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Nominiert für den NDR-Sachbuchpreis: »Menschen brauchen, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben, die analoge Präsenz anderer Menschen.« JOACHIM BAUER
Die Menschlichkeit ist in Gefahr. Künstliche Intelligenz wird unsere Lebenswelt radikal verändern – ob am Arbeitsplatz, in Schulen, in der Medizin oder in vielen anderen Bereichen. Ihre Schöpfer verkaufen KI als dem Menschen ebenbürtig, ja überlegen. Gleichzeitig fliehen wir vor der Realität immer öfter in die virtuellen Welten der sozialen Netzwerke, Apps und Games.
In seinem neuen Buch mahnt der Arzt, Neurowissenschaftler und Bestseller-Autor Joachim Bauer: Reale Begegnungen, zwischenmenschliche Resonanz und analoge Präsenz sind für die Entwicklung des menschlichen Selbst, für unsere Gesundheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar.
Ein Plädoyer für ein neues Zeitalter der Aufklärung, für ein Aufbegehren gegen digitale Unmündigkeit.
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Seitenzahl: 249
Zum Buch
»Menschen brauchen, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben, die Präsenz anderer Menschen.« Joachim Bauer
Die Menschlichkeit ist in Gefahr. Künstliche Intelligenzen unterrichten unsere Kinder, Computerprogramme schreiben uns Opern, Roboter betreuen unsere Alten und Kranken. Was unlängst noch nach Science Fiction klang, verändert unsere Lebenswelt radikal. Gleichzeitig fliehen wir vor der Realität immer öfter in die virtuellen Welten der sozialen Netzwerke, Apps und Games.
In seinem neuen Buch warnt der Psychologe, Neurowissenschaftler und Bestseller-Autor Joachim Bauer eindringlich: Reale Begegnungen, zwischenmenschliche Resonanz und echte Präsenz sind für die Entwicklung des menschlichen Selbst, für unsere Gesundheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar.
Ein dringender Aufruf für ein neues Zeitalter der Aufklärung, in dem der Mensch gegen digitale Unmündigkeit aufbegehrt.
Zum Autor
Prof. Dr. med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut. Nach erfolgreichen Jahren an der Universität Freiburg lehrt und arbeitet er heute in Berlin. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er den renommierten Organon-Preis. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, unter anderen Warum ich fühle, was du fühlst. Zuletzt erschienen der SPIEGEL-Bestseller Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens (2015), Wie wir werden, wer wir sind – Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz (2019) und Fühlen, was die Welt fühlt (2020).
JOACHIMBAUER
REALITÄTS
VERLUST
Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen
und die Menschlichkeit bedrohen
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Originalausgabe 2023
Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com (VAlex)
Satz: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-30520-8V005
www.heyne.de
Meinen beiden Enkeln Jolie Sol und Henry und den Kindern ihrer Generation
Inhalt
Vorwort
1. Zurück hinter die Aufklärung? Ein Phänomen namens »Digitale Mystik«
2. Menschliche Eigenschaften
3. Die digitale Inbesitznahme des Menschen: Wenn Werkzeuge ihre Besitzerinnen und Besitzer beherrschen
4. Realitätsverlust in Vollendung: Die Techno-Religion des Transhumanismus
5. Das menschliche Gehirn, Künstliche Intelligenzen und die Frage des Bewusstseins
6. Digitaler Narzissmus
7. Bewahrung der Humanität in einer digitalen Welt
Worte des Dankes
Wissenschaftliche Biografie des Autors
Literatur
Anmerkungen
Register
Vorwort
Wenn wir sie als Werkzeuge benutzen, anstatt uns zu ihren Werkzeugen machen zu lassen, können digitale Produkte unser Leben bereichern. Doch wir sind dabei, den Kipp-Punkt zu überschreiten.
Digitale Angebote haben begonnen, unser Leben in Besitz zu nehmen. Ohne dass es uns auffällt, nehmen sie uns sanft an die Hand und ersetzen die analoge, zwischenmenschliche Realität mit ihren digitalen Kommunikationskanälen und Erlebnisräumen. Der Wandel kommt wie eine Hilfestellung einher: Man hilft uns beim Gehen, bis wir nicht mehr gehen können. Man hilft uns beim Denken, bis wir nicht mehr denken können.
Chat-GPT, Bard, DALL-E, Midjourney: Eine merkwürdige Ehrfurcht vor der Potenz der digitalen Angebote und der Glaube an ihre Versprechungen haben nicht nur Millionen Konsumenten erfasst, sondern auch akademische Kreise und wissenschaftliche Kommissionen. Zugleich versucht das Narrativ des Transhumanismus, eine gefährliche digitale Mystik, die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verschwimmen zu lassen.
Hinter dem Austausch der Wirklichkeit durch Simulationen stehen Machtinteressen und Geschäftsmodelle. Die Realität nicht infrage zu stellen, ist eine Voraussetzung für die Bewahrung der Humanität. Mit diesem Buch möchte ich einem im Gang befindlichen hypnotischen Prozess, der uns in jene Unmündigkeit zurückführen soll, aus dem uns die Aufklärung einst herausgeführt hatte, etwas entgegensetzen.
Berlin, im Frühjahr 2023
1. KAPITEL
Zurück hinter die Aufklärung? Ein Phänomen namens »Digitale Mystik«
Meistens verzeiht das Leben, wenn Menschen kurz aus der Realität gehen. Körperlich anwesend und geistig abgelenkt, »woanders« oder abwesend zu sein, sind kleine Realitätsverluste. Sie sind jedem Menschen wohlbekannt. Sie treten vermehrt dann auf, wenn die Realität uns durch Langeweile unterfordert, durch Ödnis abstößt oder wenn sie uns Zumutungen oder Schmerzen aussetzt, die uns überfordern. Es gibt unterschiedliche Formen und Schweregrade geistiger Abwesenheit. Man kann bekanntlich »da sein« und zugleich doch »nicht da sein«. Kinder erleben das nicht selten, wenn sie ihre Eltern oder andere Bezugspersonen ansprechen und dann feststellen, dass die erwachsene Person »mit ihren Gedanken woanders« (zum Beispiel mit dem Handy beschäftigt) ist und auf Ansprache nicht reagiert. Die Tendenz des Menschen, geistig woanders, also nicht da zu sein, wo er körperlich ist, steht in engem Zusammenhang mit der realen Situation, in der sich eine Person befindet. Kinder und Jugendliche, denen es gut geht, weil die Realität ihnen etwas zu bieten hat, zeigen sich geistig in der Regel präsent. Wenn ein Kind plötzlich vermehrt abwesend wirkt, spüren wir intuitiv und völlig zu Recht, dass beim Kind etwas nicht stimmt, dass es im realen Leben mit etwas belastet ist und sich aus der Realität auszuklinken beginnt. Nicht anders ergeht es Jugendlichen und Erwachsenen.1
Meistens tritt kein Schaden ein, wenn Menschen »woanders« sind. Manchmal aber doch. Denn der erste Realitätsverlust kann einen zweiten, schwerwiegenderen zur Folge haben. Wie vor einigen Jahren, als der Fahrdienstleiter eines Stellwerks der Bahn zwischen vier und fünf Uhr in der Frühe gegen die Ödnis der Realität am Ende der Nacht ankämpfen musste. Berufstätige, die jemals Nachtdienste leisten mussten, wissen, wie schwierig es ist, in der zweiten Nachthälfte durchzuhalten. Anstatt in der Realität zu bleiben, die ihm zumutete, ständig die Bildschirme im Auge zu behalten, wechselte der Fahrdienstleiter in eine Ersatzrealität und begann, auf seinem Smartphone ein Videospiel zu spielen. Dieser erste, sozusagen innere oder persönliche Realitätsverlust hatte einen fatalen zweiten, äußeren zur Folge: die Kollision von zwei Zügen und den Tod von zwölf Menschen.2 Dieses furchtbare Einzelereignis ist eine Metapher für eine Entwicklung, die sich in der Breite unserer westlichen Gesellschaften abspielt und in ihrer Tragweite noch nicht erkannt ist. Wie immer gehen die USA voran. Die Schwierigkeit, das reale Leben zu ertragen, hat dort für immer mehr Menschen beängstigende Ausmaße angenommen, wie der massenhafte Konsum von Opioiden, die ständig weiter zunehmende Gewalt und die irrationalen Trends der dortigen politischen Landschaft zeigen.
Aus verschiedenen Gründen scheint das reale Leben auch in Deutschland für immer mehr – vor allem junge – Menschen immer schwerer erträglich zu sein, wie auch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen. Als Ergebnis steigen viele aus der Realität aus und wechseln in die virtuellen Räume des Internets, in die sozialen Medien, in die Welt der Videospiele und demnächst ins Metaversum. Was zur Folge haben wird, dass uns diese Menschen fehlen, um die reale Welt als Ort der Menschlichkeit zu bewahren und ökologisch zu retten. Junge Klimaschützer erregen zwar viel Aufsehen, sie repräsentieren aber nur einen sehr kleinen Teil der jungen Generation. Viele Akteure aus den Top-Etagen der Tech-Konzerne, welche die digitale Revolution vorantreiben und an ihr verdienen, beschreiben die reale Welt schon jetzt als angeblich unrettbar verloren. Die reale Welt mit aller Macht retten zu wollen, wäre für Digital- und Medienkonzerne wenig profitabel. Filme, die das Denken der Bevölkerung, vor allem junger Menschen, in den letzten zwanzig Jahren massiv prägten, haben diese fatale resignative Entwicklung gebahnt. Matrix, Ready Player One, zuletzt Avatar gehören zu einer langen Serie von Science-Fiction-Filmen, die, begleitet von nicht weniger wichtigen Büchern, von einer vermüllten oder apokalyptisch zerstörten realen Welt erzählen, die einem keine andere Wahl lasse, als in virtuelle Welten umzusiedeln.
Topmanager wie Ray Kurzweil oder Philosophen wie Nick Bostrom, David Chalmers oder Yuval Harari, die zu den einflussreichsten Denkern unserer Zeit gehören, sprechen von der notwendigen technologischen »Verbesserung« (»Enhancement«) des Menschen. Sie beschreiben den menschlichen Körper als Maschine, die man irgendwann digital simulieren und ersetzen könne. Die Zukunft seien simulierte, virtuelle Welten. Dies sei kein Grund zur Besorgnis, denn auch unsere scheinbar reale Welt sei, so schreiben David Chalmers3 und andere, von höherer Stelle aus simuliert (siehe Kapitel 4). In diesem Denken bahnt sich ein Realitätsverlust in einer ganz neuen Größenordnung den Weg. Dadurch, dass wir in nicht mehr allzu ferner Zukunft unser Bewusstsein auf Computer hochladen (»uploaden«) lassen könnten, würden wir – allen Ernstes – unsterblich werden können. Hinter dieser digitalen Mystik stehen wirtschaftliche und politische Interessen. Ziel ist das Abkassieren und die politische Lenkung der Massen. Tatsächlich hat die Methode, Menschen mit einer Jenseitswelt aus der Realität wegzulocken, ihnen ewiges Leben zu versprechen und sie dabei abzukassieren, historisch betrachtet erstaunlich gut und lange funktioniert. Das Mittelalter dauerte rund eintausend Jahre. Die heraufziehende digitale Mystik zeigt frappierende Parallelen zur Mystik des Mittelalters. Wie damals, so gefährdet sie auch heute die Humanität. Davon handelt dieses Buch.
Mittelalterliche Mystik
Die Mehrzahl der im Mittelalter lebenden Menschen fristete ihr reales Dasein in Armut. Unsere Vorfahren jener Zeit waren macht- und rechtlos und mussten hart arbeiten, um die vom Adel und von Klöstern geforderten Abgaben zu erwirtschaften. Das Versprechen war, es gebe neben der realen Welt, die als »Jammertal« beschrieben wurde, ein »Anderswo«, eine Jenseitswelt, in der es sich frei, glücklich und ewig leben lasse. Das Versprechen beinhaltete auch die Unsterblichkeit. Ein derartiges Narrativ kann seine Wirkung nur entfalten, wenn es bis in den letzten Winkel der Gesellschaft medial verbreitet wird. Die mediale Infrastruktur des Mittelalters waren die Kirchen – sowohl im Sinne der Organisation als auch ganz konkret im Sinne der Kirchenbauten und Kapellen. Die Kirchen waren der öffentliche Raum jener Zeit. Mindestens einmal, oft sogar mehrfach wöchentlich hörten die Gläubigen in Gottesdiensten und Gebetsstunden das zentrale Narrativ und wiederholten es gebetsweise zu Hause. Als »Endgeräte« – um den modernen Begriff der »digitalen Endgeräte« zu paraphrasieren – dienten ihnen der Rosenkranz, an Ketten umgehängte oder in der Stube aufgehängte Kreuze und Marienbilder, gelegentlich auch kleine Hausaltäre. Von ganz besonderer medialer Bedeutung waren die Kirchenfenster.
Die einfache Bevölkerung des Mittelalters bestand aus Analphabeten, ein Zustand, dem sich erschreckend viele unserer jungen Menschen heute wieder annähern. Statt Texten bedurfte es daher der Bilder, in denen die mündlich, über Predigten und Gespräche, verbreiteten Erzählungen wirkungsvoll dargestellt waren. Die gotische Bauweise der Kirchen generierte gewaltige Fensterflächen. Ihre eindrucksvolle Materialität gab den auf ihnen dargestellten Jenseitswelten den Anstrich einer nach dem Tod zu erwartenden Tatsächlichkeit. Hinzu kamen das Orgelspiel, die Altäre und Skulpturen der heiligen Personen, die im Jenseits angeblich auf die Gläubigen warteten. Die Macht des Narrativs und die Medialität, mit der es verbreitet wurde, brachten die Gesellschaft »auf Linie«, was nicht nur hieß, sich gegen Adel oder Klerus nicht aufzulehnen, sondern für das Versprechen der Jenseitigkeit sogar zu bezahlen. Wenn die Religion sozusagen das mittelalterliche »Spiel« war, das gespielt wurde, dann entsprach der Ablasshandel dem, was wir heute, in Zeiten der Videospiele und des Metaversums, als »In-Game-Käufe« bezeichnen würden: Man bezahlte, um in der Jenseitswelt gut dazustehen. Eine letzte, besonders pikante Parallele zwischen heute und der damaligen Zeit betrifft den Aspekt des Datenabflusses und die dadurch gegebenen Überwachungsmöglichkeiten: Wer im Mittelalter nicht beichtete und sein Privatleben nicht offenlegte, kam nicht in den Himmel. Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han bezeichnete das Smartphone zu Recht als »mobilen Beichtstuhl«.4
Es dauerte bis zum 14. Juli 1789, bis dem mittelalterlichen Spuk endgültig ein Ende bereitet wurde. Die Französische Revolution, an die dieses Datum erinnert, symbolisiert die Epoche der Aufklärung, einen historischen Prozess, der schon lange vor ihr – mit der italienischen Renaissance und Martin Luthers Reformation – begonnen hatte und der auch lange danach, ja bis zum heutigen Tag noch nicht wirklich vollendet wurde. Über das Mittelalter und die Bedeutung der Aufklärung mag viel gesagt und geschrieben worden sein. Doch da gibt es einen noch wenig beachteten Aspekt: Die Aufklärung bedeutete einen Realitätsgewinn. Ein Hauptkennzeichen des Mittelalters war die Realitätsabkehr, also die den Menschen der damaligen Zeit auferlegte Realitätsverleugnung. Wir können heute nur schwerlich erraten, wie es sich anfühlte, als einfacher Mensch im Mittelalter zu leben. Man darf aber vermuten, dass das Maß der mentalen Präsenz im Hier und Jetzt angesichts der Unerträglichkeit des damaligen Lebens auf das Nötigste herabgesetzt und in Richtung eines antizipierenden Sich-Wegträumens in eine jenseitige Welt umgelenkt war. Dass die Annahme eines solchen quasi immersiven »Woanders-Seins« vieler mittelalterlicher Menschen keine völlig abwegige Idee ist, zeigen die zahlreichen christlichen Mystiker jener Zeit, unter ihnen Hildegard von Bingen (1098–1179), vor allem aber Meister Eckhart (1260–1328), später dann Teresa von Ávila (1515–1582). Der sich in der Mystik zeigenden Verminderung von gegenwärtiger Präsenz entsprach eine – zumindest graduelle – Hinnahme der Beschönigung der Realität. Gegenüber dem mittelalterlichen Jenseitszauber war die Aufklärung ein Gewinn von Realität, ja wahrscheinlich sogar ein Realitätsschock aufgrund der unweigerlichen Zumutungen, die mit einem ungeschönten, schonungslosen Blick auf die reale Welt verbunden sind.
Der Realitätsgewinn der Aufklärung ließ offenbar werden, was über Jahrhunderte nicht gesehen und geglaubt werden durfte: dass sich einfache Menschen von Natur aus nicht von Menschen in den Eliten, im Adel und im Klerus unterschieden, sondern alle Menschen tatsächlich gleich sind; dass jede und jeder Einzelne gleich viel zählt, gleiches Recht beanspruchen darf und nicht als Fußvolk für Helden und Heilsbringer herhalten muss; dass Menschen, anstatt Abwertungen des realen Lebens hinzunehmen und sich auf eine Jenseitswelt vertrösten zu lassen, sich solidarisch zusammenschließen, ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen und das Elend der realen Welt zum Anlass nehmen können, diese in einen besseren, lebenswerten Ort zu verwandeln. Dazu musste allerdings die zu allen Zeiten vorhandene Neigung des Menschen, sich süßen Narrativen und Vertröstungen hinzugeben und in ein »Anderswo« auszuweichen, abgelöst werden. Dies geschah durch eine Rückkehr zur geistigen Präsenz, durch Mut zur Vernunft und einen nüchternen Blick auf die Realität.5
Gesunden Menschen beim Gehen helfen, bis sie nicht mehr gehen können
Ernst zu nehmende Hinweise legen nahe, dass wachsende Teile unserer heutigen Gesellschaften des Westens dabei sind, unter dem Einfluss von digitalen Angeboten hinter wesentliche Errungenschaften zurückzufallen, die wir der Aufklärung verdanken. Dies zeigt sich zunächst an der von Smartphones verursachten Tendenz, mental nicht in der gegenwärtigen Situation zu sein, sondern bevorzugt und gerade dann mit nicht Anwesenden in Verbindung zu treten, wenn man mit (einer) real anwesenden Person(en) zusammengetroffen ist. Es zeigt sich an der von den Social Media ausgehenden Wirkung, seine tatsächliche, als zu wenig glanzvoll empfundene Existenz in Accounts zu verlagern, sich den Diktaten der Selbst-Verschönerung und der Influencerinnen zu unterwerfen, sich in eine andere Person zu verwandeln und die Realität durch inszenierte Auftritte im Social-Media-Account zu ersetzen. Noch schwerwiegender ist, dass ein wachsender Anteil der Bevölkerung, insbesondere beachtliche Anteile der jüngeren Jahrgänge, sich täglich – oft bis weit in die Nacht – über Stunden in die virtuellen Welten der Videospiele verabschiedet. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen weiß man, dass die Betroffenen ausdrücklich bestätigen, eines der Hauptmotive sei, der zu langweilig oder zu beschwerlich gewordenen Wirklichkeit zu entfliehen. Dieses als Eskapismus bezeichnete Verhalten, der Wirklichkeit zu entkommen (Englisch: »to escape«), ist vielen Spielern eine Menge Geld wert, das sie durch sogenannte In-Game-Käufe in den Spielen ausgeben. Eine besondere Art des Ablasshandels. Eine Steigerung des Gamings ist das vor seinem Durchbruch stehende sogenannte Metaversum, eine virtuelle Ersatzwelt, in der sich nach Vorstellung der großen Digitalkonzerne in naher Zukunft das gesamte Leben – Arbeit, Freizeit, Sozialkontakte eingeschlossen – abspielen soll.
Der Verlust der Realität geschieht in kleinen Schritten. Er vollzieht sich suggestiv und vermeidet größere Fallhöhen. Die digitalen Angebote reichen uns die Hand und sorgen für Bequemlichkeit. Man hilft gesunden Menschen so lange beim Gehen, bis sie nicht mehr selbst gehen können. Ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit sind Chatbots wie Chat-GPT oder Bard. Dabei handelt es sich um mit sogenannter Künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattete Maschinen, die wahllos mit Millionen von Texten aus dem Internet gefüttert wurden, deren Inhalte sie in einer auch für Fachleute nicht nachvollziehbaren Weise miteinander verbinden (siehe Kapitel 5). Was sich in den auch von ihren Herstellern nicht einsehbaren Künstlichen Neuronalen Netzen dieser Maschinen gesammelt und auf nicht nachvollziehbare Weise miteinander verknüpft hat, dient dazu, die Fragen von (inzwischen) Millionen Nutzern zu beantworten, ohne dass überprüfbar ist, auf welche Quellen sich die gegebenen Auskünfte beziehen und ob sie wahr sind. Künstliche Intelligenzen sollen den Menschen ersetzen, in der Kindererziehung, in Schulen und Universitäten, in der Medizin, in den Verwaltungen, bei Polizei, Justiz und im Militär. Man hilft gesunden Menschen beim Denken, bis sie nicht mehr denken können. Die vordergründige Freundlichkeit, mit der dies geschieht, macht aus dem Verlust der Realität einen hypnotischen, der bewussten Wahrnehmung entzogenen Prozess. Dieses Buch soll der Hypnose ein Ende setzen, es soll den mit der Digitalisierung verbundenen Präsenz- und Realitätsverlust bewusst machen und uns seine weitreichenden Folgen vor Augen führen.
Digitale Mystik in Vollendung: Der Transhumanismus
Die vorgetragenen Hinweise mögen manchen vielleicht noch nicht ausreichen, um eine Parallele zwischen der religiösen Mystik des Mittelalters und einer sich anbahnenden digitalen Mystik zu sehen. Die Signifikanz einer solchen Parallele lässt sich aber spätestens dann nicht mehr von der Hand weisen, wenn man den sogenannten Transhumanismus einbezieht, eine techno-ideologische Bewegung, zu deren Anhängern einige der reichsten und einflussreichsten Männer dieser Erde zählen. Der Transhumanismus, mit dem wir uns noch genauer befassen werden, betrachtet Menschen als biologische Maschinen, gesteuert durch Algorithmen, die physikalischen und chemischen Regeln folgen und durch Computer simuliert werden können. Der Transhumanismus sieht die Zukunft des Menschen zunächst in dessen technologischer »Verbesserung« (»Enhancement«), im Weiteren dann in der Simulation des menschlichen Körpers und schließlich in der Ablösung des menschlichen Geistes durch Künstliche Superintelligenzen. Wie der Körper, so lasse sich auch das menschliche Gehirn simulieren, mit Chips statt Nervenzellen. Der menschliche Geist sei ein Computerprogramm, das sich in einen Computer übertragen lasse, ein als »Mind Uploading« bezeichneter Prozess. Bei diesem Uploading werde auch das Bewusstsein mittransportiert, die Seele wechsle mit der Übertragung vom Körper auf den Computer sozusagen das Pferd. Mit einem »Mind Uploading« erlange der Mensch Unsterblichkeit. Natürlich brauchen simulierte Gehirne oder auf Computer hochgeladene Geister auch eine Umwelt. Da viele Transhumanisten davon ausgehen, dass die reale Welt nicht zu retten ist, sollen digital simulierte Ersatzwelten an ihre Stelle treten: ein digitales Jenseits, kein »Himmel auf Erden«, sondern ein »Himmel im Computer«.
Zu den Gläubigen des Transhumanismus zählen, die Namen wurden schon erwähnt, Topexperten der Digitaltechnologie wie Ray Kurzweil (Leiter der technischen Entwicklung bei Google/Alphabet), die Chefs großer Technikkonzerne und einflussreiche Philosophen wie Nick Bostrom aus Oxford, David Chalmers aus New York sowie ihr israelischer Kollege Yuval Harari. Hören wir auf David Chalmers, den derzeit bedeutendsten US-amerikanischen Philosophen: »Ein simuliertes Gehirn ist ein digitales System, das auf einem Computer läuft. … Es gibt keinen allgemeinen Grund, warum ein digitales System nicht ein Bewusstsein haben sollte.«6 Der realen Erde geben die Wortführer des Transhumanismus keine Zukunft, was keine Überraschung ist angesichts der Tatsache, dass sie fast alle aus dem angloamerikanischen Raum stammen, wo Wirtschaftssysteme herrschen, in denen das Recht des Stärkeren gilt und wo weder die Bewahrung der Umwelt noch soziale Fairness eine Rolle spielen.
Postapokalyptische Sichtweisen spiegelten sich bereits vor vielen Jahren in Werken der Science-Fiction-Literatur wider, wie etwa in Philip K. Dicks 1968 publiziertem Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen?, der 1982 von Ridley Scott verfilmt wurde. Auch zahlreiche neuere Bücher und Filme, zuletzt Steven Spielbergs bereits erwähnter Ready Player One (2018), Vesper Chronicles von Kristina Buozytè und Bruno Samper (2022) und James Camerons schon genannter Avatar (2022) unterstellen eine apokalyptische, verlorene reale Welt. Einflussreiche Darstellungen dieser Art haben das Potenzial einer »Self-Fulfilling Prophecy«. Auch David Chalmers geht, wie seinerzeit die frühen Christen, davon aus, dass die Apokalypse kurz bevorsteht: »Es ist das Jahr 2095. Die Erdoberfläche ist ein Wrack, Opfer eines nuklearen Krieges und des Klimawandels. Du könntest jetzt entweder eine armselige Existenz fristen, versuchen, die Begegnung mit Gangstergruppen zu vermeiden und Minen auszuweichen, mit dem einzigen Streben, am Leben zu bleiben. Oder aber du lässt deinen physischen Körper im Fach einer gut gesicherten Lagerhalle einschließen und begibst dich in eine virtuelle Ersatzwelt.«7
Mit dem, was ich als digitale Mystik bezeichne, soll uns ein Szenario unterbreitet werden, welches in hohem Maße dem gleicht, das Kirche und Adel im Mittelalter verbreitet haben. Das Elend der Erde sei mehr oder weniger unabwendbar. Anstatt auf die Möglichkeit zu fokussieren, die Probleme dieser Erde in einer großen solidarischen Kraftanstrengung gemeinsam anzugehen, sollen wir Menschen uns mit Angeboten abgeben, die uns verführen, weil sie uns das Leben ein wenig erleichtern und von der Wirklichkeit ablenken. Nochmals mein Diktum: Man hilft Menschen so lange beim Gehen, bis sie nicht mehr gehen können, man hilft ihnen so lange beim Denken, bis sie nicht mehr denken können. Digitale Endgeräte und simulierte Welten als Opium des Volkes. Die Erlösung von unseren realen Nöten, so wurde den Menschen damals und so wird ihnen auch heute suggeriert, liegt in Angeboten, die darauf abzielen, Geistesgegenwart – was ich eingangs als »Präsenz« bezeichnet habe – zu betäuben, den Blick von der Realität abzuwenden und auf das Versprechen einer Jenseits-Welt zu richten.
Ein Kernelement sowohl der damaligen als auch der heutigen Inszenierung ist die finanzielle Ausbeutung. Die süßen Effekte der Schmerzlinderung, die im Mittelalter mit dem Versprechen einer Erlösung von allen Leiden im himmlischen Jenseits verbunden waren, haben den Ablasshandel der damaligen Kirche nicht als das erscheinen lassen, was er war: ein unmoralisches Kasse-Machen. Heute sind es Smartphones und Spielkonsolen, demnächst wird es das Metaversum sein, das uns jene Analgesie, also Schmerzlinderung verabreicht, die uns nicht spüren lässt, dass wir durch den Abfluss von Daten und Geld abgezockt werden. Während Teile der Gesellschaft – vor allem immer mehr jüngere Menschen, deren Engagement und Kompetenzen wir für die Bewältigung der Zukunftsprobleme dringend bräuchten – täglich stundenlang die weitgehend sinnentleerten Kommunikationskreisläufe der sozialen Netzwerke am Laufen halten oder in virtuellen Räumen spielen, steigt der Analphabetismus und der Anteil derer, die sich von der Gesellschaft nicht gebraucht und liegen gelassen fühlen. Es ist diese Art von Realitätsverlust, die ich mit dem Titel meines Buches meine. Wenn wir diesem Szenario weiter ungebremst seinen Lauf lassen, befinden wir uns auf dem Weg zurück, zurück hinter die Aufklärung.
Überraschende Parallelen: Digitale und mittelalterliche Mystik im Vergleich
Mittelalterliche Mystik (Kirche)
Digitale Mystik (Tech-Konzerne, Transhumanismus)
Verbreitung
Ubiquitär: Kirchliche Infrastrukturen
Ubiquitär: World Wide Web
Medialität
Beeindruckung durch Kirchenräume, Kirchenfenster und Orgelspiel
Beeindruckung durch technische Effekte und die Fantastik virtueller Welten
Botschaft
Sich den Erwartungen der Obrigkeit anpassen; Leidensfähigkeit trainieren, Kampf gegen die eigenen Bedürfnisse;
Selbstwertzuwachs durch christliche Tugenden
Tun, was andere tun; sich den Erwartungen (z. B. von Influencerinnen) anpassen; sich mit anderen vergleichen; Selbstwertzuwachs durch Videospiele, und hier vor allem Kämpfen
Verachtung des natürlichen Körpers
Körper als Ursache von Begierden und Sexualität
Körper als Verursacher von Gefühlen, von Krankheit und Sterblichkeit
Versprechen
Gesundheit durch Frömmigkeit, Krankheit als Strafe; Erlösung und ewiges Leben im Himmel
Befreiung von Krankheit und Alterung durch »Human Enhancement«; ewiges Leben durch »Mind Uploading«
Finanzielle Ausbeutung
Ablasshandel
In-Game-Käufe bei Spielen und im Metaversum, Kosten beim Kauf der Spiele
Kontrolle
Aushorchen durch Beichte
Aushorchen durch Daten-Abfluss
Selbstbeschwichtigung
»Habe nichts zu verbergen, Gott sieht sowieso alles«
»Habe nichts zu verbergen, die Konzerne sehen sowieso alles«
Fetische, unsichtbare Marionettenfäden, Alltagspraxis
Rosenkranz, tragbare Kreuze, Gebete
Digitale Endgeräte, Apps, Social Media, Videospiele
Leit- und Identifikationsfiguren
Im Diesseits: Papst, Kardinäle, Bischöfe, Adel
Im Jenseits: Biblische Figuren, Heiliggesprochene
Im Diesseits: Bosse von Tech-Konzernen (Mark Zuckerberg, Elon Musk), IT-Experten (Ray Kurzweil, Sam Altman); Philosophen (Nick Bostrom, David Chalmers, Yuval Harari)
Im Jenseits: »Helden« in Science-Fiction-Romanen, Filmen und Videospielen
Bündnisse der Mächtigen
Zusammenarbeit von Kirche und Staat, Kaiser und Papst; Bischöfe als kirchliche und zugleich weltliche Herren
Zusammenarbeit der Tech-Konzerne mit Geheimdiensten und Autokraten (z. B. Facebook u. Donald Trump oder Boris Johnson)
Auswirkungen auf Geistesgegenwart (Präsenz) und auf die Wahrnehmung von Realität
Präsenzverlust: Träumen vom Himmelreich; Realitätsverlust: Umdeutung der tatsächlich untragbaren Zustände in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tode; Glaube an ein ewiges Leben im Himmel
Präsenzverlust: ständig »woanders« sein; Realitätsverlust: Vermeidung der realen Welt durch Ausweichen in virtuelle Welten (Eskapismus); Glaube an ein ewiges Leben im virtuellen Jenseits
2. KAPITEL
Menschliche Eigenschaften
»Vieles kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht.«
Carl Ludwig Börne (1786–1837)
Die Menschheit ist verunsichert, sie scheint sich ihrer selbst nicht mehr gewiss zu sein. Eine der unbewussten Suggestionen, welche durch die Entwicklung digitaler Maschinen mit Künstlicher Intelligenz (KI) ausgelöst wurden, besteht darin, der Mensch müsse sich von nun an für seine Existenz rechtfertigen. Computer konnten zunächst den weltbesten Schachspieler, dann den weltbesten Go-Spieler schlagen. Generative KIs können aus den gewaltigen Mengen an Material, mit denen wir sie gefüttert haben, Bilder, Filme und Texte produzieren (siehe dazu Kapitel 5). Aus der ständigen Wiederholung eines Vergleichs zwischen Mensch und KI und dem ehrfürchtigen Tenor, mit dem über die zweifellos bewundernswerten Fortschritte der digitalen Welt berichtet wird, spricht die unbewusste Angst, unsere Spezies könnte entsorgt werden.
Beruht das Existenzrecht unserer Spezies darauf, dass wir mehr Speicherkapazität oder mehr Rechenleistung als eine digitale, mit Künstlichen Neuronalen Netzen ausgestattete Maschine haben müssten, oder darauf, dass die Besten unter uns sich von Computern im Schach- oder Go-Spiel nicht besiegen lassen dürften? Die Vermutung, wonach diese Angst sich immer mehr verbreitet, entspringt nicht nur einer psychoanalytischen Diagnose. Dass der Mensch als Spezies durch KI-Systeme existenziell infrage gestellt sei, wird von prominenten Wortführern des Transhumanismus seit Jahren ausdrücklich behauptet (siehe Kapitel 4). Wir sollen so denken, wir sollen das glauben. Es ist Teil der digitalen Mystik. Dass von zwei Produkten, die ihrer Art nach gleich sind, das weniger leistungsfähige entsorgt wird, erscheint logisch.8 Dies setzt aber voraus, dass es sich um zwei tatsächlich vergleichbare Produkte handelt. Menschen und Computer mit KI sind aber keine vergleichbaren Produkte, sie werden es auch nicht dadurch, dass sie ständig miteinander verglichen werden.
Was Menschen von KI unterscheidet: Intrinsisches Welt-Interesse
Der Mensch hat ein intrinsisches – heißt: von innen kommendes, zur eigenen Natur gehörendes –, bereits zum Zeitpunkt der Geburt in ihm angelegtes, spontanes Welt-Interesse, das sich gleichermaßen auf seinesgleichen und auf die natürliche Umwelt richtet. Ein Computer hat, auch wenn er mit Künstlichen Neuronalen Netzen ausgestattet ist, kein intrinsisches, kein in seinem Wesen liegendes spontanes Welt-Interesse, schon gar nicht ein Interesse an seinesgleichen. Er wird nur Aufgaben erledigen, für die er trainiert wurde, was er dann allerdings meistens besser kann als der Mensch. Quelle und Ausgangspunkt des Welt-Interesses ist der menschliche Körper. Er beheimatet nicht nur unsere Gefühle, er ist vor allem auch die Basis der Entwicklung von Intelligenz. Der Körper ist die Schnittstelle zwischen dem sich entwickelnden Gehirn, welches Teil des Körpers ist, und der realen Welt. Verstand, Vernunft und Intelligenz gelangen bei jedem einzelnen Menschen nur über die Erfahrungen ins Gehirn, die sein lebender, mit der Realität interagierende Körper in einer realen Umwelt macht. Umgekehrt macht Intelligenz keinen Sinn, wenn sie nicht Teil eines Subjekts ist, das Zugang zur Realität der Welt hat. Dieses Subjekt ist der Körper. KI-Maschinen bestehen aus Schaltkreisen, haben aber keinen lebenden Körper, von dem ein Welt-Interesse ausgeht. Man kann sie mit einem simulierten Körper verbinden, der ihnen aber kein Welt-Interesse einflößt.
Vertreter der Digitalkonzerne, die dem sogenannten Transhumanismus anhängen, und eine Reihe von Philosophen verachten den biologischen Körper (siehe dazu Kapitel 4 und 5) und reduzieren den Menschen auf sein Gehirn, welches sie als Biologie-freies Wesen fantasieren. Der biologische Körper diene »nur« den Gefühlen, die ja ohnehin nur Schwierigkeiten machten. Verstand, Vernunft und Intelligenz hätten ihren Sitz doch aber im Gehirn. Der Versuch, den Menschen auf sein Gehirn zu reduzieren, hat unter Digital-Freaks und einigen Philosophen die beliebte und viel diskutierte Vorstellung entstehen lassen, ein Mensch könne als »Brain in the Vat« leben, als ein in einer Nährflüssigkeit in einem Lagertank schwimmendes Gehirn.9 Die Verachtung des natürlichen biologischen Körpers ist ein Wesenselement der digitalen Mystik (siehe Kapitel 1 und 4), die auch in diesem Punkt das Mittelalter wiederholt. Die Aufklärung, vor allem die Renaissance als ihr Vorläufer, war – neben vielem Weiteren – auch die Wiederentdeckung des natürlichen, unverstellten Körpers.
Anders als Maschinen mit KI brauchen Menschen, um ihre biologischen Funktionen, auch um ihre Denkfähigkeit zu erhalten, eine kontinuierlich präsente äußere Realität. Demgegenüber können Maschinen jahrelang in fensterlosen dunklen Räumen arbeiten.10 Menschen brauchen, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben, die Präsenz anderer Menschen. Ganz anders Computer mit KI: Sie brauchen, um ihren Dienst zu tun, keine anderen KI-Maschinen. Künstliche Intelligenzen brauchen, um ihre Funktionen aufrechtzuerhalten, keine Beachtung oder Wertschätzung. Sie verändern aufgrund der Präsenz anderer KI-Maschinen auch nicht ihren eigenen inneren materiellen Zustand. Menschen dagegen können ohne Mitmenschen nicht existieren, außerdem erleben sie durch die pure Präsenz anderer Menschen messbare Veränderungen von biologischen Funktionen. KI-Maschinen zeigen keine Störung ihrer Funktion, wenn eine andere Maschine die Realität systematisch anders wahrnimmt als sie selbst. Menschen dagegen kann es den Verstand kosten und in den Wahnsinn treiben, wenn Mitmenschen wesentliche Merkmale der Realität fantasieren oder verleugnen. KI-Maschinen können, wenn sie entsprechend programmiert sind, behaupten, sie hätten Gefühle, und als Roboter die entsprechenden körpersprachlichen Zeichen simulieren.11 Sie kennen aber keine intrinsische Einsamkeit, keinen intrinsischen Schmerz, kein Weinen, keine intrinsische Freude und keine intrinsische Angst.12 Menschen dagegen werden mit allen genannten Gefühlen bereits geboren, sie bringen sie mit, ohne dass sie ihnen antrainiert werden mussten.13
Der Körper als sozialer Akteur: Neuronale Resonanz und biologische Selbstveränderung
Das Welt-Interesse des Menschen ist auf eine Kontaktaufnahme zwischen Körper und äußerer Realität gerichtet. Die Kontaktaufnahme zwischen Körper und äußerer Realität unterscheidet sich wesentlich von den Interaktionen zwischen einer Maschine und ihrer Umgebung. »Die Realität« am Beginn des menschlichen Lebens sind die Bezugspersonen. Auf diese ist das intrinsische, spontane Welt-Interesse des Säuglings zunächst ganz ausgerichtet. Der Säugling weitet dieses Interesse etwas später auf andere Menschen und auf die natürliche Umwelt aus. Welt-Interesse begleitet den Menschen lebenslang. Das Erlöschen von Welt-Interesse ist ein Krankheitszeichen oder ein Vorzeichen des Todes. Bei der Kontaktaufnahme zwischen dem Körper des Kindes und seiner Bezugsperson kommt es zwischen beiden zu ständig wiederholten, sich spontan einstellenden und sich nach kurzer Zeit ebenso spontan wieder auflösenden neuronalen Resonanzen, ohne dass die Beteiligten dies beabsichtigen. Dieses zur intrinsischen Ausstattung des Menschen gehörende Phänomen der Resonanzfähigkeit können Computer nur simulieren, allerdings auch das nur, wenn sie entsprechend programmiert oder trainiert wurden.