirchenlieder«, stotterte Rosanna.

»Dann lass doch noch einmal das ›Ave Maria‹ hören, ja? Das scheint dir sehr vertraut zu sein. Komm näher heran, Kind. Ich beiße nicht.«

Als Rosanna an seine Seite trat, sah sie, dass er trotz des Schnurrbarts, der grauen Locken und der dichten Brauen, die ihn streng wirken ließen, freundliche Augen hatte.

»Also sing.« Luigi begann zu spielen. Der Klang dieses Flügels unterschied sich so sehr von dem anderer Klaviere, die sie gehört hatte, dass Rosanna zu spät einsetzte.

»Hast du ein Problem, Rosanna Menici?«

»Nein, Signore, ich habe nur dem wunderschönen Klang dieses Instruments gelauscht.«

»Aha. Bitte diesmal ein wenig mehr Konzentration.«

Und Rosanna sang wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Luca zersprang vor Stolz fast das Herz. Nun wusste er, dass es richtig gewesen war, Rosanna zu Luigi Vincenzi zu bringen.

»Gut, sehr gut, Rosanna Menici. Jetzt versuchen wir es mit Tonleitern. Folge mir einfach.«

Luigi leitete Rosanna in die Höhe und in die Tiefe, um ihren Stimmumfang festzustellen. Obwohl er normalerweise nicht zu Enthusiasmus neigte, musste er zugeben, dass ihm in seiner langjährigen Unterrichtstätigkeit noch keine solche Begabung untergekommen war.

»Gut! Ich habe genug gehört.«

»Werden Sie sie unterrichten, Signor Vincenzi?«, fragte Luca. »Ich kann Sie bezahlen.«

»Ja, ich werde sie unterrichten. Rosanna Menici …« Luigi wandte sich Rosanna zu. »Du wirst jeden zweiten Dienstag um vier Uhr hierherkommen. Eine Stunde kostet viertausend Lire.« Er verlangte nur die Hälfte seines üblichen Preises, weil er den Eindruck hatte, dass der Bruder stolz, aber mittellos war.

Rosanna strahlte. »Danke, Signor Vincenzi, danke.«

»Und an den Tagen, an denen du nicht bei mir bist, übst du mindestens zwei Stunden. Du wirst fleißig arbeiten und niemals eine Stunde versäumen, es sei denn, in der Familie ereignet sich ein Todesfall. Verstanden?«

»Ja, Signor Vincenzi.«

»Gut. Dann sehen wir uns also am Dienstag. Geht bitte vorne raus.« Luigi führte Rosanna und Luca durchs Haus zur Tür. »Ciao, Rosanna Menici.«

Die beiden verabschiedeten sich und folgten der Auffahrt. Vor dem Tor hob Luca Rosanna hoch und wirbelte sie jubelnd herum.

»Ich hab’s gewusst! Er musste nur deine Stimme hören. Ich bin so stolz auf dich, piccolina. Aber du weißt, dass das unter uns bleiben muss, ja? Mamma und Papà hätten vielleicht etwas dagegen. Du darfst es nicht einmal Carlotta erzählen.«

»Das tu ich nicht, versprochen. Luca, kannst du dir das leisten?«

»Ja.« Luca dachte an das Geld, das er zwei Jahre für einen Motorroller gespart hatte, den ersten Schritt in die lang ersehnte Freiheit. »Natürlich.«

Als der Bus sich näherte, fiel Rosanna ihrem Bruder um den Hals. »Danke, Luca. Ich verspreche dir, dass ich fleißig sein und mich eines Tages revanchieren werde.«

»Das ist mir klar, piccolina.«

3

»Pass auf dich auf, Rosanna. Der Busfahrer weiß, wo er dich rauslassen muss.«

Rosanna lächelte ihren Bruder von den Stufen zum Bus aus an. »Luca, das hast du mir alles schon hundertmal gesagt. Ich bin kein kleines Kind mehr. Und es ist ja auch nicht weit.«

»Ich weiß, ich weiß.« Luca küsste seine Schwester auf beide Wangen. »Hast du das Geld eingesteckt?«

»Ja, Luca! Ich komme zurecht. Bitte mach dir keine Sorgen.«

Rosanna setzte sich auf einen der vorderen Plätze im Bus und winkte Luca durch das schmutzige Fenster zu. Der Bus brachte sie aus der Hektik der Stadt hinaus in die frische Luft der Hügel. Rosannas Herz schlug ein wenig schneller, als sie ausstieg und zur Villa hinaufging. Sie klingelte zaghaft, weil sie sich an den kühlen Empfang vom letzten Mal erinnerte, doch als die Tür sich diesmal öffnete, wurde sie von dem Dienstmädchen mit einem freundlichen Lächeln begrüßt.

»Komm herein, Rosanna Menici. Ich bin Signora Rinaldi, die Haushälterin von Signor Vincenzi. Er erwartet dich im Musikzimmer.« Die Frau führte Rosanna in den hinteren Teil der Villa und klopfte dort an eine Tür.

»Guten Tag, Rosanna Menici. Bitte setz dich.« Luigi deutete auf einen Stuhl an einem Tisch, auf dem ein Krug mit gekühlter Limonade stand. »Nach der Fahrt hast du bestimmt Durst. Möchtest du etwas trinken?«

»Danke, Signore.«

»Wenn wir zusammenarbeiten wollen, musst du von nun an Luigi zu mir sagen.« Er schenkte ihnen Limonade ein, und Rosanna trank die ihre in großen Schlucken.

»Unangenehmes Wetter heute.« Luigi wischte sich die Stirn mit einem großen karierten Taschentuch ab.

»Hier drin ist es schön kühl«, entgegnete Rosanna. »In unserer Küche, hat Papà gesagt, hatte es gestern fast fünfzig Grad.«

»Tatsächlich? Solche Temperaturen sind nur was für Beduinen und Kamele. Womit verdient sich dein Papà denn seinen Lebensunterhalt?«

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