Franz Fühmann, Die Briefe Band 1 - Franz Fühmann - E-Book

Franz Fühmann, Die Briefe Band 1 E-Book

Franz Fühmann

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Beschreibung

Beginn der großen Fühmann-Briefausgabe Auf sieben Bände und über 4 000 Seiten ist die Ausgabe der Briefe Franz Fühmanns angelegt, die in den nächsten Jahren erscheinen wird. Bisher sind nur einige der über 10 000 erhaltenen Briefe veröffentlicht worden; nun ergibt sich endlich ein umfassender Blick auf diesen Teil des OEuvres von Franz Fühmann. Einen sehr wichtigen Teil, denn Fühmann war ein Briefeschreiber par excellence, der sich in diesem Medium mit anderen (und sich) austauschte und ihn beschäftigende Probleme reflektierte. Am Anfang steht der Briefwechsel mit einem seiner bedeutendsten literarischen Ansprechpartner: Kurt Batt, über viele Jahre Cheflektor des Hinstorff Verlages, einer der besten, die es in deutschen Landen je gegeben hat. Seinen Autorinnen und Autoren gegenüber loyal, engagiert, was teilweise starke, aber immer begründete Kritik mit einbezog. Eine Autorität – auch für einen gestandenen Schriftsteller wie Franz Fühmann.

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Franz Fühmann

Die Briefe

Band 1

Briefwechsel mit Kurt Batt

„Träumen undnicht verzweifeln“

Herausgegeben von Barbara Heinzeund Jörg Petzel

INHALTSVERZEICHNIS

Der Briefwechsel

Anhang

Vorgefundene Abkürzungen

Personenregister

Stationen im Leben von Kurt Batt

Zu diesem Band

Der Briefwechsel

[1959]

VEB Hinstorff Verlag Rostock

Schröderplatz 2 – Fernruf 4441

3. Dezember 1959

Brigadetagebuch1

Herrn

Franz Fühmann

Strausberger Platz 1

Berlin C 2

Sehr verehrter Herr Fühmann!

Wie Ihnen mein Chef2 schon schrieb, habe ich mich mit Werner Schröder3 in Verbindung gesetzt, um zu erkunden, ob die Brigade ein Tagebuch führt und welcher Art es ist.

Wahrscheinlich kann ich Ihnen nur mitteilen, was Sie schon von Werner Schröder selbst erfahren haben. Er führt ein Tagebuch, das jedoch infolge seines nackten Aufzählungscharakters eines näheren Kommentars bedarf, den er im übrigen gern und ausführlich gibt. Inzwischen hat er noch einige seiner Kumpel beauftragt, eine Chronik der Brigade zu schreiben. Diese Chronik soll bis zu Ihrem Eintreffen in Warnemünde4 fertig sein. Mehr kann man, scheint mir, nicht verlangen. (Hoffentlich plaudere ich kein Geheimnis aus, da es vielleicht eine Überraschung für Sie sein soll.)

Daß sich die Brigade auf Ihren Besuch freut, brauche ich demnach nicht mehr zu betonen. Übrigens nicht nur die Louis-Fürnberg-Brigade, sondern auch die Mitarbeiter des Hinstorff Verlages. Von unserem Kollegen Reich soll ich Ihnen herzliche Grüße übermitteln. Ich bin gern bereit, wenn Sie es wünschen, nähere Auskünfte bei der Brigade einzuholen.

Mit freundlichen Grüßen Kurt Batt (Dr. Batt)

[1964]

Dr. Kurt Batt

Rostock, 23. April 1964Erich-Mühsam-Straße 18

Herrn

Franz Fühmann

Strausberger Platz 1

Berlin NO 18

Lieber Herr Fühmann,

in einem Punkt möchte ich doch Hans Mayer5 widersprechen, wenn er nämlich behauptet, Sie könnten keine Essays schreiben.

Beweis: Ihr Artikel im ND,6 der im übrigen nicht nur gedanklich, sondern vor allem auch stilistisch die Herzensergießungen Ihrer Kollegen etwas bedenklich erscheinen läßt.

Da über solche und andere Fragen von Belang auch schon Sankt Lichtenberg7 nachgedacht hat, möchte ich Ihnen ein Exemplar meiner Ausgabe schicken.

Herzlichst

Ihr Kurt Batt

Franz Fühmann

Berlin NO 18Strausberger Platz 130. 4. 64

Lieber Herr Dr. Batt,

endlich Lichtenberg!8 Seien Sie bedankt! Wenn ein Buch nötig und längst überfällig gewesen ist, dann dies. Ich freu mich, dass Sie sich an diese Arbeit gemacht haben.

Was Ihre Meinung über meine essayistische Begabung angeht, so werden Sie nicht nur mit Hans Mayer,9 sondern auch mit Ihrem Chef10 in Konflikt kommen.

Hoffentlich sehen wir uns bald einmal wieder.

Mit herzlichem Gruss

Ihr

Franz Fühmann

[1965]

VEB Hinstorff Verlag Rostock

Schröderplatz 2

Ruf 4441

DN Rostock 1865

Herrn

Franz Fühmann

Strausberger Platz 1

1018 Berlin

Sehr geehrter Herr Fühmann,

29. 1. 1965

es ist durchaus wahrscheinlich, daß Sie Sitzungen, Tagungen und ähnlichen liebenswerten Erfindungen nicht geneigt sind, aber wir haben auch gar nicht die Absicht, Sie zusätzlich zu belasten, wir wollen uns vielmehr zweimal jährlich mit Ihnen und einigen anderen literaturverständigen Damen und Herren über unsere Verlagsarbeit und die gegenseitige Zusammenarbeit unterhalten. Und wenn eine solche Gesprächsrunde offiziell den Titel Verlagsbeirat trägt, so soll das – und dies dürfen wir Ihnen versichern – doch nicht heißen, daß Sie hinfort für uns die Arbeit übernehmen. Vielmehr glauben wir, daß für Sie und für uns ein zwangloses Gespräch im Kreise von acht oder zehn Autoren, Kritikern und Verlagsleuten so nutzlos nicht sein wird.

Wir möchten Sie deshalb sehr herzlich zum Freitag, dem 19. 2., 11.00 Uhr in den Verlag einladen. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie uns bis dahin eine kurze Nachricht zukommen ließen.

Mit freundlichen Grüßen

(Konrad Reich)

(Dr. Kurt Batt)

Verlagsleiter

Cheflektor

Umgezogen: Jetzt Kröpeliner Straße 25

3. 2. 65

Liebe Annaliese Bloom,11

bitte machen Sie doch den Spass mit und legen Sie Ihrem Chef die beiliegenden Briefe in folgender Reihenfolge auf den Tisch:

1.) Mit Anrede: Sehr geehrter Herr Reich, sehr g. H. Dr. B.

2.) –„– Lieber Konrad Reich

3.) –„– Hochzuverehrender Herr Konrad Reich

4.) –„– Lieber Konrad.

Sie bekommen auch, wenn ich wieder ins Ausland fahre, eine extraschöne Briefmarke von mir.

Mit herzlichem Dank

Ihr

[Franz Fühmann]

An die

Herren des Hinstorff-Verlages

3.2.65

Rostock

Kröpeliner Strasse 25

Sehr geehrter Herr Reich,

sehr geehrter Herr Dr. Batt,

obwohl Ihr freundliches Schreiben,12 in dem Sie, mich gütigst zur Mitarbeit in Ihrem hochgeschätzten Verlagsbeirat einladend, meine geringen Verdienste über Maß und Gebühren zu schmeicheln die Güte haben, in einem von ähnlichen Schriftstücken bemerkens- und anerkennenswert abweichenden, liebenswürdig-frischen, ja man wäre beinah versucht zu sagen amüsant-kecken Ton, den man auch sonst an den Unterzeichnern zu rühmen sich nicht aus falschen Bedenken entsagen meinen zu müssen glauben solle, gehalten ist, einem Ton also – und ich bitte hier, an dieser sicher nicht unwichtigen Stelle, dem Gelenk zwischen zwei Gedanken gewissermassen, wieder neu ansetzen zu dürfen – dem man eine gewisse suggestive, zur Mitarbeit reizende, ja gleichsam – und dies ist, wie anders dies manchen weniger Einsichtigen auch scheinen möge bei weitem nicht zu viel gesagt – beflügelnde Kraft nicht minder zubilligen muss als der so überaus angenehmen, herzerquickenden Aussicht, zweimal im Hingang jener kurzen und doch für das Leben eines tätigen Menschen gar nicht weit genug zu spannenden Periode, die durch das Vollenden des Umlaufs des dritten Planeten unseres Solarsystems um sein Muttergestirn schon den ältesten, von den Mythen beginnender Kulturen noch wie vom Schleier der Maya13 umrauschten Völkern des nah genannten und dennoch uns müden Abendländern so fernen Ostens astronomisch und damit auch für alle andern Bezirke des Menschengeistes bindend genugsam charakterisiert worden ist und von profanen Nachfahrn gemeinhin ein Jahr genannt wird, mit freundlichen agilen, gewisslich liebenswerten, ihre Existenz dem selbstlosen Wirken auf den humanitär noch so wenig durchwärmten Gebieten der Kritik und des Verlagswesens verschrieben habenden oder, um jene, dem lateinischen Ohr durchaus noch elegante, dem etwas zungenplumper geratnen Nachzeichner dieser klassisch-reinen Gedankenvergeistigung hingegen etwas – fast ist man versucht zu sagen: täppischer wirkenden Wendung durch eine auch unserm akustischen Sinngefüge gefälligeren zu ersetzen: geweihten Männern und Frauen an einem Tisch, der, woran keiner zu zweifeln ein Recht hat, den Vorstellungen des Hausherrn füglich als runder schon vorschwebt, zusammenzusitzen und über die Belange eben jenes, den Herzen der also sitzend Beschäftigten mit innigen Banden verknüpften Verlags gewissenhaft, treusorgend und in alter Hansemanier wohlabwägend zu beraten; – obwohl all dies, um noch einmal, doch diesmal, das sei hiermit versprochen, ein letztes Mal anzusetzen – obwohl also all dies zusammengenommen von geradezu magischer Anziehungskraft auf den Schreiber dieser Zeilen zu wirken vermochte und weiter zu wirken wahrscheinlich die Kraft nicht verlieren wird, sei dennoch, nach, wie könnte es anders sein, reiflichen Überlegungen ein Wort ausgesprochen, das in seiner beredeten Schlichtheit und knappen, der Rede des Volkes mit jener vom wackren Altmeister unserer Sprache so derb-drastisch geforderten Blickrichtungen auf ein speziell der Formung menschlicher Laute bestimmtes Organ des Angesicht[s](das auch andern wecken als jenen durchaus zu dienen vermag) eben dieser unteren, doch darum nicht minder wertvollen Schichten des Staatsverbands abgelauschten Schlusskraft, die lange und schwierige Schwankungs- und Entscheidungsprozesse, wie sie sich ebenso im geistig bewussten als auch in jenem tiefren Bezirk der Seele, den man das Unbewusste, ja geradezu das Unbehauste zu nennen man sich nicht zu entrechten glaube vermögen zu können vollzogen und sicher auch weiterhin vollziehen, in einen knappen und dennoch trotz seiner Knappheit grammatikalisch durchaus vollendeten Hauptsatz zusammengefasst ja wie ein Lasar,14 damit auch der jüngste und kühnste Spross menschlichen Promethidenvermögens in diese schlichten Zeilen Eingang finde, zusammengebündelt, nein, was rede ich: zusammen geballt! wohl verdiente, in Büchmanns15 oder einer neueren, ihr adäquaten (was, ich weiss es durchaus, fast unmöglich zu fordern ist, aber sollte es darum nicht gefordert werden?) Sammlung geflügelter Worte Eingang zu finden, jenes Wort, das, sorgsam geprüft und immer aufs neue gewendet und wohl erwogen in rastlos durchgrübelten Nachtstunden ebenso wie im schneidenden Licht des Tags bestätigt gefunden, und also als jene, von den Hausherrn wohl in Hinsicht auf die Tunlichkeit einer Entscheidung als solche geforderten, wenn auch im Hinblick auf die Modalität eben jenes Willensentschlusses zwar nicht gewünschten, doch sicher auch die Bedenken des Schreibers dieser Zeilen gegen jegliche sogeartete Gremien würdigende und mithin im Schlussvollzug dennoch schliesslich zu billigende Antwort da lautet: Konrad, ich mag net!

Immer zu Ihren sonstigen Diensten bereit

zeichne ich mit dem Ausdruck

ehrerbietigster Hochachtung

sowie mit der Hoffnung, Ihnen mit diesen schlichten Zeilen

eine Probe des für Kriminalgeschichten von mir nunmehr besonders bevorzugten Stils gegeben zu haben

[ohne Datum; 3.2.1965]

Sehr geehrter Herr Reich,

Sehr geehrter Herr Dr. Batt,

obwohl Ihr freundliches Schreiben, in dem Sie, mich gütigst zur Mitarbeit in Ihrem hochgeschätzten Verlagsbeirat einladend, mir über die Maßen meines geringen Verdienstes schmeicheln, in eine[m] von ähnlichen Schreiben bemerkenswert abweichenden, liebenswürdig-frischen, ja man wäre beinahe versucht zu sagen amüsant-kecken Ton, den man auch sonst an den Unterzeichnern zu rühmen sich nicht aus falschen Bedenken entsagen meinen zu müssen, gehalten ist, einem Ton also – ich bitte hier neu wieder ansetzen zu dürfen – dem man eine gewisse suggestive, zur Mitarbeit reizende, ja gleichsam –dies ist bei weitem nicht zu viel gesagt beflügelnde Kraft nicht minder zubilligen müsste als der so überaus angenehmen Aussicht, zweimal im Hingang jener kurzen und doch für das Leben eines tätigen Menschen gar nicht weit genug zu spannenden Periode, die durch das Vollenden des Umlaufs des dritten Planeten unseres Solarsystems um sein Muttergestirn schon den ältesten, von den Mythen beginnender Kulturen noch geradezu schaubar umrauschten Urvölkern Nahosts astronomisch und damit auch für alle andern Bezirke des Mensch[en]geists bindend genugsam charakterisiert und gemeinhin ein Jahr genannt wird, mit angenehmen, ihre Existenz dem selbstlosen Wirken auf den humanitär noch so wenig durchwärmten Gebieten der Kritik und des Verlagswesens verschrieben habenden oder, um jene, dem Lateiner so elegante, dem etwas plumper geratnen Nachzeichner seiner Sprache hingegen etwas – man ist fast versucht zu sagen – täppischer wirkende Wendung durch eine auch unserm Ohr gefällige zu ersetzen: geweihten Männern und Frauen zusammenzusitzen und über die Belange eines, jedem Herzen der Obgenannten mit innigen Banden verbundenen Verlags denkend und wohlerwägend zu beraten; – obwohl all dies, um noch einmal, doch diesmal ein letztes, das sei hiermit versprochen, mal anzusetzen – obwohl also all dies zusammengenommen von geradezu magischer Anziehungskraft auf den Schreiber dieser Zeilen zu wirken vermochte und weiter zu wirken wahrscheinlich die Kraft haben wird, sei dennoch ein Wort ausgesprochen, das in seiner beredten Schlichtheit und knappen, der Rede des Volkes mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit abgelauschten Schlusskraft, die lange und schwierige Schwankungs- und Entscheidungsprozesse, wie sie sich ebenso im geistig-bewussten als auch in jenem tiefren Bezirk der Seele vollziehen, den man das Unbewusste, ja geradezu das Unbehauste zu nennen man sich nicht zu entrechten glaube vermögen zu können, in einen knappen und dennoch trotz seiner Knappheit grammatikalisch durchaus vollendeten Hauptsatz zusammengefasst, ja wie ein Lasar, damit auch der jüngste und kühnste Spross menschlichen Universalvermögens in diese Zeilen Eingang finde, zusammengeballt, wohl verdiente, in Büchmanns oder einer neueren, ihr adäquaten (schwierig zu fordern, ich weiss es wohl, aber sollte es nicht gefordert werden?) Sammlung geflügelter Worte Eingang zu finden, jenes Wort, das, sorgsam geprüft und immer aufs neue gewendet und wohl erwogen, in rastlos durchgrübelten Nachtstunden ebenso wie im schneidenden Licht des Tages bestätigt gefunden und das also lautet: Konrad, ich mag net!

Ihr

An den

VEB Hinstorff-Verlag

Die Verlagsleitung

Rostock

Kröpeliner Str. 25

3. 2. 65

Hochzuverehrender Herr Konrad Reich,

Hochzuverehrender Herr Dr. Batt,

wat habt Ihr Euch bloss so???

Herzlich [Franz Fühmann]

[1967]

Geburtstagsgruß von Kurt Batt an Franz Fühmann, 10.1.1967

Auch demjenigen, der einen wachen Sinn für Zahlensymbolik besitzt, würde es vermutlich nicht leicht werden, zum 45. Geburtstag eines Schriftstellers den Gratulantenreigen anzuführen. Denn 45 ist keine jener runden Zahlen, zu denen einem schmuckschöne Redensarten einfallen oder an denen man Spruchweisheiten ausklopfen kann. 45 läßt sich nicht einmal durch die 7 dividieren, von der eine überkommene Psychologie des Alterns jeweils eine Häutung der Persönlichkeit erwartet.

Aber ich gestehe, daß es mir auch bei einer geneigteren Zahl schwerfallen würde, für Sie die sogenannten passenden Worte zu finden, denn ich wüßte keinen anderen Autor, in dessen Gegenwart mein Redefluß so schnell ins Stocken gerät, weil ich nämlich – möglicherweise unbegründet – fürchte, daß Sie die Worte und Sätze anderer so unnachsichtig streng prüfen wie die eigenen. Um also genau zu sein, muß ich meine Unsicherheit nicht schlechthin mit der selbstverständlichen Hochachtung vor Ihren literarischen Leistungen begründen, sondern mit dem Respekt vor der Aura der Exaktheit, die Sie in meinen Augen umgibt.

Streng – dies wäre das Attribut, das sich mir vor allem mit Ihrer schriftstellerischen Arbeit verbindet, und ich sehe es am schönsten und reinsten in Ihrer Novellistik verwirklicht, die streng der Substanz und der Struktur nach ist, streng in der Abrechnung mit deutscher Geschichte und mit Ihrem eigenen Schicksal, streng aber auch in der modellartigen Komposition und in der schnörkellosen Sprache. Dies ist eine Prosa, die, wie ich glaube, auch nach Brechts Geschmack gewesen wäre, wenn sie auch nicht nach seiner Weise ist. Ihre Novellen gehören zu den nicht eben zahlreichen genauen Bilanzen des 2. Weltkriegs in deutscher Prosa, gerade weil sie, mehr als Rechenschaften, Ergebnisse von Reflexion und Kalkül sind: Schöpfungen eines ingenieur literaire, ich sage es: eines Mathematikers der Poesie.

Eine Prosa, deren Wörter, streng und exakt, die Goldwaage nicht fürchten, sondern fordern, eine Prosa, die deshalb mehr bedeutet als sie mitteilt und die mir – eine persönliche Reminiszenz – jene oft gut gemeinten Romane, in welchen der Krieg natural und naiv ins Bild gebracht wird, ein für allemal verleidet hat. Ich weiß nichts Besseres zu sagen.

In diesen Tagen, zufällig zu Ihrem 45. Geburtstag, erscheint ein Buch von 400 Seiten,16 in dem die Früchte Ihres zehnjährigen erzählerischen Schaffens gesammelt sind. Dieses Buch macht die Zahl 45 dennoch rund und läßt eine Gratulation geraten erscheinen, auch wenn mir keine schmuckschönen Redensarten und Spruchweisheiten eingefallen sind.

Franz Fühmann

1018 BerlinStrausberger Platz 11605 Märkisch-BuchholzBirkholzer Straße 8521. I. 67

Lieber Herr Dr. Batt,

Lassen Sie mich Ihnen herzlich die Hand drücken – zunächst für den Fried,17 über den ich mich sehr gefreut habe, dann aber und vor allem für die so freundlichen und schönen Worte, die Sie zu meinem Geburtstag gefunden haben. Ich bin ja bei solchen Gelegenheiten immer hilflos, und auch ein wohlgesetztes Dankesschreiben ist dann meine Sache nicht. S[o] möchte ich Ihnen nur sagen: Ihre Worte waren ein Labsal und eine Ehrung, und daß Sie mein Bemühen unter den Begriff der Strenge gestellt haben, hat mich bewegt.

Und was tut die strenge Feder? Sie schreibt Kinder- und Jugendbücher, das ist besser als nichts und besser als Falsches. Nach der Odysse[e] die Ilias.18 Der alte Blinde19 war schon ein großartiger Mann, und wie er seinen Herrn, den Parvenüs des Kriegeradels, die von der Literatur vor allem Haus- und Stammesreklame verlangten, den Spiegel vorhielt, ohne dass sie es merkten, wie er ihre Dummheit, Rohheit, Kulturlosigkeit, Barbarei, Ungeschlachtheit, Brutalität und Schäbigkeit schildert und dabei unentwegt mit Wendungen wie „sagte der edle Held“ – „der herrliche König“ parodistisch kontert und gleichzeitig seinen Auftraggebern Sand in die Augen streut – das ist schon eine Wucht. Und wie viele merken’s heute noch nicht.

Lieber Herr Dr. Batt, ich freue mich, Sie bald wiederzusehen. Gern hätte ich Ihnen den „Ödipus“ geschickt, der im Okt. 66 kommen sollte und wohl erst im März 67 kommt.

Sie bekommen ihn dann sofort.

Dankeschön und Händedruck

und alles Gute

Ihr Franz Fühmann

PS: Da ich in meinem Notizbuch nicht entziffern kann, ob die Postleitzahl 256 oder 251 ist, schicke ich den Brief als eingeschrieben. F.

Kurt Batt: Rezension zu Arbeiten von Franz Fühmann

Wer immer sich mit Literatur kritisch oder wissenschaftlich befaßt, sieht sich genötigt, etwas in vorgefaßte Begriffe zu zwängen, das sich ihnen seinem Wesen nach widersetzt, denn Literarisches läßt sich nicht definieren wie ein gleichschenkliges Dreieck, nicht in Formeln bannen wie Wasser und Phosphor. Literatur ist gleichermaßen etwas Historisches, den Stürmen und Schlägen der geschichtlichen Veränderung unterworfen, und etwas Individuelles, den Ansprüchen und Neigungen einer schöpferischen Persönlichkeit gehorchend. Andererseits aber ist eben ohne die Betätigung eines überkommenen Begriffsapparats ein Verständnis über Literatur nicht möglich.

Links die Skylla20der geborgten Begriffe, rechts die Charybdis21 der Unverständlichkeit – das Risiko der Kritik ist groß, und es vergrößert sich in dem Maße, wie sie es mit bedeutenden, und d. h. originellen, wörtlich: nur einmal vorhandenen Werken zu tun hat.

Beginnen wir also mit dem Buch, das uns hier beschäftigen soll, und beginnen wir genau, mit dem Titelblatt von Franz Fühmanns „König Ödipus“. Nach dem Willen von Autor und Verlag handelt es sich bei diesen Prosastücken um Erzählungen, einen sehr weit zu fassenden Begriff, den ich lieber durch den genaueren Terminus Novellen ersetzen möchte. Doch wenn ich den Begriff Novelle ausspreche, so muß ich wissen, daß es die Novelle, den Inbegriff der Novelle nicht gibt, weder bei Boccaccio im „Dekamerone“ noch bei Cervantes in den „Beispielhaften Novellen“ noch bei Keller in den „Leuten von Seldwyla“. Alle diese Sammlungen enthalten gewiß Novellen, aber sie sind so unterschiedlich nach Quantität, Tendenz, Substanz und Stil, daß uns nur eine höchst allgemeine Bestimmung weiterhilft, nämlich die Goethes, der die Novelle gesprächsweise eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“ nannte. Solche Definition ist vage genug, daß sie Epochen und Individualitäten umfassen kann, aber sie ist andererseits durch den Hinweis auf das Außerordentliche, Ungewöhnliche des Inhalts genau genug, um das Wesen der Gattung in einem entscheidenden Punkt zu treffen. Jede engere Begriffsbestimmung – und das 19. Jahrhundert hat sich darum mit aller Redlichkeit bemüht, wird die Sache verfehlen, weil Literatur von Rang sich keinem ausgeklügelten Kanon unterwirft, weil sie nicht der Regel, sondern der Ausnahme huldigt. Und Werke, welche die sogenannten wissenschaftlichen Gattungsmerkmale allzu penibel erfüllen, erscheinen mir – ich will es gestehen – stets verdächtig.

Ich sage dies, obwohl Franz Fühmanns erste Prosaarbeit „Kameraden“ eine Novelle geradezu im klassischen Sinne ist, an der sich die Novellentheorie, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, schulgerecht exemplifizieren ließe. Gleich am Anfang die unerhörte Begebenheit: ein seltsamer Vogel soll geschossen werden, aber ein Mädchen wird getroffen – ein Märchenmotiv könnte man denken, aber es ist ein Ereignis, das sich alsbald in eine hochpolitische Affäre verwandelt, denn die Schützen liefern damit schließlich [sogenanntes] Material für die nazistische Greuelpropaganda, die für den Tod des Mädchens die, wie es heißt, „bolschewistischen Untermenschen“ verantwortlich macht. Damit ist freilich nur, schlicht und grob, die äußere Einfassung eines verschlungenen, mit hoher kompositorischer Raffinesse und handwerklicher Sauberkeit ausgeführten Geschehnisablaufs angedeutet.

Es drängt sich die Frage auf, was Fühmann bewog, sich gerade in dieser anspruchsvollen, strengen Form vernehmen zu lassen, einer Form, die durch die Literaturgeschichte schon verabschiedet zu sein schien. Man wird dies schwerlich allein aus einer Neigung, auch in seiner Lyrik spürbaren Neigung für Strenge und Disziplin erklären können.

Dem Geschehen der braunen Jahre, das er rückschauend reflektierte, fehlte gewiß das Unerhörte nicht, aber zugleich verstand Fühmann sein Schicksal, seine Wandlung vom verführten und gläubigen jungen Anhänger der Naziideologie zum Antifaschisten und Sozialisten als stellvertretend für das Schicksal seiner Nation, genauer des besseren Teils seiner Nation. Dies aber: die eigene Entwicklung als exemplarischer Fall, das Außerordentliche als das – recht verstanden – Typische, dies bedurfte einer künstlerischen Umschrift, die das Zufällige, das Rankenwerk persönlichen Behagens und Unbehagens, Mitleid und Selbstmitleid, Sentiments und Ressentiments abstreifte, einer Form, die sozusagen in die Mitte der Dinge gelangte und das unerhörte Geschehen in eine klassische, objektivierte Gestalt und Sprache zwang.

Er fragte vorderhand nicht nach dem Leiden seiner Generation, sondern nach der Schuld und den Möglichkeiten einer tätigen Sühne; er fragte nicht nach individueller Güte und persönlicher Bosheit, er fragte nach dem Übergreifenden, nach der Ideologie, nach den Ursachen der Verführbarkeit hunderttausender junger Deutscher während der Naziära und des 2. Weltkrieges.

Seine Frage war, wenn man will, abstrakter als die anderer Autoren, auf jeden Fall aber zielte sie tiefer. Und ihre künstlerische Beantwortung verlangte eine Form, in der sich das politisch Essentielle niederschlagen konnte, eine Gestaltung, die dem höheren Grad von Reflektiertheit angemessen war. Dies alles läßt sich schon an der ersten Prosaarbeit des Autors beobachten, bereits in ihr ging es um die Wirkungsweise der nazistischen Ideologie, die hier am Exempel des Kameradschaftsmythos vorgeführt wird.

Vergegenwärtigen wir uns: zwei von drei Soldaten schießen, aber der dritte muß schweigen oder, besser noch, als Mitschuldiger erscheinen. Will er in diesem Sinne Kamerad sein, muß er sich auf Gedeih und Verderb mit den beiden solidarisieren und sich gegen sein Gewissen vergehen. In seinem umgestülpten Bewußtsein erscheint ihm die sogenannte Kameradschaftstreue als das wahrhaft Menschliche, Anstand und Wahrheit aber sind der „innere Schweinehund“, den es auszutreiben gilt.

Dies nun ist Fühmanns großes Thema, das er immer wieder von den verschiedensten Seiten behandelt hat: die nazistische Verkehrung des Bewußtseins, die Lüge, die für Wahrheit genommen wird, die Ideologie als das im Marxschen Sinne falsche Bewußtsein, das hier nicht nur die Herrschaftsverhältnisse verschleiert, sondern in der Tat alle Werte und mit ihnen die Welt auf den Kopf stellt. Es ist deshalb höchst unzureichend und oberflächlich beobachtet, wenn man Fühmanns Prosawerke als Kriegserzählungen rubrizierte. In seinen Novellen wurde weitaus mehr sichtbar als Kriegsgeschehen – der faschistische Raubkrieg war für ihn nur die extreme Situation, in der sich eine mörderische Ideologie handgreiflich materialisierte. – Die Spaltung des Bewußtseins und in ihrer Konsequenz, seine Unterwerfung unter den Ungeist, die unbemerkte Herrschaft der Unmoral und der Lüge, dieses Thema, das nicht mit der Niederlage des Hitlerreiches erledigt war, begleitete den Autor von seiner ersten Prosaarbeit „Kameraden“ über „Das Gottesgericht“, den Zyklus „Das Judenauto“ bis hin zu den jüngsten Werken „Die Schöpfung“ und „König Ödipus“.

Und eben diese Dialektik: daß das menschliche Bewußtsein per bürgerliche Ideologie buchstäblich umgekehrt wird, die Welt nicht mehr an den Tatsachen, sondern an einer sogenannten Weltanschauung mißt, diese Dialektik, die Marx theoretisch beschrieben hat, konnte schwerlich mit dem Instrumentarium des psychologischen Romans, sondern nur mit Hilfe der Dreh- und Wendeform der Novelle ins Bild gebracht werden. Diese Form ermöglichte es dem Autor auch, ohne daß er eine umständliche Wandlung nachzeichnete, am Ende die Welt sozusagen durch einen Paukenschlag wieder ins rechte Lot zu bringen, die Wirklichkeit in ihren regulären Dimensionen wiederherzustellen und mithin den Blick auf das bessere Morgen freizugeben, ohne das man je den Eindruck eines gewaltsamen oder gar angepappten Schlusses hätte.

Nun war die mit „Kameraden“ gefundene Struktur mit ihrer relativ weiten, aktionsintensiven Fabel auf äußere Hergänge orientiert. In dem Maße jedoch, wie Fühmann nicht nur der Wirkungsweise, sondern auch der Herausbildung des falschen Bewußtseins auf die Spur zu kommen suchte, mußte sich das Geschehen gleichsam verinnerlichen; die Fabel wurde beschnitten und das Erzählen zu einem gedanklichen Erzählen; die Novelle wurde zur Gedankennovelle.

Diese Entwicklung Fühmanns, die im einzelnen zu beschreiben hier nicht die Zeit ist, zeigt ihre Ergebnisse nun in den jüngsten, bisher nicht veröffentlichten Erzählungen „Die Schöpfung“ und „König Ödipus“, der Titelerzählung des Bandes. – Schon in „Kameraden“ diente eine literarische Vorlage, Friedrich Nietzsches „Zarathustra“, als Zuordnungspunkt für eine verkehrte Weltsicht, aber sie war im Grunde doch nur eine zusätzliche Bestätigung, eine intellektuelle Arabeske, die notfalls auch hätte fehlen können.

Nun aber in der „Schöpfung“ und in „König Ödipus“ präsentiert sich die literarische Vorlage sogleich im Titel der Erzählung: der biblische und der altgriechische Mythos werden zum Korrelat der Ideologie. Dabei macht Fühmann keineswegs jene modische Beschwörung der Mythen mit, die so häufig als Bildungszierrat oder als Beweisstück für die ewige Wiederkehr des Gleichen dient, sondern er läßt seine vom Faschismus verführten Figuren die Mythen umdrehen und verschränkt ihren Inhalt dialektisch mit der Gegenwartshandlung.

In der „Schöpfung“ etwa verkehrt ein Soldat der Hitlerwehrmacht, der an der Vernichtung der griechischen Bevölkerung teilnimmt, den biblischen Schöpfungsmythos in sein Gegenteil. – Die faschistische Sintflut, die Ausrottungspolitik wird in seinem Bewußtsein zum Schöpfungsakt umstilisiert. So erscheint dem Soldaten das Grün und Braun der Zeltplanen, die auf der steinigen Erde ausgebreitet werden, als ein erster Pflanzenwuchs: die militärische Ausrüstung, die gestaltgewordene Widernatur, erhält in seinen Augen das Ansehen der Natur. Ja, das falsche Bewußtsein wird zum Substrat für eine völlig pervertierte Phantasie. Denn am sechsten Tag, dem Tag der Menschwerdung in der Genesis, will sich der Soldat zum Mord herbeilassen. Seine Einbildungskraft ist weit genug heruntergekommen, daß er in der Tötung einer alten Griechin eine Schöpfungstat des neuen Menschen zu sehen glaubt. Der Schluß dieser Erzählung ist, abrupt-novellistisch, auf das äußerste verkürzt und zugespitzt, von besonderer Feinheit und Tiefe. Plötzlich steht vor ihm ein Mensch. Die Schlußpassage lautet: „Der junge Soldat war zu verblüfft und, da er im vollen Licht des Mittags stand, auch zu geblendet, um mehr zu sehen, als daß da plötzlich ein Unbekannter vor ihm stand; es war die Schöpfung, und ihr sechster Tag war angebrochen, der Mensch war aus dem Nichts erschienen, und der junge Soldat, seine Waffe hochreißend, sah nur zwei brennende Augen und eine hochfahrende Hand, und in seinem Hirn war es wüst und leer und Finsternis, und er sah der Hand einen Blitz entfahren, ein ungeheures Licht zersprengte ihn und alle anderen, und dann war nichts mehr als die große heilige Ruhe des siebten Tages.“22

Damit tritt die typische Fühmannsche Schlußwendung ein. Das überraschende Ende, welches das falsche Bewußtsein herumreißt und die Möglichkeit zum rechten Weltverständnis herstellt; der Faschist und das falsche Bewußtsein, das Chaos zerfallen. Die Schöpfung, völlig untheologisch verstanden, als Tat der menschlichen Selbstbefreiung kann beginnen, das Zeitalter der Menschwerdung des Menschen bricht an.

Vergleichbares geschieht in der Erzählung „König Ödipus“. Auch hier wird der Mythos nicht einfach beschworen, sondern in seiner ideologischen Pervertierung durch den Faschismus vorgeführt, zugleich aber deutlicher noch als in der „Schöpfung“ auf seine geschichtlichen Wurzeln zurückgeführt, d. h. er wird diskutiert, rationalisiert und historisiert. So gibt es auch hier keine simplen Parallelen von Ödipus und den handelnden Figuren, oder doch nur insoweit, als der Marxist Fühmann die Tragödie des alten [Dichters] als Drama des Übergangs vom Mutter- zum Vaterrecht versteht und in der Gegenwartshandlung, freilich für mein Gefühl etwas zu pauschal und abstrakt, feststellt, daß die Gegenwart die Epoche des Übergangs zum realen Menschenrecht ist.

Gedankennovellen, wie ich sie bezeichnet habe, sind diese Prosawerke auch deshalb, weil sie nicht in einem herkömmlichen und direkten Sinne einen historischen Vorgang abspiegeln, sondern, sehr weit umgesetzt, künstlerische Modelle von Verhaltensweisen entwerfen, Bewußtseinsstrukturen in künstlerische Strukturen umwandeln. D. h.: die Erfahrung geht stets durch die Reflexion, durch eine intensive, angespannte Reflexion, macht einen Verkürzungs- und Verknappungsvorgang durch, wird all ihrer Zufälligkeiten entledigt, bevor sie sich zum künstlerischen Bild zurückverwandelt.

Solche Prosa des Kalküls und der Gedanklichkeit scheint mir dem wissenschaftlichen Zeitalter angemessen. Und wenn hier die Vokabel Modell fiel, ein Zauberwort der Kybernetik, so geschah das mit vollem Recht. Denn indem Fühmann die Wirklichkeit auf die in seinem besonderen Zusammenhang wesentlichen Züge verkürzt, schafft er die Voraussetzung für die Übertragbarkeit der von ihm geschaffenen künstlerischen Struktur. Mit anderen Worten: seine Novellen geben über mehr Auskunft als über den Stoffbereich, den sie beschreiben. Ihr hoher Abstraktionsgrad, noch einmal: ihr Modellcharakter macht den Mechanismus jedes falschen Bewußtseins, vornehmlich freilich des faschistischen, durchschaubar.

Obgleich ich, wie sicher bemerkt worden ist, ein Freund und Verteidiger dieser Schreibweise bin, kann ich ihre Gefahren und Gefährdungen nicht übersehen. Sie liegen m. E. nicht, wie manche Theoretiker annehmen, in der Zone des Politisch-Ideologischen, nicht in der Möglichkeit falscher Analogien, sondern in einem literarischen Asketismus, in einer Verarmung der Figuren durch radikale Typisierung, in einem Verlust an Fülle und Totalität im Sinne einer menschlichen Ganzheit. Die Abstraktion, die notwendig zu dieser Schreibweise gehört, läßt allzu leicht das koloritfördernde Detail außer acht und vernachlässigt die kreatürlich-vitale Seite bei der Figurenschöpfung. Die agierenden Figuren werden dann leichterdings zu Spielfigurinen, deren Züge nach den Regeln einer ideologischen Algebra vorausberechenbar sind.

Auch Fühmann sind solche Versuchungen nicht fremd. Eben weil er in hohem Maße ein intellektuell-politischer Schriftsteller ist, erscheinen seine Figuren – und das gilt vor allem für die frühen Arbeiten – zuweilen zu sehr als Verkörperungen von Prinzipien, vermißt man bei ihnen die Dialektik von Privatem und Politischem, nicht zuletzt das Hazardspiel des Eros, ohne das auch sozialistische Literatur nicht auskommen wird. Denn so sehr kalkulierte, nicht-naive Werke nötig sind, sowenig dürfen die Figuren auf Formeln einer scheinbaren politischen Mathematik reduzierbar sein.

Meine Kritik richtet sich hier in erster Linie gegen das Erzählstück „Spuk“, das, offenbar eine Gelegenheitsarbeit, in diesem anspruchsvollen Novellenband nicht das geringste zu suchen hat und das eigentlich nur beweist, daß der Autor die Hand von schwankhaften Novellen lassen sollte. Hier figurieren der Volkspolizist und der Dorfpastor recht durchsichtig als Verkörperung von Güte qua Atheismus einerseits und Bosheit qua religiöser Gespensterei andererseits. Gewiß, auch diese Schwanknovelle ist ein Modell, aber es ist eines ohne Erkenntniswert, weil es landläufige Meinungen literarisch installiert und bilderbuchhafte Lösungen anbietet.

Wiewohl es noch vieles zu sagen gäbe, zu der Titelgeschichte etwa, der tiefsten Novelle des Bandes, oder zu der Barlach-Erzählung, sei hier zum Schluß nur mit wenigen Worten auf „Böhmen am Meer“ hingewiesen, in der das novellistische Element in einen Erinnerungsvorgang hineingezogen wird. Hier fand Fühmann die unerhörte Begebenheit in unseren Tagen, in dem Schicksal einer seelisch gestörten Frau, deren Krankheit indes nicht, wie vermutet, auf die Umsiedlung zurückgeht, sondern auf Schikanen eines sudetenfaschistischen Barons, der auch heute noch im Westen die Unbelehrbaren anführt.

Motive aus Shakespeares „Wintermärchen“ werden mit der Geschichte der Frau und den Untersuchungen des Ich-Erzählers zu einem polyphonen Gebilde aus Märchen, Historie und Gegenwart verwoben, zu einer Art Fuge über das aktuelle Thema Heimat und Nation. Auch „Böhmen am Meer“, obwohl sehr kompliziert in seinen kompositorischen Verknüpfungen, ist ein Modell. Auch hier vollzieht sich Exemplarisches über einen dialektischen Vorgang: die scheinbare Fremde wird zur Heimat, während die scheinbare Heimat stets nur Fremde blieb.

Exemplarisch – das Wort mag hier am Schluß stehen. Denn Fühmann ist in seinen besten Werken ein exemplarischer Novellist. Seine Novellen, obschon kompositorisch so verschieden wie es ihr Sujet gebietet, sind beispielhafte Novellen im doppelten Sinne, sie sind es ihrer Gestalt und ihrer Substanz nach.

Dr. Kurt Batt

Rostock, 2. März 1967

251 Rostock

Erich-Mühsam-Str. 18

Herrn

Franz Fühmann

Strausberger Platz 7

1018 Berlin

Lieber Herr Fühmann,

allerbesten Dank für den schönen Band, den mir Konrad in Ihrem Auftrag übergab.

Wie ich hörte, waren Sie mir wegen der kritischen Einwände nicht gram. Aber ich muß bekennen, daß mir die Rezension23 nicht recht gelungen war, aber es soll daraus auch noch mal etwas Größeres für „Sinn und Form“24 werden.

Übrigens wollte ich auch noch gegen den Titel „Barlach in Güstrow“25 polemisieren. Das klingt wie Goethe in Weimar. Eine Tautologie also. Darüber wie auch über anderes, hoffe ich, werden wir uns bald einmal unterhalten können.

Herzlichst

Ihr

[1968]

Herrn

Franz Fühmann

Strausberger Platz 1

1018 Berlin

4.4.1968

Lieber Herr Fühmann,

mit einem schlechten Gewissen (wegen der Verzögerung) möchte ich mich sehr, sehr herzlich für Ihren schönen Radnoti26 bedanken, den mir Konrad mitbrachte.

Sie haben uns durch Ihr Können und Ihre Mühe, wie auch ich glaube, einen großen Dichter geschenkt. Groß wohl vor allem, weil hier ein Ton ist, den jedenfalls ich aus der deutschen Dichtung nicht kenne.

Im übrigen widerlegen die Seiten 93–104 (speziell die Seite 98)27 wiederum einen gewissen Franz Fühmann, der das Essayistische von sich weisen möchte.

Wie ich höre, kommen Sie Ende des Monats nach Rostock. Dann wird hoffentlich Gelegenheit zu einem längeren Gespräch sein.

Herzliche Grüße Ihres Kurt Batt

An den

VEB-Hinstorff-Verlag

Herrn Dr. Kurt Batt

25 Rostock

12.5.68

Lieber Herr Dr. Batt,

ich übersende Ihnen die zweite der Erzählungen,28 die nun ins Freie drängen. Sie ist stilistisch noch nicht vollkommen fertig, ich werde mit spitzem Bleistift noch einmal drübergehen müssen, aber ich glaube, Sie können jetzt schon sehen, was sie soll.

Die Komposition des Buches, dem man den Obertitel: „Von der Manipulierbarkeit des Menschen zur Unmenschlichkeit gegen sich selbst und seinesgleichen“ geben könnte, soll abwechselnd eine streng erzählte Parabel und eine locker erzählte Kindheitserinnerung eines Ich-Erzählers enthalten; in der Mitte soll eine „Wir-Erzählung“ aus dem Krieg stehen, für die ich eine Sprache noch suche, die ich mir aber ganz hart, kantig, blockhaft bis kakophonisch vorstelle.

Bis jetzt sieht der Band in meiner Vorstellung so aus:

Der Erzvater und der Satan29

Der Jongleur im Kino

Die Erweckung des Lazarus (?)30

Der Sohn des Generals31

Der unterirdische Gang (?)32

Die Höllenfahrt des Wucheres Godeschalk