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Wie wir wurden, was wir sind
Die Evolution ist weniger ein »Kampf ums Dasein« als vielmehr ein kreativer Prozess – das verdeutlicht Bestsellerautor Joachim Bauer auf der Grundlage aktuellster Forschungsergebnisse. Nicht zufällige Mutation bestimmt die Evolution, sondern aktive Veränderungen der Gene, die den Prinzipien Kooperation, Kommunikation und Kreativität folgen.
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Seitenzahl: 269
Joachim Bauer
Evolution als kreativer Prozess
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Taschenbucherstausgabe 03/2010Copyright © 2008 by Hoff mann und Campe Verlag, HamburgDer Wilhelm Heyne Verlag, München,ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München
www.heyne.de
Umschlaggestaltung:Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich Umschlagillustration: Paul Taylor/gettyimages Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-26805-3V001
Vorwort zur Taschenbuchausgabe
1 Einführung
2 Eine Revolution biologischen Denkens: Genom und Zelle als kreatives System
3 Gene: Weder Ursprung des Lebens noch autonome Akteure
4 Voraussetzung biologischer Körper: Die »moderne« Zelle
5 »Kambrische Explosion«: Die Entwicklung von Bauplänen für Körper
6 Wie Arten entstehen: Die »Werkstatt« der Evolution
7 Der Weg der Säugetiere: Vom »Eomaia« zum Menschen
8 »Egoistische Gene« und der »Aggressionstrieb«: Anthropologische Konzepte als sich selbst erfüllende Prophezeiungen
9 Charles Darwin: Theoriebildung, psychologische Schriften und Lebensweg
10 Nach Darwin: Umrisse einer neuen Theorie
Anhang 1
Anhang 2
Zitierte Literatur
Wissenschaftliche Publikationen des Autors
Register
Die Evolutionsbiologie erlebt eine Umbruchphase des Denkens. Ähnliches war vor hundert Jahren in der Physik zu beobachten: Angestoßen durch Max Planck kam Anfang des 20. Jahrhunderts zur klassischen Mechanik das neue Gebiet der Quantenphysik hinzu. Unseren Vorstellungen über das Leben steht eine ähnliche Umbruchphase bevor.1 Ausgangspunkt ist die vollständige Entschlüsselung der Genome2 verschiedener Spezies – den Menschen eingeschlossen. Die vor wenigen Jahren gelungene Entzifferung unseres Erbgutes führt uns zu der Erkenntnis, dass Genome mehr sind als eine Ansammlung von einigen Tausend Genen. Genome sind Systeme, die nicht nur Gene, sondern auch Werkzeuge enthalten, mit denen sich die Architektur von Erbgut verändern lässt. Die Fähigkeit von Organismen, das eigene Genom umzustrukturieren und dabei vor allem Gene zu verdoppeln, ist Voraussetzung für die Entstehung neuer Arten. Diese Selbstveränderungen sind nicht dem reinen Zufall überlassen, wie die klassische Evolutionsbiologie mit Blick auf die Entstehung von Variationen glaubte, sondern folgen Regeln, die im biologischen System selbst begründet sind. Meine zentrale, durch wissenschaftliche Befunde gestützte These ist, dass schwere und anhaltende ökologische Stressoren Organismen bzw. ihre Zellen dazu veranlassen, die Architektur ihres Erbgutes zu verändern und Gene zu verdoppeln, und so die Entstehung neuer Arten begünstigen.
Die klassische Evolutionsbiologie tut sich mit den neuen Erkenntnissen noch schwer, wie nicht zuletzt manche Reaktionen auf dieses Buch gezeigt haben. Evolutionsbiologen der alten Schule sehen ihre Hauptaufgabe vor allem darin, die von Charles Darwin erkannte Tatsache der Evolution gegen Kreationisten und Anhänger des Intelligent Design-Konzeptes zu verteidigen.3 Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch hatte diese defensive Einengung zur Folge, dass auch gut begründete Kritik an Darwin vorschnell als unwissenschaftlich bezeichnet wurde. Vor allem Erkenntnisse der modernen Genetik wurden an manchen evolutionsbiologischen Lehrstühlen noch nicht wahrgenommen. Zwar halte auch ich es für außerordentlich wichtig, dass jedermann mit den Grundlagen der Evolution vertraut ist und die biblische Schöpfungsgeschichte nicht als naturwissenschaftlicher Bericht missverstanden wird. Was wir zum Erreichen dieses Ziels aber brauchen, sind nicht die von vielen Evolutionsbiologen geführten atheistischen Kampagnen, sondern bessere Bildungssysteme. In Ländern, in denen – wie in den USA – rund 15 Prozent der Menschen Analphabeten sind, finden irrationale Überzeugungen wie der Kreationismus einen idealen Nährboden. Das beste Rezept gegen Kreationismus und Intelligent Design ist bessere Bildung für alle Kinder.
Der ursprüngliche Untertitel dieses Buches lautete »Abschied vom Darwinismus«. Mit einem »…ismus« bezeichnet die deutsche Sprache keine wissenschaftliche Lehre, sondern eine ideologisch eingeengte Weltanschauung. Der Begriff des Darwinismus entstand in Deutschland im Zusammenhang mit Ernst Haeckel (1834–1919), der – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Darwin – rassistische Anschauungen vertrat und die Eugenik (d. h. die Unterscheidung zwischen Menschen mit »guten« und »schlechten« Genen) unterstützte.4 Haeckel, der sich selbst als »Generalfeldmarschall des Darwinismus« bezeichnete, war Ehrenmitglied der 1905 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene. Haeckels Darwinismus wurde nach seinem Tod zum geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus.5 Nach dem 2. Weltkrieg bezeichnete der Begriff des Darwinismus die eingeengten Sichtweisen der sogenannten Soziobiologie.6 Nachdem Darwinismus neuerdings nun aber – u. a. auch bei Wikipedia – zunehmend mit der Evolutionslehre als solcher gleichgesetzt wird (was m. E. falsch ist), habe ich mich für einen neuen Untertitel entschieden, um das Missverständnis zu vermeiden, mein Buch argumentiere gegen die Evolutionslehre als solche. Tatsächlich halte ich die von Charles Darwin erkannte Tatsache der Evolution für unumstößlich.
Freiburg, im Frühjahr 2010 Joachim Bauer
1 Von einer Neuorientierung ist derzeit nicht nur die Evolutionsbiologie betroffen, sondern die Biomedizin als Ganzes: Gene, so lautete das zentrale Dogma der Biologie, seien autonome, alles bestimmende Herrscher des Organismus (Crick, 1970; eine Antwort auf Crick aus heutiger Sicht formulierte Shapiro, 2009). Die Einsicht, dass Gene in ihrer Aktivität fortlaufend durch Umweltfaktoren und Lebensstile reguliert werden und dass dies den weitaus größten Einfluss darauf hat, ob wir gesund bleiben (Bauer, 2002; Spork, 2009), beginnt in unseren Breiten erst langsam Fuß zu fassen.
2 Als Genom wird die Gesamtheit der Erbanlagen bezeichnet, die als DNS (Desoxyribonukleinsäure) in jeder Körperzelle eines Organismus aufbewahrt wird. Zum Genom zählen nicht nur alle Gene, sondern auch sämtliche Bereiche der DNS, die nicht aus Genen bestehen.
3 Kreationisten (miss-)verstehen die Schöpfungsgeschichte der Bibel im Sinne einer naturwissenschaftlichen Aussage und glauben, die Erde und alle auf ihr lebenden Arten seien vor einigen Tausend Jahren im Verlauf eines sechs- oder siebentägigen Schöpfungsaktes erschaffen worden. Anhänger des Intelligent Design-Konzeptes akzeptieren die Tatsache der Evolution, glauben aber, sie werde in ihrem Verlauf durch einen (göttlichen) Designer gesteuert. Beide Konzepte entbehren jeder naturwissenschaftlichen Grundlage und können daher innerhalb der Naturwissenschaften keinen Platz beanspruchen.
4 Zur Geschichte des Darwinismus zwischen 1870 und 1933 siehe Bauer (2006).
5 Ungeachtet dessen verboten die Nazis den »Monistenbund«, eine Haeckel ergebene quasireligiöse Vereinigung.
6 Ein typisches, für mich zum modernen »Darwinismus« zählendes Konzept ist »Das egoistische Gen« (Dawkins 1976, 2004).
Wir dürfen beginnen, über die Evolution im Sinne der Entwicklung von Systemen zu denken, anstatt sie als eine Wanderung mit verbundenen Augen durch das Dickicht der reinigenden Selektion anzusehen.1
James A. Shapiro
Denkverbote, Dogmatismus und Mangel an Vorstellungskraft sind das Ende jeder Wissenschaft. Barbara McClintock gelangen vor über fünf Jahrzehnten einige Entdeckungen, deren Tragweite wir erst heute begreifen. Die amerikanische Genetikerin blieb über dreißig Jahre hinweg eine in der »Scientific Community« isolierte Kollegin. Sie konnte ihre Forschungsergebnisse lange in keinem der angesehenen internationalen Journale publizieren, auch in Lehrbüchern wurde sie zunächst totgeschwiegen. Nur Joshua Lederberg, einer der Pioniere der modernen Genforschung 2, war sich nicht ganz sicher: »By god, that woman is either crazy or a genius.« 3 Erst als viele Jahre später zahlreiche weitere Forscher wiederholt die gleichen Beobachtungen wie McClintock machten, wurde die Genialität ihrer Entdeckungen erkannt, und schließlich kam man nicht umhin, ihr sogar den Nobelpreis zu verleihen. Dies ist lange her – sie erhielt ihn 1983. Aber die Fragen, um die es damals ging, sind heute aktueller denn je. Die innerhalb der letzten Jahre durchgeführte vollständige Aufklärung zahlreicher Genome4 – nicht nur des Menschen, sondern auch vieler weiterer, vor allem sogenannter niederer Spezies – versetzt uns seit kurzem in die Lage zu erkennen, nach welchen Regeln sich Gene entlang der Evolution entwickelt haben.5 Und erst vor diesem Hintergrund zeigt sich nun, welch immense Tragweite die Beobachtungen McClintocks tatsächlich hatten.6
Ihre Entdeckung eines dynamischen, unter dem Einfluss äußerer Stressoren sich gelegentlich fast schlagartig selbst verändernden Genoms7 wurde durch die Genforschung der vergangenen zehn Jahre – und deren Ergebnisse werden den Kern dieses Buches bilden – eindrucksvoll bestätigt. Was diese außergewöhnliche Frau mit einem bahnbrechenden Experiment bereits 1944 in den legendären Labors von Cold Spring Harbor in der Nähe von New York entdeckte, widerspricht aber der vorherrschenden darwinistischen Denkschule, deren moderne Variante innerhalb der heutigen Biologie als »New Synthesis«-Theorie bezeichnet wird. 8 Dass McClintocks Arbeiten und das, was nach ihr folgte, bis heute nicht zu einer längst fälligen Neukonzeption unserer Vorstellungen über die Evolution geführt haben, hat damit zu tun, dass das Denken darüber, was Biologie ist, in erheblichem Maße auf Vorstellungen basiert, die zum Teil aus der mechanischen Physik und zum Teil aus der Ökonomie stammen. Das Statement des renommierten und einflussreichen Evolutionsbiologen Ernst Mayr – »Die Biologie ist keine zweite Physik«9 – vermochte nicht zu verhindern, dass tonangebende Theoretiker unserer Zeit Lebewesen immer noch als »Maschinen« betrachten.10 Doch würden Genome wie eine Maschine arbeiten, das heißt, ohne die Fähigkeit lebender Systeme, die eigene Konstruktion nach inneren Regeln immer wieder neu zu modifizieren und auf äußere Stressoren kreativ zu reagieren, wäre das »Projekt Leben« wohl schon vor langem gescheitert.
Wir spüren heute, mit welch weitreichenden Bedrohungen durch globale Veränderungen unserer Umwelt wir bald konfrontiert sein könnten. Für die Entwicklung, die das Biotop Erde derzeit zu verkraften hat, stehen die Megazentren unserer Zivilisation, deren nächtliches Leuchten bis in die Erdumlaufbahn zu sehen ist. Doch unser Globus war für das Leben, dessen Teil wir sind, zu keiner Zeit ein gemütlicher Platz. Wer auf die Abfolge schwerer und schwerster Katastrophen zurückblickt, denen die Biosphäre im Verlauf der Erdgeschichte ausgesetzt war, wird sich, nicht ohne ein gewisses Erstaunen, vor allem eines fragen: Wie konnte das Leben unter solchen Umständen überhaupt überleben?
Mit diesem Buch möchte ich Einblick in neuere, wissenschaftlich gesicherte, in der breiteren Öffentlichkeit bisher aber nur wenig – oder gar nicht – wahrgenommene Erkenntnisse geben. Ich werde zeigen, über welche inhärenten, also in ihnen selbst angelegte biologische Strategien Organismen und ihre Gene verfügen, um Herausforderungen zu meistern, und wie es möglich war, dass sich das Leben, herausgefordert durch eine respektable Serie äußerst bedrohlicher Situationen, die unser Globus im Verlauf der Evolutionsgeschichte durchlief, behaupten konnte.
Charles Darwin 11 erkannte, dass alle jemals vorhandenen Lebensformen dieser Erde untereinander durch einen gemeinsamen evolutionären Stammbaum verbunden sind, vor allem aber, dass nicht Schöpfung im naiven Sinne dieses Wortes, sondern eine biologische Entwicklung immer wieder neue Spezies (den Menschen eingeschlossen) aus bereits vorhandenen Arten des Lebens entstehen ließ und vermutlich weiterhin entstehen lassen wird.12 Zusätzlich zu dieser fundamentalen, durch unzählige Beobachtungen solide gesicherten Erkenntnis formulierte Darwin jedoch drei weitere Aussagen, die ebenfalls zentrale Dogmen des modernen Darwinismus (der schon erwähnten »Synthetischen Theorie«13) sind.
Das erste Dogma lautet: Veränderungen, die in bestehenden Arten entlang der Evolution auftreten und potenziell zur Entstehung neuer Spezies führen, unterliegen ausschließlich dem Zufallsprinzip, sowohl was ihre Qualität als auch – und dies bezieht sich bereits auf die zweite zentrale Aussage – was den Zeitpunkt ihres Auftretens betrifft. Das zweite Postulat des Darwinismus lautet, dass biologische Veränderungen, denen Spezies unterworfen sind, ausschließlich langsam-kontinuierlich bzw. linear auftreten. Das dritte darwinistische Dogma hebt die Bedeutung der Selektion hervor. Bekanntlich können nicht alle Varianten, welche die Evolution hervorbringt, dauerhaft bestehen. Der Prozess der Auslese oder Selektion wird vom Darwinismus – unter Auslassung des primären Prinzips biologischer Kooperativität 14 – dahingehend interpretiert, dass ausschließlich maximale Fortpflanzung darüber entscheide, wer den »Kampf ums Überleben« gewinne. Das Prinzip der Selektion begünstige daher nur solche (zufälligen) Veränderungen von Organismen, die der effektiveren Fortpflanzung dienen, diesbezüglich bestehe ein fortwährender »Selektionsdruck«.
Darwins ursprüngliche Theorie, die Selektion basiere auf einem – sowohl zwischen Individuen als auch zwischen Arten – untereinander geführten Vernichtungskampf, wurde, nachdem ihre wissenschaftliche Unhaltbarkeit nicht mehr zu bestreiten war, vom modernen Darwinismus still und leise zu Grabe getragen.15 Für die katastrophalen historischen Konsequenzen, die Darwins Aussage, auch der Mensch müsse einem fortwährenden Kampf ausgesetzt bleiben 16, nach sich zog 17, hat der Darwinismus, der sich neuerdings gern auch als moralische Instanz aufspielt 18, niemals Verantwortung übernommen.
Die Strategien, mit denen lebende Systeme sich in der Evolution entwickeln und verändern, folgen in wesentlichen Teilen nicht dem Zufallsprinzip, sind also nicht »random«, wie sich anhand einer inzwischen unabweisbaren wissenschaftlichen Datenlage zeigen lässt. Zudem war die Entwicklung der Arten im Pflanzen- und Tierreich kein kontinuierlicher, linearer Prozess, sondern erfolgte überwiegend in Schüben, die – nach allem, was wir heute wissen – im Zusammenhang mit massiven Veränderungen der jeweiligen geophysikalischen bzw. klimatischen Umwelt standen. Weiterhin zeigen zahlreiche Beobachtungen, dass Arten zwar – dies war und ist allerdings eher eine Binsenweisheit als eine besondere Erkenntnis – einer natürlichen Auslese unterworfen sind, dass sich Gene aber keineswegs nur in Richtung maximaler Reproduktionsfähigkeit entwickeln, sondern auch »neutrale« (das heißt keinen Selektionsvorteil gewährende) neue Varianten hervorbringen können. Bei weitem nicht alles, was im Verlauf der Evolution entstand, ist dem Druck der Selektion geschuldet.
Das »Verhalten« lebender Systeme, in kreativer Weise neue genetische Varianten zu erproben und dabei immer komplexer zu werden, liegt in ihnen selbst begründet. Vor dem Hintergrund der neueren Erkenntnisse erweist sich das Genom als ein mit einem biologischen Sensorium ausgestattetes Organ mit einer beachtlichen Fähigkeit, sich anzupassen und sich, angestoßen durch Veränderungen der jeweiligen Umwelt, selbst zu verändern.19Gene bzw. Genome folgen drei biologischen Grundprinzipien (die sich, nebenbei bemerkt, außerhalb der Biosphäre nicht finden lassen): Kooperativität, Kommunikation und Kreativität.
Veränderungen unserer Umwelt sind für das Leben nicht die einzige Gefahr. Noch bevor wir zu einem mehr oder weniger nahen Zeitpunkt vom globalen Wandel unserer heutigen Umwelt endgültig eingeholt werden, könnten wir es geschafft haben, uns selbst ein Ende zu bereiten (ich bin diesbezüglich ausgesprochen pessimistisch). Was uns hier gegenübertritt, ist ein durchaus »natürliches«, zur Biosphäre zählendes Phänomen, es ist das Potenzial menschlicher Destruktivität. Die Dynamik destruktiver menschlicher Aggression hat die Naturforscher seit jeher beschäftigt. Die Chancen, dass wir uns selbst vernichten, stehen relativ gut. Ob die Spezies Mensch ein Teil der Zukunft dieser Erde sein wird, ist völlig unsicher.
Aber noch leben wir. Obwohl es bei einigen Evolutionsbiologen neuerdings wieder en vogue geworden ist, dem Menschen keinen besonderen Status innerhalb der Artengemeinschaft zuzusprechen, so sind wir doch vermutlich die einzige Spezies, die sich selbst, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft reflektieren kann. Aus solcher Reflexion entstandene Konzepte, die wir uns über Naturphänomene – Aggression eingeschlossen – machen, haben die Macht einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, sie wirken zumindest nachhaltig auf das reale Leben selbst zurück und können dieses verändern. Kaum irgendwo hat sich dies deutlicher gezeigt als bei der Rezeption Darwins, und dies wiederum ganz besonders in unserem Land.20 Daher werde ich das achte Kapitel dieses Buches einigen Aspekten der menschlichen Aggression widmen.
Charles Darwin war, ebenso wie Karl Marx und Sigmund Freud (die ihn beide intensiv und zustimmend rezipiert haben), einer der großen Aufklärer unseres wissenschaftlichen Zeitalters. Es fällt auf, dass sowohl Darwin als auch Marx und Freud eine besondere Art von Anhängerschaft hatten. Nicht ohne Ironie ist, dass sich Teile dieser Anhängerschaft – nicht alle! – durch ein Verhalten auszeichneten, das zumindest Darwin und Freud abgelehnt hätten, weil sie es eigentlich überwinden wollten: eine unkritische, quasireligiöse, in Teilen sogar sektiererische Glaubenshaltung.
Da Fanatismus aber nicht nur bei den Anhängern, sondern auch bei den Gegnern der drei genannten Denker anzutreffen war bzw. ist, ergab sich eine Situation, die wir im öffentlichen Diskurs bis heute beobachten können und die sich, was Darwin und den Darwinismus betrifft, im Bereich der westlichen Welt aktuell wie folgt darstellt: Auf der einen Seite vertreten fundamentalreligiöse, überwiegend US-amerikanische Gruppen die rational völlig unhaltbaren Konzepte des »Kreationismus« oder des sogenannten Intelligent Design.21 Auf der anderen Seite finden sich – teilweise nicht minder fanatische – Darwin-Anhänger, die jede auch noch so differenzierte Kritik des Darwinismus ablehnen und auch solche Positionen Darwins unnachgiebig verteidigen, die inzwischen unhaltbar geworden sind.22 Mehr noch: Einer besonders starken Strömung des modernen Darwinismus, der sogenannten Soziobiologie, verdanken wir eine darwinistische Neuschöpfung: die Idee vom »egoistischen Gen«.23 Obwohl auch darwinistische Evolutionsbiologen diskret einräumen, dass die Theorie, Gene seien gegeneinander agierende Akteure, unsinnig ist 24, scheint heute in manchen Kreisen fast jeder Unsinn Narrenfreiheit zu genießen, solange sich sein Verfasser zu Darwin bekennt.
In zwei Aspekten sind sich Kreationisten und maßgebliche Meinungsführer der Soziobiologie bzw. des Darwinismus ebenbürtig. Beide Seiten schwingen sich zu Aussagen über Dinge auf, für die ihre Disziplin nicht zuständig ist. Der fundamentalreligiöse Kreationismus der USA, der uns hier in Europa bisher glücklicherweise weitgehend erspart blieb (und dessen irrationale Wucht, mit der er in den USA agiert, den meisten diesseits des Atlantiks fremd ist), meint, aus der Bibel Aussagen zur Erdgeschichte ableiten zu können. Umgekehrt beansprucht der zurzeit weltweit einflussreichste Darwinist – und zugleich führende Soziobiologe – in einer kürzlich auf den Markt gebrachten antireligiösen Polemik, eine wissenschaftlich begründete Aussage über die »Wahrscheinlichkeit« der Existenz eines Gottes machen zu können (wobei er paradoxerweise mit dem Kreationismus dessen naiv-konkretistische Vorstellung eines physikalisch mess- oder mathematisch berechenbaren Gottes teilt).25 Das zweite verbindende Element zwischen den Streitparteien ist, dass man als Außenstehender von beiden Seiten auch dann unversehens dem Lager der Gegner zugerechnet und ins Fadenkreuz genommen wird, wenn man bestimmte Einzelpositionen in differenzierter Weise kritisiert. So wurde ein durch hervorragende Leistungen ausgewiesener, untadeliger Direktor eines Max-Planck-Instituts in der internationalen Spitzenzeitschrift Nature denunziert und in die Nähe von Kreationismus und »Intelligent Design« gerückt 26, nur weil er sich – in einem anderen renommierten Fachjournal – am Rande eines Artikels mit Einzelaspekten des Darwin’schen Konzepts kritisch auseinandergesetzt hatte.27
Charles Darwin wären Polemiken, derer sich manche seiner Verehrer ebenso wie seine fundamentalreligiösen Gegner heute wieder befleißigen, wohl fremd gewesen. Um dies zu zeigen, werde ich das neunte Kapitel einigen überraschenden Ansichten und erstaunlichen, aber wenig bekannten Aspekten der Persönlichkeit dieses großen Aufklärers widmen. Ich vermute, Charles Darwin hätte die neueren genetischen Erkenntnisse, die ich darstellen werde und die einige Positionen des Darwinismus infrage stellen, mit Interesse aufgenommen. Ähnlich wie sich manch glühende Verehrer von Freud und Marx lange Zeit schwer damit taten, die spätere wissenschaftliche bzw. historische Widerlegung bestimmter Teilpositionen des Werks dieser beiden Denker zu akzeptieren, so wird es letzten Endes nicht zu verhindern sein, auch über Charles Darwin differenzierend nachzudenken und einige seiner Postulate zu korrigieren. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten.
Ich will versuchen, neue Forschungsergebnisse so zu beschreiben, dass sie auch für Nichtexperten verständlich sind. Wer sich durch die zahlreichen Fußnoten abgelenkt oder gestört fühlt, möge sie übergehen und sich auf die Lektüre des Textes selbst beschränken. Die Fußnoten enthalten ergänzende und erklärende Informationen. Sie sind notwendig, um – für den Diskurs, den das Buch anstoßen soll – deutlich zu machen, dass ich mich auf Fakten und nicht auf Spekulationen stütze. Das Buch beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, wiederzugeben, was wir mittels neuerer Forschungen über das Leben der Gene in Erfahrung gebracht haben, sondern führt das heute verfügbare Wissen in einer Weise zusammen, die ein vertieftes Gesamtverständnis dessen erzeugen soll, was Leben ist. Nichts sollte uns aufhalten, unsere bereits beachtlichen biologischen Kenntnisse auch künftig zu erweitern und zu vertiefen.
Ich persönlich hoffe, dass wir – gerade wegen der uns heute zugänglichen molekulargenetischen Aspekte – nicht das Gespür dafür verlieren, welch einzigartiges Geschenk das Leben ist, eine Gabe, der wir – wie es der Nobelpreisträger Albert Schweitzer einst formulierte – mit »Ehrfurcht« begegnen sollten. Ebenso sollten wir anerkennen, dass die Biologie ihr letztes Geheimnis wohl niemals lüften wird. Auch Darwin – ich werde dies am Ende des Buches zeigen – war sich dessen voll bewusst.
1 »We may now begin to think of evolution in terms of systems engineering rather than as a blind walk through the thickets of purifying selection« (Shapiro, 2006).
2 Joshua Lederberg (1925–2008) entdeckte 1952, dass Phagen (virenartige Partikel) Gene von einem Bakterium auf ein anderes übertragen können (»Transduktion«). 1958 erhielt er den Nobelpreis für Physiologie/Medizin.
3 »Bei Gott, diese Frau ist entweder verrückt oder genial.« Zitiert nach Fox-Keller (1983).
4 Jede kernhaltige Zelle eines Organismus besitzt das komplette Genom. Aktiviert sind aber in der jeweiligen Zelle nur bestimmte, für die Funktion dieser Zelle maßgebliche Teile des Genoms.
5 International Human Genome Sequencing Consortium (2001, 2004), Mouse Genome Sequencing Consortium (2002).
6 Pennisi (2007).
7 McClintock (1983).
8 Kutschera und Niklas (2004).
9 Mayr (2004).
10 Dawkins (1976/2004).
11 Darwin (1859, 1871).
12 Dies anzuerkennen, bedeutet nicht notwendigerweise, eine atheistische Position zu beziehen.
13 Kutschera und Niklas (2004).
14 Die Prinzipien der Kooperativität und des Altruismus wurden von Charles Darwin und der darwinistischen Denkschule von Anfang an erkannt, haben sich nach darwinistischer und soziobiologischer Lesart aber sekundär – als optimierte Strategien im Überlebenskampf bzw. als Folge des Selektionsdruckes – entwickelt. Dass Kooperativität – manchmal – eine optimierte Strategie im Überlebenskampf sein kann, ist unbestritten.
15 Kutschera und Niklas (2004).
16 In der »Allgemeinen Zusammenfassung« am Ende seines zweiten Hauptwerkes schrieb Charles Darwin: »Wie jedes andere Tier, so ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz infolge seiner rapiden Vervielfältigung gelangt. Und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muss er einem heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben« (Darwin, 1871, S. 700). Entgegen einer weithin vertretenen Auffassung war Charles Darwin tatsächlich Sozialdarwinist und hat sich unter anderem – wie später auch der Soziobiologe Richard Dawkins (Dawkins, 1976/2004) – kritisch zum Sozialstaat geäußert, in dem beide (Darwin und Dawkins) ein gegen die Selektion gerichtetes Übel sahen bzw. sehen (Darwin, 1871, S. 148; Dawkins, 1976/2004, S. 198).
17 Siehe dazu Richard Weikart: »From Darwin to Hitler« (Weikart, 2004).
18 Schmidt-Salomon (2006), siehe dazu auch einen Beitrag von Thomas Thiel in der FAZ vom 5. März 2008 (Thiel, 2008).
19 McClintock (1983), Eichler und Sankoff (2003), Coghlan et al. (2005), Shapiro (1999, 2005, 2006), Shapiro und Sternberg (2005), Canestro et al. (2007).
20 Siehe dazu nochmals Weikart (2004) sowie Kapitel 4 meines Buches »Prinzip Menschlichkeit« (2006).
21 Kreationismus ist die Bezeichnung für die auf den Wortlaut der Bibel gestützte Überzeugung, die Welt sei tatsächlich vor einigen Tausend Jahren von einem Schöpfer-Gott innerhalb von sechs oder sieben Tagen erschaffen worden. Das »Intelligent Design«-Konzept besagt, ein Gott habe seinen Plan (»Design«) am Beginn der Evolution so in dieser verankert, dass alles, was sich in ihrem Verlauf entwickelt und künftig entwickeln wird, Ausdruck seines »Design« sei.
22 James Saphiro, Molekularbiologe an der Universität Chicago, plädierte vor dem Hintergrund dieser Situation für einen »dritten Weg« (Saphiro, 1996).
23 Dawkins (1976/2004).
24 Kutschera und Niklas (2004): »Wir stimmen zu, dass der gesamte Organismus Gegenstand der Selektion ist, und betrachten die reduktionistische Definition der Evolution, wie sie aus einer nur auf die Gene bezogenen Perspektive hervorging, als bei weitem zu eng gefasst« (S. 262). »Die natürliche Selektion wirkt nicht direkt auf den Genotyp, sie wirkt auf den Phänotyp« (S. 268).
25 Dawkins (2007 a, b). Charles Darwin war vom antireligiösen Fanatismus eines Richard Dawkins weit entfernt, siehe dazu Kapitel 9 und 10.
26 Kutschera (2003).
27 Lönnig und Saedler (2002).
Ein Genom kann sich selbst verändern, wenn es mit ungewohnten äußeren Bedingungen konfrontiert ist.1
Barbara McClintock
Erst die vollständige Analyse des Genoms des Menschen und zahlreicher weiterer Spezies des Tier- und Pflanzenreiches 2 machte es möglich, die Entwicklungsgeschichte der Gene seit den Anfängen des Lebens zu rekonstruieren. Das Genom eines jeden Organismus lässt einige grundlegende, allen Spezies gemeinsame architektonische Merkmale erkennen. Diese Architektur betrifft nicht nur die Prinzipien, nach denen Genome aufgebaut sind und ihre Funktionen ausüben, sondern vor allem auch die Grundregeln, nach denen sie sich im Verlauf der Evolution verändert und entwickelt haben (und wohl auch weiterhin entwickeln werden).3 Gene und Genome sind weder statische noch autonome Größen. Die Aktivität von Genen wird von der Zelle fortlaufend an deren Bedürfnisse und an die des Organismus angepasst, also reguliert. Jedem Gen hinzugesellt (in der Regel vorangestellt) ist ein Genschalter (»Promoter«), der als Adresse zahlreicher von der Zelle kommender Signale dient. Gene, Zellen und Organismus stehen in permanenter Kommunikation. Gene können allein nichts ausrichten, jede genetische Aktivität setzt Kooperation mit verschiedenen Akteuren der Zelle voraus. Gene sind Kommunikatoren und Kooperatoren.
Auch die Gesamtheit der Gene, das Genom, unterliegt der Regie der Zelle und des Organismus. Genome bestehen aus einem System von Modulen, derer sich die Zelle bedient, um biologische Prozesse in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten. Alle sich in der Zelle abspielenden biologischen Prozesse stehen unter dem Einfluss von Umweltbedingungen. Signale aus der Umwelt haben somit immer auch Auswirkungen auf die Abläufe im Genom. Die Analyse von Genomen zahlreicher Spezies zeigte, dass Genome von ihren Zellen auf einen jeweils aktuellen – an den momentanen Umweltbedingungen ausgerichteten – Funktionsmodus »eingestellt« werden und dass Organismen im Verlauf der Evolution zu bestimmten Zeitpunkten die Struktur ihres Genoms – und damit sich selbst – verändert haben.4 Diese Veränderungen, auf denen die Entstehung neuer Spezies beruhte und beruht, ereigneten sich nicht zufällig, sondern schubartig zu bestimmten Zeitpunkten der Evolution. Solche Entwicklungsschübe stehen – nach allem, was bekannt ist – im Zusammenhang mit schweren oder anhaltenden Umweltstressoren, denen das Leben ausgesetzt war.
Nicht nur der Zeitpunkt größerer Veränderungen des Genoms, auch die Art dieser Veränderungen war bzw. ist kein Zufallsprozess.5 Genome verändern sich gemäß eigenen, in ihnen selbst angelegten Prozeduren. Alle Genome – dies gehörte zu den wichtigsten Erkenntnissen der Genforschung der letzten Jahre – enthalten Elemente, die einen Umbau des eigenen Genoms bewirken können.6 Ich werde diese Elemente, in der englischen Fachliteratur transposable elements (TEs) genannt, als Transpositionselemente bezeichnen. Diese wichtigen Komponenten des Genoms wurden, da sie keine Gene im klassischen Sinne sind, bis vor kurzem nicht beachtet, sondern als funktionsloser »Gen-Müll« (»Junk DNA«) oder – in Übereinstimmung mit der derzeit vorherrschenden darwinistischen bzw. soziobiologischen Ideologie – als »selbstsüchtiges« (nicht dem Organismus dienendes) genetisches Material betrachtet. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ohne Transpositionselemente, wie wir sie innerhalb eines jeden Genoms – vom Fadenwurm bis zum Homo sapiens – finden, hätte es keine Entwicklung von Leben und keine Evolution gegeben. Um vererblich zu sein, müssen die durch die Transpositionselemente veranlassten Veränderungen notwendigerweise in jenen Zellen eines Organismus stattfinden, aus denen der Nachwuchs hervorgehen wird. Diese Zellen, die sogenannte Keimbahn, sind in den meisten Spezies von vielen Einflüssen, denen die übrigen Körperzellen ausgesetzt sind, abgeschirmt.7 Daher war es bis vor kurzem undenkbar, dass sich Umwelteinflüsse auf die Keimbahn auswirken könnten. Auch dieses Dogma galt es zu modifizieren, nachdem in den vergangenen Jahren biologische Mechanismen8 entdeckt wurden, mittels derer Vorgänge in somatischen Zellen sehr wohl zu Veränderungen des Erbguts der Keimbahn führen können.
Genetische Transpositionselemente finden sich im Genom aller Spezies. Die Genome höherer Arten, insbesondere aller Säugetiere einschließlich des Menschen, sind von ihnen geradezu bevölkert (eine Auflistung der im Erbgut des Menschen und weiterer Spezies anzutreffenden Transpositionselemente findet sich im Anhang 1, s. S. 190 f., was als Anzeichen für zahlreiche in der Vergangenheit bereits abgelaufene Umstrukturierungsschübe zu werten ist. Transpositionselemente können, wenn sie aktiv werden, im Genom Veränderungen verschiedenster Art vornehmen: Sie können sowohl ganze Gruppen von Genen als auch einzelne Gene (oder Teile von Genen) verdoppeln. Sie können Gene innerhalb des Genoms von einer Position auf eine andere umsetzen oder in ihrer Orientierung umdrehen. Sie sind auch in der Lage, Gene (oder Teile von Genen) mit anderen Genen (oder Teilen anderer Gene) zusammenzufügen und so durch (Re-)Kombination neue Gene entstehen zu lassen. Schließlich können sie genetisches Material nicht nur verdoppeln oder umsetzen, sondern auch eliminieren.
Wie ich noch zeigen werde, existieren verschiedene Typen von Transpositionselementen (siehe Anhang 1, s. S. 190 f.). Manche dieser Sorten sind sogar in der Lage, Gene von einem Organismus zum Genom eines anderen, ja selbst von einer Spezies zu einer anderen zu versetzen (was tatsächlich auch vielfach passierte). Welche Veränderungen Transpositionselemente im Verlauf eines Veränderungsschubes im Genom vornehmen, ist weder genau vorherbestimmt noch völlig zufällig. Sie bevorzugen für ihre Aktivitäten bestimmte »Adressen« innerhalb des Genoms. Wann Transpositionselemente aktiv werden, welche Gene sie umsetzen und wie sie dies tun, ist jedenfalls nicht dem bloßen Zufall überlassen.
Ließe der Organismus der Aktivität von Transpositionselementen innerhalb seines Genoms freien Lauf, dann gäbe es nicht nur keine Stabilität der biologischen Prozesse, sondern auch keine Stabilität von Spezies. Alles wäre permanent im Fluss (so wie es am Beginn des Lebens vor etwa vier bis dreieinhalb Milliarden Jahren über einen sehr langen Zeitraum hinweg der Fall war). Tatsächlich unterliegt die Aktivität der Transpositionselemente einer strikten hemmenden Kontrolle durch die Zelle. An dieser Hemmung ist ein Mechanismus beteiligt, der als RNS-Interferenz bezeichnet wird 9 (dazu später mehr). Die Kontrolle der Transpositionselemente durch die Zelle garantiert, dass Lebewesen ein stabiles biologisches Erscheinungsbild (einen spezifischen Phänotyp) zeigen und dass Spezies über lange evolutionäre Zeiträume (in der Regel über Millionen von Jahren) hinweg das bleiben, was sie sind.
Nicht nur die vergleichende Analyse zahlreicher Genome unterschiedlicher Spezies, auch speziell dazu durchgeführte Experimente zeigen jedoch, dass die hemmende Kontrolle der Zelle über die Transpositionselemente ihres Genoms plötzlich nachlassen kann. Mögliche Auslöser für eine Enthemmung der Transpositionselemente und damit für einen genomischen Umbauschub sind massive äußere Stressoren. Lebende Organismen reagieren auf schwere und anhaltende Belastungen, denen sie durch ihre Umwelt ausgesetzt werden, mit einem kreativen Prozess der Selbstmodifikation ihres Genoms. Alle größeren Entwicklungsschritte der Evolution, insbesondere sogenannte Radiations- oder Divergenzprozesse (das heißt die Entstehung neuer Spezies aus einer gemeinsamen Vorstufe), waren mit Aktivitätsschüben von Transpositionselementen verbunden, was sich in Genomen heute noch nachweisen lässt.
Dass Gene Kommunikatoren und Kooperatoren sind und Genome sich unter dem Einfluss äußerer Faktoren punktuell verändern können, widerspricht gleich mehreren modernen darwinistischen bzw. soziobiologischen Dogmen. Dies war der Grund, warum die ersten Beobachtungen zur Mobilität von Genen, die Barbara McClintock vor über fünfzig Jahren gemacht hatte, jahrzehntelang als »crazy« angesehen wurden. McClintock hatte festgestellt, dass die Nachkommen von Maispflanzen nach der Bestrahlung mit Radioaktivität (einer von vielen möglichen äußeren Stressoren) ihren Phänotyp, das heißt ihr Aussehen ändern. Mehr noch: Einige der ausgelösten Veränderungen wurden hervorgerufen, indem genetisches Material während einer bestimmten Phase der Teilung einer Samenzelle so umgesetzt worden war, dass einige Nachkommen über die doppelte Dosis eines bestimmten Gens verfügten, während andere Nachkommen, obwohl sie von genetisch identischen Mutterpflanzen abstammten, die Aktivität des betreffenden Gens verloren hatten. McClintock erkannte die Ursache der von ihr beobachteten Umverteilungen von Erbmaterial: Sie entdeckte die Existenz der »transposable elements« (TEs), der Transpositionselemente, und war sich bald der generellen Bedeutung ihrer Beobachtungen bewusst: Sie erkannte das biologische Prinzip, dass Genome sich unter dem Einfluss von Stressoren selbst verändern können. Ihr erschien es als eine Art »Weisheit der Zelle«10, auf schwere oder nachhaltige Veränderungen der Umwelt mit Selbstmodifikationen zu reagieren – mit dem Versuch, sich durch Kreativität an neue Bedingungen anzupassen.
Erst in den letzten Jahren wurde die universelle, den Prozess der Evolution betreffende Bedeutung der Erkenntnisse Barbara McClintocks in ihrer ganzen Tragweite deutlich. Sie erfordern – worauf einige wenige, aber durchaus namhafte Forscher seit längerem vorsichtig hinweisen11 – eine nachhaltige Korrektur modernen biologischen Denkens. Eine solche »Neue Theorie« wird angesichts einer die Wissenschaftsszene beherrschenden darwinistischen Denkschule jedoch (noch) nicht zugelassen. Zu den zentralen Dogmen des Darwinismus – auch in seiner derzeit gültigen Version »New Synthesis« – zählt, wie bereits erwähnt, dass Veränderungen des genetischen Substrats, die zur Bildung neuer Arten geführt haben und führen, einerseits ihrer Art nach dem Zufall folgen und andererseits gleichmäßig und kontinuierlich auftreten. Beides trifft nachweislich nicht zu: Genome zeigten im Verlauf der Evolution lange, Jahrmillionen dauernde Phasen erstaunlicher Stabilität (ein in der Fachliteratur als »robustness« oder »Stasis« bezeichnetes Phänomen12). Zu bestimmten Zeitpunkten der Evolution aber sind – in der Regel in allen jeweils vorhandenen Spezies – Entwicklungsschritte des Genoms zu beobachten, denen eine schubartige Aktivität von Transpositionselementen innerhalb der Genome zugrunde liegt. Dass Genome als mit biologischer Sensibilität gegenüber äußeren Einflüssen und mit Reaktionsvermögen ausgestattete »Organe« anzusehen sind, wie dies einige namhafte Forscher inzwischen klar formulieren, widerspricht modernen darwinistischen Konzepten diametral. Der Darwinismus ist daher heute mehr denn je in der Gefahr, sich zu einer Denk- und Erkenntnisbremse zu entwickeln, die unseren Blick auf die Biologie einengt und verzerrt.
1 »A genome may modify itself when confronted with unfamiliar conditions« (McClintock, 1983).
2 Siehe unter anderem International Human Genome Sequencing Consortium (2001, 2004), Mouse Genome Sequencing Consortium (2002), Jaillon et al. (2004), Venkatesh et al. (2007), Rensing et al. (2008).
3 Canestro et al. (2007), Pennisi (2007), Shapiro (1999, 2005, 2006), Shapiro und Sternberg (2005).
4 »External influences can alter the cell in heritable ways« (Von außen kommende Einflüsse können in der Zelle zu erblichen Veränderungen führen), so der Nobelpreisträger Craig Mello (2006).
5 Sie ist allerdings auch nicht determiniert, sondern im Sinne einer Entwicklungsrichtung gebahnt.
6 McClintock (1983), Brosius (1999, 2002, 2003, 2005), Pardue et al. (2001), Arkhipova und Morrison (2001), Lönnig und Saedler (2002), Eichler und Sankoff (2003), Jurka (2004), Jurka et al. (2005), Coghlan et al. (2005), Shapiro (2005, 2006), Shapiro und von Sternberg (2005), Pennisi (2007), Canestro (2007), Krull et al. (2007), Witzany (2009), Mattick (2009).
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