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Wie tief hinab reicht das Erinnern? 1962 erschien erstmals »Das Judenauto«. Jener Erzählzyklus, der zum erfolgreichsten Buch Franz Fühmanns werden sollte. »Ich hatte Erfahrungen, existentielle Erfahrungen ..., die ich mitteilen wollte.« In 14 Kapiteln widmet sich Fühmann Ereignissen, in denen sich die Brüche und Abgründe in der deutschen und damit europäischen Geschichte der Jahre 1931 bis 1949 widerspiegeln. »Reportagen durch die Zeit« nannte er seine Erzählungen. Ziel war es, »eine Figur von unten zu zeigen; wie sieht sie sogenannte historische Ereignisse. Wie schaut es zum Beispiel im Alltag aus, wenn ein Weltkrieg ausbricht«. Fühmann erzählt mitreißend, bedrückend, anschaulich. Etwa wie sich Menschen freiwillig in eine Scheinwelt begeben, in der Fakten nur dann stimmen, wenn sie einem passen, eine Scheinwelt, durch die viele offenen, aber oft nicht sehenden Auges in den Untergang marschieren. Ein beklemmend aktuelles Buch.
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Seitenzahl: 275
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Franz Fühmann
Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten
Das Judenauto
1929, Weltwirtschaftskrise
Gebete zum heiligen Michael
12. Februar 1934, Aufstand der Wiener Arbeiter
Die Verteidigung der Reichenberger Turnhalle
September 1938, vor der Münchener Konferenz
Die Berge herunter
Oktober 1938, Okkupation des Sudetenlandes
Ein Weltkrieg bricht aus
1. September 1939, Ausbruch des zweiten Weltkrieges
Katalaunische Schlacht
22. Juni 1941, Überfall auf die Sowjetunion
Entdeckungen auf der Landkarte
Dezember 1941, Schlacht vor Moskau
Jedem sein Stalingrad
Februar 1943, Schlacht vor Stalingrad
Muspilli
20. Juli 1944, Attentat auf Hitler
Pläne in der Brombeerhöhle
8. Mai 1945, Kapitulation der Hitlerwehrmacht
Gerüchte
Juli 1945, Potsdamer Konferenz
Regentag im Kaukasus
21. April 1946, Vereinigungsparteitag der KPD und SPD
Ein Tag wie jeder andere
10. Oktober 1946, Urteilsverkündung im Nürnberger Prozeß
Zum ersten Mal: Deutschland
7. Oktober 1949, Gründung der Deutschen Demokratischen Republik
Anhang: Auszug aus einem Interview, 1982
Wie tief hinab reicht das Erinnern? Ein warmes Grün, das ist in meinem Gedächtnis wohl das früheste Bild: das Grün eines Kachelofens, um dessen oberes Bord sich das Relief eines Zigeunerlagers gezogen haben soll, doch das weiß ich nur noch aus den Erzählungen meiner Mutter, keine Anstrengung des Hirns bringt mir dies Bild zurück. Das Grün aber habe ich behalten: ein warmes Weinflaschengrün mit stumpfem Glanz, und immer, wenn ich mir dieses Grün vor Augen führe, fühle ich mich leicht über den Dielen in Lüften schweben: Ich konnte, wie Mutter erzählte, die Zigeuner nur sehen, wenn Vater mich zweijährigen Knirps in die Höhe hob.
Dann folgt in meinem Gedächtnis etwas Weiches und Weißes, auf dem ich unendlich lange Zeit stillsitzen und dabei in ein sich auf- und abwärts krümmendes Schwarz starren mußte, und dann eine Höhle Holunder mit einer Bank und einem Mann drauf, der nach Abenteuern roch und mich auf seinem Knie reiten ließ und mir ein Stück wunderbar süßer Wurst in den Mund schob, die ich gierig kaute, und diese Erinnerung ist verbunden mit einem Schrei und einem Sturm, der plötzlich Mann und Laube von mir fortriß, um sie jählings ins Nichts zu wirbeln. Es war natürlich keine Sturmbö, es war der Arm der Mutter, der mich aus der grünen Höhle gerissen hatte, und auch der Schrei war der Schrei ihres Entsetzens gewesen: Der Mann, dessen Knie mich gewiegt hatte, war eine der Spottfiguren des Dorfs: ein heruntergekommener Großbauer, der, auf säbelkrummen Beinen einherschwankend, die Dörfer nach Brot und Schnaps zu durchbetteln pflegte, und der Geruch wilder Abenteuer war sein Atem von Brennspiritus und die Wurst ein Abfall der Roßschlächterei. Jedenfalls muß es herrlich gewesen sein, auf seinen Knien zu reiten: Es ist dies das erste Bild, das ich heute noch ganz deutlich vor mir sehe, und ich war damals drei Jahre alt.
Von da an folgen die Bilder dichter und dichter: die Berge, der Wald, der Brunnen, das Haus, der Bach und die Wiese; der Steinbruch, in dessen Grotten die Geister, die ich mir ausdachte, hausten; Kröte; Hornisse; der Käuzchenruf; die Vogelbeerenallee vor der grauen Fabrik; der Jahrmarkt mit seinem Duft von türkischem Honig und dem Drehorgelgeschrei der Schaubudenausrufer und schließlich die Schule mit ihrem kalkgetünchten, trotz der hohen Fenster stets düstren Korridor, durch den aus allen Klassenräumen heraus die Menschenangst wie ein Nebelschwaden kroch. Die Gesichter der Lehrer habe ich vergessen; ich sehe nur noch zwei verkniffne graue Augen über einer langgezognen messerscharfen Nase und einen von Ringen gekerbten Bambusstock, und auch die Gesichter der Mitschüler sind blaß und unscharf geworden bis auf ein braunäugiges Mädchengesicht mit schmalem, kaum geschwungnem Mund und kurzem hellem Haar über der hohen Stirn: Das Gesicht, vor dessen Augen man die seinen, zum ersten Mal durch eine rätselhafte Macht verwirrt, niedergeschlagen hat, man vergißt es nicht, auch wenn danach Bittres geschehen ist …
Eines Morgens, es war im Sommer 1931, und ich war damals neun Jahre alt, kam, wie immer wenige Minuten vor dem Läuten, das Klatschmaul der Klasse, die schwarzgezopfte, wie ein Froschteich plappernde Gudrun K. wieder einmal mit ihrem Schrei: »Ihr Leute, ihr Leute, habt ihr’s schon gehört!« in die Klasse gestürzt. Sie keuchte, da sie das schrie, und fuchtelte wild mit den Armen; ihr Atem flog, doch sie schrie dennoch: »Ihr Leute, ihr Leute!« und rang im Schreien schnaufend nach Luft. Die Mädchen stürzten ihr wie immer entgegen und umdrängten sie jäh wie ein Bienenschwarm seine Königin; wir Jungen jedoch achteten kaum auf ihr Getue, zu oft schon hatte das Klatschmaul etwas als Sensation ausgeschrien, was sich dann als Belanglosigkeit entpuppte. So ließen wir uns in unserm Tun nicht stören: Wir diskutierten gerade die neuesten Abenteuer unsres Idols Tom Shark, und Karli, unser Anführer, machte uns vor, wie man nach dessen Manier den gefährlichsten Wolfshund im Nu erledigt: ein fester Griff in den Rachen, dorthin, wo die Zähne am spitzesten stehn, den Oberkiefer festgehalten, den Unterkiefer hinuntergerissen, den Schädel im Wirbel gedreht und dem Tier einen Tritt in den Kehlkopf – da hörten wir aus dem Schwarm der Mädchen einen schrillen Schrei. »Iii, wie gräsig!« hatte eines der Mädchen geschrien, ein ganz spitzes quiekendes Iii des panischen Schrekkens; wir fuhren herum und sahen das Mädchen stehen, die Hand vor dem weit offenen Mund und in den Augen das blanke Entsetzen, und die Gruppe der Mädchen stand vor Schauder gekrümmt. »Und dann rührn sie das Blut mit Nullermehl an und backen draus Brot!« hörten wir Gudrun hastig berichten, und wir sahn, wie die Mädchen sich schüttelten. »Was erzählst du da für ’n Quatsch!« rief Karli laut. Die Mädchen hörten nicht. Zögernd traten wir zu ihnen. »Und das essen sie dann?« fragte eine mit heiserer Stimme. »Das essen sie dann zu ihrem Feiertag, da kommen sie zu Mitternacht alle zusammen und zünden Kerzen an, und dann sagen sie einen Zauber, und dann essen sie das!« bestätigte Gudrun mit keuchendem Eifer. Ihre Augen brannten. »Was für ein Zauber?« fragte Karli und lachte, aber das Lachen klang nicht echt. Plötzlich fühlte ich eine seltsame Angst. »So red schon!« schrie ich Gudrun an, und auch die anderen Jungen schrien, und wir drängten uns um die Mädchen, die Gudrun umdrängten, und Gudrun wiederholte, in hastigen, fast schreienden Sätzen, ihren Bericht: Ein Judenauto sei, so sprudelte sie heraus, in den Bergen aufgetaucht und fahre abends die wenig begangenen Wege ab, um Mädchen einzufangen und zu schlachten und aus ihrem Blut ein Zauberbrot zu backen; es sei ein gelbes, ganz gelbes Auto, so redete sie, und Mund und Augen waren vor Entsetzen verzerrt: ein gelbes, ganz gelbes Auto mit vier Juden drin, vier schwarzen mördrischen Juden mit langen Messern, und alle Messer seien blutig gewesen, und vom Trittbrett habe auch Blut getropft, das hätten die Leute deutlich gesehen, und vier Mädchen hätten sie bisher geschlachtet, zwei aus Witkowitz und zwei aus Böhmisch-Krumma; sie hätten sie an den Füßen aufgehängt und ihnen den Kopf abgeschnitten und das Blut in Pfannen auslaufen lassen, und wir lagen übereinandergedrängt, ein Klumpen Entsetzen, der kreischte und bebte, und Gudrun überschrie unser Grauen mit schriller Käuzchenstimme und beteuerte, obwohl niemand ihre Erzählung anzweifelte, gierig, das sei alles wirklich wahr, sie hätte das Judenauto ja selbst gesehen. Wenn sie gestern nach Böhmisch-Krumma gegangen wäre, um Heimarbeit auszutragen, hätte sie das Judenauto mit eigenen Augen sehn können: gelb, ganz gelb, und vom Trittbrett das tropfende Blut, und ich starrte Gudrun ins Gesicht, das rot war, und dachte bewundernd, daß sie ein tolles Glück gehabt habe, nicht abgeschlachtet worden zu sein, denn daß das Judenauto durch die Felder fuhr und Mädchen einfing, daran zweifelte ich keinen Augenblick.
Ich hatte zwar noch keinen Juden gesehen, aber ich hatte aus den Gesprächen der Erwachsenen schon viel über sie erfahren: Sie hatten alle eine krumme Nase und schwarzes Haar und waren schuld an allem Schlechten in der Welt: Sie zogen den ehrlichen Leuten mit gemeinen Tricks das Geld aus der Tasche und hatten die Krise gemacht, die meines Vaters Drogenhandlung abzuwürgen drohte; sie ließen den Bauern das Vieh und das Korn wegholen und kauften von überallher Getreide zusammen, gossen Brennspiritus drüber und schütteten es dann ins Meer, damit die Deutschen verhungern sollten, denn sie haßten uns Deutsche über alle Maßen und wollten uns alle vernichten – warum sollten sie dann nicht in einem gelben Auto auf den Feldwegen lauern, um deutsche Mädchen zu fangen und abzuschlachten? Nein, ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß das Judenauto existierte, und auch die Worte des Lehrers, der unterdessen die Klasse betreten und die Nachricht vom Judenauto, die alle Münder ihm zugeschrien, für wenig glaubwürdig erklärt hatte, änderten an meinem Glauben nichts. Ich glaubte an das Judenauto; ich sah es gelb, ganz gelb zwischen Kornfeld und Kornfeld fahren, vier schwarze Juden mit langen, spitzigen Messern, und plötzlich sah ich das Auto halten und zwei der Juden zum Kornfeld springen, an dessen Rand ein braunäugiges Mädchen saß und einen Kranz blauer Kornraden flocht, und die Juden, Messer zwischen den Zähnen, packten das Mädchen und schleppten es zum Auto, und das Mädchen schrie und ich hörte ihren Schrei und ich war selig, denn es war mein Name, den sie schrie. Laut und verzweifelt schrie sie meinen Namen; ich suchte nach meinem Colt, doch ich fand ihn nicht, und so stürzte ich mit bloßen Händen aus meinem Geheimgang, hinaus und sprang die Juden an. Den ersten Juden schmetterte ich mit einem Schlag gegen das Kinn zu Boden; dem zweiten Juden, der das Mädchen schon hochgehoben hatte, um es in den Wagen zu wälzen, schlug ich mit der Handkante ins Genick, so daß auch er zusammensank; der Jude am Steuer gab Gas, und der Wagen schoß auf mich zu, doch darauf war ich natürlich gefaßt gewesen und schnellte zur Seite; das Auto schoß vorbei, ich sprang auf sein Heck, zertrümmerte mit einem Faustschlag die Wagendecke, drehte dem Juden auf dem Beifahrersitz das Messer aus der zustoßenden Hand, warf ihn aus dem Wagen, überwältigte den Juden am Steuer, bremste, sprang ab und sah im Gras vorm Kornfeld ohnmächtig das Mädchen liegen und ich sah ihr Gesicht, das vor mir reglos im Gras lag, und plötzlich sah ich nur ihr Gesicht: braune Augen, ein schmaler, kaum geschwungner Mund und kurzes, helles Haar über der hohen Stirn, und ich sah Wangen und Augen und Lippen und Stirn und Haar, und mir war, als sei dies Gesicht immer verhüllt gewesen und ich sähe es das erste Mal nackt. Scheu befing mich; ich wollte wegsehn und konnte es doch nicht und beugte mich über das Mädchen, das reglos im Gras lag, und berührte, ein Hauch, mit meiner Hand ihre Wange und mir wurde flammend heiß, und plötzlich brannte meine Hand: ein jäher Schmerz; mein Name dröhnte in mein Ohr; ich fuhr auf und der Lehrer hieb mir ein zweites Mal das Lineal über den Handrücken. »Zwei Stunden Nachsitzen«, schnaubte er, »ich werd dir das Schlafen im Unterricht schon austreiben!« Die Klasse lachte. Der Lehrer schlug ein drittes Mal zu; die Hand schwoll auf, doch ich biß die Zähne zusammen: Zwei Bänke vor mir saß das Mädchen, dessen Gesicht ich im Gras gesehn hatte, und ich dachte, daß sie jetzt als einzige nicht über mich lachen würde. »Im Unterricht schlafen – glaubt der Kerl, die Bank sei ein Bett!« Der Lehrer hatte das als Witzwort gesprochen, und die Klasse brüllte vor Lachen. Ich wußte, daß sie niemals über mich lachen würde. »Ruhe«, schrie der Lehrer. Das Lachen verebbte. Die Striemen auf meiner Hand wurden blau.
Nach dem Nachsitzen traute ich mich nicht nach Hause; ich grübelte, da ich langsam die Dorfstraße hinaufging, nach einer glaubwürdigen Ausrede und kam schließlich auf den Gedanken, zu Haus zu erzählen, ich hätte dem Judenauto nachgeforscht, und so bog ich, um nicht von der Hauptstraße, sondern von den Feldern aus nach Haus zu kommen, von der Straße ab und ging einen Feldweg hinauf, den Bergen zu: Kornfelder rechts und Wiesen links, und Korn und Gras wogten mir übers Haupt. Ich dachte nicht mehr ans Nachsitzen und nicht mehr an das Judenauto; ich sah das Gesicht des Mädchens in den Wellen der Gräser und im Korn sah ich ihr helles Haar. Die Wiesen dufteten sinnverwirrend, das pralle Fleisch der Glockenblumen schwang blau in der Höh meiner Brust; der Thymian sandte wilde Wellen betäubenden Duftes; Wespenschwärme brausten bös, und der Mohn neben den blauen Raden glühte, ein sengendes Gift, in hitzigstem Rot. Die Wespen schwirrten wild um mein Gesicht; die Sonne dünstete; die Grillen schrien mir eine irre Botschaft zu, große Vögel schossen jäh aus dem Korn auf; der Mohn neben den Raden lohte drohend, und ich war verwirrt; ich war bisher arglos in der Natur gestanden wie eins ihrer Geschöpfe, eine Libelle oder ein wandernder Halm, doch nun war mir, als ob sie mich von sich stieße und ein Riß aufbräche zwischen meiner Umwelt und mir. Ich war nicht mehr Erde und nicht mehr Gras und Baum und Tier; die Grillen schrien, und ich mußte dran denken, daß sie beim Zirpen die Flügel aneinanderrieben, und plötzlich kam mir das schamlos vor, und plötzlich war alles verändert und wie zum ersten Mal gesehn: Die Kornähren klirrten im Wind, das Gras schmiegte sich weich aneinander, der Mohn glühte, ein Mund, tausend Münder der Erde, der Thymian brodelte bitteren Dunst, und ich fühlte meinen Leib wie etwas Fremdes, wie etwas, das nicht Ich war; ich zitterte und fuhr mit den Fingernägeln über die Haut meiner Brust und zerrte an ihr; ich wollte schreien und konnte doch nur stöhnen; ich wußte nicht mehr, was mir geschah, da kam, Korn und Gras zur Seite drängend, ein braunes Auto langsam den Feldweg herunter.
Da ich es wahrnahm, schrak ich zusammen, als sei ich bei einem Verbrechen ertappt worden; ich riß die Hände von meiner Brust, und das Blut schoß mir jäh in den Kopf. Mühsam sammelte ich meine Gedanken. Ein Auto; wie kommt ein Auto hierher? dachte ich stammelnd, da begriff ich plötzlich: Das Judenauto! Ein Schauer überrann mich; ich stand gelähmt. Im ersten Augenblick hatte ich zu sehn vermeint, daß das Auto braun war; nun, da ich, entsetzt und von einer schaurigen Neugier gestachelt, ein zweites Mal hinblickte, sah ich, daß es mehr gelb als braun war, eigentlich gelb, ganz gelb, ein grellgelber Ton, und hatte ich anfangs nur drei Personen drin gesehen, so hatte ich mich sicher getäuscht, oder vielleicht hatte sich einer geduckt, sicher hatte sich einer geduckt, es waren ihrer vier im Wagen und einer hatte sich geduckt, um mich anzuspringen, und da fühlte ich Todesangst. Es war Todesangst; das Herz schlug nicht mehr; ich hatte sein Schlagen nie wahrgenommen, doch jetzt, da es nicht mehr schlug, fühlte ich es: ein toter Schmerz im Fleisch, eine leere Stelle, die, sich verkrampfend, mein Leben aussog. Ich stand gelähmt und starrte auf das Auto und das Auto kam langsam den Feldweg herunter, ein gelbes Auto, ganz gelb, und es kam auf mich zu und da, als habe jemand einen Mechanismus in Gang gesetzt, schlug mein Herz plötzlich wieder, und nun schlug es rasend schnell, und rasend überschlugen sich meine Gedanken: schreien, davonlaufen, im Korn verstecken, ins Gras springen, doch da fiel mir in der letzten Sekunde noch ein, daß ich keinen Verdacht erregen durfte und daß ich nicht merken lassen durfte, daß ich wußte, daß es das Judenauto war, und so ging ich, von Grauen geschüttelt, mäßigen Schritts den Feldweg hinunter, mäßigen Schritts vor dem Auto, das Schritt fuhr, und mir troff der Schweiß von der Stirn und ich fror zugleich, und so ging ich fast eine Stunde, obwohl es zum Dorf nur ein paar Schritte warn. Meine Knie zitterten; ich dachte schon, daß ich umfallen würde, da hörte ich, wie einen Peitschenschlag knallend, eine Stimme aus dem Wagen: ein Anruf vielleicht oder ein Befehl, und da wurde mir schwarz vor den Augen; ich spürte nur noch, wie meine Beine liefen und mich mit sich nahmen; ich sah und hörte nichts mehr und lief und schrie, und erst als ich mitten auf der Dorfstraße stand, zwischen Häusern und unter Menschen, wagte ich keuchend, mich umzuschaun, und da sah ich, daß das Judenauto spurlos verschwunden war.
Natürlich erzählte ich am nächsten Morgen in der Klasse, daß mich das Judenauto stundenlang gejagt und fast erreicht habe und daß ich nur durch ganz tolles Hakenschlagen entkommen sei, und ich schilderte das Judenauto: gelb, ganz gelb, und mit vier Juden besetzt, die blutige Messer geschwungen hatten, und ich log nicht, ich hatte alles ja selbst erlebt. Die Klasse lauschte atemlos; sie hatte mich umdrängt und sah mich bewundernd und auch neidvoll an; ich war ihr Held und hätte jetzt an Karlis Stelle ihr Anführer werden können, doch das wollte ich gar nicht, ich wollte nur einen Blick und wagte doch nicht, ihn zu suchen. Dann kam der Lehrer; wir schrien ihm die ungeheure Nachricht ins Gesicht; fiebernd schilderte ich meine Erlebnisse, und der Lehrer fragte nach Ort und Zeit und Umständen, und ich konnte alles genauestens angeben, da waren keine Mogeleien und Widersprüche, da gab es nichts als unwiderlegliche Tatsachen: das gelbe, ganz gelbe Auto, die vier schwarzen Insassen, die Messer, das Blut am Trittbrett, der Feldweg, der Befehl, mich zu fangen, die Flucht, die Verfolgung, und die Klasse lauschte atemlos, da hob das Mädchen mit dem kurzen, hellen Haar die Hand, und nun wagte ich, ihr ins Gesicht zu sehen, und sie wandte sich halb in ihrer Bank um und sah mich an und lächelte, und mein Herz schwamm fort. Das war die Seligkeit; ich hörte die Grillen schreien und sah den Mohn glühn und roch den Thymianduft, doch nun verwirrte mich das alles nicht mehr, die Welt war wieder heil und ich war ein Held, dem Judenauto entronnen, und das Mädchen sah mich an und lächelte und sagte mit ihrer ruhigen, fast bedächtigen Stimme, daß gestern ihr Onkel mit zwei Freunden zu Besuch gekommen sei; sie seien im Auto gekommen, sagte sie langsam, und das Wort »Auto« fuhr mir wie ein Pfeil ins Hirn; in einem braunen Auto seien sie gekommen, sagte sie, und sie sagte auf die hastige Frage des Lehrers, sie seien zur gleichen Zeit, da ich das Judenauto gesehn haben wollte, den gleichen Feldweg hinabgefahren, und ihr Onkel habe einen Jungen, der am Wiesenrand gestanden habe, nach dem Weg gefragt, und der Junge sei schreiend davongelaufen, und sie strich die Zunge über ihre dünnen Lippen und sagte, ganz langsam, der Junge am Weg habe genau solche grünen Lederhosen getragen wie ich, und dabei sah sie mich freundlich lächelnd an und alle, so fühlte ich, sahen mich an und ich fühlte ihre Blicke bös wie Wespen schwirren, Wespenschwärme über Thymianbüschen, und das Mädchen lächelte mit jener ruhigen Grausamkeit, deren nur Kinder fähig sind, und als dann eine Stimme aus mir herausbrüllte, die blöde Gans spinne ja, es sei das Judenauto gewesen: gelb, ganz gelb und vier schwarze Juden drin mit blutigen Messern, da hörte ich wie aus einer anderen Welt durch mein Brüllen ihre ruhige Stimme sagen, sie habe mich ja selbst vor dem Auto davonlaufen sehen. Sie sagte es ganz ruhig, und ich hörte, wie mein Brüllen jählings abbrach; ich schloß die Augen, es war Totenstille, da plötzlich hörte ich ein Lachen, ein spitzes, kicherndes Mädchenlachen wie Grillengezirp schrill, und dann toste eine brüllende Woge Gelächter durch den Raum und spülte mich fort. Ich stürzte aus der Klasse hinaus und rannte aufs Klosett und schloß hinter mir zu; Tränen schossen mir aus den Augen, ich stand eine Weile betäubt im beizenden Chlorgeruch und hatte keine Gedanken und starrte die schwarzgeteerte, stinkende Wand an und plötzlich wußte ich: Sie waren dran schuld! Sie waren dran schuld, sie, nur sie: Sie hatten alles Schlechte gemacht, was es auf der Welt gibt, sie hatten meinem Vater das Geschäft ruiniert, sie hatten die Krise gemacht und den Weizen ins Meer geschüttet, sie zogen mit ihren gemeinen Tricks den ehrlichen Leuten das Geld aus der Tasche, und auch mit mir hatten sie einen ihrer hundsgemeinen Tricks gemacht, um mich vor der Klasse zu blamieren: Sie waren schuld an allem; sie, kein andrer, nur sie! Ich knirschte mit den Zähnen: Sie waren schuld! Heulend sprach ich ihren Namen aus; ich schlug die Fäuste vor die Augen und stand im schwarzgeteerten, chlordünstenden Knabenklosett und schrie ihren Namen: »Juden!« schrie ich und wieder: »Juden!«, und wie das nur klang: »Juden, Judenl«, und ich stand heulend in der Klosettzelle und schrie Juden Juden Juden Juden, und dann erbrach ich mich. Juden. Sie waren schuld. Juden. Ich würgte und ballte die Fäuste. Juden. Juden Juden Juden Juden. Sie waren dran schuld. Ich haßte sie.
Zwei Jahre später hatte ich diese Szene schon längst wieder vergessen. Ich hatte die fünf Klassen der Volksschule meines Heimatortes absolviert und war nun, zehn Jahre alt, frischgebackener Zögling im Jesuiteninternat Kalksburg bei Wien, einer Kaderschule des mittel- und südosteuropäischen Katholizismus, zu der mir ein Gönner meines Vaters, ein Graf H., selbst ehemals Kalksburger Zögling, den Zugang, den für Söhne bürgerlicher Herkunft zu finden nicht eben leicht war, geöffnet hatte. Es war Mitte September 1932 gewesen, als ich mit meinem Vater im Zug dahin gefahren war; zögernd hatte ich das riesenhafte, einer straßenlosen weißen Stadt gleichende Konviktgebäude betreten und war dann in einem wohl kilometerlangen, von hohen Fenstern erhellten Korridor gestanden, in dem, fern, schwarzgekuttete Mönche mit kaum mehr wahrnehmbaren Schritten dahinwandelten. Der Korridor war, wie mir schien, wohl tausendmal länger als der Korridor meiner Heimatschule, der doch schon so lang war, daß man sich drin verloren vorkam, und er war hoch wie die Halle einer Kirche, seine Wände waren bis in Kopfhöhe mit braunem Holz getäfelt, und über dem braunen Holz, zwischen Fenster und Fenster und Tür und Tür, hingen Gemälde von Heiligen und Schlachten. Im Korridor herrschte Grabesstille; lautlos, wie auf Schienen, glitten die Mönche dahin. Zögernd traten wir ein; unsere Schritte hallten; wir gingen auf den Zehenspitzen. Eine lederbeschlagne Tür tat sich auf, und ein Mönch trat heraus; mein Vater näherte sich ihm mit einer tiefen Verbeugung, die der Mönch mit einem leichten Neigen des Hauptes erwiderte; die beiden Männer flüsterten miteinander, dann nahm mich der Schwarzgekuttete, ein hagerer Mann mit gekrümmtem Rücken, bei der Hand und führte mich eine Treppe hinauf, und plötzlich stand ich dann in einem Saal, der wie ein Klassenzimmer aussah, nur daß die Fenster viel höher und die Tafel viel größer und die Bänke viel bauschiger als in meiner alten Schule waren, und in dem Klassensaal stand ein hochgewachsener blonder Mönch mit einer mächtigen Hornbrille, und der Mann, der uns geführt hatte, sagte, das sei Pater Kornelius Schmid, der mir nun die Aufnahmeprüfung abnehmen werde, und ich solle keine Angst haben und schön ruhig dabei bleiben, und dann ging mein Vater mit dem Mönch hinaus und ich stand allein in dem großen Raum und Pater Kornelius Schmid nahm die Brille ab und putzte sie und sagte: »Na, dann wollen wir mal sehn, was für Kräuterl in deinem Kopferl wachsen, mein Freunderl«, und er knuffte mich in die Seite und blinzelte und plötzlich machte die Sache Spaß. Ich stand an der Tafel und rechnete und schrieb und nannte Namen von Königen und Daten von Schlachten; der Pater fragte schneller und schneller und ich schleuderte mein Wissen aus dem Gedächtnis, es war ein gewaltiger Spaß, und ich war gerade im schönsten Eifer, als der blonde Pater lachte und sagte, es sei schon gut. Ich sagte unwillkürlich: »Schade!« und seufzte dabei, und Pater Schmid lachte; dann war mein Vater wieder da, und er lachte und weinte zugleich und drückte mich an die Brust, und dann gingen wir in einen Kontorsaal, in dem zwei alte Geistliche saßen, und mein Vater unterschrieb einen Aktenbogen, und dann zählte er viele große Geldscheine auf den Tisch, eine ganze Brieftasche voll Geld, und ich war stolz, weil Kalksburg so wahnsinnig teuer und vornehm war.
Dann fuhren wir mit einer Taxe nach Wien; es war das erste Mal, daß ich in einem richtigen Auto fuhr, und ich erinnere mich, daß es herrlich nach Benzin stank, ich wurde ganz schwindlig im Kopf, so herrlich stank es, und ich saß neben dem Fahrer und schaute hinaus in das Hügelland, das grün vorbeiflog, und ich war John Dillinger, der Gangsterkönig, der wieder einmal aus dem Zuchthaus entsprungen war und nun zu seiner Bande eilte, hinter sich die Polizei, die wie rasend aus ihren Pistolen schoß, doch Dillingers Wagen war der schnellste und das Glas seiner Fenster war kugelfest. Dann hielt der Wagen und Vater zahlte, und dann saßen wir in einem Märchensaal aus Gold und Kristall, das in allen Farben des Regenbogens spielte; ein Kellner, auf dessen schwarzem Frack kein einziger Flecken war, präsentierte mir, sich verneigend, auf dem ausgestreckten Arm eine Silberplatte, in deren sechsunddreißig Mulden sechsunddreißig köstliche Bissen lagen: Sardinen und Lachs und Sardellen und rosa Fleischkringlein und Tütchen aus Schinken, mit hauchdünnen Scheibchen von Gurken verziert und mit Kräutern umlegt, die ich nicht einmal dem Namen nach kannte, und auf einem runden Stückchen gerösteten Brots waren schwarze Eilein von Fischen gehäuft, und mein Vater sagte, das solle ich essen, das sei echter russischer Kaviar. Der Kellner hielt die riesige Platte ruhig auf dem gestreckten Arm und sagte: »Belieben S’ nur anzuschaffen, junger Herr!«; ich schaute schüchtern auf einen Sardinenrücken, an den ein Scheibchen Zitronenfleisch zärtlich sich schmiegte, und mein Vater lachte und füllte meinen Teller mit zwölf der köstlichen Bissen und leerte selbst dann zwölf Mulden aus. Ich erschrak, was mochte das kosten, doch mein Vater sagte, das sei das Ohrdöfer, die Vorspeisenplatte, die berühmte Ohrdöferplatte des berühmten Hotels Sacher, in dem wir nun speisten, und er sagte, es sei ganz egal, ob man ein Ohrdöfer nehme oder die ganze Platte, das koste alles dasselbe Geld, das eben sei das erstklassig Vornehme daran. Ich fragte, warum wir uns den Rest nicht einpackten und mitnähmen, aber Vater sagte, das sei gar nicht vornehm, das könnten wir zu Haus im Gasthaus Zum Rübezahl machen, aber doch nicht hier im Hotel Sacher in Wien, wo Grafen, Fürsten und Minister speisten, die Creme der Gesellschaft, und ich sah mich verstohlen um und sah plaudernde Herren im Smoking und Damen in seidenen Kleidern mit blitzenden Ringen und Spangen und Ketten, und eine gar trug einen Goldreif in der hohen Frisur, und ich nahm mich zusammen, um Vater nicht zu blamieren, und gab höllisch acht, daß mir kein Bissen von der Gabel rutschte. Der Kaviar schmeckte mir gar nicht, er war ölig und salzig, aber ich aß ihn hinunter, weil er das Vornehmste war, und mein Vater sagte, es sei ja hier sündhaft teuer, das stimme schon, doch heute sei ihm für mich das Beste grad gut genug. Dabei legte er einen Arm um meine Schulter und sagte, ich hätte die Prüfung mit Auszeichnung bestanden, summa cum laude, mit höchstem Lob, so eine Begabung sei noch nicht dagewesen, habe Pater Schmid gesagt, und dann tranken wir Gespritzten und in den Gläsern brach sich das Licht der Lüster und die Geigen sangen leise ihr himmlisches Lied. Ich war vollkommen glücklich; ich saß wie berauscht zwischen Gold und Kristall, und mein Vater sagte, ich könne mir gar nicht vorstellen, was es bedeute, ein Kalksburger Zögling geworden zu sein: die Tür, die zur großen Welt führe, hätte ich mit der bestandenen Prüfung durchschritten, und er zählte mir auf, was ich alles werden könnte, wenn ich Kalksburg absolviert hätte: Bürgermeister, Gesandter, Professor, Regierungsrat, Abgeordneter, Staatssekretär, ja so gar Minister, Vertrauter im Kreise der Exzellenzen, Auserwählter unter Auserwählten, und ich sah Gold und Kristall und Silberterrinen und dachte, daß ich mir als erstes Visitenkarten drucken lassen würde, wenn ich ein berühmter Mann wäre, denn Graf H. hatte auch Visitenkarten, goldgepreßte, mit einer Krone darauf und dem Grafentitel, und die ließ er immer durchs Dienstmädchen zu meinem Vater bringen, wenn er uns besuchte, und das schien mir das Feinste und Vornehmste von der ganzen Welt. Die Kalksburger wären eine verschworene Gemeinschaft, in der einer den andern stütze und voranbrächte, sagte mein Vater, und der Kellner mit dem Frack ohne Flecken legte mir eine Scheibe goldbraun gebratenen Mastochsenfleisches auf den Teller und wünschte mit gedämpfter Stimme einen gesegneten Appetit; da ging eine seltsame Veränderung vor.
Bislang war alles so wunderbar leise gewesen, nun wurde es plötzlich laut, Lärm brach polternd ins Plaudern der Gäste und ins Singen der Geigen, der goldene Raum hallte wider von Schritten und Rufen, im Takt scholl Geschrei, ein heiseres Schrein. Ich schrak zusammen; Messer und Gabel klirrten aufs Porzellan, doch die Gäste rings plauderten, als ob nichts geschähe, und der Kellner beugte sich lächelnd zu mir nieder und sagte, ich möge nicht erschrecken, das sein nur die Hallodris, die schlamperten, die würden wieder mal demonstrieren. »Ekelhaftes Gesindel«, sagte mein Vater unwillig, und der Takt der Stimme draußen schlug plötzlich um in einen Aufschrei der Wut, und dann hörte ich scharfe Kommandos und Trappen und Krachen; ich fuhr herum und sah entsetzt, daß sie mitten im Saal standen, mitten im Gold und Kristall standen drei mit verzerrten Gesichtern und stoppligem Kinn und geballten Fäusten, die sie drohend schwangen, und ich starrte in den bronzeumrahmten Spiegel gegenüber dem Fenster und begriff sofort, daß das die Kommune war. Ich hatte die Kommune noch nie gesehen, bei uns daheim gab es keine Kommune, da gab es nur brave, ehrliche Arbeiter, die grüßten, wie es sich gehörte, wenn sie meinem Vater begegneten, und die zur Seite traten, wenn er oder einer seines Standes an ihnen vorüberging! Die Fäuste fuhren hoch; ich dachte an die Arbeiter im Pharmaziebetrieb meines Vaters: an den Vojtek-Anton und den Heller-Fritzl und die Maschke-Anna und die andern sechs: undenkbar, daß sie die Fäuste ballten und auf der Straße schrien und aufbegehrten wie diese da, der Abschaum, die Kommune, die man an den Füßen aufhängen sollte, wie mein Vater immer sagte, wenn er beim Mittagessen uns die politische Lage erläuterte, und ich dachte empört, warum die das überhaupt dürften, dies Fäusteballen und Schrein, und warum die Polizei, die jetzt endlich auftauchte, nicht alle einsperrte, und dann plötzlich war alles wieder vorbei, es war wieder still, die Gespräche rauschten leise wie immer, die Frau mit dem goldenen Reif im Haar lächelte einem Herrn zu, und im bronzeumrahmten Glas gegenüber dem Fenster lag ruhig die Straße im milden Licht. Mein Vater stieß mich an: Ich solle essen, sagte er, der Rostbraten auf dem Teller würde kalt. Ich aß, doch es schmeckte mir nicht mehr recht, und ich lauschte, da ich aß, ob die Schreie nicht wiederkämen, und dann tat es mir plötzlich leid, daß ich versäumt hatte, auf die Straße oder wenigstens ans Fenster zu treten und Aug in Aug mit der Kommune zu stehen, und ich sagte mechanisch die Worte, die mein Vater immer an den Schluß seiner Mittagsbetrachtung zu setzen pflegte: »Der Führer wird ja bald Ordnung schaffen im Reich!« Ich dachte, daß mein Vater mir beipflichten würde, aber der trat mir auf den Fuß und zischte, ich solle in Kalksburg ja nicht von Hitler sprechen, man sei hier für Doll-fuß, und außerdem, so sagte mein Vater, würde der Führer wohl nicht durchkommen im Reich, und als ich verwundert fragte: »Warum?«, sagte mein Vater, das hänge mit den Wahlen zusammen und das verstünde ich noch nicht, das würde ich erst später verstehen. Dann stießen wir ein zweites und ein drittes Mal auf eine glückliche Zukunft und auf Kalksburg und auf mein Studium an, und ich dachte dabei trotzig, daß der Führer eines Tages doch siegen werde.
Doch an den Tag, an dem der Führer dann siegte, erinnere ich mich überhaupt nicht mehr. Ich hatte andre Sorgen; es machte mir große Müh, mich in die spartanische Disziplin des Klosterlebens zu fügen, in den immer gleichen Takt jener grauen Tage, die mit der heiligen Messe begannen und mit der Abendandacht endeten und deren unerbittlich genau eingeteilte Stunden zumeist, mit Ausnahme der Schulpausen, der Mahlzeiten und zweier Spielstunden, schweigend zugebracht werden mußten. Schweigend, in Doppelreihen und den Kopf, wie es Vorschrift war, gesenkt, so daß der Blick demütig an die Fersen des Vordermanns, der seinerseits wieder auf die Fersen seines Vordermanns sah, sich heftete, schritten wir durch die endlosen Korridore zur Kapelle und zum Studiensaal und zum Klassenzimmer, schweigend knieten wir auf der Fußraste der Kirchbank, schweigend saßen wir über Bücher und Hefte gebeugt, und schweigend mußten wir die Strafen entgegennehmen: die Haselrohrhiebe der Patres Professoren und die Kopfnüsse und Nackenschläge des Paters Präfekten, unsres Aufsehers außerhalb der Unterrichtszeit, und so waren