Das kleine Haus am Küstenweg - Luise Holthausen - E-Book

Das kleine Haus am Küstenweg E-Book

Luise Holthausen

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Beschreibung

Berührender Roman über Träume, Familie und Neuanfang an der Ostsee für alle Leser:innen von Jenny Colgan und Meike Werkmeister  »Aber das Boot, das wusste sie, war trotz allem noch immer ihr Sehnsuchtsort. Und Moritz noch immer die Liebe ihres Lebens.«  Was passiert nach dem Happy End? Diese Geschichte beginnt dort, wo andere aufhören: Hannas großer Traum vom gemeinsamen Leben mit Moritz wird wahr. Doch die Realität holt sie schnell wieder ein. Moritz ist als alleinerziehender Vater gefordert und Hanna hat das Zerbrechen ihrer Kindheitsfamilie nur verdrängt, nie verwunden. Als ihre Liebesbeziehung zu scheitern droht, begreift Hanna, dass Träume allein fürs Leben nicht reichen, und beginnt aktiv um ihr Glück zu kämpfen. 

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR.

Redaktion: Friedel Wahren

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

Erster Teil

Zuvor

1

2

3

4

5

6

7

8

Zweiter Teil

Glück

9

10

11

12

13

14

15

Dritter Teil

Danach

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

Jetzt

Als sie erwachte, lag er noch neben ihr, den Kopf in der Armbeuge, die Augen geschlossen, der Atem tief und regelmäßig. Er schlief. In ihrem Traum war er fort gewesen. Allein irrte sie durch die Wohnung, verlassen, verzweifelt, und dann klingelte es, und er stand vor der Tür. Ich will bei dir bleiben, sagte er. Für immer, wenn du willst.

Damit endete ihr Traum.

Über seine nackte Schulter hinweg spähte sie auf die Leuchtanzeige des Weckers. 3.15 Uhr. In Kürze würde es dämmern. Sie sollte ihn wecken. Er musste gehen. Dass er so lange blieb, war nicht geplant gewesen. Alles war nicht geplant gewesen.

Aber sie brachte es nicht über sich, ihn wegzuschicken. Nur noch fünf Minuten, dachte sie. Fünf Minuten, in denen sie seine Haut an ihrem Körper spürte. Fünf Minuten, in denen sie seine Nähe roch, diesen ganz besonderen Duft nach Holz, nach Meer und Wind. Fünf Minuten, während er neben ihr lag, als gehöre er nur zu ihr.

So hatte sie auch am Abend zuvor gedacht. Nur noch dieses eine Essen. Nur noch dieser eine Kuss. Nur noch diese eine Stunde.

Und dann war es irgendwie diese Nacht geworden. Weil es eben nie genug war.

Der erste Vogel begann zu singen. Das Dunkel im Zimmer veränderte sich fast unmerklich, verblasste zu einem allerersten Grau. Sie hatten sich ausgerechnet die kürzeste Nacht des Jahres ausgesucht.

Er schlug die Augen auf.

»Ich muss los!« Von einer Sekunde zur anderen hellwach, sprang er aus dem Bett und ging ins Bad. Ihr wurde kalt, und das trotz sommerlicher Temperaturen und der Decke, die sie sich bis zum Hals heraufzog. Sie hörte, wie er die Dusche anstellte. Er wusch die Nacht von sich ab, ihren Geruch, ihre Liebe.

Als wären ihre Glieder über Nacht erstarrt, quälte sie sich aus dem Bett, sammelte Hemdchen und Höschen vom Fußboden auf, schlüpfte hinein, tappte in die Küche. Ihr Kreislauf machte schlapp, sie musste sich an der Wand abstützen. In der Spüle türmten sich Töpfe, die Pfanne zuoberst in gefährlicher Schieflage. Topflappen, Geschirrtuch und Spülbürste bildeten ein chaotisches Stillleben auf der Arbeitsplatte. Auf dem Tisch ihrer Wohnküche standen noch die heruntergebrannten Teelichter, die leer gegessenen Teller, die Weingläser, gefüllt für einen letzten Tropfen, zu dem es dann nicht mehr gekommen war.

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. Als sie seine Schritte hörte, verschob sie den Tisch bei dem hastigen Versuch, sich wieder hochzustemmen.

»Ich kann dir einen Kaffee machen«, sagte sie. Ihre Stimme bebte.

»Danke, nicht nötig.«

Sie spürte einen Luftzug vom offenen Fenster her und merkte plötzlich, dass sie kaum etwas am Leib trug. Unsicherheit überkam sie, zumal er inzwischen wieder komplett bekleidet war. Ein dunkles T-Shirt, Cargohose, Bootsschuhe, sein üblicher lässiger Stil, der sie immer dazu verführte, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Am Abend zuvor hatte sie diesem Impuls nachgegeben. Jetzt wäre sie am liebsten ins Bad gerannt und hätte sich in ihren Morgenmantel gehüllt.

Sie sahen sich an, während draußen das Vogelkonzert anschwoll und das Grau heller wurde. Er sagte weder Tschüs noch Mach’s gut oder Leb wohl. Sie sagte nicht: Bleib! Schweigend wandte er sich um und ging zur Tür. Sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg ebenfalls. Was passieren würde, wenn sie noch ein Wort miteinander wechselten, war klar. Und das durfte nicht sein.

Die Tür schlug hinter ihm zu. Sie rannte ans Fenster und spähte nach draußen. Einen Moment lang fragte sie sich, ob dort wieder dieser Unbekannte stand. Doch die Straße war leer. Außer den Vögeln regte sich noch kein Leben draußen.

Dann beobachtete sie ihn, wie er aus dem Haus kam, mit weit ausgreifenden Schritten, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt, entschlossen. Sein ungebändigtes Haar tanzte im Nacken.

Dann war er verschwunden, und sie irrte durch die Wohnung, verlassen, verzweifelt. Blut sammelte sich auf ihrer Unterlippe.

Erster Teil

Zuvor

1

Die erste Rakete stieg genau um neunzehn Minuten vor zwanzig Uhr. Funken sprühend zischte sie in den Nachthimmel und verteilte sich zu bunten Leuchtkugeln.

Es war wie zu Silvester, aber man schrieb den einundzwanzigsten März, und es war noch lange nicht Mitternacht.

»Ihr seid ja verrückt!«, rief Nika mit diesem ganz speziellen leisen Quietschen in der Stimme.

Hanna lehnte am Stamm des noch kahlen Kirschbaums, eingemummelt in ihre Winterjacke, die Arme um den Körper geschlungen, und beobachtete ihre Schwester, wie sie da im Garten ihres zauberhaften Reetdachhauses stand, die Hände staunend vor den Mund geschlagen, während sie mit leuchtenden Augen ihre Gäste anstrahlte.

Die Stimmlage verwandelte die erfolgreiche Geschäftsfrau in ein bezauberndes Mädchen. Ihre Hände verrieten die Überraschung, die Blicke ihr Glück. Nika konnte das in Perfektion. Alles wirkte vollkommen natürlich.

Ihr Freund Thorsten, der Nika an Schönheit und Eloquenz in nichts nachstand, stimmte Happy Birthday to you an, und die anderen Geburtstagsgäste fielen mit ein. Gleichzeitig entsandte jemand die zweite Rakete in den Himmel.

»Mögen alle deine Träume im neuen Lebensjahr in Erfüllung gehen, mein Schatz.« Thorsten nahm Nika in die Arme und küsste sie zärtlich.

Hanna dachte an ihre eigenen Träume, die meistens mit einer Bruchlandung geendet hatten. Das war jetzt vorbei. Gerade nahm sie einen neuen Anlauf, mit neuen Träumen, und diesmal würde sie erfolgreich sein. Nicht ganz so erfolgreich wie ihre Schwester, natürlich nicht, das maßte sie sich auch nicht an. Aber sie wollte endlich auf eigenen Füßen stehen. Das war mehr, als sie in den letzten Jahren geschafft hatte.

»Ist das nicht unglaublich?« Ihre Eltern näherten sich, Mutter Barbara mit dem für sie typischen rheumatisch steifbeinigen Gang und ihr Stiefvater Theo, der sie fürsorglich am Ellbogen festhielt. »Das Feuerwerk hat genau zu Nikas Geburtszeit begonnen«, stellte Barbara fest.

»Ja, Mama, das ist mir auch aufgefallen.« Hanna drehte sich wieder zu Nika um. Eine ganze Traube von Gratulanten hatte sich mittlerweile um sie gebildet.

»Ihre Freunde müssen das gewusst haben«, fuhr ihre Mutter bewundernd fort.

»Sie haben mich gefragt.« Theo zwinkerte Hanna zu. Sie lächelte zurück.

»Dass sie auf diese Idee gekommen sind! Nika hat so gute Freunde. Sie hat einfach ein Händchen für alles, Mann, Geschäft, und neben allem immer noch Zeit für uns …«

Barbaras Wortschwall rauschte nieder wie ein Wolkenbruch, und Hanna hörte daraus nicht nur das hymnische Lob auf Nika, sondern wurde sich dabei gleichzeitig ihrer eigenen Fehlerpalette bewusst. Wann würde sie endlich einer geregelten Arbeit nachgehen? Wann einen Mann finden? Wann überhaupt einfach nur mal echte Freunde?

»Ich bin gespannt, was das neue Lebensjahr bringt.« Um den Lärm des Feuerwerks, das Stimmengewirr und die Ah- und Oh-Rufe zu übertönen, redete Barbara ziemlich laut. »Wer weiß, vielleicht sogar ein Enkelchen für mich? An der Zeit wäre es ja.«

»Mama!«, stieß Hanna gequält hervor. Sie kannte die Enkelerwartungen ihrer Mutter sehr gut. Noch dazu war sie die ältere der beiden Schwestern.

»Schon gut, Bärbel.« Theo war der Einzige, der Barbaras Namen so abkürzen durfte. »Aber wir sollten auch Hanna nicht vergessen.«

Barbara unterbrach sich und ließ den Blick überrascht vom Ehemann zur Tochter schweifen.

»Ihren Neuanfang«, erinnerte Theo sie.

Hanna wurde warm ums Herz. Es war so typisch für ihn, er machte keinen Unterschied zwischen seiner Tochter und seiner Stieftochter. Nika und sie waren beide seine Mädchen, die er liebte und mit allem unterstützte, was ihm möglich war. Mit Liebe, Geld, Beistand, manchmal auch mit Strenge. Sie konnten immer auf ihn zählen.

»Aber natürlich denke ich an Hannas Neuanfang«, beteuerte Barbara, jetzt mit Wärme in der Stimme. »Bestimmt wird alles klappen. Wann fängst du bei der neuen Arbeitsstelle an?«

»Übermorgen.« Schon bei diesem einen Wort bekam Hanna Herzklopfen.

»Viel Glück, meine Große!« Barbara tätschelte ihr den Arm, dann wurde sie plötzlich so beweglich, wie ihr Rheuma es zuließ, und schlüpfte in eine Lücke, die sich in der Gratulantenschar um Nika geöffnet hatte. »Monika, Kind, herzlichen Glückwunsch!« Sie nahm Nika in die Arme und drückte sie an sich.

»Danke. Es ist so schön, dass ihr dabei seid. Mama, du zerquetschst mich!«

»Ja, ja, schon gut, ich beherrsche mich. Aber wenn das eigene Kind so groß wird … du weißt schon … Dreißig!« Barbara wischte sich die Augen.

»Sie ist und bleibt eine Glucke.« Auch Theo umarmte Nika. »Alles Gute, mein Mädchen.«

»Danke, Papa.« Innig erwiderte Nika die Umarmung.

»Guck sie dir an, die beiden!«, seufzte Barbara und wischte sich noch einmal die Augen. »Sie war schon immer ein Papakind.«

Ich auch, dachte Hanna. Ich auch! Sie hatte Nika sonst nie etwas geneidet, weder die gut aussehenden Männer noch den Erfolg mit ihrem Geschenkeladen. Um die Tatsache, dass Theo ihr leiblicher Vater war, beneidete sie ihre Schwester allerdings glühend.

Laute Musikrhythmen drangen aus dem Haus. Thorsten war hineingegangen und hatte die Musikanlage aufgedreht. Jetzt erschien er wieder auf der Terrasse. »Der Tanz ist eröffnet!«, rief er.

Theo verbeugte sich vor Nika, sie knickste lachend, und gemeinsam tanzten sie vom Garten ins Wohnzimmer hinein. Der gesamte Pulk, der zum Feuerwerk nach draußen geströmt war, folgte ihnen und drängte sich wieder nach drinnen.

Hanna stand an derselben Stelle wie zuvor. Sie hatte ihrer Schwester immer noch nicht gratuliert. Aus dem Wohnzimmer rief jemand »Es ist kalt!« Die Terrassentür wurde zugezogen, aber sie rührte sich noch immer nicht.

Auf den Wangen spürte sie die sanfte Brise, die vom Meer herüberwehte. Sie liebte die Seeluft, die stets eine besondere Verheißung zu enthalten schien, aber es war wirklich kalt. Fröstelnd schlang sie die Arme fester um den Körper. Warum klopfte sie nicht an die Glasscheibe der Terrassentür? Warum ging sie nicht ums Haus und klingelte an der Haustür?

Doch sie tat nichts dergleichen. Stattdessen betrat sie den saftig grünen Grasteppich, der an die Terrasse anschloss, und spazierte langsam durch den Garten. Auch die Zweige der Sträucher waren noch kahl, aber im Dunkeln leuchtete ein Feld gelber Osterglocken. Die große Gartenbank in der hintersten, lauschigsten Ecke war schon mit einem Kissen versehen. Hanna atmete tief durch und ließ sich mit geschlossenen Augen darauf nieder.

Aber es war kein Kissen, es bewegte sich. »Ah!«

»Uh!«, stieß Hanna erschrocken hervor und schoss in die Höhe.

So lernte sie Moritz kennen.

2

Die Nacht war kurz gewesen, kürzer, als Hanna es vertrug, denn ihr Hals kratzte, und die Nase lief. Nachwirkungen des gestrigen Gesprächs auf der Gartenbank, das länger gedauert hatte als bei den derzeitigen Temperaturen ratsam. Trotzdem machte sie sich frühzeitig wieder auf den Weg zu Nika. Die Straße am Küstenweg entlang war die schönste im Ort, ein reetgedecktes Haus reihte sich an das nächste, alle ähnlich und doch jedes anders in seiner Besonderheit. Nikas Haus wirkte wie einem Werbefilm für die schönste Urlaubsregion entsprungen, alles war frisch, aufgeräumt, glänzend. Fein bestickte Vorhänge zierten die Fenster, im Vorgarten leuchteten farblich aufeinander abgestimmte Zwiebelblumen. An der Haustür hing ein Blumenkranz, und die Hausnummer war eine geschmackvolle blau-weiß gemusterte Kachel. Beim Haus nebenan dagegen lehnten Fahrräder unterschiedlicher Größe am Zaun, im Vorgarten lag eine umgekippte Schubkarre. Die Hausnummer, ebenfalls auf einer Kachel notiert, ließ sich wegen eines Sprungs nicht mehr entziffern. Selbst die Blumen im Vorgarten sahen irgendwie gerupft aus. Alles machte einen leicht chaotischen Eindruck, und doch erschien es Hanna gerade deshalb liebenswert.

In einem solchen Haus wollte sie einmal wohnen. Irgendwann in ferner Zukunft, wenn sich ihre Träume erfüllten.

Sie sah auf die Uhr, es war Punkt neun. Ziemlich früh für den Morgen nach einer Party, aber ihre Schwester besaß eine eiserne Konstitution. Nach Hannas Berechnung war sie um diese Zeit mit dem Frühstück fertig und duldete keine Minute länger das Chaos in ihrem Haus.

»Guten Morgen«, sagte Hanna, als sich die Tür öffnete.

Nika stand vor ihr, auch äußerlich das exakte Gegenteil ihrer Schwester. Hanna war mittelgroß, mit braunen Augen und brünettem Haar, das sie mit einem Wirbel am Hinterkopf ärgerte und ihr bis knapp über die Schulter hing. Nika dagegen war zierlich, blond und hatte graublaue Augen. Sie trug eine weite Baumwollhose und hatte ihr glattes langes Haar zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden. Die Feier hatte keinerlei Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. »Was willst du denn hier?«, fragte sie und biss in ein marmeladenbeschmiertes Croissant.

»Ich möchte dir beim Aufräumen helfen.« Ein Gedanke durchzuckte Hanna. »Oder hast du etwa schon gestern Nacht …?« Zuzutrauen war es ihr.

Zu Hannas Erleichterung zog Nika die Tür auf. »Nein, Thorsten hat mich erfolgreich daran gehindert und mir Hilfe versprochen, wenn ich bis heute Morgen warte.« Sie schnaubte. »Rat mal, wer jetzt noch im Bett liegt!«

Hanna hätte auch gern noch im Bett gelegen und ihre diffusen nächtlichen Träume entwirrt. »Dafür bin ich ja jetzt da.«

»Lieb von dir.« Nika führte sie in die Küche und wies mit dem Ende ihres Croissants zum Tisch, der sich unter seiner Geschirrlast geradezu bog. »Wir haben gestern« – sie lächelte – »oder besser gesagt heute kurz vor Morgengrauen alles hier zusammengestellt. Du kannst schon anfangen. Die Teller in die Spülmaschine, die Gläser mit der Hand sauber machen. Am besten räumst du aber vorher noch die Flaschen weg, Bier in die Kästen, Weinflaschen in den Korb. Nein!«, hielt sie Hanna auf. »Das ist alkoholfreies Bier, das kommt in den anderen Kasten.«

Hanna nieste und sortierte folgsam die Flaschen um. »Das war eine tolle Feier gestern«, begann sie.

»Ja, ziemlich toll. Allein das Feuerwerk!« Nika, die gerade Haushaltshandschuhe überstreifte, hielt kurz inne und lächelte verzückt.

»War das Thorstens Idee?«

»Glaubst du, Thorsten hat solche Ideen?« Wieder schnaubte Nika.

Irgendwie klang das nicht so, als wären bald Enkelchen für Barbara in Sicht.

»Also der Einfall deiner Freunde? Mama sagte gestern, du hättest richtig tolle Freunde.«

»Ja, da hat sie recht. Aber das weißt du doch. Du kennst meine Freunde.«

»Nicht alle.« Da war sie, die Gelegenheit, auf die sie gehofft hatte. Die Gelegenheit, wegen der sie sich aus dem Bett gequält und unter das Kommando ihrer Schwester begeben hatte. »Einer zum Beispiel, er heißt Moritz …«

»Du hast dich in den letzten Jahren ja total zurückgezogen. Ein Wunder, dass du gestern aufgetaucht bist.«

Und heute, dachte Hanna, die sich langsam fragte, ob das kein Fehler gewesen war. »Ich hatte eben viel zu tun.«

»Du hast irgendwie immer wahnsinnig viel zu tun.«

Hanna presste die Lippen aufeinander. »Ich habe eben studiert, das geht nicht so nebenbei.«

»Du hast davor schon mal studiert. Du bist doch schon seit Ewigkeiten an der Uni.«

So konnte man das auch nennen. »Da hatte ich Jobs, aber immer nur befristet. Deswegen das Zweitstudium, das weißt du doch. Und das wollte ich so schnell wie möglich durchziehen. Für anderes hatte ich keine Zeit.« Nun gut, vielleicht hatte sie auch keine Lust gehabt, sich in Nikas gediegenes Umfeld zu begeben, ihren tollen Freundeskreis kennenzulernen und sich mit Thorsten zu unterhalten, dessen Gesprächsthemen sich auf Sport und mögliche Geldquellen beschränkten. »Willst du mir das jetzt vorwerfen?«

»Nein, um Himmels willen!« Nika hob beide Hände. »Tut mir leid, Hanna, so war das nicht gemeint. Ist morgen nicht dein erster Arbeitstag?«

Hanna nickte. »Logopädie Seiler.«

»Das wird bestimmt großartig. Frau Seiler ist sehr sympathisch, sie kauft öfter bei mir ein.« Nika lächelte versöhnlich.

Hanna rang sich ebenfalls ein Lächeln ab und putzte sich erneut die Nase. Sie hasste jede Form von Streit. Sowieso hatte sie eigentlich über etwas ganz anderes sprechen wollen.

Nika ließ Wasser ins Spülbecken laufen und gab großzügig Spülmittel dazu. »Bringst du jetzt die Flaschen im Korb weg?«, fragte sie.

»Wenn ich am heiligen Sonntag die Flaschen in den Container werfe, lynchen mich deine Nachbarn.«

»Du sollst die Flaschen auch in den Schuppen neben die Mülltonnen stellen. Wir sammeln sie dort in einer Kiste und bringen sie jeden Montag zum Container.« Wie immer war bei Nika alles perfekt durchorganisiert.

Hanna schleppte den Korb mit den Flaschen nach draußen in den Vorgarten, wo sich der Schuppen unauffällig an die Hauswand schmiegte. Woher kennst du eigentlich Moritz?, übte sie in Gedanken. Hab ihn noch nie bei dir gesehen.

War das unverfänglich genug?

Ich hab mich gestern mit Moritz unterhalten. Netter Kerl.

Nein, das war nicht gut.

Kannst du mir die Telefonnummer von Moritz geben? Ich wollte ihn etwas fragen.

Bloß was?

Sie öffnete den Schuppen. »Guten Morgen«, hörte sie die Stimme, deren Klang ihren Körper am Abend zuvor in Vibration versetzt hatte.

Moritz stand am Nachbarzaun, in der Hand ein zusammengerolltes Segeltau. Zum ersten Mal sah sie ihn bei Tageslicht, zum ersten Mal sah sie überhaupt mehr von ihm als nur eine schemenhafte Gestalt, und der Anblick löste dasselbe in ihr aus wie seine Stimme. Er war groß, von schlaksiger Lässigkeit und hatte eine sehr körperliche Ausstrahlung, mit kräftigen Armen und Händen, denen sie ansah, dass er zupacken konnte. Er war unrasiert, die Haare fielen ihm bis auf die Schultern, und seine graublauen Augen blitzten verwegen. Eine Piratenklappe hätte ihm gut gestanden.

»Du wohnst auch hier?«, fragte er und wies auf Nikas Haus. »Dann sind wir ja direkte Nachbarn.«

Er war also der Bewohner des liebenswert chaotischen Hauses. »Meine Schwester wohnt hier mit ihrem Freund. Ich helfe nur beim Aufräumen.«

»Ich bin erst vor einigen Wochen eingezogen. War nett von deiner Schwester, mich zu ihrer Feier einzuladen. Auch wenn ich nicht alle kennenlernen konnte.«

»Ich auch nicht.« Sie lächelte unwillkürlich und musste gleich darauf niesen. »Entschuldigung, ich hab mich wohl erkältet.«

»Es war zu kalt.«

»Gestern.«

»Im Garten.«

»Ja.«

Ihre Sätze verhakten sich ebenso ineinander wie ihre Blicke. Am Abend zuvor war es zu lange zu kalt gewesen. Aber sie hatten so viel zu reden gehabt. Nichts Persönliches. Und doch Persönliches. Über den Nachthimmel. Über das geheime Wachstum im Garten, das man noch kaum sah, aber schon spürte. Über Bradebüll, den kleinen Nachbarort, in dem sie aufgewachsen war. Über das Meer, das sie so vermisst hatte, als ihr Lebensweg sie von dort wegführte. Über die Küstenbewohner, unter denen sie sich heimisch und gleichzeitig fremd fühlte, wie sie sich überhaupt überall irgendwie fremd fühlte. So hatte sie es ihm nicht wörtlich gesagt, aber sie spürte, dass er es verstanden hatte.

Ihretwegen hatte er nicht alle Anwesenden kennengelernt. Er hatte die ganze Zeit nur mit ihr gesprochen.

Und plötzlich fand sie die richtigen Worte. »Ich habe auch etwas zu feiern. Morgen ist mein erster Arbeitstag.«

Bevor sie weitersprechen konnte, hörte sie eine laute Kinderstimme. »Papa!« Ein Junge rannte aus dem Nachbarhaus herbei. Neben Moritz blieb er stehen und sah Hanna an. »Papa, wer ist das?«

»Das ist Hanna. Sie war auch auf der Feier gestern.« Liebevoll legte Moritz eine Hand auf den Kopf des Kleinen und lächelte Hanna an. »Yannick, mein Sohn. Er ist fünf.«

»Ich wollte auch feiern«, wandte sich der Kleine vorwurfsvoll an Hanna. Von den knapp schulterlangen Haaren über die graue Hose mit den vielen Taschen bis zu den flachen Bootsschuhen war er eine Miniaturausgabe seines Vaters. »Aber Pauline war krank, und Mama musste noch so viel arbeiten, und ich sollte ins Bett. Deshalb ist Papa ganz allein feiern gegangen.«

Trotz ihres auf einmal zentnerschweren Herzens musste Hanna sich ein Schmunzeln verkneifen. »Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal, und du kannst mitfeiern.«

Yannicks Aufmerksamkeit war schon abgelenkt, er hatte das Tau in der Hand seines Vaters entdeckt. »Papa, wann gehen wir?«

»Gleich. Wir müssen uns erst noch von Hanna verabschieden.«

Yannick hob die Hand zu einem lässigen Winken. »Tschüs, wir gehen jetzt zu den Booten. Papa repariert die nämlich alle.«

»Ich habe eine Werft«, übersetzte Moritz. »Kleiner Einmannbetrieb.«

»Na, dann viel Spaß. Macht’s gut, ihr beiden!« Hanna lächelte, bis Vater und Sohn gegangen waren und ihr die Mundwinkel wehtaten.

Es wäre ja zu schön gewesen.

3

Als der Wecker am nächsten Morgen klingelte, war Hanna bereits wach und lauschte dem diffusen Lautgemisch von Mensch und Natur vor dem Fenster. Jeder Tag klang anders. Samstage begannen später, Sonntage hörten sich stiller an, die Geräusche hingetupft, gedämpft wie durch Watte. Am Montagmorgen tönte es so, als solle alles wieder wettgemacht werden. Es ging besonders früh los, eifrig und laut.

Heute war Montag. Arbeitstag. Auch ihrer.

Sie sprang aus dem Bett und tanzte von ihrem Minischlafzimmer durchs Miniwohnzimmer ins winzige Bad und von dort in die Wohnküche. Es war kein Haus am Küstenweg, das nicht, die Wohnung maß kaum mehr als vierzig Quadratmeter, aber Hanna liebte sie trotzdem. Sie lag im Dachgeschoss eines dreistöckigen rot gemauerten Backsteingebäudes, und manchmal, wenn Hanna nachts am offenen Fenster lauschte, auf den Straßen tiefe Stille, meinte sie sogar die Wellen rauschen zu hören, so nahe war die Ostsee. Sie wohnte nun auf den Tag genau zwei Wochen hier, das Geld für Kaution und erste Miete hatte Theo ihr vorgestreckt, wie immer. Die Schulden würde sie von ihrem Gehalt abstottern, darauf hatte sie bestanden, denn Theo hätte ihr das Geld auch geschenkt. Aber sie wollte endlich unabhängig sein.

Den Weg zur Praxis legte sie zu Fuß zurück, und weil sie so früh dran war, schlug sie einen Bogen und folgte dem Strandweg an der Ostsee entlang. Das Wetter war unwirtlich grau, die Sicht schlecht, aber dort, wo die Sonne zwischen den Wolken eine Lücke fand und ihre Strahlen aufs Wasser sandte, funkelten blaue Farbtupfer. Hanna liebte dieses Farbenspiel, nie sah das Meer gleich aus.

Ein Stück entfernt lag der Hafen, wo so früh am Morgen schon ungewöhnlich reger Betrieb herrschte, denn in diesen Tagen wurden die Boote aus ihren Winterquartieren geholt. Hannas Schritte stockten, sie spähte hinüber zu den Männern am Kran, mit dem die größeren Boote zu Wasser gelassen und die Segelmasten gestellt wurden. Befand sich vielleicht Moritz, der Werftbesitzer, unter den Männern? Sie sah ihn vor sich, sein Lächeln, das verwegene Blitzen seiner Augen.

Das kann dir egal sein, ermahnte sich Hanna und beschleunigte wieder ihren Schritt. Moritz hatte eine Familie. Die Begegnung mit ihm auf Nikas Feier war schön gewesen, sie hatten sich gut verstanden, aber es gab einfach keine Aussicht auf mehr. Sie musste ihn aus ihren Gedanken verbannen.

Energisch lenkte sie ihre Schritte auf den Weg in den Ort. Zur Logopädiepraxis war es nicht weit, sie befand sich im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Betonbaus, einer Bausünde aus dem letzten Jahrtausend. Das Schlimmste war die Fassade in hässlichem Braunton. Hanna fand das Haus trotzdem wunderschön, denn es beherbergte ihren neuen Arbeitsplatz. Neben der Tür hing ein Schild: Logopädische Praxis Seiler. Termine nach Vereinbarung. Eigentlich bot das Schild auch genug Platz für ihren eigenen Namen, wie sie fand: Gemeinschaftspraxis Logopädie Seiler & Kutzner.

Mit einer Mischung aus Aufregung und Neugier klingelte sie, und als sie die Praxis betrat, kribbelte ihre Nase plötzlich wieder.

Hinter dem Empfangstresen stand eine Frau, einige Jahre älter als Hanna, ein paar Zentimeter kleiner und so drahtig, als würde sie jeden Morgen mit Gymnastik begrüßen. »Haben Sie einen Termin?«, fragte sie ohne Anrede.

Hanna bemühte sich, nicht zu schniefen. »Ich bin die Neue.«

»Und Ihr Name?« Die Frau blätterte im Terminkalender.

»Kutzner. Ich bin die neue Mitarbeiterin.«

»Ach, Sie sind das!« Von einem Moment zum anderen wich der stoische Gesichtsausdruck einem Strahlen, und die Frau eilte um den Tresen herum auf Hanna zu. »Herzlich willkommen, liebe Kollegin! Ich bin Gesine. Gesine Fischer.«

»Hanna Kutzner«, wiederholte Hanna, dankbar für die freundliche Aufnahme. »Ich freue mich, hier zu sein.«

»Und ich erst! Endlich eine Kollegin! Darauf warte ich schon lange.«

»Hoffentlich erfülle ich die Erwartungen. Ich bin Berufsanfängerin.« Hanna biss sich auf die Zunge. Sie machte sich klein, ihr alter Fehler.

»Besser als keine Kollegin sind Sie bestimmt.« Gesine lachte und zog Hanna mit sich den Flur entlang. »Kommen Sie! Ich zeige Ihnen alles. Die Chefin ist noch nicht da, sie macht Montagmorgen immer einen Hausbesuch.« Gesine senkte die Stimme und trat vertraulich dicht an Hanna heran. »Eine Schlaganfallpatientin, achtzig Jahre, Schluckbeschwerden. Wenn Sie mich fragen, ist das vergebliche Liebesmüh. Aber nun gut, solange die Krankenkasse zahlt, nehmen wir das natürlich mit.«

Unwillkürlich fuhr Hanna zurück.

Gesine lachte wieder. »Keine Sorge! Wir kümmern uns hier vorbildlich um unsere Patienten. Ob alt, ob jung, wir lieben sie alle.« Sie öffnete die Tür zum Wartezimmer, dessen Mobiliar in warmen ockerfarbenen Tönen gehalten war, und führte Hanna anschließend nacheinander in die beiden Behandlungszimmer, die völlig identisch mit einem Tisch, mit Stühlen, einem Spieleteppich, Regalen und Spielzeug ausgestattet waren.

»Allerdings«, nahm Gesine den Faden wieder auf, »liebe ich die kleinen Patienten nicht ganz so.« Sie wies auf die Spiele im Regal. »Mit ihnen muss man teilweise ja einen unglaublichen Zirkus veranstalten, um sie bei der Stange zu halten.«

Hanna wusste nicht, was sie von Gesines Bemerkungen halten sollte. »Während meiner Praktika habe ich sehr gern mit Kindern gearbeitet«, erklärte sie steif.

Es klingelte.

»Wenn man vom Teufel spricht … Meine Lieblingspatientin steht vor der Tür, das unglaublich verzogene Gör einer Helikoptermutter.« Gesine brach erneut in Gelächter aus. Hanna spürte, wie es in ihrem Schädel pochte. Die Erkältung wurde offenbar immer schlimmer.

Gesine öffnete die Praxistür. »Kommen Sie doch schon mal ins Behandlungszimmer«, sagte sie, ebenfalls ohne einen Morgengruß, zu der Frau, die mit einem Kind auf dem Arm eintrat. Das kleine Mädchen in glitzerndem rosafarbenem Kleid klammerte sich stumm an den Hals der Mutter.

»Verstehen Sie, was ich meine?«, murmelte Gesine halblaut, als die beiden im Behandlungszimmer verschwanden. »Nicht mal allein laufen kann das Kind.«

»Vielleicht ist es schüchtern.«

»Die Kleine ist vor allem bockig. Ich weiß das, denn ich schlage mich schon lange genug mit ihr herum. Möchten Sie einen Kaffee?« Sie wies in Richtung Küche, einen kleinen Raum mit schmaler Arbeitsplatte, Hängeschrank, Tisch und Eckbank.

»Ja, gern«, meinte Hanna.

Gesine machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, einem alten Modell mit Filtertüte. Sie goss den Kaffee in eine Tasse und reichte sie Hanna. »Milch? Zucker?«

»Nicht nötig, danke.«

»Dann bis später.« Gesine verschwand.

Hanna kauerte auf der Kante der Eckbank und nippte an dem bitteren Getränk. Eigentlich nahm sie immer Milch in ihren Kaffee, aber sie hatte keine Umstände machen wollen. Jetzt bereute sie es. Sie nestelte ein Papiertuch aus der Hosentasche und putzte sich so geräuschlos wie möglich die Nase. Für den Anfang ist es doch ganz gut gelaufen, sagte sie sich. Gesine redete ein bisschen merkwürdig, aber sie wirkte kollegial. Und wenn sie so sehr eine Verstärkung herbeigesehnt hatte, schien die Praxis ja gut zu laufen.

Die Tür öffnete sich, und kurz darauf betrat Ulrike Seiler die Kaffeeküche. Bei ihrem Anblick zuckte Hanna zusammen. Seit ihrem Bewerbungsgespräch hatte sie die neue Chefin als lebendige Frau Mitte fünfzig in Erinnerung. Jetzt wirkte sie viel älter, unter ihren Augen lagen tiefe Schatten der Erschöpfung.

»Frau Kutzner, entschuldigen Sie meine Verspätung«, sagte sie mit matter Stimme. »Schön, dass Sie hier sind!«

Hanna erhob sich von der Bank. »Ich freue mich auch.«

Frau Seiler nickte mit einem freundlichen Lächeln, das ihre Augen aber nicht erreichte. »Bleiben Sie nur sitzen, machen Sie sich’s bequem! Ich bin gleich wieder da, ich muss noch …« Mitten im Satz brach sie ab und starrte in die Luft, als hätte sie vergessen, was sie sagen wollte. Ihr Schweigen dauerte so lange, dass es Hanna unheimlich wurde. Sie wagte kaum zu atmen.

Frau Seilers Blick schweifte ziellos durch die Küche und kehrte dann zu Hanna zurück. Endlich sprach sie weiter. »Wenn Gesine um neun mit ihrer ersten Patientin fertig ist, setzen wir uns zusammen und besprechen alle Neuigkeiten.«

Nach diesen Worten verließ sie den Raum.

Hanna ließ sich wieder auf die Eckbank sinken und umklammerte ihre Kaffeetasse. Neuigkeiten? Panik keimte in ihr auf. Was meinte Frau Seiler mit Neuigkeiten? War sie, Hanna, die Neuigkeit? Aber Neuigkeiten, das war Plural. Es gab also noch mehr. Gute? Schlechte? Und warum benahm sich die Frau so seltsam?

Die Zeit bis zum Ende von Gesines Therapiestunde zog sich schier endlos hin. Hanna starrte auf die Uhr, die an der Küchenwand hing, und verglich den Zeigerstand alle paar Minuten mit ihrer Armbanduhr, deren Zeitangabe sie wiederum mit der ihres Handys verglich. Bis der große Zeiger endlich auf die volle Stunde vorgerückt war und sich die Tür zu Gesines Sprechzimmer öffnete, hatte Hanna gedanklich schon mehrmals ihre fristlose Kündigung durchgespielt.

Dann saßen sie endlich zu dritt in der Kaffeeküche. Gesine schenkte Hanna ungefragt von dem grässlichen Gebräu nach. »Worum geht’s eigentlich?«, fragte sie. »Mein nächster Patient kommt gleich.«

Frau Seiler räusperte sich zweimal und schwieg. Bei ihrem Vorstellungsgespräch hatte Hanna sie als zugewandte, sehr präsente Person kennengelernt, die auf den Punkt formulierte Fragen stellte und den Antworten aufmerksam zuhörte. Jetzt wirkte sie wie eine leere Hülle.

»Ulrike?«, fragte Gesine.

Wieder räusperte sich Frau Seiler. »Es tut mir leid«, murmelte sie.

»Was ist denn los?«, fragte Gesine mit besorgter Miene. »Ist irgendwas passiert?«

»Meine Schwester … sie ist Freitagabend gestorben. Sie … sie war jünger als ich, gerade mal fünfzig.« Ulrike Seiler rang sichtlich um Fassung.

Während Gesine aufsprang und ihre Chefin umarmte, suchte Hanna nach Worten. Sie kannte Frau Seiler nur flüchtig und war deren Schwester nie begegnet. »Das … das tut mir leid«, stammelte sie.

»Aber ihr habt euch doch neulich noch gesehen. Ging es ihr da nicht gut?«, stieß Gesine betroffen hervor.

Frau Seiler holte Atem, es klang wie ein Schluchzen. »Nein, wir haben uns nur immerzu verabreden wollen. Aber dann kam etwas dazwischen, und wir haben es verschoben und verschoben. Wir hatten ja noch so viel Zeit.« Sie lachte bitter. »Freitagabend rief mich mein Schwager an. Ihr Herz war stehen geblieben, einfach so … ohne Vorwarnung …«

»Das tut mir leid«, wiederholte Hanna.

»Ich danke Ihnen. Mir tut es leid, dass ich Sie nicht angemessen begrüßen konnte. Und dass ich …« Frau Seilers Stimme schwankte. »Es ist ungerecht, wie früh sie aus ihrem Leben gerissen wurde. Sie hatte noch so viel vor. Am Wochenende konnte ich an nichts anderes denken. Das Leben ist so kurz. Wir haben viel weniger Zeit, als wir immer glauben. Das habe ich jetzt begriffen. Wir sollten unsere Träume und Vorhaben nicht auf die lange Bank schieben, sonst wird nichts mehr daraus.«

Hanna verschränkte die Hände ineinander, öffnete sie wieder, faltete und öffnete sie. Ulrike Seilers Worte hatten sie bis ins Innerste getroffen. Sich hinter Träumen verstecken, das war ihr ureigenes Lebensthema. Seit Jahren schob sie alles auf. Irgendwie den Lebensunterhalt sichern, zu mehr reichte es nicht. Der Rest ihres Lebens fand fast nur in ihren Träumen statt.

Sie zwang ihre Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. »Deshalb habe ich beschlossen, die Praxis zu schließen und die geplante Weltreise gleich in Angriff zu nehmen«, hörte sie Frau Seiler sagen.

»Wie bitte?« Nur die paar Sekunden hatten schon wieder gereicht, dass sie etwas nicht mitbekommen hatte.

»Ulrike, das kannst du nicht machen!« Gesines Gesicht war schreckensbleich.

Frau Seiler wirkte ganz ruhig, so als könne sie nichts mehr erschüttern. »Ich muss es tun, und zwar jetzt, nicht erst dann, wenn schon alles zu spät ist. Ich weiß, dass ich mit diesem plötzlichen Entschluss viele Menschen vor den Kopf stoße. Dich, Gesine. Meine Patienten.« Sie wandte sich an Hanna. »Vor allem Sie, Frau Kutzner. Ich hatte Ihnen ja einen Arbeitsplatz versprochen.«