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Das große Sachbuch dieses Frühjahrs: Wie wir die Macht über unser Leben zurückgewinnen
Höre auf deinen Bauch, folge deinen Gefühlen, vertraue auf deine Impulse. So der Tenor, in dem uns wissenschaftliche Bücher in den letzten Jahren darauf eingeschworen haben, unserem rationalen, abwägenden Denken nicht mehr die Bedeutung beizumessen, die ihm gebührt.
Joachim Bauers Selbststeuerung ist der lange überfällige Aufruf dazu, unsere auf Autopilot fahrenden Verhaltensweisen als das zu sehen, was sie sind: kurzsichtig und fehleranfällig. Studien zeigen: Seine Impulse kontrollieren und vorübergehende Anstrengungen auf sich nehmen zu können ist nicht nur die unabdingbare Voraussetzung für langfristige persönliche Erfolge und gute soziale Beziehungen. Die Fähigkeit zur Selbststeuerung schützt vor allem auch die Gesundheit, und erkrankten Menschen kann sie ein Heilmittel sein. Anstatt ständig den Reizen der Außenwelt zu folgen, sollten wir selbst entscheiden. Der freie Wille ist zurück, und das ist gut so.
Wissenschafts-Bestsellerautor Joachim Bauer erläutert in seinem neuesten Buch die aktuellen Forschungsergebnisse aus den unterschiedlichsten Disziplinen zu diesem Thema. Er zeigt, was diese unmittelbar für jeden Einzelnen bedeuten und welche Konsequenzen für die Psychologie, die Bildungs- oder die Gesundheitspolitik daraus zu ziehen sind.
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Seitenzahl: 305
Höre auf deinen Bauch, folge deinen Gefühlen, vertraue auf deine Impulse. So der Tenor, in dem uns wissenschaftliche Bücher in den letzten Jahren darauf eingeschworen haben, unserem rationalen, abwägenden Denken nicht mehr die Bedeutung beizumessen, die ihm gebührt. Joachim Bauers Selbststeuerung ist der lange überfällige Aufruf dazu, unsere auf Autopilot fahrenden Verhaltensweisen als das zu sehen, was sie sind: kurzsichtig und fehleranfällig. Anhand neuester Erkenntnisse der Neurobiologie macht Joachim Bauer deutlich, warum wir uns wieder einer Fähigkeit zuwenden sollten, die unsere Spezies einzigartig macht: unser Leben in Einklang mit längerfristigen Zielen und Wünschen zu bringen. Studien zeigen: Wer seine Impulse kontrollieren und vorübergehende Anstrengungen auf sich nehmen kann, besitzt die unabdingbaren Voraussetzungen für langfristige persönliche Erfolge und gute soziale Beziehungen. Die Fähigkeit zur Selbststeuerung schützt vor allem auch die Gesundheit, und erkrankten Menschen kann sie ein Heilmittel sein. Anstatt ständig den Reizen der Außenwelt zu folgen, sollten wir selbst entscheiden. Der freie Wille ist zurück, und das ist gut so.
Professor Dr. med. Joachim Bauer ist Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut und lehrt an der Universität Freiburg. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er den renommierten Organon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, unter anderem Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone sowie Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Zuletzt erschienen bei Blessing Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt (2011) und der SPIEGEL-Bestseller Arbeit. Warum unser Glück von ihr abhängt und wie sie uns krank macht (2013).
JOACHIM BAUER
SELBST
STEUERUNG
Die Wiederentdeckung
des freien Willens
BLESSING
1
FREIHEIT DURCH SELBSTSTEUERUNG
OHNE SELBST KEINE SELBSTBESTIMMUNG
Mit Selbststeuerung lässt sich im Leben vieles, ohne sie nichts erreichen. Ihre wahre Bedeutung liegt jedoch nicht in der Ansteuerung hehrer oder spektakulärer Ziele. Ihr tiefer Sinn liegt darin, unser ganz eigenes, wahres Leben zu leben und zu uns selbst, zu unserer ureigenen Identität zu finden. Wer – wie es ein Kleinkind tut – nur seinen spontanen Impulsen nachgibt oder unvermittelt und ohne Sinn und Verstand nach allem greift, sich alles einverleibt oder alles haben muss, was ihm1 hingehalten wird, hat kein Selbst. Die Weisheit unserer Sprache verrät es: Wir können uns selbst verlieren. Wir können uns nicht nur an unsere Impulse und Affekte verlieren, sondern auch an Dinge, Waren und an die auf uns einwirkenden Reize. Ein Selbst, auch das kann man am sich entwickelnden Kleinkind beobachten, entsteht erst dann, wenn wir etwas Abstand zu unseren Emotionen, zu den Objekten und den Reizen der uns umgebenden Welt gewinnen, wenn wir innehalten und darüber nachdenken können, was wir wirklich wollen. Zum Selbst gehört also, einen Plan zu haben und auf dieser Grundlage etwas besonders Beglückendes zu tun, nämlich für sich eine eigene, ganz individuelle Zukunft zu entwerfen. Ich werde nicht nur zeigen, dass wir Menschen – entgegen dem, was uns immer wieder weisgemacht werden soll – einen freien Willen haben, mit dem wir uns steuern und unser individuelles Selbst leben können. Ich möchte auch den heilsamen Einfluss deutlich machen, der von einer intakten Selbststeuerung auf unsere Gesundheit ausgeht.
Wo kein Selbst ist, kann es auch keine Selbststeuerung geben. Das Glück, ein Selbst zu fühlen, ist fast jedem Menschen widerfahren, auch wenn sich mancher gar nicht mehr erinnert. Wann war es, als wir erstmals im Leben ein großes Gefühl von Selbst-Sein und der damit verbundenen Freiheit verspürten? Die frühesten derartigen Momente, an die wir uns erinnern können, beschreiben meist Situationen von großer Einfachheit und Natürlichkeit, Situationen jedenfalls, in denen Konsumartikel aus dem Warenarsenal unserer Wohlstandsgesellschaften kaum eine Rolle spielen. Manche erinnern sich an einen ersten derartigen Moment schon in frühster Kindheit, etwa beim ersten freien Gehen. Die meisten datieren das Gefühl eines ersten tief erlebten Selbst-Seins in die Zeit am Ende der Adoleszenz – wie zum Beispiel auf eine erste selbstständige Reise, die typischerweise mit geringsten finanziellen Mitteln bestritten werden musste. Häufig ist es auch der Auszug von zu Hause, das erste bescheidene eigene Zimmer, die erste sexuelle Begegnung oder ein tief gehendes Naturerlebnis, welches wir mit einer ersten Erfahrung der Selbststeuerung verbinden.
Interessanterweise war es für viele Menschen ein bewusstes Handeln gegen die Konvention oder ein absichtsvoll herbeigeführtes Verzichtserlebnis, welches mit einem erstmaligen tiefen Gefühl der Selbstbestimmung verbunden war. Selbst sein heißt auch: anders sein als die anderen. Doch was ist aus uns geworden, was hat das Leben mit uns gemacht, was haben wir – durch das Leben – mit uns machen lassen? Viel häufiger, als uns bewusst ist, folgt unser Verhalten im Alltag nicht dem, wofür wir mit unserer Identität tatsächlich stehen, also dem, was wir wirklich gerne tun würden oder für richtig halten. Stattdessen leben wir weitgehend in Routine. Unser Verhalten folgt größtenteils dem Druck der Anpassung an das, was andere tun, oder den Automatismen zwischen Reiz und Reaktion. Inwieweit geht unser Leben über den Minihorizont wirklich noch hinaus, der vom Signalton aus einem unserer vielen medialen Gadgets zu unserer sofortigen Antwortreaktion reicht, oder vom kostenlos angebotenen Snack zum sofortigen Konsum desselben? Zur Überflutung mit Reizen und Waren hinzu kommt die Hetze. Der Umstand, dass über sieben Milliarden Menschen ihren Anteil an den begrenzten Ressourcen unserer Erde suchen, zwingt uns zur Arbeit, was diverse, wenig beeinflussbare Abhängigkeiten nach sich zieht2. Die Notwendigkeit zu arbeiten beschert uns einen Zustand fortwährender Geschäftigkeit, den wir Stress nennen. Auch an diesen Zustand haben sich – ähnlich wie an den Zustand des Konformismus und des andauernden Konsums – viele aber schon so gewöhnt, dass sie ihn auch dann, wenn es möglich wäre, nicht ändern.
Möglichkeiten zur Selbstbestimmung werden uns nicht nur genommen, wir nehmen sie uns auch selbst. Weit mehr als erforderlich, unterwerfen wir uns dem Druck des Konformismus und der Anpassung an die vermuteten Erwartungen anderer. Der Überfluss und die allgegenwärtige Verfügbarkeit von billigen, oft minderwertigen und ungesunden Nahrungs- und Genussmitteln fördern Abhängigkeit und Suchtverhalten. Die an sich fantastischen Möglichkeiten, die uns Computer, Smartphones und soziale Netzwerke bieten, sind dabei, unsere Freiheit und Selbstbestimmung fast sklavenartig einzuengen. Mehr als vier Fünftel sind, Umfragen aus den USA zufolge, zum Abspannen und Nichtstun gar nicht mehr in der Lage. Unverhoffte Gelegenheiten zum Innehalten – und erst recht zur Muße – bringen manche Zeitgenossen paradoxerweise in große Schwierigkeiten. So versetzten sich zahlreiche Teilnehmer eines wissenschaftlichen Experiments während einer ihnen gewährten 15-minütigen Auszeit lieber freiwillig kurze Stromstöße mit einem zufällig bereitstehenden Gerät, anstatt einfach nichts zu tun, nur um keine Langeweile mit sich selbst zu erleben3. Wer kein Selbst hat, möchte diese missliche Tatsache lieber gar nicht erst entdecken. Wie finden wir den Weg aus einer von Selbstverlust, verlorener Selbstbestimmung und Stress gekennzeichneten Situation? Angesichts vieler Abhängigkeiten und Zwänge, in die wir uns hineinbegeben haben, wünschen sich viele Menschen einen Befreiungsschlag. Doch diese Option würde nichts zum Besseren wenden. Lebensgewohnheiten und Verhaltensmuster sind in Netzwerken unseres Gehirns festgeschrieben und lassen sich nur im Laufe eines längeren Lern- und Übungsprozesses verändern. In welche Richtung sollte dieser Prozess gehen?
Das Ziel sollte sein, Freiheitsgrade zu erhöhen, Selbstbestimmung zu stärken und wieder etwas von dem Glück spürbar zu machen, das aus den erinnerten Episoden sprach, von denen eingangs die Rede war. Und dieses Glück war eben kein durch die Warenwelt einlösbares, konsumatorisches Glück, kein Fast-Food-Glück mit seinen rein hedonischen, also nur auf kurzfristiges Wohlbefinden zielenden Befriedigungen. Es ist ein tieferes, eudaimonisches4 Glück, bei dem es darum geht, sich größere, längerfristige Ziele zu setzen, tiefe und sinnhafte Erfahrungen zu machen, aufzubrechen, einen eigenen Weg zu gehen und persönlich zu wachsen. Wer den Verdacht haben sollte, hier begegne ihm Gutmenschen-Gerede, liegt daneben. Menschen, die sich dem eudaimonischen Glück verschrieben haben, zeigen ein ganz besonderes Aktivitätsmuster ihrer Gene, das die Bewahrung der Gesundheit begünstigt. Wer nur das hedonische Glück vor Augen hat, das sich in schnellen, konsumatorischen Befriedigungen erschöpft, aktiviert in seinem Körper demgegenüber ein Genaktivitätsmuster, das Herz-, Krebs- und Demenzerkrankungen begünstigt und die Anfälligkeit für Virusinfekte erhöht5. So stoßen wir am Ende dieser ersten Betrachtung auf eine dialektische Beziehung: Die Fähigkeit, sich dem sinnlosen Konsum und ständigen Reizen zu verweigern, sich stattdessen bewusst zu beschränken, auch Verzicht ertragen zu können, kann zu einem Zugewinn von Freiheit und Selbststeuerungsfähigkeit führen, sie kann unsere Handlungsoptionen erweitern und uns größere, lohnenswertere Ziele erreichen lassen.
SELBSTSTEUERUNG IST SELBSTFÜRSORGE
Was ist Selbststeuerung? Vor allem: In welchem Verhältnis steht sie zur Selbstkontrolle und zur Disziplin, die in Deutschland von etwa 1870 bis Ende der 1950er-Jahre als oberste Tugenden galten? Wer seine Kinderjahre kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, konnte die letzten Vertreter der damals lebenden Generationen noch als Eltern und Großeltern kennenlernen. Strenge Selbstkontrolle und absolute Disziplin wurden damals, unter reichlicher Anwendung von erzieherischer Gewalt, bereits kleinen Kindern aufgezwungen6. Den Abschluss dieser Erziehung bildete bei den Männern das Militär. Freundlichkeit und Zärtlichkeit wurden als Gefühlsduselei gering geschätzt, genussvolle Sexualität radikal unterdrückt. Nur Selbstkontrolle und Disziplin galten als Kennzeichen eines anständigen Lebens. Sie standen im Dienste des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit, erzeugten Konformismus, hatten – wie Sigmund Freud und andere erkannten – massenhaft psychische Störungen zur Folge und leisteten einen entscheidenden Beitrag zu zwei Weltkriegen. Unter derartigen Vorzeichen herangewachsene Menschen waren seelisch beschädigt, weil ihrer emotionalen Seite beraubt, nicht selten waren sie traumatisiert. Wie diese Epoche, die viele Ältere in der Kindheit noch leidvoll selbst erlebt haben, überdeutlich gezeigt hat, kann man die Selbstkontrolle ad absurdum führen.
Es war vor allem die unmenschlich gewordene Vorstellung von Disziplin und Selbstkontrolle, die in den 1960er- und 1970er-Jahren von den seinerzeit Jüngeren zum Ausgangspunkt für eine – zunächst durchaus heilsame – Gegenbewegung wurde. Zu den vielen und heterogenen Zielen, die sich die sogenannte 68er-Generation auf die Fahnen geschrieben hatte, gehörte vor allem die Befreiung der Gefühle, die Legitimierung von Zärtlichkeit, Liebe und Sexualität. Der Verklärung des Krieges wurde der Pazifismus, dem Konformismus der Alten eine bewusst gelebte Disziplinlosigkeit entgegengesetzt, aus der alsbald allerdings neue Formen von Konformismus hervorgingen. Die seinerzeit heftige Welle dieser Bewegung ist nur scheinbar abgeebbt. Ihr Wasser wurde auf die Mühlen einer gewaltigen Konsum- und Medienindustrie umgeleitet, welche die einst von den 68ern propagierten Slogans kurzerhand zu Werbeslogans ihrer Produkte machte. Just do it. Alles ist möglich. Die Herrschaft der Affekte und das Diktat spontaner Impulse finden ihren Ausdruck nun nicht mehr im kulturellen Milieu studentischer Wohngemeinschaften, sondern in der durch die neuen Medien hervorgebrachten Schwemme von Signalen, Angeboten und impulsgesteuerten Absonderungen, wie sie sich vor allem im Internet und in den Programmen privater Fernsehsender finden. Wer unter dem Vorzeichen weitgehend ungebremster Impulsivität und ungehemmten Affektausdrucks heranwächst, wird einen Mangel der Fähigkeit zur Selbstkontrolle erleiden und infolgedessen Suchttendenzen oder narzisstische Störungen entwickeln. Diese Entwicklung hat auf breiter Front bereits begonnen.
Selbststeuerung bedeutet nicht genussfeindliche Selbstkontrolle, nicht menschenverachtend überdrehte Disziplin, ebenso wenig aber hat sie eine ungebremste Herrschaft von Affekten oder Impulsen im Sinn. Affekte und Impulse sind ein Teil des menschlichen Wesens, sie sind nichts Schlechtes. Doch gehört zum Menschsein auch die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Selbststeuerung ist ganzheitliche Selbstfürsorge und besteht in der Kunst, Impulse und deren Kontrolle miteinander zu verbinden. Beide Komponenten lassen sich auch neurobiologisch beschreiben. Hirnforscher und Psychologen unterscheiden im menschlichen Gehirn zwei Fundamentalsysteme, ein triebhaftes, sozusagen von unten her – bottom-up – agierendes Trieb- oder Basissystem und ein darauf aufbauendes, zweites System. Dieses Aufbausystem hat seinen Sitz im Stirnhirn, dem sogenannten Präfrontalen Cortex. Es wirkt seinerseits nach unten – top-down – zurück und kann, wenn es hinreichend gut entwickelt ist, das Basissystem kontrollieren. Das übergeordnete System ermöglicht, was Hirnforscher und Psychologen als Selbstkontrolle – im Englischen »Self control« – bezeichnen. Wie schon erwähnt, schließt Selbststeuerung – im Gegensatz zur Selbstkontrolle – die Fürsorge für beide Fundamentalsysteme, also auch für das Trieb- oder Basissystem, mit ein. Der Mensch sollte mit allen seinen inneren Anteilen in Frieden leben. Askese um ihrer selbst willen ist kein sinnstiftendes Projekt.
DIE VERSPRECHEN GUTER SELBSTSTEUERUNG
Mit Selbststeuerung lässt sich, wie eingangs erwähnt, im Leben vieles erreichen. Sie öffnet die Türen zu guten Beziehungen mit anderen Menschen, zu beruflichem Erfolg und zur Erhaltung – oder Wiedergewinnung – der eigenen Gesundheit. Wer den Geheimnissen der Selbststeuerung auf die Spur gekommen ist, wird daraus nicht nur für sich selbst, sondern auch im Umgang mit anderen Menschen Vorteile ziehen können. Besonders hilfreich kann das Wissen um ihre Geheimnisse bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen sein, deren Selbststeuerung meistens noch zu wünschen übrig lässt. Diesen Mangel können wir den Jungen allerdings nicht verübeln, denn eine funktionierende Selbststeuerung ist keine angeborene Eigenschaft. Angeboren ist lediglich die Fähigkeit, sie zu erwerben. Bei diesem Erwerb spielen wir Erwachsenen eine entscheidende Rolle, der wir allerdings seit einiger Zeit nicht mehr hinreichend nachkommen. Allen, die sich danach sehnen, die eigene Selbststeuerung oder die ihrer Kinder zu entwickeln und ihr Leben entsprechend zu verändern, soll mein Buch eine Vorstellung vermitteln, in welchem Gelände wir uns – aus Sicht der Hirnforschung und der Psychologie – hier bewegen.
Jeder Mensch ist anders. Daher gibt es nicht den einen, richtigen Weg zu guter Selbststeuerung. Jede und jeder muss die eigene, für sich persönlich richtige Route finden. Viel wichtiger als die konkrete Wegführung im Einzelfall ist es, überhaupt auf dem Weg zu sein und das Bemühen um gute Selbststeuerung zum ständigen Begleiter – zum griffbereiten Reisekompass – zu machen. Wer unterwegs ist, wird allerdings sehr rasch feststellen, wie viele Hindernisse oder Hinweiszeichen in diesem Gelände aufgestellt sind, die in falsche Richtungen und Sackgassen weisen. Zur Kunst der Selbststeuerung gehört, auf zahlreiche, der bewussten Wahrnehmung leicht entgehende Beeinflussungsversuche zu achten, die ins Abseits führen. Aufzubrechen und sich auf den Weg zu machen ist allerdings lohnend. Gekonnte Selbststeuerung ist nicht nur der Schlüssel zu persönlicher Zufriedenheit, zu gelingendem Leben und zu eudaimonischem Glück. Sie ist, wie schon angedeutet, auch eine mächtige medizinische Heilkraft und die Grundlage jener inneren Widerstandskräfte, die unseren Körper für die Auseinandersetzung mit Erkrankungen – Krebserkrankungen, Krankheiten des Herzens und Demenzerkrankungen eingeschlossen – wappnen.
Gnadenlose Selbstkontrolle allein macht keinen Sinn. Die pauschale Verfolgung triebhafter Grundbedürfnisse und eine feindselige Haltung gegenüber den genüsslichen Seiten des Lebens sind unmenschlich, destruktiv und letztlich zum Scheitern verurteilt. Umgekehrt allerdings reduziert der Wegfall von Selbstkontrolle das Verhalten des Menschen auf Reiz-Reaktions-Automatismen, ein Trend, der sich in den letzten Jahren vor allem in den westlichen Wohlstandsländern – insbesondere Deutschland, aber auch in den USA – beobachten lässt. Wir haben uns zu Abhängigen von Bildschirmen und ungesunden Lebensgewohnheiten gemacht und sind auf dem Weg, eine in vielerlei Hinsicht süchtige Gesellschaft zu werden7. Hinzu kommt, dass teils auferlegter, teils selbst erzeugter Stress uns die Selbstfürsorge erschwert hat. Wer keine Selbstkontrolle ausüben kann, für den ist jeder Reiz, der unmittelbare Befriedigung verspricht – wie die einem Esel hingehaltene Karotte –, eine unwiderstehliche Versuchung. Ohne Selbstkontrolle geben wir den Freiheitsraum, der sich uns dadurch bietet, dass wir mehrere Handlungsmöglichkeiten gegeneinander abwägen, verloren. Tatsächlich ist dieser Freiheitsraum – und damit der freie Wille des Menschen – massiv bedroht. Was kann uns die Hirnforschung über diese Bedrohung sagen, und inwieweit können wir von ihr etwas darüber lernen, wie sich dieser Bedrohung begegnen lässt?
DIE NEUROBIOLOGISCHE HEIMAT VON AFFEKTEN UND IMPULSEN
Das Trieb- oder Basissystem einerseits und der top-down kontrollierende Präfrontale Cortex andrerseits: Beide im Gehirn eines jeden Menschen sitzenden Fundamentalsysteme sind eng miteinander verbunden8. Sie sollten nicht gegen-, sondern miteinander arbeiten. Ähnlich wie zwei Tanzpartner können sie nur gemeinsam erfolgreich sein. Das Basissystem ist die neurobiologische Grundlage für triebhafte, spontan und überwiegend automatisch ablaufende Verhaltensweisen. Seine wichtigsten neurobiologischen Bauteile sind die symmetrisch im Mittelhirn sitzenden Belohnungssysteme, dazu die beidseits tief in der Schläfenregion sitzenden Angstzentren sowie der für Stressreaktionen und Sexualfunktionen wichtige, der Schädelbasis aufsitzende Hypothalamus. Das Basissystem hilft uns, wahrzunehmen und uns zu merken, was wir mögen, was uns schmeckt, was sich gut anfühlt, behaglich ist oder uns die Langeweile vertreibt. Zugleich lässt es uns aber (wieder-) erkennen, was – scheinbar oder tatsächlich – gefährlich ist. Es produziert die Angstgefühle, die uns veranlassen, Schmerzen und Gefahrenherde zu meiden, uns zu wehren oder davonzulaufen. Merkmale des Basissystems sind Affekte und Launen aller Art – ihm verdanken wir die Neigungen, jeder kleinen Versuchung sofort nachzugeben, uns alles in den Mund zu stecken, was schmeckt, und beim Sex kein Angebot auszulassen. Auch andere, wenig sympathische Verhaltensweisen wie Bequemlichkeit, Ungeduld oder die Unlust, mit anderen zu teilen, haben ihren Ursprung im Basissystem – dazu gehört außerdem unsere Tendenz, beim ersten Anschein von Gefahr Artgenossen im Stich zu lassen und zu fliehen.
DIE NEUROBIOLOGISCHE ADRESSE DES FREIEN WILLENS
Das dem Trieb- oder Basissystem übergeordnete, zweite Fundamentalsystem des menschlichen Gehirns ist für die Top-down-Kontrolle zuständig. Die neurobiologische Adresse des Aufbausystems ist, wie schon erwähnt, das Stirnhirn, der Präfrontale Cortex, abgekürzt PFC9. Er ist der Ort des freien Willens. Der Präfrontale Cortex ist eine aus mehreren Funktionsmodulen bestehende Wunderkiste. Eine seiner Stärken liegt in besonderen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung. Er versetzt den Menschen in die Lage, seine Aufmerksamkeit zu fokussieren und Ablenkungen auszublenden, unabhängig davon, ob sie von außen oder – zum Beispiel als Gefühle oder Gedanken – aus dem Inneren kommen. Die Fähigkeit, äußeren Ablenkungen oder inneren Impulsen nicht zu folgen, wird als Inhibition bezeichnet. Weiterhin kann er, ohne dabei die Aufmerksamkeitsfokussierung aufzugeben, nicht nur einen vorherrschenden Eindruck, sondern mehrere relevante Aspekte einer gegenwärtigen Situation gleichzeitig im Gedächtnis präsent halten, eine Fähigkeit, die als Arbeitsgedächtnis bezeichnet wird10. Darüber hinaus kann der PFC die Regeln erkennen, denen die Abläufe in unserer aktuell gegebenen Außenwelt folgen. Er macht es zudem möglich, dass wir uns, falls sich in unserer Umgebung die Situation und die in ihr geltenden Gesetze plötzlich ändern, umgehend auf ein neues Regelsystem einstellen, eine als Flexibilität bezeichnete Kompetenz.
Mit Aufmerksamkeitsfokussierung, Inhibition, Arbeitsgedächtnis und Flexibilität sind die Fähigkeiten des Präfrontalen Cortex nicht erschöpft. Fast noch spektakulärer als sein Einfluss auf die Informationsverarbeitung ist der auf unsere soziale Intelligenz. Mithilfe des Präfrontalen Cortex können wir Vorstellungen, sozusagen innere Bilder, von anderen Menschen entwickeln. Dazu gehört, auch die Perspektive dieser anderen Menschen einnehmen zu können – insbesondere sich vorstellen zu können, wie sich das, was ich selbst tue, aus der Sicht der anderen darstellt. Die Netzwerke des Präfrontalen Cortex, in denen diese Informationen über andere Menschen existieren, stehen in neuronaler Verbindung mit dem Belohnungssystem des Gehirns, wo Glücksbotenstoffe freigesetzt werden können. Dieses Konstruktionsmerkmal hat zur Folge, dass wir, falls wir hinreichend gute Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht haben, gerne mit anderen Menschen zusammen sind. Es ist außerdem der Grund dafür, dass wir die Sichtweisen unserer Mitmenschen – abgestuft nach deren Relevanz als Bezugspersonen – bei der eigenen Entscheidungsfindung berücksichtigen und dies in der Regel sogar gerne tun.
SELBSTSTEUERUNG DURCH PERSPEKTIVÜBERNAHME
Beide Fundamentalsysteme, das Trieb- oder Basissystem und der Präfrontale Cortex, sind integrale Teile der menschlichen Natur und damit der biologischen Bestimmung des Menschen. Eine oft anzutreffende Darstellung, der zufolge Eigenschaften des triebhaften Basissystems zur wahren Natur des Menschen erklärt, die Potenziale des Präfrontalen Cortex dagegen als dünne kulturelle Tünche abgetan werden, verzerrt die biologische Realität. Richtig ist zwar, dass die oben geschilderten Fähigkeiten des Präfrontalen Cortex nicht angeboren sind, sondern sich – in den ersten etwa zwanzig Lebensjahren – entwickeln. Angeboren sind, wie schon betont wurde, lediglich die Potenziale des Präfrontalen Cortex, also die Möglichkeiten zur Entwicklung seiner Fähigkeiten. Dieser Grundsatz gilt jedoch auch für fast alle anderen Funktionen, die über das Gehirn gesteuert werden, zum Beispiel für die Motorik, also für unseren Bewegungsapparat.
Use it or lose it11: Diese berühmt gewordene neurobiologische Grundregel bedeutet, dass neuronale Systeme und die von ihnen gesteuerten Funktionen verkümmern, wenn sie keinem Gebrauch unterliegen. Ein Kind, das sich nie frei bewegen durfte, wird – wie dies in einigen Kinderheimen im früheren Rumänien leider tatsächlich geschah – unweigerlich verkrüppeln. Niemand würde aus diesem Grunde die Motorik als nicht zur wahren Natur des Menschen gehörig und stattdessen zu einer lediglich dünnen kulturellen Tünche erklären. Daher bleibt festzuhalten: Die Fähigkeit, bei unserer Entscheidungsfindung die Perspektive anderer Menschen zu berücksichtigen, ist – ausweislich der Existenz des Präfrontalen Cortex – ein Teil der natürlichen Bestimmung des Menschen. Erziehungspraktiken, die darauf verzichten, Kinder und Jugendliche liebevoll, aber auch konsequent dazu anzuhalten, ihren Präfrontalen Cortex in Gebrauch zu nehmen und zu lernen, die Perspektive der jeweils anderen zu sehen und zu berücksichtigen, versündigen sich daher an der biologischen Reifung des Gehirns Heranwachsender. Da der Mensch – ebeno wie seine evolutionären Vorfahren – ein seit Millionen von Jahren in sozialen Gruppen lebendes Wesen war und ist, ist die Fähigkeit zur Perspektivübernahme eine unverzichtbare Voraussetzung guter Selbststeuerung.
DER FREIE WILLE, PHILOSOPHISCH BETRACHTET
Menschliche Entscheidungsfindungen erfolgen nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Kontext. Dieser Kontext wird von der Biologie unseres Körpers, der uns umgebenden materiellen Welt, den gesellschaftlichen Verhältnissen und unseren sozialen Beziehungen gebildet. Alle diese Faktoren beeinflussen sich wechselseitig. Sie erzeugen die zahlreichen Vorbedingungen unserer Existenz und bilden gemeinsam den Rahmen für unsere Entscheidungsfindungen. Bleibt für freie Entscheidungen angesichts der zahlreichen unbestreitbaren Bedingtheiten unserer Existenz überhaupt noch ein Spielraum? Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) hat diese Frage verneint. Was Schopenhauer »Wille« nannte, war eine von ihm postulierte, das Weltgeschehen treibende, keinem Ziel verpflichtete, blinde naturhafte Kraft12. Von der menschlichen Entscheidungsfreiheit hielt er nichts. Mit ihr, so Schopenhauer, »verhält es sich gerade so, wie wenn man bei einer senkrecht stehenden, aus dem Gleichgewicht und ins Schwanken geratenen Stange sagt, sie kann nach der rechten oder linken Seite umschlagen«, der Aspekt der Wahl habe »nur eine subjektive Bedeutung«13. Eine philosophische Gegenposition dazu vertrat Jean-Paul Sartre (1905–1980). Zwar stand die Bedingtheit menschlicher Willensbildung für ihn nicht infrage14. Zur Willensfreiheit aber äußerte Sartre die Überzeugung, »dass der Mensch immer etwas aus dem machen kann, was man aus ihm macht. … Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem völlig gesellschaftlich bestimmten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt«15.
DER FREIE WILLE UND DIE HIRNFORSCHUNG
Über Fragen der menschlichen Willensbildung und Entscheidungsfindung nachzudenken, war über Jahrhunderte Sache von Philosophen, Rechtsgelehrten, Psychologen und Theologen. Seit einigen Jahrzehnten beteiligen sich nun auch Hirnforscher an diesem Diskurs. Diese gehen davon aus, dass alles menschliche Fühlen, Denken und Handeln neurobiologische Korrelate hat. Ohne Nervensystem sind mentale Prozesse, jedenfalls aus naturwissenschaftlicher Sicht, nicht vorstellbar. Frei kann der menschliche Wille jedenfalls nicht in dem Sinne sein, dass er sich losgelöst von seinen neurobiologischen Korrelaten und unabhängig von den vielen Vorbedingungen bilden könnte, von denen unsere Existenz abhängt. Ein sozusagen aus dem Nichts entstandener und in diesem Sinne freier Wille wäre eine Absurdität, nicht ganz unähnlich einem Kasperltheater, bei dem ohne jede Logik, plötzlich und unerwartet immer wieder neue schrille Figuren die Bühne betreten.
Weit weniger klar als die unbezweifelbare neurobiologische Grundlage mentaler Prozesse ist eine andere Frage: Bedeutet die Verankerung der menschlichen Willensbildung in unserer natürlichen Existenz, dass alle menschlichen Willensakte vorab durch in unserem Gehirn ablaufende Prozesse determiniert sind, so wie eine Kugel unweigerlich, der Schwerkraft folgend, von einer schiefen Tischplatte rollen und dann zu Boden fallen wird? Darüber hat sich vor mehr als 2 000 Jahren schon der antike griechische Philosoph Platon den Kopf zerbrochen16. Er hat die Frage verneint, die Freiheit des Willens also verteidigt, und machte eine Unterscheidung der Art, dass beobachtbare Phänomene der physikalischen Welt immer die Folge einer Ursache sind. Demgegenüber beruhten nach Überlegung zustande gekommene menschliche Entscheidungen aber auf Gründen. Die Vorstellung, dass im menschlichen Bewusstsein ablaufende Überlegungen und Abwägungen keinem biophysikalischen Determinismus unterliegen, sahen einige Vertreter der Hirnforschung, unter ihnen Gerhard Roth und Wolf Singer, aufgrund eines berühmt gewordenen Experiments des amerikanischen Hirnforschers Benjamin Libet (1916–2007) widerlegt. Libet ließ Versuchspersonen innerhalb einer kurzen, wenige Sekunden langen Zeitspanne selbst entscheiden, wann sie mit dem Finger auf eine Taste drücken würden. Erste Signale in der Hirnstromkurve seiner Testpersonen fand er dabei schon etwa 0,8 Sekunden bevor diese ihre bewusste Entscheidung angezeigt hatten, die Taste zu drücken. Daraus zogen die beiden geachteten Kollegen Roth und Singer den Schluss, der menschliche Wille sei – wie im Beispiel der fallenden Kugel – nichts weiter als die vorherbestimmte Folge von in unserem Gehirn stattfindenden physikalischen Ursachen und daher nicht frei. Diese irrige Schlussfolgerung beruhte auf einer in mehrfacher Hinsicht fehlerhaften Interpretation des Libet-Experiments17.
Unbestreitbar ist die Tatsache, dass Menschen über ein Bewusstsein verfügen und reflektierend denken können nur mit den neurobiologischen Grundlagen erklärbar, die unserer Spezies mit dem Gehirn gegeben sind. Andrerseits bilden die konkreten Vorstellungen, Abwägungen und Erkenntnisse, also die Produkte menschlichen Bewusstseins und reflektierenden Denkens, eine eigenen Regeln folgende Welt des Geistes. Dessen Inhalte lassen sich nicht unmittelbar aus seinen neurobiologischen Grundlagen ableiten – nicht zuletzt deshalb, weil Vorstellungen, Abwägungen und Erkenntnisse einen permanenten Prozess zwischenmenschlicher Verständigung durchlaufen und sich dadurch auf einer geistigen, symbolischen Ebene weiterentwickeln. Mit den derzeit verfügbaren naturwissenschaftlichen Methoden lässt sich das auf dieser Ebene angesammelte Wissen nicht aus neurobiologischen Prozessen ablesen. Obwohl ihr ohne ihre neurobiologischen Grundlagen der existenzielle Boden entzogen wäre, bildet die Welt des Geistes, des Bewusstseins und der gegenseitigen Verständigung über inhaltliche Vorstellungen und Erkenntnisse ein autonomes System. Ohne diese Welt wären wir gar nicht in der Lage, jene materielle Welt zu erkennen, zu beschreiben und zu verstehen, die – folgt man einem fundamentalen Determinismus – alles Gedachte doch angeblich determinieren soll. Niemand hat die hier zutage tretenden Widersprüche des Determinismus deutlicher zur Sprache gebracht als Jürgen Habermas anlässlich des ihm im Jahre 2004 verliehenen Kyoto-Preises18. Ich selbst vergleiche die Beziehung zwischen Gehirn und Geist gerne mit jener zwischen einem Klavier und der Musik, die darauf gespielt wird. Zwar kann es ohne Klavier keine Klaviermusik geben. Ob auf dem Tasteninstrument jedoch eine Fuge von Bach, eine Sonate von Mozart, eine Polonaise von Chopin oder eine Elegie von Rihm erklingt, wird nicht von dem Klavier – auch nicht von irgendwelchen vorher ablesbaren biologischen Parametern des Pianisten – determiniert. In ganz ähnlicher Weise unterliegen auch die Inhalte von Geist und Bewusstsein keinem physikalisch oder biochemisch vorherbestimmbaren Ablauf. Aus diesem Grunde bleibt die Willensbildung des Menschen dem totalitären Zugriff eines neurobiologischen Determinismus entzogen.
KEIN GEGNER DES FREIEN WILLENS: DAS UNBEWUSSTE
Auch das Unbewusste wurde gegen den freien Willen ins Feld geführt19. Wie kann man von der Willensfreiheit des Menschen ausgehen, wo doch nur ein kleiner Teil unserer geistigen Aktivität unserem Bewusstsein überhaupt zugänglich ist? Die Macht des Unbewussten infrage zu stellen und zu leugnen, dass die Willensbildung eines Menschen auch über unbewusste Mechanismen auf vielfältige Weise beeinflussbar ist, wäre naiv. Ebenso naiv wäre es, mit der Willensfreiheit die Vorstellung zu verbinden, der Mensch könne sich – qua freiem Willen oder auf der Basis von guten Vorsätzen – selbst neu erfinden. Zu den Kontexten, in denen sich die menschliche Willensbildung vollzieht, gehört die eigene, überaus facettenreiche innere Realität mitsamt ihren unbewussten Anteilen20. Zum großen Projekt der Aufklärung gehört auch die Erforschung unserer inneren Realität. Nur so können die Sphäre der Vernunft und die von ihr ermöglichten Steuerungsmöglichkeiten auch nach innen hin erweitert werden. »Wo ›Es‹ war, soll ›Ich‹ werden« war eine der zentralen Ansagen Sigmund Freuds, des bedeutendsten unter den Pionieren der Erforschung des Unbewussten. Nachhaltige Selbstveränderungsprozesse, die wir infolge der über uns gewonnenen Einsichten auf den Weg bringen wollen, gelingen allerdings nur in der Beziehung mit anderen. Niemand kann sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen. Wer sich verändern will, sollte sich daher andere suchen, die ihn begleiten. Die Erhellung dessen, was unserem Bewusstsein nicht zugänglich war, bedarf des zwischenmenschlichen Dialogs oder des philosophischen Diskurses. Psychotherapie ist eine weitere Möglichkeit, im Rahmen einer Arbeitsbeziehung, zusammen mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten, Unbewusstes aufzudecken und Selbstveränderung anzustoßen. Sie ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, einen persönlichen Wachstumsprozess auf den Weg zu bringen.
Das Unbewusste ist, so sehr es sich dem unmittelbaren Einblick unseres Bewusstseins entzieht, keinesfalls eine unzugängliche Sphäre. Sigmund Freuds Werke hinterlassen leicht den unzutreffenden Eindruck, die Beziehung zwischen diesen beiden psychischen Bereichen sei überwiegend antagonistisch oder gar feindselig. Dieser Eindruck mag sich Freud vor dem Hintergrund der rigiden Moralvorstellungen seiner Zeit – vor allem der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – aufgedrängt haben. Tatsächlich verzerrt diese Sichtweise aber das größtenteils kooperative Verhältnis zwischen unbewusster und bewusster Sphäre. Diese gute Zusammenarbeit zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein zeigt sich zum Beispiel in Form von hilfreichen Einfällen, von visionären oder warnenden Träumen, von psychosomatischen Warnsignalen, vor allem begegnet sie uns als begleitendes intuitives Gefühl. Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen dem bewussten und nicht bewussten Bereich der menschlichen Seele also sehr wohl durchlässig und produktiv, was sich auch experimentell zeigen lässt. In einer Studie wurden Probanden beispielsweise gebeten, anhand von objektiven Informationen, aus denen sich allerdings eine insgesamt komplexe Situation ergab, darüber zu entscheiden, welcher von mehreren zur Wahl stehenden Immobilien sie den Vorzug geben würden. Probanden, die sich nach einer ersten Phase der bewussten, rationalen Analyse in einer zweiten Phase ihren nicht bewussten, eher intuitiven Eindrücken überließen, trafen anschließend objektiv die weit besseren Entscheidungen als Vergleichspersonen, welche die gesamte ihnen zur Verfügung stehende Zeit nur für die bewusste, rationale Analyse verwandt hatten21. Sowohl die bewussten als auch die unbewussten Anteile unserer geistigen Aktivitäten gehören zum Ich. Beide Anteile haben Einfluss auf jenen Abwägungsprozess, den wir als freien Willen bezeichnen.
Bedeutsame Entscheidungen, die wir im realen Leben treffen, gehen fast immer aus einem längerdauernden Abwägungsprozess hervor. Sie fallen – anders als im Libet-Experiment – nicht plötzlich und binär, also nicht so, wie wenn man ohne langes Überlegen an einem Schalter ein Licht anknipst. In den Abwägungsprozess, in dessen Verlauf wir zur Wahl stehende Mögichkeiten ausloten, fließen teils unbewusste, teils bewusste Motivationen ein. Beide werden erlebt und sind Teil der Person, welche schließlich bewusst entscheidet. Der – auch von Benjamin Libet geäußerten – Ansicht, dass der Wille nur frei sein könne, wenn ihm keinerlei unbewusste Aktivität im Gehirn vorausgeht, liegt eine wirklichkeitsfremde Vorstellung der Freiheit zugrunde.
DIE GEFÄHRLICHE VERNEINUNG DES FREIEN WILLENS
Ironischerweise hat eine Einflussnahme auf die Überzeugungen, die Menschen zur Frage des freien Willens haben, reale Auswirkungen auf das Verhalten der Betroffenen. Diese Auswirkungen zeigen sich vor allem dort, wo der freie Wille gefragt wäre. Personen, denen man erfolgreich suggeriert, dass es so etwas wie einen freien Willen tatsächlich gar nicht gebe, lassen nachfolgend eine deutlich reduzierte Selbstkontrolle erkennen und verhalten sich, falls sie die Möglichkeit dazu haben, deutlich unmoralischer22. Man hat Testpersonen kurze gedruckte Texte lesen lassen, die den Eindruck eines seriösen wissenschaftlichen Beitrags machten und in denen der freie Wille entweder als existent oder als klar widerlegt bezeichnet wurde. Anschließend unterzog man die Probanden unterschiedlichen Verhaltenstests. Die Testpersonen wurden im Unklaren darüber gelassen, was der eigentliche Zweck der gesamten Prozedur ist. Nicht an die Existenz eines freien Willens zu glauben macht offenbar locker, kann für das menschliche Zusammenleben aber unangenehme oder gar gefährliche Folgen haben. Jedenfalls neigten Personen, die man vor dem Experiment in ihren Überzeugungen dahingehend beeinflusste, es gebe keinen freien Willen, in anschließenden Tests um 50 Prozent häufiger zu betrügerischem Verhalten. In einem anderen, amüsanten Experiment mixten Probanden einen Cocktail für Gäste, über die mitgeteilt wurde, dass sie keine scharfen Drinks mögen. Die Probanden konnten bei der Zubereitung des Cocktails, die im Nebenzimmer stattfand, auch eine scharfe Salsa-Sauce verwenden. Verglichen mit der Kontrollgruppe derer, die an einen freien Willen glaubten, mischten die von seiner Nichtexistenz überzeugten Testpersonen ihren Gästen die doppelte Menge Salsa-Sauce in die Drinks. Personen, denen man den Glauben an den freien Willen ausgetrieben hatte, zeigten, bezogen auf eine Vergleichsgruppe, auch eine objektiv reduzierte Fähigkeit zur Impulskontrolle und eine Abschwächung des sogenannten Bereitschaftspotenzials, also jenes aus der Hirnstromkurve abgeleiteten Signals, welches Benjamin Libet, Gerhard Roth und Wolf Singer irrigerweise als Begründung dafür herangezogen hatten, den freien Willen als nicht existent zu erklären23.
Welchen von zwei Narkoseärzten würden Sie in Kenntnis der Konsequenzen, die sich aus der Einstellung zum freien Willen ergeben können, wählen: den, der von der Existenz des freien Willens überzeugt ist, oder den, der das nicht ist? Oder stellen wir uns die Situation in einem Flugzeug vor, in dem zahlreiche Wissenschaftler auf dem Weg zu einem Kongress über den freien Willen sitzen. Alle sind von dessen Nichtexistenz überzeugt. Wie würde sich die Stimmung in der Maschine entwickeln, wenn der Pilot – der weiß, wen er da an Bord hat – vor dem Abflug kurz aus der Kabine käme, seine Passagiere mit einer Ansprache begrüßen und ihnen herzlich danken würde, denn seit er wisse, dass es keinen freien Willen gebe, sei er bei seiner Arbeit als Pilot sehr viel lockerer und entspannter als zuvor? Sollte sich der Pilot übrigens irgendwann einmal eines Vergehens schuldig machen, dann sollte er auf Richter hoffen, die nicht an den freien Willen glauben. Denn Untersuchungen zeigen, dass Richter, die man von der Nichtexistenz des freien Willens überzeugt hat, für weniger harte Strafen plädieren.
Die Milde gegenüber Übeltätern – freier Wille hin oder her – findet offenbar dann ihr jähes Ende, wenn man vom Schaden selbst betroffen ist. Das zeigt ein klassisches Experiment, das Testpersonen in zwei Gruppen einteilt. Die Teilnehmer können durch eigene Einzahlungen aus einem ihnen zur Verfügung gestellten Guthaben dazu beitragen, dass die Gruppe als Ganzes einen Gewinn erwirtschaftet. Dieser Gewinn wird am Ende unter allen Probanden aufgeteilt. Die Regel sieht allerdings vor, dass auch Trittbrettfahrer mitprofitieren, die nur wenig oder keine Einzahlungen geleistet haben. Fragt man Menschen zu Beginn dieses Experiments, ob sie sich lieber der großzügigen, liberalen Gruppe anschließen wollen oder der Gruppe, die ihre Trittbrettfahrer finanziell abstrafen kann, entscheidet sich nur ein Drittel aller Angefragten für die strenge Gruppe. Warum aber entscheiden sich 100 Prozent der Teilnehmer, nachdem sie in dreißig Testdurchläufen eigene Erfahrungen mit Trittbrettfahrern gemacht haben, für die Gruppe, die Trittbrettfahrer verantwortlich machen und abstrafen kann?
KANN KEINER ANDERS, ALS ER IST?
Die Verneinung der menschlichen Entscheidungsfreiheit ist nicht nur in der Sache irrig und unhaltbar. Hinzu kommt, dass die falsche Botschaft, die Neurowissenschaft habe die Existenz des freien Willens widerlegt, in hohem Maße unsinnige und schädliche Konsequenzen für das soziale Zusammenleben haben dürfte. Eine in den Wohlstandsländern ohnehin bereits vorhandene Tendenz, sich in allen Belangen als Opfer, aber für nichts verantwortlich zu sehen, würde zur offiziellen und von der Wissenschaft abgesegneten Doktrin erklärt. Jeder Delinquent könnte sich hinter den angeblich unausweichlichen neurobiologischen Ursachen seines Verhaltens verstecken, wobei diese natürlich ihrerseits durch Vor-Ursachen unausweichlich vorbestimmt waren. Der Determinismus ist eine Ideologie, die jede Initiative, Kreativität und Entschlossenheit lähmt. Alles, was uns bliebe, wären Serien verhängnisvoller Ursachen, die ihren Anfang einst in der frühen Kindheit, vielleicht schon bei der Zeugung oder – besser noch – im Moment des Urknalls nahmen. Der Versuch, Betrüger zur Rechenschaft zu ziehen, wäre sinnlos, denn jeder Finanzspekulant, der riesige Vermögensbeträge vieler kleiner Leute vernichtet hat, hatte mit Sicherheit eine schwere Kindheit, ebenso natürlich auch die am Tresen tätigen Bankberater und all die kleinen Anleger, die sich in ihrer Gier nach hohen Zinsen von ebendiesen Beratern unsinnige Finanzprodukte andrehen ließen. Alle konnten nicht anders, als sie sind, alle sind Opfer.
Die durch den Determinismus vollzogene Abschaffung des freien Willens würde Heerschaaren von Unschuldigen produzieren. Persönliche Verantwortung wäre abgeschafft. Sie wird durch Sozialarbeiter ersetzt, auf die von nun an jedermann Anspruch hat. Selbstverständlich sehen wir uns auch beim Wandel des globalen Klimas primär als Opfer und nicht als Mitverantwortliche, die wir angesichts unseres Konsum- und Mobilitätsverhaltens sind. Und natürlich sind es nicht etwa die zurückgehende erzieherische Zuwendung von Eltern und nicht der Mangel an Anstrengungsbereitschaft unserer durch diesen Rückgang teilweise wohlstandsvernachlässigten Kinder, der ihnen Probleme in der Schule bereiten, sondern andere sind schuld, vorzugsweise »die Politik«, »das Schulsystem« und »die Lehrer«. Auch bei den in erschreckendem Ausmaß zunehmenden, durch Lebensstile in hohem Maße mit beeinflussten chronischen Erkrankungen – Diabetes, Herzkrankheiten, Krebserkrankungen und Demenzen – gilt selbstverständlich, um mit Arthur Schopenhauer und Wolf Singer zu sprechen: Keiner kann anders, als er ist. Schuld ist die Gesellschaft, der Stress, oder es sind die Gene. Welchen besseren Begleitschutz gäbe es für eine Gesellschaft der Opfer, die sich auf den Weg in die gelernte kollektive Hilflosigkeit aufzumachen scheint, als die scheinbar gesicherte Erkenntnis der Nichtexistenz des freien Willens?
LUST AUF FREIHEIT UND SELBSTSTEUERUNG
In den wohlhabenden Ländern des Westens formiert sich derzeit Widerstand gegen einen schleichenden Prozess zunehmender Einengung unserer Autonomie, wachsender Abhängigkeiten und unmerklicher Infantilisierung24. Merkmale dieses Prozesses sind einerseits ein hohes Maß an arbeitsbedingtem – oder durch Arbeitslosigkeit verursachtem – Stress25. Zum anderen ist eine Übersättigung spürbar. Sie betrifft den Überfluss an minderwertigen und ökologisch problematischen