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1968 lernen sich einer der wichtigsten Autoren der DDR und einer der bedeutends- ten bildenden Künstler des Landes kennen: Franz Fühmann und Wieland Förster. »Franz sprach mich an«, vermerkt Förster, und Fühmann, der längst von den Werken seines Ge- genübers beeindruckt ist, notiert: »ein scharfer Beobachter, unerbittlich, auch spöttisch, [...] so umgänglich wie selbstbewußt. Kein Trinker.« Die Zeiten sind unruhig. Studentenrevolte im westlichen Europa, Vietnam-Krieg, Prager Frühling. Das passt zu den beiden Menschen, deren Biografien geprägt sind von den po- litischen und gesellschaftlichen Um- und Abbrüchen des Jahrhunderts, den Katastrophen, von Hoffnung, Ernüchterung – und von der Frage, wie ein Künstler in diesem Umfeld be- stehen kann. Eine Korrespondenz beginnt, die bis ins Jahr 1984 anhalten wird. Man tauscht sich über die Arbeit aus, kommentiert knapp die Zeitereignisse, vermerkt die Versuche seitens des Staates, in das künstlerische Werk einzugreifen, teilt gesundheitliche Probleme mit. Dieser reich kommentierte und mit einem ausführlichen Vorwort versehene Band ist mehr als das Dokument einer Künstlerfreundschaft. Er ist zugleich ein Zeitporträt. Und das zweier Menschen, die sich offen der Welt stellen, solange es geht.
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Seitenzahl: 462
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Franz FühmannWieland Förster
Briefwechsel 1968–1984Eine Auswahl
Herausgegeben von Roland Berbigunter Mitarbeit von Katrin von Boltenstern
Roland Berbig
„[…] in Dingen der Kunst nichts Anderes“. Wieland Förster und Franz Fühmann: eine Lebensfreundschaft
Zur Edition
Der Briefwechsel
Anhang
Anmerkungen
Texte und Interviews
Franz Fühmann: Arkadischer Akt
Franz Fühmann: Nachwort (W. Förster: Begegnungen)
Franz Fühmann: Wieland Förster – Das Paar
Franz Fühmann/Wieland Förster: Widerspruch als Kunstgestalt (Gespräch)
Peter Liebers: Gespräch mit Wieland Förster
Bibliographie (Auswahl)
Viten
Personenregister
Dank
Rechteverweis
Wieland Förster: Porträtstudien für die Fühmann-Stele in Märkisch Buchholz (2004, aufgestellt 2005)
Roland Berbig
Wir waren uns einig, dass Kunst Arbeit ist, jeden Tag zu leisten, ohne jede Attitüde1
„Franz ist tot“. Noch am 8. Juli 1984 notierte sich Wieland Förster – kaum hatte er vom Ableben Franz Fühmanns gehört – diese Nachricht in sein Tagebuch. Erfahren hatte er sie über das westdeutsche Fernsehen. Für den nächsten Tag war er mit dem Freund verabredet gewesen, Dringliches hatte dem nun Toten auf dem Herzen gelegen, ein Auftrag, vielleicht, eine letzte Bitte. „Er hatte mir etwas zu sagen […]. Zu spät. Wie immer, zu spät. Trauer? Schmerz? Ja, ja, aber auch diese Leere.“ Förster hatte gewusst, wie sterbenskrank Fühmann war, und er war niemand, der Illusionen nährte, wo die Tatsachen eindeutig waren. Die vorangegangenen Operationen, der bösartige Tumor, Besuche am Krankenbett des Schwerstleidenden, sie waren ihm deutliche Sprache gewesen: Wer hier auf Rettung gehofft hatte, wollte an Wunder glauben. „Ich wußte, daß er sterben würde, dachte aber, daß es noch Zeit hat, etwas. 62 Jahre!“ Der Tod schlug dennoch wie unerwartet zu. „Nun bin ich allein“,2 notierte Förster. Das Befürchtete, als es eintrat, lähmte ihn – so sehr, dass er sich außerstande sah, einen Wunsch des Verstorbenen zu erfüllen: ihm die Totenmaske abzunehmen. „Hast Alleinrecht auf T.maske“,3 hatte ihm Fühmann vor Jahresfrist im August 1983 aus der Charité auf einer tief besorgten Karte geschrieben. Förster wusste, was zu tun war, und dass es schnell geschehen musste. „Habe gleich, es war sein Auftrag an mich, alles in die Wege geleitet, daß seine Totenmaske abgenommen wird, jetzt, diese Nacht.“4 Der Bildhauer Karl Biedermann, rasch angefragt, trug Sorge, dass ein Gipsabguss von Fühmanns Antlitz auf dem Totenbett angefertigt wurde, allerdings zu spät, erst am nächsten Morgen. Er „hätte ‚bitter‘ ausgesehen“, berichtete Biedermann an Förster, „aber nicht entstellt.“5
Totenmaske: War es in der DDR üblich, vom Gesicht eines bedeutenden Verstorbenen einen Gips- oder Wachsabdruck zu nehmen? Was hatte Fühmann bewogen, Förster darum zu bitten? Was diesen, der Bitte zu entsprechen, wenn auch nicht vollkommen? Glaubte der seinen Tod Ahnende mit ihr eine letzte Botschaft zu hinterlassen, etwas Eigentliches, nicht zu Hintergehendes? Die Akademie der Künste der DDR hatte sich in der Tat diese Totenehrung zu eigen gemacht. Von jedem verstorbenen Mitglied ließ sie eine Maske anfertigen. Fritz Cremer etwa, bei dem Förster kurzzeitig Meisterschüler gewesen war, hatte 1956 Brecht die Totenmaske abgenommen, und Förster selbst wurde wiederholt um diesen Dienst gebeten, vergeblich.6 Über jenem Verfahren liegt ein mythischer Schein, vielleicht sogar ein mystischer. Seit alters her ist es geprägt von der Vorstellung, eine solche Maske banne einen unsterblichen Augenblick. Das Noch-Hier im Schon-Dort: ein Antlitz, in dem das erste Licht des Jenseits sich spiegelt im letzten aus dem Diesseits. Klarheit in der Verklärung. Mit diesen Masken glaubte man einst die Größe der Großen zu erkennen, das Böse zu fassen und dem Menschlichen in seiner wahren Gestalt zu begegnen.7 Totenmasken abzunehmen, ist seit jeher Angelegenheit für Künstler, es setzt Können voraus. Der Maskenbildner müsse, hat der Bildhauer Georg Kolbe bemerkt, der „Allererste“8 sein, der zum Verstorbenen trete, bevor die Leichenstarre einsetze. In seine Hand sei es gegeben, ob „über dem letzten Augenblick dieses Menschenlebens ein bedeutungsvoller Schein von Macht und / oder künstlerischem Weitblick […]“9 liege oder, wie es der Maler Arnulf Rainer gefordert hat, ob mit einem „ehrlichen Abguss, schnell nach dem Tode, in Freundschaft“ die „Religiosität der menschlichen Nichtigkeit“10 gewahrt bleibe. Das letzte Bild als „sein ewiges Antlitz“,11 angesiedelt „in einem Zwischenreich von Natur und Transzendenz“12 – oder, wie es der von Fühmann geschätzte Karl Kerényi formuliert hat, die Totenmaske „als Kommunikationsmittel für die seelische Vereinigung“13 mit dem Verstorbenen.
In jener Nacht des 8. Juli 1984 sah sich Förster noch einmal von der Gegenwart des Freundes überwältigt. Er sprach ihn an, als könnte sein Wort den Toten erreichen und Sterben nicht trennen, was Leben zueinander gefügt hatte:
„Leb’ wohl Franz, hoffentlich hattest Du einen erträglichen, vielleicht gar einen glücklichen Tod –
Ich danke Dir für jeden freien Gedanken, für jeden Rat. Du hast mir am Anfang, beim Tunesienbuch den Weg bereitet, wenig Worte, aber ich hoffe, aus ihnen gelernt zu haben. Ich sag Dir jetzt gute Nacht und will versuchen noch ein Stück zu leben, einer muß da weitermachen, nicht? Du schriebst immer ‚Händedruck!‘, also Händedruck Franz, Du bist nicht tot.“14
Jede Begegnung von Wert hat einen Punkt, von dem sie ihren Ausgang nimmt. Er ist die Prägemarke und erste Münze einer neuen Währung für Freundschaft. So auch bei Förster und Fühmann. Wiederholt haben sie die Geschichte ihres ersten persönlichen Treffens erzählt, zu unverwechselbar die Aura, zu charakteristisch der Anlass. Der Dichter Erich Arendt feierte am 15. April 1968 (einem Ostermontag) die Vollendung seines 65. Lebensjahres, beide waren mit ihm bekannt, beide eingeladen. Die Stühle wurden knapp, man suchte auf dem Fußboden Platz, „und ich setzte mich neben einen Unbekannten“, erinnerte sich Fühmann, „von dem ich glauben konnte, daß es Förster sei.“15 Offenbar ging von ihm die Initiative aus, „Franz sprach mich an“, heißt es bei Förster.16 Fühmann war angetan von der Person, die ihm hier begegnete, „ein scharfer Beobachter, unerbittlich, auch spöttisch, […] so umgänglich wie selbstbewußt. Kein Trinker.“17 Er war neugierig auf Förster gewesen, seit er – zwei Jahre zuvor, ebenfalls bei Arendt – auf eine Fotografie von dessen Bronze „Passion“18 gestoßen war. Der „Gepfählte“ in seiner Qual „könntest auch du sein“, so hatte er empfunden, „er war das Los, das allen zuteil werden kann, wenn die Welt aus den Fugen gerät.“19
Nun saß man nebeneinander, was konnte daraus werden? Auch Förster wusste einiges von seinem Sitznachbarn, er hatte dessen Erzählungen „Das Judenauto“ (Berlin: Aufbau 1962) gelesen, sie gefielen ihm, nicht mehr, nicht weniger. Eine Perspektive für Persönliches war das nicht. Ahnte Fühmann, dass seine Bitte um einen Atelierbesuch seinem Gegenüber im Grunde nicht behagte? Dass der unliebsame Ablenkung von der Arbeit fürchtete und Künstlerklatsch sowieso? Doch Förster reagierte nicht abweisend, irgendetwas war da. Was? Seine Warnung vor falschen Ateliervorstellungen trug er so lachend vor, er ließ es darauf ankommen.
Der weitere Fortgang ihrer Beziehung gab ihm Recht. Nicht aufdringlich fiel der Besuch Fühmanns in der Künstlerwerkstatt aus, obwohl der den Raum durchmusterte, als wolle er ihn sich einprägen bis zum Sterbetag. Nichts, was Fühmann nicht interessierte. Das schloss die unerbittlichen Arbeitsgepflogenheiten ein, die beide bei aller Unterschiedlichkeit im Konkreten teilten, und einen längeren Aufenthalt aus. Ein aufgebrühter Kaffee und ein Glas Milch mussten reichen, um sich vertiefender Sympathie zu vergewissern. Ihr Grund, dessen Stabilität Garant für alles Zukünftige werden sollte, war das „gegenseitige[] Interesse an der Arbeit des anderen, vor allem im Werkprozeß“.20 Warum macht einer Kunst überhaupt, was treibt ihn bis an den Rand der Erschöpfung, weshalb zerstört man, was missraten scheint, woher die Unbeirrbarkeit, die Unbestechlichkeit gegenüber sich selbst? Kam Politisches zur Sprache, möglicherweise, vordergründig gewiss nicht. Der Boden für Gemeinsames jedenfalls schien gut, doch was machte ihn tatsächlich aus? Wer war Franz Fühmann im Frühjahr 1968, wer Wieland Förster? Was konnte man, wenn man wollte, übereinander wissen?
Acht Jahre Altersunterschied trennten die beiden. Das hatte Gewicht und war nicht leicht auszuwiegen. Fühmann war am 15. Januar 1922 in Rochlitz an der Iser geboren, das Riesengebirge und Böhmen waren die Landschaften, in denen er – mit einem Wort von Uwe Johnson – das Leben lernte. 1955, als Fühmann zu einem Schriftstellerkongress fuhr, notierte er sich bei der Fahrt durch Kindheitsland: „Böhmen lehrt mich wieder die Dinge sehen!!!“.21 Sudetenland hieß das und war der deutsch besiedelte Teil Böhmens, der seit 1919 unter der Oberhoheit der Tschechoslowakischen Republik stand – bis zum September 1938 und der Eingliederung in das Deutsche Reich, mit Jubel begrüßt und gefeiert als endlich durchgesetztes Selbstbestimmungsrecht: „Heim ins Reich“. Die überlieferten Bilder aus Fühmanns Kindheit zeigen eine bürgerliche Welt. Der Vater, ein Apotheker „aus bitterster Armut aufgestiegen“,22 betrieb eine kleine pharmazeutische Fabrik, die Mutter war eine schöne, beinahe vornehme Frau – als Eltern wollte man für die Kinder das Beste. Das Beste war mit fünf Jahren eine Hauslehrerin („brachte mir Vereinzelung“),23 mit zwölf die Aufnahme in das Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien, „jesuitisch und austrofaschistisch“,24 nach Ausbruch dort mit 16 Jahren Eintritt in das Reichenberger Gymnasium, 1938 in die Reiter-SA, 1939 erneuter Schulwechsel nach Hohenelbe, Ende der Schulzeit mit der Matura 1941 und weitgehend guten Noten. Fühmanns Fazit 1981: „Nirgends mehr so viele Sprünge als im Fundament“25 – und der bitterste Satz, der sich denken lässt: „Meine Schulzeit insgesamt ist eine gute Erziehung zu Auschwitz gewesen.“26
Den Schulschlachten folgten die des Krieges. Fühmann kam zwischen 1942 und 1945 in der Ukraine und in Griechenland als „Fernschreiber, Fernsprecher und Telegraphenbauer“27 zum Einsatz, durchlief Spezialausbildungen und befand sich, als am 20. Juli 1944 deutschen Offizieren der Aufstand gegen Hitler missglückte, in der Luftwaffen-Zentrale Athen. Kurz vor Kriegsende geriet er, nach einem kurzen, letzten Heimaturlaub, in sowjetische Gefangenschaft und kam in ein kaukasisches Arbeitslager, verpflichtet zu Waldarbeiten und Straßenbau. Dass damals schon erste Gedichte von ihm gedruckt waren, verlor letztes Gewicht und blieb Erinnerung an eine vergangene Zeit. Aber das Schreiben, von ihm war Fühmann gepackt, ohne einen Begriff zu haben, wohin es ihn treiben sollte. 1946 kommandierte man ihn ab zur Antifa-Zentral-Schule Noginsk (unweit Moskaus), nach absolviertem Kurs wurde er eingesetzt „als Assistent, Lehrer, Lehrgruppenleiter“.28 „Er war voll von deutschem pseudointelligentem Hochmut, Individualismus und mißachtete das Kollektiv“, heißt es in einem streng geheimen Führungszeugnis des russischen Ausbilders, habe sich aber „zu einem klugen Antifaschisten“ entwickelt, „der die Grundlagen des Marxismus-Leninismus gut beherrscht […] und ständig bereit zum Kampf um das neue demokratische Deutschland“29 sei. Im November 1949 attestierte man ihm zwar noch „eine gewisse intelligente Sensibilität“, doch sei er „unversöhnlich gegen die Feinde der Arbeiterklasse“ und „in der Lage, mit Erfolg in leitender Tätigkeit sowohl in der zentralen Presse der SED als auch im Kulturbund […] zu arbeiten“.30 Am 24. Dezember 1949 wurde Fühmann aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, trat nach seiner Rückkehr in die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) ein und erhielt eine Anstellung in deren kulturpolitischem Apparat. 1953 veröffentlichte er einen Artikel, in dem es heißt: „Von Stalin stammt das schönste, treffendste und verpflichtendste Wort, das jemals über Beruf und Berufung des Schriftstellers gesagt wurde. Stalin nannte die Schriftsteller ‚Ingenieure der menschlichen Seele‘.“31
Wieland Försters Welt hing in gänzlich anderen Verankerungen. Er wurde am 12. Februar 1930 in einem kleinen Ort an der Peripherie von Dresden als letztes von fünf Kindern geboren. Die Vorfahren stammten aus der Lausitz und aus Sachsen, katholisch mütterlicher-, protestantisch väterlicherseits, und waren Schornsteinfeger, Seefahrer und Dekorationsmaler. Der Vater, schwer krank aus dem Weltkrieg heimgekehrt, verdingte sich als Kraftfahrer in einem Fahrradgroßhandel und hatte nur noch wenige Jahre zu leben. Als er 1935 starb, musste sich die Mutter, eine ausgebildete Handelskauffrau, mit ihrer Familie allein durchschlagen. An eine gediegene Ausbildung für die fünf Kinder (Wieland als jüngstes) war nicht zu denken. Politisch verhielt sich die Familie der nationalsozialistischen Umwelt gegenüber reserviert. In die HJ trat der musisch wie musikalisch begabte Förster, weil man dort aufwandslos ein Instrument lernen konnte. Andere Gründe gab es nicht, Gegengründe mehrten sich rasch. Sein Haar war zu lang, seine Dienstwilligkeit zu kurz, sein militärischer Sinn zu unausgeprägt. Ein „Antifaschist des Herzens“,32 wie er später formulierte. Nach acht Jahren, 1944, beendete Förster seine Schullaufbahn, begann eine Lehre als technischer Zeichner und sah sich nach Gleichgesinnten um. Er fand sie unter den Lehrlingen, „sie nannten sich Edelweißpiraten“.33 Ein nationalsozialistisches Lager sollte ihm solchen Umgang austreiben, erfolglos. Förster erlebte die ersten Bombardements, sah als Vierzehnjähriger einen Dresdner Stadtteil in Flammen aufgehen und wurde Augenzeuge der Zerstörung Dresdens in den Tagen vom 13. bis zum 15. Februar 1945 durch britische und US-amerikanische Kampfverbände.
Nach Kriegsende wurde er zwangsweise als Rohrleger für die städtischen Gas- und Wasserwerke verpflichtet, Zusammenstöße mit den neuen politischen Instanzen folgten. Als ein Landrat Anspruch auf die gut gelegene Wohnung der Familie Förster am Stadtrand erhob, sah sich Förster in ein von Denunzianten geflochtenes Netz verfangen. Man unterstellte ihm illegalen Waffenbesitz, drei Monate wurde er vom sowjetischen NKWD (Hapодный комиссариат внутренних дел – Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) verhört („Kurzzeittötung“) und zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die man später auf siebeneinhalb Jahre kürzte. Man verfrachtete den Sechzehnjährigen in ein Speziallager nach Bautzen, „das war die Langzeittötung, durch Tuberkulose, durch Krankheit“.34 Glücksumstände spielten ihm Laotses Buch Tao te king in die Hand, und ein Zeitungsbild von Ernst Barlachs Plastik „Gottvater“, deren Konturen unscharf, aber doch im Gedächtnis blieben. Sie weckten einen Wunsch: bildend oder schreibend etwas zu gestalten.
Am 21. Januar 1950 wurde Förster, dank einer vom „Internationalen Roten Kreuz“ veranlassten Überprüfung der Gefangenenlager, vorzeitig entlassen, gesundheitlich schwer geschädigt und zum Schweigen über das Erlebte verpflichtet. Dass er sich daran hielt, gibt einen Begriff von der Bedrohung. In einer externen Prüfung schloss Förster die Berufsausbildung als technischer Zeichner ab – und behielt seinen Wunsch, künstlerisch tätig zu sein, im Auge. Er legte ein Notabitur ab, entfaltete den Aneignungswillen des Autodidakten, und während der Arbeiterunruhen des 17. Juni 1953 stellte er sich der hohen Hürde, die eine Aufnahmeprüfung an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste bedeutete: „[A]ls ich nach drei Tagen völlig erschöpft auf die Straße kam, standen […] unweit der Schule, am Fučikplatz [heute: Straßburger Platz], sowjetische Panzer.“35
Anfang der fünfziger Jahre deutete nichts, aber auch gar nichts darauf hin, dass sich diese so unterschiedlich gezogenen Lebenslinien einmal kreuzen sollten. Und wenn, dann folgenlos. Doch die fünfziger und vor allem dann die sechziger Jahre sorgten dafür, dass der jeweils so bereitete Boden angereichert wurde – bei Fühmann wie bei Förster. Fühmanns Entwicklung bis 1958 entsprach vordergründig dem Muster, das die politisch Verantwortlichen in der DDR für Menschen seiner Geschichte und seines Zuschnitts vorgesehen hatte. Er ordnete sich dem Kulturapparat der Blockpartei unter, verfasste zahllose Artikel, die heute vergessen sind, und er wurde Dichter. Als Förster 1953 seine Aufnahmeprüfung ablegte, standen zwei Veröffentlichungen Fühmanns in den Buchläden: „Die Nelke Nikos“, sein erster Gedichtband, erschienen im Verlag der Nation, und das Poem „Die Fahrt nach Stalingrad“ im Aufbau-Verlag. Seit dem 4. Juli 1950 gehörte Fühmann zum Deutschen Schriftstellerverband, und seit 1953 zu den Dichtern in der DDR, deren Namen man kannte. Hans Mayer, renommierter Professor an der Leipziger Universität, war beeindruckt vom „Stalingrad“-Poem und rühmte die angestrebte „unbedingte Ehrlichkeit […], weder Idealisierung des Schönen noch Kult des Häßlichen“.36
Mayer war nicht die Ausnahme. Die Wertschätzung, die Fühmann erfuhr, war ungeteilt. Als er 1955 die Novelle „Kameraden“ veröffentlichte, hatte er endgültig den Durchbruch erzielt. Mit ihr schien er eingelöst zu haben, was man von seiner Generation erwartete: aus der Perspektive des Gewandelten die Erfahrungen aus der NS- und Wehrmachtszeit zu erzählen. Seine Ratgeber waren prominent, seine Förderer vorbehaltlos. Er erhielt den Nationalpreis III. Klasse und 1955 den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze.
Unter dieser offiziellen Decke schwelte jedoch eine tief sitzende Unsicherheit, begleitet von einer Alkoholerkrankung, deren Ausmaß noch nicht abzusehen, aber bedrohlich war. Der Erschütterung über den Stalinismus folgte der Verdruss mangelhafter und bald unterdrückter Aufarbeitung in der DDR. Fühmann geriet in den Verruf, ein unzuverlässiger Kulturfunktionär zu sein, der „die falsche Gleichsetzung von Literatur und Kunst mit der politisch-moralischen Propaganda und Agitation, wie sie oft von seiten der politisch-leitenden Kräfte geübt wird“,37 öffentlich attackierte. Schon 1957 war er den Sicherheitsorganen aufgefallen, die ihm „Schwankungen in seinem politischen Denken und Handeln“38 vorwarfen.
Es war seine Auffassung über den Status des Schriftstellers, der 1958 zu einem offenen Parteikonflikt führte. Fühmann wurde zum Widerruf genötigt, legte ein Schuldbekenntnis ab – und entschied sich, von nun ab freiberuflich als Schriftsteller zu leben. Es ging, wird er später rekapitulieren, „wegen der Kinderbücher sehr gut“.39 1959 begann mit „Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte“ eine Reihe äußerst erfolgreicher Arbeiten für Kinder. 1959 ließ sich Fühmann auf das kulturpolitische Konzept des Bitterfelder Weges ein, dem er im Jahr des Mauerbaus – zu dem er sich bekannte – mit der Reportage „Kabelkran und Blauer Peter“ ein zeitüberdauerndes literarisches Zeugnis verfasste. Doch dann literarische, biographische Einschnitte: 1962 der Prosaband „Das Judenauto“ und 1963 die Erzählung „Ernst Barlach. Das schlimme Jahr“, 1965 verfilmt, erst 1970 uraufgeführt. Mit dem Maler und Bildhauer Barlach war Fühmann in die Nähe der Kunstwelt Försters geraten, er sollte davon profitieren.40
Der „Eindruck einer stellvertretenden Gestaltung von Menschenschicksalen“, den schon Hans Mayer registriert hatte, auch wenn ihm „die Grenze zwischen dem Privaten und dem Persönlichen nicht immer […] eingehalten“ war, er fand bei einer anwachsenden Leserschaft Fühmanns Geltung. Eine Sonderstellung deutete sich an, westdeutsche Verlage wurden aufmerksam, Marcel Reich-Ranicki lenkte die Aufmerksamkeit des westlichen Feuilletons auf den vierzigjährigen Autor. Im November 1965 lud ihn Hans Werner Richter zur Tagung der Gruppe 47 ins Literarische Colloquium an den Berliner Wannsee ein. Doch folgenreicher waren zwei biographische Pendelschläge: Fühmann reiste seit 1963 wiederholt nach Böhmen, um seiner Herkunft an Orten nachzuspüren, die alles Deutsche abgestreift und doch seine eigene deutsche Vergangenheit bewahrt hatten. Sie bedeuteten ihm Rettung und Gefährdung in einem. Trotz der Versuche, ihn in Gremien gesellschaftspolitisch einzubinden und mit literarischen Würdigungen zu schmeicheln, blieb er auf seine Weise unbestechlich. Als Ende 1965 das 11. Plenum des ZK der DDR mit Schlagwörtern wie Nihilismus, Pornographie und ideologische Verwilderung um sich warf, Filmemacher und Schriftsteller wie Manfred Bieler oder Werner Bräunig abstrafte, da setzte Fühmann in unmittelbarer Reaktion darauf mit seinem Austritt aus dem Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes ein öffentliches Zeichen – das auch das westdeutsche Magazin DER SPIEGEL registrierte: „Dichter Fühmann legte sein Amt im Vorstand des Schriftstellerverbands nieder – ein bislang einmaliger Vorgang.“41 Als Fühmann auf Fontanes Spuren und im Auftrag des Aufbau-Verlages märkische Dörfer und Wälder abschritt, wurde ihm mit einem Schlage klar, „was ich eigentlich bin: ein österreichischer Schriftsteller in einem Land, dem dankbar zu sein ich genaue politisch-historische Gründe habe“. Ein Land, „das ich vom Schreibtisch aus – als Voraussetzung dieser Arbeit für meine Heimat zu halten geneigt war und das meine Heimat nicht ist und nie sein wird […].“42 Ein Richtungswechsel zeichnete sich ab. Wohin?
Zurück zu Förster. Anfangs eingewoben in den Studienbetrieb und unterrichtet von Lehrern wie Walter Arnold, Hans Steger und Gerd Jäger, wird er Querelen, wie sie Fühmann Ende der fünfziger Jahre durchlitt, nicht bemerkt haben. Förster, wissbegierig, buchstabierte für sich das Angebot bildhauerischer Techniken und Richtungen durch, tradierte wie moderne. Diese Jahre waren ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – Lehrjahre. Was er dabei zustande brachte, erregte Aufmerksamkeit. Angesehene Künstler unterschiedlicher Provenienz wie Fritz Cremer, Bernhard Heiliger (in Westberlin lebend) oder Gustav Seitz (der bald nach Hamburg wechseln sollte) erkannten sein Talent, förderten es. Er habe, so Förster 1997/98, „schnell Anerkennung bekommen. Das hat mich sehr mißtrauisch gemacht […].“43 Das Thema seines Vordiploms markierte, noch zurückhaltend, wohin es ihn zog. Er gestaltete einen Häftling aus der Zeit der Nazidiktatur, dem er eigene Züge einzeichnete. Hochschulintern dominierte Ablehnung, glückliche Umstände verhalfen der in Bronze gegossenen Plastik zu einem öffentlichen Standort. Das menschliche Antlitz übte bereits Faszinationskraft aus, aber alles, was er in jenen Jahren formte, hielt dem eigenen Urteil nicht stand. Wie ein Stachel im Fleisch wirkte die eigene Unzulänglichkeit. 1958 porträtierte Förster eine Reinigungskraft der Hochschule, sie wurde ausgestellt in Paris „unter der Schirmherrschaft der Liga für Völkerfreundschaft“.44 Und er gewann 1959 den von der Stadt Bautzen ausgeschriebenen und von Hochschulseite verpflichtenden Wettbewerb für ein Thälmann-Denkmal, wohl die einzige Arbeit von ihm, die sich an kunstpolitischen Normen orientierte. Eine Plastik, der Förster keinerlei Wert beimaß. Diese Haltung verknüpfte sich mit einem Unwillen gegenüber institutionellen Karriereangeboten. Der Preis einer Parteimitgliedschaft war ihm zu hoch, ein Ansinnen dieser Art zu niedrig.
Solche Haltung sprach sich herum. Noch nachdrücklicher, nachdem Förster im selben Jahr als Meisterschüler Fritz Cremers von Dresden nach Berlin gewechselt war. Den verdross an seinem Schüler bald die Beschränkung auf Akte und Torsi, doch wusste der seine Zeit zu nutzen. Sich im Sehen zu schulen, Vorgaben zu ignorieren, wenn sie eigenen Intentionen zuwider liefen, und handwerkliches Können zu optimieren: das waren Försters Ansprüche. Form-Bewusstsein beherrschte ihn, frei von modernistischem Habitus und fixiert auf Grundformen. Sie entdeckte er im Ovum, im Ei-Format, zurückgehend auf den rumänisch-französischen Bildhauer Constantin Brâncşi. Dabei korrespondierte das abstrahierende Verfahren mit der menschlichen Physiognomik, das Figurale behauptete sein Recht, Geist und Gestalt strebten Einklang an. Seine Porträtkunst profilierte sich – und mit der Profilierung sein Name. Ein ZEIT-Artikel reihte ihn unter die ersten Porträtisten Deutschlands ein.45 Eine Einladung ins Ministerium für Kultur führte zum Eklat. Man warb um Förster, versprach hohe Honorare und ein Atelierhaus, als erste Arbeit wünschte man sich ein Lenin-Bildnis. Vier Stunden währte das Gespräch, Förster lehnte ab, und der Hauptabteilungsleiter entließ ihn mit den Worten „Das werden Sie bereuen. Wir werden Sie vernichten.“46 Auch wenn Zeugnisse fehlen – die DDR war klein, Gerüchte über Zusammenstöße dieser Art kursierten in Windeseile. Fühmann wird davon gehört haben, wie auch von den Ausstellungskonflikten, die folgten.
Markanter Einschnitt sollte die Porträtskulptur einer Nachbarin sein, die, früher Krankenschwester gewesen, nun seit Jahren an den Rollstuhl gefesselt war und deren Stärke Förster bewunderte. Bei der Arbeit an ihrer Plastik suchte er den Punkt, von dem aus Moderne und Menschenbild noch zusammen zu denken waren. Als er die „Gelähmte“47 1965 ausstellte, wurde er – zusammen mit 15 weiteren Bildhauern – zum Kulturminister Klaus Gysi vorgeladen und mit dem Vorwurf bedacht, er habe mit dieser Plastik „den sozialistischen Menschen beleidigt […]. Ich war betroffen und fragte ihn, ob der Sozialismus eine geteilte Humanität“ habe – die Sorge um den Gesunden und „das Treiben des Kranken in den Tod“.48 Das Bitterste: Keiner seiner Kollegen trat ihm bei. Dass Förster sich dennoch als Porträtbildhauer etablierte, hatte mit der Wertschätzung zu tun, die ihm jenseits der DDR-Grenzen zuteilwurde. Die Liste der Abgebildeten war respekterheischend und verfehlte ihre Wirkung nicht: „Fritz Cremer“ (1962), „Hanns Eisler“ (1962), „Gret Palucca“ (1962), „Lothar Lang“ (1963), „Walter Felsenstein“ (1963/64), „Zoltán Kodály“ (1964), „Otmar Suitner“ (1965) und 1967 „Otto Niemeyer-Holstein“ und „Johannes Bobrowski“. Und in Parallelität zu dieser Werklinie entfaltete Förster mit äußerster Entschluss- und Bildkraft sein großes Thema. Claude Keisch schreibt: „Um die Jahresmitte 1966 wird seine [Försters – R. B.] Kunst zu einer Schaubühne des Todes: des gewaltsamen, grausamen, entwürdigenden Todes, angesichts dessen metaphysische Spekulationen nicht am Platz sind. In Kerkern und Kellern, unter Bomben, auf Hinrichtungsplätzen der Vergangenheit und der Gegenwart ereignen sich diese anonymen Martyrien.“49 Und das war ungeheuerlich, es sprengte den Rahmen sozialer Heilserwartung und konfrontierte die erwartete Freude am gesellschaftlichen Sein mit der Allgewalt von Leid. 1966 allein entstanden „Opfer I, II, III“,50 „Kleines Martyrium“51 und eben „Passion“52 – jene Plastik, in der Fühmann dem Bildhauer Förster zum ersten Mal begegnete.
Wie viel Leid lebt in einem Stein, und wie viel muss einer erleiden, es aus ihm herauszuschlagen? Befreit es den, dem dieser gewaltige Akt der Freilegung gelingt, oder bleibt er gefangen in der Leidenslast, die ihm auferlegt ist? Als Fühmann im April 1968 den persönlichen Kontakt zu Förster suchte und fand, waren dessen Fragen seine eigenen geworden. Der eine ahnte von den politischen und künstlerischen Konflikten des anderen genug, um aufzumerken. Das Interesse war geweckt. Man war, gewissermaßen, reif füreinander: Fühmann im Bewusstsein seiner existentiellen Krise, Förster im Bewusstsein seiner essentiellen Werkwende. In einer persönlichen Werknotiz suchte der nach seinen Wurzeln „im Dung zerlebter Jahre“ – und fand sie: „Gegenwart wächst aus den Wunden von damals, aus der Last von gestern: Da verschlangen Flammenmeere die Stadt [Dresden – R. B.], war Todesfackel im Winterhimmel, da hingen die Jünglinge: bleiche, baumelnde Früchte an Alleebäumen, da zogen die endlosen Züge der Elenden im Schnee, hungerten Gefangene in den Verliesen des Wartens, und da blühte im steigenden Sonnenlicht der Frauenleib, damals, im Schatten des Flieders. […]“53
1968: Vier Tage vor der Feier bei Erich Arendt hatte ein 23-jähriger Bauhilfsarbeiter den Studentenführer Rudi Dutschke auf dem Kurfürstendamm mit drei Kugeln schwer verletzt, inspiriert, wie er aussagte, durch den Mord an Martin Luther King am 4. April 1968. Fast zeitgleich legten Gudrun Ensslin, Andreas Baader und weitere Helfer ihre ersten Brandbomben in Kaufhäusern. Kurz zuvor, am 16. März 1968, ermordeten US-amerikanische Soldaten 500 Zivilisten im südvietnamesischen My Lai. Am 5. Juni wurde der Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy in Los Angeles ermordet, im selben Monat traten in Westdeutschland die Notstandsgesetze in Kraft. Und am 27. Juni 1968 druckte die Wochenzeitung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Literárni listy einen Brief an alle Bürger des Landes, unterschrieben von 70 Arbeitern, Bauern, Intellektuellen, Sportlern, Künstlern und überschrieben mit „Manifest der 2000 Worte“: eine fundamental-kritische Bestandsaufnahme der sozialistischen Verhältnisse in der ČSSR. Angeklagt wurde die Kommunistische Partei, die ihren Kredit nach dem Krieg hemmungslos verspielt habe. Und angeklagt wurde ein politischer Apparat, der von willkürlichem Machtmissbrauch im Namen der Arbeiterklasse lebte, „eine eigens trainierte Clique von Funktionären“, die das Land ruiniert, die Menschen demoralisiert habe. Dieser Zustand sei durch den „Prozeß der Erneuerung, der Demokratisierung“,54 der Anfang dieses Jahres begonnen habe, zu überwinden – aber einzig und allein, wenn die Zeit jetzt genutzt, nicht verspielt werde. „In diesem Frühling haben wir von neuem […] eine große Chance bekommen. […] er wird nicht wiederkehren. Im Winter werden wir wissen, woran wir sind.“55 Gesine Cresspahl in Uwe Johnsons „Jahrestage“ ruft nach der Lektüre dieser „2000 Worte“ aus: „Wenn ihr wissen wollt, was an Sozialismus möglich ist zu unseren Zeiten, lernt Tschechisch, Leute!“56
Tschechisch war für Fühmann vertrautes Sprach- und vor allem Dichtungsterrain. Seit Anfang der fünfziger Jahre besuchte er das Nachbarland regelmäßig, hatte 1964, zusammen mit Ludvík Kundera, die maßstabsetzende Anthologie tschechischer Lyrik „Die Glasträne“ herausgegeben und war seit 1967 bemüht, das lyrische Werk „des bedeutendsten modernen tschechischen Dichters“57 Vitězslav Nezval nachzudichten. Als in diesem Frühjahr in Prag eine große Barlach-Gedenkausstellung eröffnet wurde (der Künstler war am 24. Oktober 1938 gestorben), luden die tschechischen Organisatoren Fühmann ein, die Festrede zu halten.58 Er konnte sich informieren, was die Aufhebung der Pressezensur im Februar bewirkt hatte und wie die allgemeine Stimmung war. Was in Prag in diesen Monaten geschah, es ging ihn an, es ging ihm nah. In seinem Diarium, das in den nächsten Jahren zunehmend zu einem Arbeits-, aber nicht minder Seelenspiegel werden sollte, markierte Fühmann den 21. August 1968, den Tag des Einmarschs der Militärverbände des Warschauer Vertrages in einer Kampfstärke von einer halben Million Soldaten, mit einem dicken schwarzen Kreuz. Und er arbeitete am nächsten Tag an der Nachdichtung von František Halas’ „Praze“ („An Prag“):
„[…]
Hinter den Toren unsrer Flüsse
stampfen Hufe hart
hinter den Toren unserer Flüsse
von den Hufen zerscharrt
das Land
und die Reiter der Apokalypse
schwenken die Fahne mit eiserner Hand
[…]“59
Noch im August reiste er erneut „überstürzt mit der Familie 5 Tage nach Prag […], um persönlich Einblick in die Situation zu nehmen.“60 Und unmittelbar darauf nach Moskau, ebenfalls fünf Tage.
Förster, der in diesen Wochen an einer Porträtstele des gemeinsamen Freundes Erich Arendt gearbeitet hatte, sah sich als „Geächteter“. Daran änderte auch die Ausstellung „Deutsche realistische Bildhauerkunst im XX. Jahrhundert“ nichts, die im Juni 1968 in der Nationalgalerie zu Berlin mit Porträts von ihm gezeigt wurde. Eine westdeutsche Rezensentin schrieb am 7. Juni 1968 in der ZEIT, der „Realismus als Methode führt zu sehr unterschiedlichen Individualstilen“, und sie lobte dabei „die ausdrucksvollen Köpfe des jungen Wieland Förster […]“.61Den indes tröstete nur, ungestört arbeiten zu können. Im Sommer war er mit seiner Familie nach Summt (bei Berlin) in eine Bretterhütte aufs Land gezogen „und schied[-] sozusagen aus der Gesellschaft aus“.62 Bis zu jenem 21. August 1968. An ihn erinnert sich Förster 30 Jahre später so: Als er am Morgen die Nachricht vom Truppeneinmarsch gehört habe, „verfiel ich in eine Art Wahnsinn und konnte mich nur retten, indem ich sofort morgens um sieben Uhr im Garten zwischen Apfelbäumen die Plastik – den Erschossenen63 – machte. Am Abend war er fertig gegossen in Gips und hatte die Gestalt, die er heute noch hat. Diese Arbeit hat mir das Leben gerettet. […]“64
Unter diesen Umständen, deren Folgen nicht abzusehen, aber zu fürchten waren, probierten Fühmann und Förster ihre Bekanntschaft aus. Sie hatte Möglichkeiten, das spürte man, aber welche? Unter dem 9. September 1968 vermerkte Fühmanns Tageskalender: „Bei W. Förster“ und nach einer Leerzeile: „Babsis erste Entscheidung“.65 Die Tochter Barbara hatte sich an diesem Tag in der Schule geweigert, das von ihr geforderte Einverständnis zur militärischen Besetzung der abtrünnigen Tschechoslowakei zu geben. Der Besuch bei Förster in dessen Atelierwelt verknüpfte sich mit dem Respekt vor der Tochter. Beides hing nur lose zusammen und teilte doch die Schwingungen des Tages.
Dieser erste Atelierbesuch schreckte nicht ab, er hatte gemeinsame Räume markiert, in denen sich das Gespräch einzurichten wusste, in „Übereinstimmungen: im Ästhetischen, in Maximen […]“ und im „Unbenachbarte[n]: ich [stieß] bei ihm auf seine Besessenheit für Musik, er bei mir auf meine naive Schwärmerei für Mathematik […]“.66 Die Werkstatt-Atmosphäre gab die Idealkulisse für das Gemeinsame ab: die Arbeit, ihr Inhalt, ihr Wesen, ihr Äußerstes. „Auf […] mein Lebenswerk“, hatte Fühmann im März 1966 an Siegfried Dallmann, Sekretär des Hauptausschusses der NDPD, geschrieben, „und auf nichts anderes möchte und muß ich mich jetzt konzentrieren; […] ungeteilt und mit allen Kräften.“67 Was ihm in jenem „ehemalige[n] Tapezierladen im Parterre eines Altbaus, eng, dunkel, kalt“, begegnete, schien dieser Unbedingtheit verwandt. Gleichgesinnt und mit einem künstlerischen Vorlauf, den das in Schutt und Unordnung verstaute Werk beglaubigte. Die Unbarmherzigkeit Försters „in Dingen der Kunst gegen andere […] wie gegen sich selbst“, die ihn verführe, „kaum Zwischenstufen anzuerkennen“, faszinierte Fühmann. Mit ihr vor Augen kehrte er zurück in seinen Alltag, gewillt, das Begonnene fortzusetzen. Wo und wie, das sollte die Zeit zeigen.
Hatte Förster mit dem „Erschossenen“ unmittelbar auf die Gegenwart reagiert, reagierte Fühmann mit Erinnerungen aus der eigenen Vergangenheit. So plante er die Erzählung „Mein letzter Flug“, die zuerst im Aprilheft 1969 der Zeitschrift Neue deutsche Literatur erscheinen sollte, als Teil eines Zyklus mit dem unförmigen Arbeitstitel „Von der Manipulierbarkeit des Menschen zur Unmenschlichkeit gegen sich selbst und seinesgleichen“, aus dem dann der Prosaband (Rostock: Hinstorff 1970) „Der Jongleur im Kino“ wurde. Die Ereignisse des Sommers 1968, wird Fühmann später schreiben, bedeuteten „in meiner Entwicklung einen jener Sprünge […], in denen die personale Einheit sich als Diskontinuität durchsetzt […]“. „[J]ählings“ habe sich vor ihm „ein schwarzer Weg“ aufgetan und er „schließlich den des hellen Bewußtseins“68 gewählt. Unumwunden liest es sich in seinem Diarium am 28. Oktober 1968: „In die Nervenklinik“.69 Die Alkoholsucht hatte Fühmann an den Punkt von Leben oder Tod gebracht, eine Entziehungskur in der Psychiatrischen Klinik Rostock-Gehlsheim war der letzte, der einzige Ausweg. Es sei nicht mehr gegangen, schrieb Fühmann aus der Klinik an Ludvík Kundera, eine „Generalüberholung“ sei nötig gewesen. „Die Zeit ist eben gnadenlos mit ihren Geschöpfen.“70 Nach vier Wochen wurde er entlassen,71 er überstand die ersten Tage, hielt lange durch – bittere Rückfälle sollten indes nicht ausbleiben. Das sei, notierte sich Fühmann am Jahresende 1968, nachdem er unter anderem noch eine Vorladung in der Hauptverwaltung Literatur und Buchhandel überstanden hatte („Kotzen, Kotzen“72), kein schönes Jahr gewesen und das neue werde noch „schlechter sein!“73
Fühmann sollte Recht behalten. 1969 wurde die Niederlage der tschechoslowakischen Reformbewegung mit der Absetzung Dubčeks besiegelt, seine Tochter sah sich immer brutaleren Zugriffen der Sicherheitsorgane der DDR ausgesetzt,74 und einige seiner Arbeiten wie etwa die am Drehbuch zu einer „Wilhelm Meister“-Verfilmung („Scheißgoethe“75) scheiterten. Nicht aber der Wunsch, seine Beziehung zu Förster zu stabilisieren. Bereits im Januar hatte der ihm seine Arendt-Stele76 vorgeführt, man hatte sich über Rhythmus in der Plastik unterhalten und Fühmanns Freude über sein „Verstehen“77 fand umgehend Niederschlag im Diarium. Dieser gute Auftakt setzte sich fort, Begegnungen, Gespräche. Im Oktober dann der Schritt in eine neue Phase. Förster hatte bald nach der ersten persönlichen Bekanntschaft den Wunsch geäußert, Fühmann zu porträtieren.78 Später, 1973, hat er den Wunsch etwas niedriger gehängt, „eigentlich“ habe er es nicht gewollt, „weil ich nicht die Form zu finden glaubte, die nur ihm adäquat ist und ihn charakterisiert“.79 Fühmann konnte er nicht, wie etwa Felsenstein, im Arbeitsprozess beobachten. Vom ersten Eindruck, den der übergewichtige, alkoholkranke Fühmann auf ihn gemacht hatte, war Förster irritiert gewesen. Er habe wie ein Funktionär, wie ein „Nazi“ ausgesehen.80 „Probleme seines künstlerischen Schaffens […] nachzuempfinden und zu verstehen“,81 was für Förster unerlässlich war, schien ausgeschlossen. Doch der Zufall, ein in mehrfacher Hinsicht Glücksmoment, half. Förster hatte Fühmann von seiner Tunesien-Reise 1967 erzählt und beiläufig das Tagebuch erwähnt, das dort entstanden war. Es hatte bereits 1968, als acht Blätter aus dem Zyklus ausgestellt worden waren, staatliche Verbotsmaßnahmen gegeben.82 Sie wiederholten sich in diesem Jahr, als Gottfried Riemann und Ursula-Maria Riemann-Reyher die Tunesien-Zeichnungen im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin für eine Ausstellung vorbereitet hatten, die „wenige Stunden vor Eröffnung verboten und nach wenigen Tagen geschlossen“83 wurde. Zündstoff also. Am 16. Oktober 1969 notierte sich Fühmann in seinen Kalender: „Bei W. Fö. wegen seines Tunis-Tagebuchs […]“.84 Als Förster Fühmann das Manuskript lesen sah, war es ihm mit einem Schlag klar: in dieser Haltung „eines Sitzenden, eines Lesenden, eines Menschen, der sich in was versenkt“,85 war das Porträt möglich. Sie sage „etwas aus über die grüblerische Suche Fühmanns nach dem Selbstverständnis des Menschen“.86 Förster habe, erinnerte sich Fühmann, fünf Doppelstunden gebraucht, um den Kopf zu formen, und „acht Wochen, um das zu finden, was ihn abhielt, die Arbeit als gelungen anzusehen […]“. Erst nachdem er „ein fehlendes daumennagelgroßes Zwischenstück am Nacken“ hinzugefügt hatte, sei Förster zufrieden gewesen. Kein Abbild sei es geworden, schrieb Fühmann, sondern ein Gleichnis, „das Ich des Modells in der Sphäre des Wesentlichen“, mit einem „Zug von schmerzlich resignierender Ironie“, den der Porträtierende nicht in seiner Miene, jedoch in seinen Zeilen fand.87
Es waren diese Stunden, die das eigentliche Fundament ihrer Freundschaft bildeten. Deren Kern war die Kunst, in deren unbedingtem Dienst man stand. Der den tunesischen Reisebericht fasziniert lesende Fühmann auf dem Stuhl, ihm gegenüber der „leicht und verblüffend sicher“, „spielerisch, fast tänzerisch“88 formende Förster, beide miteinander verbunden in angenehmer Fremdheit und sich erprobendem Vertrauen. Lange Gespräche prägten die Sitzungen. Am 23. Dezember 1969, der letzten, hielt sich Fühmann im Kalender fest: „Etwas wesentlich ü[ber] Plastik begriffen: ‚Das innere Ei‘.“89 Am 10. Januar 1970 war der Kopf in Gips gegossen und das Tunesien-Tagebuch „fertig gemacht“.90 Man hatte sich „in der Arbeit“91 entdeckt. Den Gewinn, den das versprach, wollte man nicht verspielen. Was begonnen hatte, sollte wachsen, auf natürliche Weise, ohne Druck. Der Wirklichkeit der Porträtplastik konnte die Wirklichkeit des Tunesienbuches folgen. Fühmanns Lektüre führte zu einem positiven Urteil, „er gab mir Hinweise, […] oft nur wenige Sätze, kaum zum Text selbst, sondern Grundsätzliches, manchmal nur der Ratschlag: Laß es mal liegen! und schau’ dir’s in zwei Jahren wieder an!“.92 Das genau sagte Fühmann nicht, als er die tunesischen Aufzeichnungen gelesen hatte. Er klemmte sie sich unter den Arm und legte sie seinem Hinstorff-Lektor Kurt Batt mit den Worten „druckt das bitte, ich bürge dafür!“ auf den Rostocker Schreibtisch. Förster selbst, dessen „Sehnsucht zu schreiben […] groß“ war, hätte dazu der „Mut“93 gefehlt. Er bereute die Fürsprache nicht, und Fühmann musste sie nicht reuen.
Batts Reaktion fiel ermutigend aus, nicht jedoch die der Verlagsleitung. Dennoch suchte Förster im November 1969 „einen Ort, an dem ich in größtmöglicher Ruhe und Abgeschiedenheit mein Tunesientagebuch überarbeiten konnte“.94 Er fand ihn auf Rügen, in Vilmnitz, und erlebte dort eine künstlerische Annäherung, die ihn auf subtile Weise wiederum weiter an Fühmanns Denken und Arbeiten heranziehen sollte. Der hatte sich nach dem bitteren Jahr 1968 entschlossen dem Werk E. T. A. Hoffmanns zugewendet,95 das ihn durch die nächsten Jahre begleiten sollte. Förster nun entdeckte die Welt der Romantik Caspar David Friedrichs und sprach Fühmann schon davon, ehe er recht in sie eingedrungen war: „Ende Oktober zeigte ich in Berlin dem Dichter Franz Fühmann Zeichnungen über Tunesien und schloß mit der Bemerkung, daß dieses Thema erschöpft sei, die Schubläden. Auf seine Frage, was ich außer Akten in Zukunft zeichnen wolle, antwortete ich – die ersten Rügenlandschaften lagen bereits im obersten Fach – voreilig und ohne Überlegung: eine Hommage à Friedrich. […]“96
Die siebziger Jahre begannen, man nahm weiter aufmerksam Anteil am Geschick des anderen. „Wenn Fühmann ins Atelier kam und neue Plastiken entstanden waren oder auch Zeichnungen, dann war seine erste Reaktion Betroffenheit, gleich ob bedrückt oder beglückt.“97 Die Bronze „Großer Schreitender Mann“ etwa erschreckte ihn, aber es war ein anderer Schrecken als jener, der die Rostocker Bezirksleitung der SED 1970 veranlasste, die auf dem Friedhof Schwerin-Haselholz aufgestellte Figur umgehend wieder entfernen zu lassen.98 Es habe, schrieb Fühmann, „Sammlung“ bedurft, „um standzuhalten, gar zu bestehen. Man wurde gewogen. […].“99
1972 endlich öffnete sich der Raum für Gemeinsames. Er barg Risiken, aber Reizvolles auch. Dass Förster dem Bedürfnis nachgab, Fühmann zur Vollendung seines 50. Lebensjahr öffentlich zu gratulieren, ist bezeichnend – auch wenn der Ort, die Norddeutsche Zeitung, abgelegen scheint. Sein Porträt des Dichters gab einen verlässlichen Aufhänger ab. „Danksagung“ sei es, schrieb Förster, für Fühmanns „große Hilfsbereitschaft und Anteilnahme an meinen eigenen Bemühungen um die Kunst“ und „Ausdruck meiner Achtung vor der schonungslosen Intensität, dem Fleiß und die Beharrlichkeit in seiner Arbeit“. Ja, Förster ging so weit, Fühmann als „mitten in einer großen Entwicklung“ zu sehen, „von der wir Neues und Wichtiges […] erwarten dürfen“.100 Der Verlag Volk und Welt signalisierte Bereitschaft, aus dem Tunesien-Konvolut von Zeichnungen und Text ein Buch zu machen. Doch bat er Fühmann, marktstrategisch wach, „den Lesern dieses Buches etwas über Wieland Förster zu sagen“.101 Keine leichte Aufgabe. Einerseits durfte Fühmann guten Gewissens auf wertgeschätzte und zugängliche Arbeiten Försters hinweisen, andererseits bestand wenig Zweifel, dass bei der zu erwartenden Leserschaft dessen Name noch ohne Klang beziehungsweise mit dem Ruf des Verruchten verknüpft war.
Im Frühherbst 1972, parallel zur tödlichen Geiselnahme israelischer Sportler durch palästinensische Terroristen in München während der olympischen Sommerspiele, ging Fühmann an die Niederschrift des Begleittextes: „in einem Zug d[urch]geschrieben!! [E]s geht also“,102 notierte er sich am 10. September 1972. Zwei Vormittage verbrachte er dafür in Försters Werkraum, um sich „Impressionen aus dem Atelier“103 festzuhalten. Am 25. September steckte er die ersten acht Seiten in den Postkasten und sah sich tags drauf schon mit Försters Einwänden konfrontiert. Sie galten dem Status des Schreibers – Schriftsteller oder Wissenschaftler? – und der Deutung des „Großen Schreitenden Mannes“, der Fühmann Furcht eingeflößt hatte. An diesem 26. September 1972 saß er Förster übrigens gleich noch „zu der ersten großen Porträtzeichnung“.104 Zu dessen Zufriedenheit: „Anfang einer Serie, auf die ich Lust habe, mich jetzt zu konzentrieren. Der Anlauf war nicht schlecht.“105 Anfang Oktober verzweifelte Fühmann erneut, so dass ihm Förster, beinahe bestürzt, zurief: „Das Buch existiert für mich, da Sie nun so gut den Text begonnen, haben nur mit Ihrem Text.“106 In einem schönen Brief endlich am 10. Oktober 1972 besänftigte Fühmann diese Besorgnis und nutzte die Gelegenheit, noch einmal auf die Basis ihres Miteinanders zu verweisen: „Eben die selbstverständliche Aufrichtigkeit war ja die Voraussetzung unseres Zusammengehns, und sie muß es bleiben. Es gibt ja in Dingen der Kunst nichts Anderes.“ Die Verständigungszeilen gingen ihm leicht von der Hand, hatte er doch am 7. Oktober 1972 das „Vorwort […] bis zum Schlußteil“107 fertig gebracht und es am nächsten Tag abgeschlossen.
Als man sich am Jahresende traf, geschah das entspannt und im Einvernehmen gegen die „Stalinisten“, die zum Angriff gegen Försters „Große Stehende auf einem Bein“ (Bronze, 1968–1970, vgl. Mlekusch: Förster-Werkverzeichnis, S. 256) ein „Kesseltreiben“108 veranstalteten. Und man widmete sich, durchaus passend, dem Freund, der am Beginn ihrer Bekanntschaft gestanden hatte: Erich Arendt. Arendt, als Kommunist und verheiratet mit einer ‚Halbjüdin‘, war bereits 1933 emigriert und erst 1950 aus Südamerika (Kolumbien) aus dem Exil zurück nach Deutschland, in die DDR, heimgekehrt, wo man seiner eigenwilligen Individualität und seinem poetischen Eigensinn erst zurückhaltend, dann weitgehend distanziert begegnete. 1973 sein siebzigstes Jahr. Nie unumstritten und immer mit politischer Skepsis bedacht, war Arendt 1972 mit folgenschweren Vorwürfen („spätbürgerliche[-] Dekadenz, Wortalchimie und Hermetik“109) bedacht worden. Gerichtet gegen seine Dichtung, bedrohlich für jede abweichende, experimentelle Kunst. Zusammenhalt war gefragt. Fühmann und Förster hatten Ende des Jahres die Idee, dass man Arendt mit einer persönlichen Geburtstagsmappe ein Zeichen des Zuspruchs, der Ermutigung geben könnte. Sie wendeten sich an Heinz Czechowski, Adolf Endler, Elke Erb, Roland Erb, Fritz Rudolf Fries, Uwe Grüning, Gábor Hajnal, Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch, Ludvík Kundera, Karl Mickel, Christa und Gerhard Wolf. Und auch an Henryk Bereska, der, ähnlich wie Arendt, unter einfachsten Verhältnissen im märkischen Kolberg wohnte. An ihn schrieb Fühmann, das Vorgehen erläuternd, am 31. Dezember 1972: „[…] Die Zusammenstellung und die – nicht sehr großen – Kosten des Bindens usw. würden Wieland Förster und ich übernehmen. Förster hat sich an seine zeichnenden und malenden Freunde gewandt. Ich wende mich nun an die schreibenden. Bitte schicken Sie ein ungedrucktes Stück Arbeit, über das sich Erich freuen würde. […]“
Am Schluss hieß es: „Ich habe mich nur an Mitglieder (komische Bezeichnung, aber Sie wissen ja, was gemeint ist) seines engsten Freundeskreises gewandt. […]“110
Die Welt, aus der die Mappe ihren Inhalt speiste, war die DDR-Welt Arendts und es war die von Förster und Fühmann, die bildenden Künstler eingeschlossen. Wie stabil der angeschriebene Kreis war, bezeugt Fühmanns Rundschreiben am 26. Februar 1973, „danke schön, es hat geklappt!“ Der „Zufall im Kleinen und Übereinstimmung im Großen haben“, schrieb er an Bereska wie an die anderen Beiträger, eine „ganz verrückt schöne Auswahl zusammengebracht“.111 Zum ersten Mal waren Förster und er gemeinschaftlich aufgetreten und zum ersten Mal in einem Miteinander zu erleben – in einer Runde, die zu ihnen passte und in die sie passten. Dem informellen Charakter, den das trug, sollte ein Jahr später, als das Tunesien-Buch in die Buchläden kam, die offizielle Bestätigung folgen.
War es Zufall, dass sich diese weitere Annäherung gerade in diesen Monaten vollzog? Bei Fühmann wie bei Förster gab es einen nachhaltigen Schub in ihrer künstlerischen Arbeit. Die Ungarnreisen der letzten Jahre hatten Fühmann in ein Schreibvorhaben gedrängt, dessen Dimension ihm nach und nach, dann aber grundsätzlich deutlich wurde. Das Buch, das im Spätherbst 1973 unter dem Titel „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“ bei Hinstorff erscheinen sollte, wurde ein Verlags- und ein Lesererfolg. Mit diesem Band sei er, so Fühmann, eigentlich erst zum Schriftsteller geworden. „Du hättest“, heißt es dort, „in Auschwitz vor der Gaskammer genau so funktioniert, wie du in Charkow oder Athen hinter deinem Fernschreiber funktioniert hast […]“.112 Gleich Tausenden seiner Generation, so weiter, sei er zum Sozialismus ausschließlich „über Auschwitz“ gekommen. Dieser Vergangenheit werde er nicht entkommen, aber er könne das tun, was allen anderen versagt sei: „Alle, auch die äußersten, die gräßlichsten wie die tröstendsten Möglichkeiten dieses ‚So‘ ausschöpfen, und eben das habe ich kaum begonnen“113 – und damit war zu beginnen, jetzt, umgehend, ohne Ausflucht.
Fühmann gab radikale Partien, in denen sich der Diarist als Faschist bezichtigte, Förster zu lesen. Wie würde der reagieren? Mit Einspruch, und offensichtlich erschrocken: „Allerdings, so scheint mir, haben Sie sich mit der Selbsteinschätzung als ‚Faschist‘ Unrecht getan. Ist das polemisch gedacht?“114 Förster, der die neue Qualität des Textes sofort erkannte, wollte Fühmann besänftigen, nicht die Sache. Sie aktivierte ihn. Zu nah war, was die „Zweiundzwanzig Tage“ bewegte, seinem eigenen, aus anderem biographischen Grund geschöpften Thema. Gleichsam der Blick von der anderen Seite. Was zu trennen schien, verband. Vor allem verband es in einer Gegenwart, deren staatliche Selbstverklärung Unrecht erzeugte, in dem sich die Projektionen unbewältigter Vergangenheit spiegelten.
Diese Erfahrung verbündete wie das Wissen um Kunst, die dem widersteht. 1972 aufgefordert, Arbeiten für eine Akademie-Ausstellung 1973 einzureichen,115 meldete Förster seine noch im Entstehen befindliche „Neeberger Figur“ an und Arbeiten aus dem Zyklus „Einblicke“, der dem weiblichen Körper und Geschlecht gewidmet und ein weiterer Versuch war, „in der weiblichen Figur das Unzerstörbare darzustellen“.116 Die Empörung war groß: Man warf ihm „Ostpornographie“ und Formalismus vor, er solle umgehend anderes einreichen. Försters Weigerung führte zu einer heftigen Eskalation – und am 8. Dezember 1972 den Präsidenten der Akademie der Künste, Konrad Wolf, in sein Atelier. „Das war vielleicht das wichtigste Gespräch während der DDR-Zeit, das ich mit einem sogenannten hohen Funktionär gehabt habe.“117 Es dauerte sechs, sieben Stunden. Förster erzählte rückhaltlos seine Lebensgeschichte, gab einen Begriff von seiner künstlerischen Arbeit, listete die Verbote auf, schilderte seine Lage als Ausgegrenzter „wie Barlach 1937 in Güstrow“118 – und schaffte es tatsächlich, in Wolf einen Fürsprecher zu gewinnen. Im Mai 1973 wurde Förster der Kunstpreis der DDR verliehen – ein Akt stiller Rehabilitation. Fühmanns Reaktion: „Und nun Glückwunsch und Händedruck zum Kunstpreis. Ich finde es richtig, daß Sie ihn angenommen haben, obwohl er natürlich überhaupt nicht adäquat ist und, wenn man die Umgebung anschaut, einer Beleidigung gleichkommt.“119 Adäquat wäre ein Nationalpreis gewesen. Doch damit nicht genug. Fühmann verknüpfte diesen staatlichen Signalakt mit einem strikten Fingerzeig auf die Skulptur, an der Förster seit 1971 arbeitete: die „Große Neeberger Figur“.120 Förster hatte noch nicht letzte Hand an diese ungeheuerliche Plastik gelegt, da polarisierte sie bereits. 1972 notierte er sich, was am Anfang dieser Arbeit stand, die heute als makelloses Meisterstück gilt: „Drei betäubend stille, heiße Sommertage lag ich auf einer Sandnarbe im Schilf, bei Neeberg, am Bodden. Aus glattem, wellenlosem Wasser stiegen sanfte Wiesenhügel, die zum Dorfe hin von Erlen und Wildrosen bewachsen waren. Mit der Schärfe eines Traumbildes sah ich, sobald die Hügel mir ins Blickfeld traten, eine hochragende, zwischen Erde und Himmel gespannte Skulptur stehen: als ungebrochene Gerade, die lediglich in Kopfhöhe einen horizontalen Gewandakzent besaß, der einem faserigen Wolkenzug glich. Die Vorstellung war so nachhaltig, daß sie sich in der Großen Neeberger Figur niederschlug. […]“121
Dem Erahnen von bildkünstlerischem Neuland („ein Produkt landschaftsprovozierter Phantasie“122) folgte der harte Gang, es zu betreten und aus der Vision Kunstwirkliches zu schaffen. Erst 1974 kam Förster auf diesem steinigen, mühevollen Weg an sein Ziel – und war dankbar, während dieser Jahre in Fühmann den aufmerksamsten Begleiter gehabt zu haben, den er sich wünschen konnte. Wie umgekehrt. „Ich habe“, bekannte Fühmann 1975, „ihren [der „Großen Neeberger Figur“ – R. B.] Werdegang verfolgt, sie ist ein Stück meines Lebens geworden […]“.123 Was die Öffentlichkeit in Für und Wider teilte, bedeutete für die beiden einen Brückenbau zu jeweils neuen Ufern. Die „Mißverständnisse“,124 die die Figur auslöste, vertieften das Verständnis ihrer Gemeinsamkeit. Der Bruch mit Sehgewohnheiten, den Förster konstatierte, schärfte ihre Sicht auf Kunst.
Als Fühmann und er in einem Rundfunkinterview zur „Großen Neeberger Figur“ befragt wurden, nutzte Förster die Gelegenheit, gegen „das Nonfinito, das Fragmentarische“ zu polemisieren. Er hingegen habe versucht, „eine Figur bis ins letzte Detail konsequent durchzuführen. Ich wollte […] vor allem wahrhaftig sein und jede Form bis zum Ende durchhalten.“ Dabei sei er sich, so Förster, „bis zur Unbarmherzigkeit begegnet; es war eine schwere Zeit, aber ich wollte mir nichts vormachen.“125 Ein Werk, das zielte für Förster auf etwas Ganzes, Abgeschlossenes. Zwischenetappen duldete es nur, weil sie den „Weg, der gegangen werden mußte, um etwas vom Erlebten oder Erinnerten sichtbar zu machen“, markierten. Diese unerbittliche Auffassung korrespondierte mit Fühmanns Ringen, sein Werk als tatsächliches Werk zu begreifen, dem als Maß Vollendung eingeschrieben ist. Den Grad erreichter Einvernehmlichkeit besiegelte am 15. Dezember 1973 ein beinahe fälliger Schritt. Fühmanns Kalender hat ihn dokumentiert: „W. Fö – DU“.126 Am Charakter ihres Umgangs änderte er nichts, aber er tat gut und fiel ihnen leicht. Man nahm weiter Anteil aneinander, aber vereinnahmte nicht. Unbedenklich sprach man von den Vorhaben, tauschte Manuskripte, ließ gelten, wenn der andere sich nicht umgehend als Lektor gerierte. Und freute sich, wusste der andere zu raten: Försters „Korrekturvorschläge trafen immer ins Schwarze“,127 so Fühmann – und Förster: „[E]r gab mir Hinweise, die mich, hoffe ich, für immer vor bestimmten Fehlern bewahrt haben.“128 Man öffnete sich, auch familiär. Es ist bezeichnend genug, dass eine der ersten Buchwidmungen Fühmanns für Försters an deren gerade erst geborene Tochter Eva gingen.129 Später wechselten Angelika Förster und Fühmann fröhliche Kartengrüße, in denen sie sich, augenzwinkernd, zum „Konditorn“ verabredeten, allerdings ohne je die Tat folgen zu lassen.
Fühmann fühlte von Beginn an den Reiz, sich schreibend auf Försters Arbeit einzulassen, in aller gebotenen Vorsicht. 1969 war eine kleine Impression zum „Arkadischen Akt“130 entstanden, im Nachwort zum Tunesien-Buch hatte er sich in Skulptur-Beschreibung versucht, und 1975, im gemeinsamen Gespräch mit Luise Köpp, hatte er der „Großen Neeberger Figur“ ihr gewidmete Sätze zur Seite gestellt. Der Schlusspunkt in dieser Reihe bildete ein wiederum kurzer Text, bezogen auf Försters „Paar“.131 Diese Bronze stand seit Anfang Januar 1976 im Garten von Fühmanns Häuschens in Märkisch-Buchholz. Dort erlebte er, wie die Plastik ihr Dasein in seiner Welt entfaltete: „[M]it Deinem ‚Paar‘“, schrieb er dem Freund, „beginne ich etwas zu kapieren! Ich könnte mir schon nicht mehr vorstellen, es nicht vor meinem Fenster zu haben.“132 Es sei „die letzte Größe der Verzweifelungsstandhaftigkeit“,133 die er bewundere. Oktober 1976 (gesendet 1977) lud ihn eine Magazinsendung des DDR-Fernsehens ein, etwas zu einem Kunstwerk zu sagen – er hatte drei Minuten Zeit und nutzte sie für Försters „Paar“. Er müsse sich, gemahnt ein Eintrag im Kalender, „streng daran halten, nicht in Belehrung zu verfallen.“134 Nachdem er zuerst „in der Fülle des Vitalen die schiere Möglichkeit eines Glücks“ gespürt habe, so Fühmann, sei ihm „ihre tapfere Trostlosigkeit“ aufgegangen: „im unstillbaren Verlangen der Liegenden wie im Wissen des Mannes, daß er auch hier keine andere Erfüllung findet, als sich einen Ewigkeitsaugenblick noch einmal schräg gegen das Weltall zu stemmen“. Vor dem Fernsehfunkmikrophon riskierte es Fühmann, vom „Kreuzweg der Geschlechter“ zu sprechen, „von der Tragik des Manns wie der Frau und der ihres Paarseins, und auch von dem, was Kunst vermag“.135 Kein Marxismus half mit Klärungen, der Griff zum Mythos, „jene[r] geheime[n] Urgestalt, die sich stetig neu im Kunstwerk verkörpert“, war entschlossen und fest – untermauert mit einem langen Zitat aus dem fünften Gesang der „Odyssee“, in der der Held „die Preisgabe seines Menschseins verweigert“.136 Die Zuschauer an den Fernsehapparaten registrierten die unerschrockene Deutung wohl, und Förster in seinem Tagebuch die „Erregung im Volk“,137 die diese Sendung auslöste, auch. Die letzten Monate hatten eine Sensibilisierung der Hörerschaft bewirkt.
Aufschlussreich fällt ein Blick auf Fühmanns Schreibtisch und in Försters Atelier während dieser Zeit aus. Gab es Korrespondenzen? Ja, und mehr als eine: 1976 war E. T. A. Hoffmann-Jahr (200. Geburtstag) und Fühmann als Festredner und Diskutant gefragt. Schon 1973 hatte er seinem Lektor bekannt, „hier habe ich nun den Meister gefunden, dessen treuer Knappe ich sein könnte […]“. Es gäbe „seltsame Übereinstimmungen zwischen dem 22 Gestorbnen und dem 22 Geborenen“,138 und er hätte acht Gemeinsamkeiten von 37 bereits entdeckten aufgelistet. Verwandt mit dieser durchaus gewagten Identifikation Fühmanns, die bis zur wieder bedrohlich gewordenen Alkoholsucht reichte,139 war Försters Bezug zu Heinrich von Kleist. Die Zeichnung „Selbstbildnis mit Kleist“140 bezeugt eine ungewöhnliche, persönliche Nähe, und nicht anders sein Konzept des Kleist-Denkmals, das die Stadt Frankfurt/Oder 1974 bei ihm für das Gedenkjahr 1977 bestellt hatte: „Kein Denkmal in der gewohnten Form von Anerkennung und Ehrung, sondern Darstellung oder Bild gegenwärtiger, nacherlebbarer Spannung und Qual, von Sehnsucht und Schmerz. […]“141 Im August 1976 schon, als die städtisch-staatlichen Auftraggeber absahen, worauf Försters Arbeit hinauslaufen könnte, strich man ihm den ursprünglichen Standort an der Kirche. Kleist und Hoffmann – so verschieden deren Welten, so verwandt die künstlerische und persönliche Annäherung, von der sich Fühmann und Förster leiten ließen, unbedingt, schutzlos und schützend. Wie passend, dass beide zusammen dann zur Einweihung der Skulptur im Herbst des Jubiläumsjahrs 1977 fuhren. Ihr Miteinander stand auf festem Fundament, beglaubigt nicht durch billige Worte, sondern ein prüfbares Werk.
Neben den sichtbaren Brücken gab es verborgene, und solche, die sich einer der beiden als Bauprojekt wünschte. Auch hier nahm das Jahr 1976 eine besondere Stellung ein. Förster wie Fühmann hatten Werkideen, für die sie die Beteiligung des anderen erhofften, und zwar durchaus charakteristische. „Schreib für mich später doch einen schönen, wirklich bösen Text zum Labyrinth“, bat etwa Förster am 12. August 1976. „Labyrinth“ – an diesem Projekt arbeitete er bereits zwei Jahre. 1974 war er in die Sächsische Schweiz gefahren, um in den dortigen Steinbrüchen nach Blöcken für Skulpturen zu suchen. Das waren Kindheitslandschaften, dreißig Jahre hatte er sich geweigert, sie zu betreten, er hatte „jenen märchenhaft düsteren Zauber der Schluchten und Höhlen unversehrt erhalten“ wollen, aus „Ehrfurcht und Urfurcht“.142 Doch je mehr er sich Steine schlug, umso überwältigender war die Magie, die die bizarre Felswelt, Labyrinth genannt, freisetzte. „Herabgestürzte, zwischen geborstenen Wänden verkeilte Blöcke bilden Stollen, die, wenn man ihnen folgt, in beklemmende Tiefen hinableiten: überall bieten sich gangbare Stege und Schächte an […], die ohne Wortmißbrauch labyrinthisch zu nennen sind. […] im Sinne von Irrgang und Kreuzweg, Verlockung auf ein vermeintliches Zentrum hin, das es jedoch nicht gibt. […]“143
Statt den Stein zu einem Gebilde zu formen, galt es, das Bild zu erkennen, das er in sich trug. Der Hammer wich dem Stift. Es entstanden großflächige Zeichnungen, die sich langsam und stetig zu einem Zyklus weiteten und zwanglos mit Fühmanns „Bergwerk“-Projekt korrespondierten. „Man dringt da ein“, heißt es im „Bergwerk“-Fragment beinahe deckungsgleich zu Försters Wahrnehmung, „wo etwas lockt, aber Lockendes muß sich ja zuerst zeigen“.144 In seinem „Bergwerk“ werde, hob Fühmann noch 1982 hervor, das Labyrinth „eine Riesenrolle spielen“,145 ja, er plante sogar eine ganze Geschichte mit diesem Titel.146 Im Verborgenen blieb auch das immer enger gestrickte Netz der gegenseitigen Lektüren, von denen beide profitierten – in diesem Jahr unbestritten. Förster bekam Fühmanns Begleittext für die ersten Sinn und Form-Veröffentlichung von Uwe Kolbe und Frank-Wolf Matthies und die „Spiegelgeschichte“ zu lesen, Fühmann die Erzählung „Vollständiger Bericht für Dr. Krull“ von Förster. Seine Begeisterung war grenzenlos: „ein Meisterwerk […] das ist Meisterprosa!!“147 Angespornt von dessen radikal erzählter Liebesszene, wagte sich Fühmann an den Marsyas-Mythos, um dessen Urgrund von Erotik und Tod auszuschreiten. Mit ihm ging er in die Kälte der Herbstereignisse. Wie nah man einander war, beglaubigt die Marsyas-Zeichnung, die Förster anfertigte, nach vielen Monaten zehrender Kämpfe.148 Fühmanns Stoff war sein Stoff, die leidende und liebende Kreatur.
1976 – ein folgenschweres Jahr. Die innenpolitische Situation in der DDR verschlechterte sich. Angespannt hielt Fühmann im Kalender fest, was ihm als Signal einer Zeit galt, die aus den Fugen brach. Mit jedem Eintrag krisenhafter gesellschaftlicher Symptome vertiefte sich seine eigene Krise. Ihr Ausmaß war existentiell. Im Sommer 1976 bezog er die Garage auf seinem Grundstück in Märkisch-Buchholz. Witterung und Temperatur extrem ausgesetzt, verlangte sie Askese und war ihm Spiegel angemessenen Daseins. Die Blechzelle kam ihm recht, den tagespolitischen Verwerfungen zu entkommen. Sie war ihm idealer Ort für einen radikalen Ausstieg und schriftstellerischen Neubeginn – und Wieland Förster der ideale Adressat, das auszusprechen. Zufall oder nicht, Fühmann verfasste einen diesbezüglichen Brief an eben dem Tag, als der Zeitzer Pfarrer Oskar Brüsewitz den akuten Folgen seiner öffentlichen Selbstverbrennung erlag: am 22. August 1976.149 Ein Bekenntnisbrief, dem zwei weitere folgen sollten, Höhepunkt und Herzstück ihrer Korrespondenz. Von nun an, so Fühmann, wolle er nur noch Geschichten schreiben ohne jeden „Bezug auf Mauer oder Funktejonähre, nicht positiv, nicht negativ, überhaupt nicht, und durch die ganze Skala des Menschlichen, bis hin zu dem, was man so Pornographie nennen würde (und keine ist)“.150