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Religionskrieg im hohen Norden. Bedrohliche Zustände in der Holsteinischen Schweiz und im Herzogtum Lauenburg: Der Domprobst des Hamburger Domkapitels wird im idyllischen Bad Malente brutal ermordet. Ein junger Mann stirbt in Folge eines fehlgeschlagenen Exorzismus. Ein Priester wird ans Kreuz geschlagen, eine Kirche in Brand gesetzt. Die Spur führt bis in die höchsten Kreise der katholischen Kirche. Ganz klar ein Fall für Lüder Lüders!
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Seitenzahl: 389
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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand. www.hannes-nygaard.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: shutterstock.com/Olga Nikonova Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-385-1 Hinterm Deich Krimi Originalausgabe
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.Michael Wenzel (www.editio-dialog.com
Für Helga und Bruno
Wer nichts weiß, muss alles glauben.
Marie von Ebner-Eschenbach
EINS
Helmut Schmidt ging es gut. Nein! Mit Politik hatte er nichts am Hut. Schmidt ist nun mal der häufigste deutsche Familienname. Und in seiner Generation hießen viele Jungen Helmut. Als er vor dreiundsiebzig Jahren geboren wurde, kannte noch niemand in der Öffentlichkeit den späteren Bundeskanzler. Auch seine Eltern nicht, obwohl sie beide aus Hamburg stammten.
Statt Politik hatte Helmut Schmidt etwas Solides gelernt. Er war Herrenfriseur geworden, hatte den Meister gemacht und im Schanzenviertel einen kleinen Salon betrieben. Reich war er nicht geworden. Seine Ehefrau Margot hatte, nachdem die drei Kinder aus dem Gröbsten heraus waren, mit hinzuverdient. Zunächst als »Schlecker-Frau«. Nach der Pleite der Drogeriekette hatte sie Glück gehabt und war bei Edeka an der Kasse untergekommen.
Vor neun Jahren ging es nicht mehr. Mit ihm. Die Gesundheit spielte nicht mehr mit. Außerdem lief der Salon nicht mehr so gut. Die treue Kundschaft zog weg oder starb. Statt ihrer zogen Alternative und Fremde ins Viertel. Die ließen sich die Haare nicht von einem alteingesessenen Friseurmeister schneiden. So hatte er nicht lange gezögert, als eines Tages Caner Ozbayrakli in seinem Souterrain auftauchte und ihm das Angebot unterbreitete, den Friseursalon zu übernehmen.
Ozbayrakli war fleißig und hatte auch durch die neuen Bewohner des Schanzenviertels mehr Zulauf als Schmidt in den letzten Jahren seiner Tätigkeit. Deshalb tat es Schmidt auch leid, dass dem türkischen Friseur bei den Krawallen während des G20-Gipfels das Geschäft ruiniert wurde. Und niemand fühlte sich für die Regulierung des Schadens verantwortlich. Auch Margot Schmidts früherer Arbeitsplatz, der Edeka-Markt, war vom kriminellen Mob während der Ausschreitungen zerstört und geplündert worden. Trump, Erdoğan oder wie sie heißen mögen… Die interessierte es nicht, dass den kleinen Leuten die Existenz vernichtet wurde. Schmidt wurde sauer, wenn jemand dieses Thema ansprach, auch wenn er selbst nicht betroffen war.
Neben seinem Beruf pflegte er zeitlebens eine zweite Leidenschaft: Er sang. In der Liedertafel, im Shantychor… Helmut Schmidt war mit Begeisterung dabei. Vor drei Jahren erfüllte sich ein Lebenstraum für ihn. Er durfte im Chor der Eutiner Festspiele, eines der traditionsreichsten deutschen Opernfestivals, mitsingen. Ganz hinten– aber er war dabei. Welche Wonne war es, bei der Aufführung von »Aida« mit dem Chor auf der Freilichtbühne am Ufer des Großen Eutiner Sees im alten herzoglichen Schlossgarten zu stehen. Und noch heute lief ihm ein Schauder über den Rücken, wenn er an den stimmgewaltigen Jägerchor aus dem »Freischütz« dachte. In diesem Jahr hatte die rührige Intendantin mit der »Fledermaus« etwas Leichteres auf die Bühne gebracht. Schmidt sollte es recht sein. Er würde auch Kinderlieder singen– Hauptsache, er durfte mitwirken.
Heute würde er wieder ganz hinten stehen, in seinem prächtigen Kostüm, und versuchen, seine Margot unter den nicht ganz zweitausend Zuschauern zu entdecken. Ob sie ihn erkennen würde?
Die Schmidts wohnten während der Festspiele in einem bescheidenen Privatquartier nahe dem Kleinen Eutiner See. Von dort fuhren sie mit dem Auto zum Stadtgraben, querten das Zentrum durch die kleinen Gässchen und über den historischen Marktplatz und schlüpften durch ein schmales Tor in den Schlossgarten. Von hier waren es nur noch wenige Schritte bis zur Bühne. Schmidt verabschiedete sich von seiner Ehefrau mit einem kurzen Kopfnicken und folgte den anderen Mitwirkenden in die Garderobe der Opernscheune. Es folgten die allgemeine Begrüßung, das Ankleiden und das Einsingen. Die nervöse Spannung stieg an.
Die Intendantin gab vor der Veranstaltung eine Einführung ins Werk. Die interessierten Zuschauer standen mit ihren Gläsern in der Hand vor der Scheune und lauschten den Worten. Dann begab sich die Menge den schmalen Pfad zum See hinunter, schlüpfte durch den Einlass ins Theater und nahm die Plätze ein.
Schmidt und die anderen Mitglieder des Chors waren in einer seltenen Anspannung. Bei dieser Inszenierung würden sie erst nach der Pause auftreten. Als die Dirigentin die Bühne betrat, brandete Applaus auf. Dann konnte Schmidt die kraftvolle Ouvertüre hören.
Seine Nervosität legte sich ein wenig. Er plauderte mit anderen Chormitgliedern, bis die Pause erreicht war und sich ein halbstündiger Umbau des Bühnenbildes anschloss.
Wie an den Abenden zuvor trottete er mit den anderen zum ersten Auftritt. Nacheinander erschienen die Chormitglieder am oberen Ende der Freitreppe und nahmen ihre Plätze ein. Für diese Augenblicke lebte er. Aus den Mitgliedern des Chors rekrutierten sich auch die Statisten. So sang er nicht nur, sondern erfüllte auch andere Aufgaben. Die mitreißenden Melodien von Johann Strauß jagten ihm jedes Mal erneut einen Schauder über den Rücken. Das Publikum zeigte sich begeistert und sparte nicht mit tosendem Zwischenapplaus.
Endlich war es so weit. Der Chor konnte sein ganzes Können präsentieren. Das schwungvolle »Stoßt an« war eines seiner Lieblingsstücke. Schmidt stand in der letzten Reihe vor den Nischen im Bühnenbild, die in der Pause durch bemalte Platten zugestellt worden waren. Auf der Rückseite war ein Gestell angebracht, das die Dekoration hielt. Schmidt trug einen Frack und spielte einen der vornehmen Gäste auf der Soiree des Prinzen Orlofsky.
Er hatte die Augen halb geschlossen, um voller Inbrunst mitzusingen, als er einen leichten Druck im Rücken verspürte. Die Platte hinter ihm war in Bewegung geraten und drückte gegen ihn. Er legte die Hände auf den Rücken und versuchte, sie zu halten. Aber der Druck verstärkte sich. Verstohlen sah er sich um. Etwas drückte von der Innenseite. Das gehörte nicht zur Aufführung, jedenfalls hatten sie es nicht geprobt. Die Bewegung im Bühnenbild war auch dem Publikum nicht verborgen geblieben. Vereinzelnd erschollen ein paar Lacher. Die Zuschauer meinten, es wäre ein Gag der Inszenierung. Schmidt drehte sich um und erschrak über den schlechten Scherz. Irgendjemand hatte dort eine nackte Schaufensterpuppe platziert, die wie eine Horrorgestalt geschminkt war. Kurz entschlossen bückte sich Schmidt, packte den seltsam kalten und starren Arm, der sich im Spalt zwischen Platte und Rahmen verfangen hatte, und schob ihn in die Kulisse zurück. Es war das erste Mal, dass Helmut Schmidt einen eigenen Beifall bekam. Es war wie ein Stich ins Herz. In diesem Moment wünschte er sich, dass der Regieeinfall bei der nächsten Aufführung wiederholt würde.
»Welcher Trottel hat die Platte so hingestellt, dass sie wackelt?«, brüllte der Inspizient und sah seine Bühnenarbeiter der Reihe nach an. Die Gruppe stand etwas abseits hinter der Bühne und rauchte. Alle setzten eine unschuldige Miene auf. »So was darf nicht vorkommen«, fluchte der Mann und beeilte sich, in die Nische zu kommen. Er blieb wie angewurzelt stehen, fasste sich ans Herz und hielt sich anschießend an der Seitenwand fest. Sein Kreislauf drohte zu versagen.
Da lag ein Mensch.
Ein Mensch? Der Inspizient schauderte unwillkürlich beim Anblick der Gestalt. Es handelte sich offenbar um einen älteren Mann. Er war splitternackt, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Das verkrustete Blut hatte einen Schleier über die tiefe Schnittwunde gebreitet, die von links nach rechts quer über den Hals lief. Der ganze blasse Körper wirkte wie eine leere Hülle.
»Psst«, mahnte der Inspizient hinter der Bühne, nachdem er seinen ersten Schock halbwegs überwunden hatte. »Niemand da draußen darf etwas mitkriegen.«
Er beriet sich mit der Intendantin, die beschloss, die Polizei zu informieren. Kurz darauf traf der erste Streifenwagen des Eutiner Reviers ein. Die beiden Beamten riefen die Kollegen von der Kriminalpolizeistelle hinzu, die ein Fremdverschulden erkannten und die Bezirkskriminalinspektion Lübeck verständigten.
Es verging eine Stunde, bis alle zuständigen Stellen vor Ort waren.
Hauptkommissar Peter Ehrlichmann besah sich den Toten nachdenklich.
»Das ist keine gewöhnliche Vorgehensweise«, stellte er fest. »Die Tatausführung hat etwas Rituelles. Wie heißt er?« Ehrlichmann wandte sich seinem Mitarbeiter, Kommissar Beugert, zu, der die Brieftasche des Opfers durchblätterte.
»Merkwürdig. Das Opfer ist nackt, aber man hat seine Kleidung hinter der Bühne abgelegt. Was hat das zu bedeuten? Josef Kellermann, neunundfünfzig Jahre. Wohnhaft in Hamburg-St.Georg, Ferdinand-Beit-Straße. In der Brieftasche befinden sich noch der Führerschein für Pkw, eine Girocard der Hamburger Sparkasse, eine weitere der Pax-Bank…«
»Der– was?«, unterbrach ihn Ehrlichmann.
»Pax-Bank«, wiederholte Beugert. »Aus Köln. Hier sind noch zwei Kreditkarten, einmal Visa-, die andere MasterCard. Alle Karten tragen seinen Namen. Das gilt auch für die Mitgliedskarte einer privaten Krankenversicherung.«
»Und sonst?« Ehrlichmann unternahm gar nicht erst den Versuch, seine Ungeduld zu unterdrücken.
»Im Portemonnaie sind knapp einhundert Euro. Die Armbanduhr ist vorhanden. Sonst trägt er keinen Schmuck.«
»Autoschlüssel? Wohnungsschlüssel?«
»Nix. Im Sakko sind ein paar Tabletten. Für…« Beugert drehte die Schachtel ein wenig. »Ah. Da steht’s. Gegen Sodbrennen und Säurebildung.«
Ehrlichmann kratzte sich am Hinterkopf. Der Bürstenhaarschnitt wies die ersten grauen Stellen auf. Das Gesicht wirkte klobig, die Nase war ein wenig zu breit. Insgesamt machte der Mann einen gutmütigen Eindruck. Fremde hätten in der kräftigen Gestalt nicht den Leiter des Kommissariats1, das der Laie Mordkommission nennt, der Lübecker Bezirkskriminalinspektion vermutet.
»Was macht ein Hamburger in Eutin? Und warum lässt er sich hier ermorden?« Der Hauptkommissar trat zum Rechtsmediziner, der sich über den Toten gebeugt hatte. »Können Sie schon etwas sagen?«
Der Arzt sah nicht auf, sondern lachte in sich hinein. »Wo haben Sie diesen Text her? Einfallslose Drehbuchautoren schreiben ihn in fast jeden Fernsehkrimi. Es sieht so aus, als hätte man ihn kopfüber aufgehängt und mit einem Schnitt die beiden Halsschlagadern durchtrennt.« Der Arzt sah sich um. »Das ist aber nicht hier passiert. Das Opfer ist dann regelrecht ausgeblutet. Ich möchte nicht missverstanden werden, schon gar nicht pietätlos sein, aber es erinnert mich ein wenig an das rituelle Schächten von Tieren.« Der Arzt schüttelte sich leicht.
Kommissar Beugert wartete geduldig, bis der Rechtsmediziner zu Ende gesprochen hatte. »Ich sehe mich einmal um, wie man den Leichnam hergebracht hat.« Kurz darauf kam er zurück. »Auf der Rückseite der Freilichtbühne führt ein mit Gummimatten gepflasterter Weg…«
»Gummimatten?«, unterbrach Ehrlichmann seinen Mitarbeiter.
»Ja. Die Mitwirkenden haben ihre Garderoben in der lang gestreckten Opernscheune. Von dort müssen sie zu Fuß über die vom üblichen norddeutschen Regen aufgeweichten Wege über eine Wiese– deshalb die Gummimatten– zur Rückseite der Freilichtbühne. Dort gibt es einen bunt bemalten Lattenzaun, in den eine Pforte eingelassen ist. Die ist während der Vorstellung offen, damit die Mitwirkenden ungehindert hindurchschlüpfen können. Es gibt dort keine Aufpasser. Lediglich ein Schild weist darauf hin, dass der Zugang verboten ist. Wer Leute umbringt, lässt sich durch eine solche Tafel nicht aufhalten. Die Täter müssen diesen Weg benutzt haben. Wir haben hinter der Bühne eine Schubkarre und ein Tuch gefunden, das daneben im Dreck lag. Vermutlich hat man den Leichnam damit transportiert und mit dem Tuch abgedeckt. Hinter der Bühnendekoration ist Wald. Dort stehen auch ein paar Stühle. Die Täter haben sich einen günstigen Moment ausgesucht. Als der Chor seinen Auftritt hatte, war es dahinten menschenleer. Sie waren unbeobachtet. Die Dämmerung hatte zudem schon begonnen, da die Vorstellung erst um zwanzig Uhr anfing und wir im zweiten Akt waren. Das ist der erste Anhaltspunkt für uns. Die Täter kannten das Stück, den Zeitplan und auch die Örtlichkeiten.«
Ehrlichmann wies die Beamten an, die Umgebung nach Spuren abzusuchen. »Irgendwie muss der Tote hierhergekommen sein.« Während die Polizisten ausschwärmten, berichtete Beugert Ehrlichmann, dass er versucht habe, jemanden unter dem Hamburger Anschluss zu erreichen. Dort war er nach einer Bandansage, dass Kellermann nicht anwesend sei, weitergeleitet worden. Eine Frau habe sich mit »Schwester Benedikta« gemeldet und war überrascht, dass die Polizei anrief. Beugert hatte ihr auch nach mehrmaligem Nachfragen nichts von den Ereignissen in Eutin berichtet, aber erfahren, dass Kellermann Dompropst im Erzbistum Hamburg war. Sie hatte lediglich noch bestätigt, dass Prälat Kellermann derzeit im Urlaub in Bad Malente sei. Darauf verwies auch der Messinganhänger mit eingeprägter Zimmernummer und einem Schlüssel. Es bedurfte einiger Telefonate, bis sie das Hotel an der Diekseepromenade in Bad Malente ermittelt hatten.
Es waren nur wenige Kilometer von der Kreisstadt nach Bad Malente, wohin sie direkt am nächsten Morgen fuhren. Die kurvenreiche Straße führte durch eine hügelige Gegend.
»Deshalb heißt es hier wohl Holsteinische Schweiz. Und das im sonst platten Schleswig-Holstein«, sagte Ehrlichmann unterwegs. Sie fuhren über eine Nebenstraße bis zum Bahnhof und bogen dann in den ruhigen Ortsteil Gremsmühlen ab. Es war eine der sonderbarsten Straßen, die Ehrlichmann je gesehen hatte. Direkt am Ufer des Dieksees reihte sich ein Hotel ans nächste. Die Unterkünfte waren durch eine schön gestaltete Promenade vom Seeufer getrennt. Versetzt angeordnete Blumeninseln und Bänke luden zum gemächlichen Schlendern oder zum Verweilen ein. Dazwischen bahnten sich die Autos den Weg.
Kellermanns Urlaubsquartier befand sich in einem modern gestalteten Klinkerhaus mit großzügigen Glasfronten und einladenden Balkonen.
»Hier lässt es sich aushalten«, meinte Ehrlichmann. »Tolles Hotel. Der Mann hatte Geschmack.«
Eine schmale Durchfahrt führte zu den Parkplätzen hinter dem Haus.
»Guten Tag. Wir sind von der Polizei und würden gern mit dem Geschäftsführer sprechen«, sagte Ehrlichmann zu einer jungen Frau an der Rezeption.
»Polizei?« Sie schenkte ihm einen erstaunten Blick, fing sich aber sofort. »Kleinen Augenblick«, bat sie, verschwand ins Backoffice und kehrte kurz darauf mit einem Mann mit grau melierten Haaren zurück, der seine dunkle Hornbrille abgenommen hatte, die beiden Polizisten mit einem fragenden Blick musterte und sich mit »Jakobs« vorstellte. Ehrlichmann zeigte ihm seinen Dienstausweis.
»Kommen Sie bitte.« Der Hotelmanager führte sie in ein kleines Büro hinter dem Empfangstresen und schloss die Tür. Dann hob er fragend eine Augenbraue.
»Es geht um Ihren Gast Josef Kellermann.«
Jakobs nickte beiläufig zur Bestätigung, dass ihm der Name bekannt sei.
»Ist Herr Kellermann länger bei Ihnen gewesen?«
Der Hotelmanager musste nicht nachsehen. »Er kommt seit einigen Jahren für ein paar Tage im Frühjahr und regelmäßig im Sommer. Dann bleibt er circa zwei Wochen. Nicht ganz. Er reist am Montag an und fährt in der folgenden Woche am Sonnabend zurück.«
»Sie betonen das. Weshalb?«
Jakobs spitzte die Lippen. »Nun– ja. In der Regel bleiben die Gäste eine oder zwei Wochen. Herr Kellermann hat offenbar gezielt das Wochenende ausgeblendet.«
»Weshalb hat er Ihr Haus und Malente als Urlaubsziel ausgewählt?«
»Bad Malente ist ein Kurort im Herzen der ausgedehnten Seenlandschaft der Holsteinischen Schweiz. Die ist der größte Naturpark des Landes. Wir freuen uns in unserem Hotel über zahlreiche Gäste, die die Annehmlichkeiten unseres Hauses genießen.«
»Gab es andere Gründe für Herrn Kellermann?«
»Ist das nicht ausreichend?«
»Ist er wandern gegangen? Rad gefahren? Gesegelt? Hat er geangelt? War er Freund der Eutiner Festspiele?«
Jakobs überlegte einen Moment. »Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich habe ihn nie auf dem Fahrrad oder mit einer Angelausrüstung gesehen. Sonst bin ich nicht über seine Vorlieben oder seine Freizeitgestaltung informiert.«
»Wie war sein Tagesablauf?«
»Er kam regelmäßig zum Frühstück und ließ sich Zeit damit. Dann verließ er das Haus. Manchmal kehrte er um die Mittagszeit zurück. Abends war er oft unterwegs.« Jakobs zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen nicht sagen, ob er ein bestimmtes Restaurant bevorzugt hat.«
»Kam er mit dem Auto?«
»Ja. Sein Wagen steht auf dem Hotelparkplatz. Ein dunkelblauer VolvoV40. Den hat er aber selten benutzt.«
»Ich entnehme Ihren Worten, dass Herr Kellermann seinen Aufenthalt sehr zurückgezogen verbrachte. Ist er nicht mit anderen Gästen oder mit Ihrem Personal ins Gespräch gekommen?«
»Er ist ein ruhiger und zurückhaltender Gast. Wir respektieren den Wunsch, wenn jemand für sich allein sein möchte.«
»Hat er nie Kontakt zu anderen Menschen gepflegt?«
»Eigentlich nicht.«
Ehrlichmann war der Unterton nicht entgangen.
»Was heißt ›eigentlich‹?«
»Ich weiß nicht, ob es eine Indiskretion ist«, zeigte sich Jakobs unsicher.
»Das gilt nicht gegenüber der Polizei«, versicherte ihm der Hauptkommissar.
»Malente ist in einer angenehmen Art überschaubar. So blieb es nicht verborgen, dass Herr Kellermann sich mit einer Dame traf. Mehr kann ich dazu auch nicht sagen«, betonte der Hotelier.
»Ein Gast?«
»Nein. Die Frau ist eine Einheimische.«
»Und die beiden kamen zusammen ins Hotel?«
»Nein, hier war sie nie.«
»Sie kennen die Frau?«
Jakobs nickte. »Sie ist die Witwe eines Arztes, der lange im Ort praktizierte.«
»Wie heißt sie?«
Der Hotelmanager zögerte mit der Antwort. »Ist das von Bedeutung?«
»Unbedingt.«
»Frau Holzapfel. Ihr Mann war eine Reihe von Jahren älter als sie. Es war tragisch. Er ist, kurz nachdem er seine Praxis aufgegeben hat, plötzlich verstorben.«
Ehrlichmann ließ sich die Adresse geben.
»Sagen Sie«, fiel dem Hotelmanager ein, »weshalb sind Sie eigentlich gekommen?« Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Herr Kellermann ist seit Sonntag nicht ins Hotel zurückgekehrt. Gut– das ist früher auch schon vorgekommen. Aber jetzt… Die Polizei… Ihm ist doch hoffentlich nichts passiert?«
»Leider doch«, erwiderte Ehrlichmann. »Josef Kellermann ist tot.«
»Ein Unfall?«
»Wir gehen von einem Tötungsdelikt aus.«
»Tötungsdel…? Was heißt das? Er ist doch nicht etwa…?« Jakobs wirkte fassungslos.
»Haben Sie vom Toten auf den Eutiner Festspielen gehört?«
»Sie meinen den, den man dort gestern gefunden hat? Während der Abendvorstellung?«
Ehrlichmann nickte. »Das war Herr Kellermann.«
Jakobs war blass geworden. »Unfassbar«, murmelte er. »Das kann doch nicht wahr sein.«
Er erklärte sich sofort bereit, den Beamten das Zimmer zu zeigen.
»Bitte nicht betreten«, bat der Hauptkommissar und sah sich in dem hellen und freundlichen Raum um, der sich nicht durch die bedrückende Enge mancher Hotelunterkünfte auszeichnete. Ein bequemes Sofa, Tisch und Stühle– dazu ein großer Balkon mit einem phantastischen Blick auf den Dieksee.
Das breite Doppelbett war gemacht worden. Kellermann hatte sich die Fensterseite ausgesucht. Die zweite Hälfte des Doppelbetts war unberührt. Unter der Bettdecke fanden sie einen sorgfältig zurechtgelegten Pyjama. Auf dem Nachttisch lagen zwei Bücher des Bestsellerautors Andreas Englisch: »Der Kämpfer im Vatikan« und »Franziskus«.
»Merkwürdige Lektüre«, murmelte Ehrlichmann, der sich ebenso wie Beugert Einmalhandschuhe übergestreift hatte. »Was ist daran interessant? Als Insider sollte er es doch wissen.« Eine Lesebrille komplettierte die Gegenstände auf der Ablage. Der Hauptkommissar zog die Schublade auf. »Ob ihn das gestört hat? Kein Neues Testament.« Dafür lag dort das Ladegerät für ein Smartphone.
Im Schrank fanden sie sorgfältig gestapelte Unterwäsche, Socken, zwei Pullover, zwei dezente Kombinationen, eine Edeljeans sowie mehrere gebügelte Hemden. Im untersten Fach hatte Kellermann die benutzte Wäsche untergebracht.
Auch das kleine Bad ergab keine Auffälligkeiten. Alles entsprach dem, was von einem Mann seines Alters erwartet werden konnte.
»Lassen Sie die Spurensicherung kommen«, wies Ehrlichmann seinen Mitarbeiter an. »Die sollen sich auch das Auto vornehmen.«
Dem Hotelmanager schärfte er ein, dass in der Zwischenzeit niemand das Zimmer betreten dürfte. »Wir benötigen auch noch die Fingerabdrücke der Zimmermädchen«, ergänzte er.
»Was haben unsere Mitarbeiter damit zu tun? Sie verdächtigen doch nicht etwa…?«
»Nein«, beruhigte ihn Ehrlichmann. »Wir bedienen uns des Ausschlussverfahrens. Wir müssen wissen, ob sich jemand unbefugt in diesem Zimmer aufgehalten hat, um beispielsweise etwas zu stehlen.«
»Doch nicht unser Personal. Nicht in unserem Haus.«
»Wir haben zum Beispiel kein Notebook oder Tablet gefunden. Entweder hat Herr Kellermann solche Dinge nicht benutzt, oder jemand hatte Interesse daran, es verschwinden zu lassen.«
»Ah«, sagte Jakobs und nahm den Zimmerschlüssel an sich, nachdem die Beamten den Raum verschlossen hatten.
Vom Hotel war es nicht weit bis zu der Adresse, die ihnen der Hotelmanager genannt hatte. Sie mussten am Bahnhof eine Weile an den geschlossenen Schranken warten, bis der Triebwagen, der die beiden größten Städte Schleswig-Holsteins verband, passierte. Hinter den Bäumen zur Rechten verbarg sich der Kurpark. Zu Beginn der lebhaften Bahnhofstraße mit den vielen bunten Geschäften bogen sie in die Lindenallee ab. Das Haus auf dem etwas verwildert wirkenden Grundstück war eine der prachtvollen Villen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts entstanden waren. Architekten und Bauherren hatten damals viel Wert auf eine opulente Fassadenverzierung gelegt.
Eine schlanke Frau mit weiblicher Ausstrahlung öffnete ihnen. Sie trug eine beigefarbene Hose und eine dazu passende cremefarbene Bluse. Die Brille hatte sie in die blonden Haare gesteckt, die sie am Hinterkopf hochgebunden hatte. Ins Gesicht hatten sich Falten eingegraben, die ihr aber gut standen. Die Kette mit den Holzperlen lag auf ihrem ausladenden Busen auf. Die nackten Unterarme, an denen mehrere Armreifen baumelten, waren ebenso wie der Teint leicht gebräunt. Die beiden Ringfinger waren durch Ringe geschmückt.
»Bitte?«, fragte sie mit einer angenehm tiefen Stimme.
»Frau Holzapfel?«
»Wer möchte das wissen?«
Ehrlichmann nannte die Namen der Beamten. »Wir sind von der Lübecker Polizei. Dürfen wir hereinkommen?«
Die Frau wirkte skeptisch. »Polizei? Gibt es einen Grund?«
Der Hauptkommissar zeigte ihr seinen Dienstausweis, den sie aufmerksam studierte. Überzeugt schien sie nicht. »Um was geht es?«
»Sie kennen Josef Kellermann?«
Frau Holzapfel antwortete nicht. Ehrlichmann nahm ihr Schweigen als Zustimmung.
»Wir haben eine traurige Nachricht für Sie.«
Jetzt zuckten ihre Mundwinkel. »Wie kommen Sie auf mich?«, wollte sie wissen.
»Polizeiliche Ermittlungen«, wich der Hauptkommissar aus.
»Traurige Nachricht«, wiederholte sie tonlos, als müsse sie selbst die Worte sprechen, um ihren Sinn zu verstehen.
»Herr Kellermann ist verstorben. Er ist vermutlich einer Straftat zum Opfer gefallen.«
»Josef… tot… Straftat…«
Die Beamten ließen ihr Zeit. Schließlich trat sie einen Schritt zurück und öffnete die Tür ganz.
»Kommen Sie.«
Frau Holzapfel ging voran in das Wohnzimmer, das mit massiven Holzmöbeln aus Eiche ausgestattet war. Schwere Teppiche lagen auf dem Boden. Das Sideboard und der Tisch waren mit kleinen Deckchen belegt. Vasen und andere Accessoires standen überall herum. Das große Fenster führte zum Garten hinaus.
Ehrlichmann hatte sich im Vorhinein informiert. Karin Holzapfel war zweiundsechzig Jahre alt. Er hatte keine moderne oder gar futuristische Einrichtung erwartet, aber hier wirkte alles sehr altbacken. Wenn der verstorbene Ehemann zehn oder mehr Jahre älter gewesen war, mochte er in den jungen Jahren der Ehe bestimmenden Einfluss auf die Ausstattung genommen haben. Die Möbel waren qualitativ hochwertig. Und diese Generation lebte womöglich noch mit dem Grundsatz, dass das Mobiliar ein Leben lang halten müsse.
Karin Holzapfel wies auf das Sofa mit dem Seidenbezug. Sie selbst nahm auf einem der klobigen Sessel Platz und ließ sich von den Beamten über den Kenntnisstand der Polizei informieren. Sie sah dabei Ehrlichmann an und verhielt sich erstaunlich gefasst. Lediglich die weißen Knöchel ihrer schlanken gepflegten Hände und der auf- und abspringende Adamsapfel verrieten ihre innere Anspannung. Als der Hauptkommissar geendet hatte, wiegte sie kaum merklich den Kopf.
»Unfassbar«, murmelte sie. »Wer macht so etwas? Und warum? Josef. Ausgerechnet Josef. Es gibt keinen Grund für eine solche Tat.«
»Wie standen Sie zu Herrn Kellermann?«, fragte Ehrlichmann. »Wie war Ihr Verhältnis?«
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort.
»Verhältnis! Wie das klingt. Dieses Wort hat einen negativen Klang. Verhältnis! Das klingt nach Boheme. Ich pflege zu Herrn Kellermann ein kulturell und intellektuell inspiriertes Verhä… Wir haben uns angeregt und tief über unsere Welt ausgetauscht, vor allem über Themen, die von der Mehrheit der Menschen nicht einmal gestreift werden.«
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«
In ihren Augen blitzte es kurz auf. »Ist das von Bewandtnis?«
»Bei Mordermittlungen sind auch kleine Details von Bedeutung.«
»Den Grund vermag ich nicht zu erkennen«, sagte sie nasal. »Aber bitte. Da ist nichts Geheimnisvolles hineinzuinterpretieren. Ich habe eine erfüllte und glückliche Ehe mit einem wunderbaren Mann geführt. Er hat sich für die Praxis und seine Patienten aufgeopfert, konnte für sich selbst aber nichts mehr tun. Wir haben viele schöne Dinge gemeinsam unternommen, Opern und Konzertveranstaltungen an den bedeutendsten Plätzen der Welt besucht, die großen Museen erobert und vieles mehr. Mein Mann war einer der nur noch selten anzutreffenden Menschen, die mit Fug und Recht als gebildet bezeichnet werden konnten. Wir hatten ein paar wenige Freunde, hm…«, zögerte sie kurz, »vielleicht beschreibt man sie besser als gute Bekannte. Das waren vielseitig interessierte Leute, aber ihnen fehlte doch das letzte gewisse Etwas. So war mein Leben nach Rudolfs Tod leer. Profane Gespräche mit Dritten erfüllten es nicht. Ich zog es vor, für mich zu bleiben.« Ihr Blick wanderte gedankenverloren an der gegenüberliegenden Zimmerwand entlang. »Ich erinnere mich genau an unsere erste Begegnung. Es war an einem traumhaften Sommernachmittag. Ich war an der Diekseepromenade spazieren und hatte mich für eine Weile auf einer Bank niedergelassen, als ein gepflegt erscheinender Herr herantrat und fragte, ob er sich setzen dürfte. Allein das barg eine Überraschung für mich. Heute scheint es üblich zu sein, ungefragt in die persönliche Aura eines Mitmenschen einzutauchen und jede höfliche Distanz missen zu lassen.« Erneut wanderte ihr Blick durch das Zimmer.
»Wir saßen eine Weile stumm nebeneinander, bis er eine Bemerkung zu den Wolkengebilden machte. ›Den Wolken wird vielleicht einstmals eine besondere Verehrung gezollt werden; als der einzigen sichtbaren Schranke, die den Menschen vom unendlichen Raum trennt, als der gnädige Vorhang vor der offenen vierten Wand unserer Erdenbühne.‹ Ich war sprachlos. Es war nicht nur der philosophische Hauch, der seinem Zitat innewohnte, sondern auch der Klang seiner wohlartikulierten Stimme. Er konnte sich ausdrücken, seine Gedanken in das Bewusstsein des Gegenübers transportieren. Als er mich überrascht sah, ergänzte er mit einem charmanten Lächeln, dass diese Worte von Christian Morgenstern stammten. So kamen wir ins Gespräch. Ich war von seinem Auftreten, seiner Bildung und seiner kultivierten Art fasziniert. Unsere anregende Plauderei währte länger als geplant. Für mich schien die Zeit gleichzeitig stehen zu bleiben und davonzurasen. Bewegt trat ich meinen Heimweg an. Meine Seele war durch diese unverhoffte Begegnung berührt. Dennoch war es ein purer Zufall, dass wir zwei Tage später einander erneut begegneten. Wir setzten unseren Austausch fort. Das dritte Treffen war dann kein Zufall mehr.« Sie atmete hörbar durch. »Ja. So haben wir uns vor vielen Jahren kennengelernt.« Ihr Blick suchte Ehrlichmann. »Und nun überbringen Sie die Botschaft, dass diese großartige und außergewöhnliche Persönlichkeit abberufen wurde?«
Der Hauptkommissar räusperte sich. »Es tut mir leid, dass wir Ihnen diese Nachricht überbringen mussten. Sie wussten, welchen Beruf Herr Kellermann ausübte?«
»Beruf! Warum sagen Sie nicht ›Job‹? So wie Sie es formulieren. Er hat für seine Überzeugung gelebt. Für ihn gab es nichts anderes. Er konnte überzeugend darlegen, weshalb Gott auch in der heutigen Welt seinen Platz hat, weshalb die Menschen ohne einen Glauben nicht existieren können. Die Betonung liegt dabei auf ›heutigen‹. Herr Kellermann war kein weltabgewandter Spiritueller. Wir haben oft darüber gesprochen, was die Kirche falsch macht, weshalb sie die Menschen nicht mehr erreicht. Es hat ihn traurig gemacht, dass das Heute und Gott für viele nicht kompatibel sind. Leider scheint es nahezu unmöglich, die Menschen zu vernunftbegabten Wesen zu erziehen, die sich aufklären lassen, dass das Konträre doch kein Widerspruch ist.«
Karin Holzapfel sackte in sich zusammen. Es war ihr anzusehen, wie sie ihren Gedanken, aber auch ihren Erinnerungen freien Lauf ließ.
ZWEI
Dr.Lüder Lüders traf mit Verspätung an seinem Arbeitsplatz ein. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er noch einmal an den Grund für die Verzögerung dachte. Das vorangegangene Wochenende war ein wenig getrübt durch den Brief der Schule gewesen, die um seinen Besuch bat. Jonas! Es war nicht das erste Mal, dass Lüder zu einem Gespräch gebeten wurde.
Mit konstanter Regelmäßigkeit suchte er das Kieler Gymnasium auf, um mit dem Direktor über seinen Sohn aus seiner geschiedenen Ehe zu sprechen. Der Zwanzigjährige war das Enfant terrible der Patchworkfamilie. Margit, seine langjährige Lebenspartnerin, hatte die Kinder Thorolf und Viveka mitgebracht. Die gemeinsame Tochter Sinje vervollständigte das Sextett. Die Kleine besuchte seit zwei Jahren ebenfalls das Gymnasium und bereitete mit ihrem Lerneifer und den guten Zensuren den Eltern viel Freude.
»Jonas stört den Schulfrieden«, stand im blauen Brief der Schule. Natürlich war Jonas volljährig und für sein Tun eigenverantwortlich. Es bestand aber eine stille Übereinkunft, dass Lüder dennoch von der Schule informiert wurde. Mit dieser Hypothek war das Wochenende nicht ganz so zwanglos verlaufen, wie Lüder es sich gewünscht hätte. Während des Vortrags des Direktors hatte sich Lüders düstere Stimmung allerdings gebessert. Es war lediglich Jonas’ früherer Verfehlung zu verdanken, dass Lüder den Schulleiter nicht fragte, ob es nicht Wichtigeres gäbe.
Jonas hatte ein Referat über den Walfang gehalten. Inhaltlich war es nicht zu beanstanden, hatte der Direktor versichert. Die massive Störung des Unterrichts bestand darin, dass Jonas vor der Klasse gestanden und seine Ausführungen statt mit Gestik mit der Merkel-Raute begleitet hatte. Damit nicht genug. Auch zu Hause konnte Jonas die Familie damit begeistern, dass er die Kanzlerin treffend imitierte. Trotz der Aufforderung der Lehrerin, das zu unterlassen, hatte er das Referat in dieser Weise fortgesetzt. Seine Missetat bestand darin, dass es der Pädagogin für den Rest der Stunde nicht mehr gelungen war, die erheiterte Klasse »wieder einzufangen«, wie es der Direktor umschrieben hatte.
Lüder fand das Verhalten seines Sohnes nicht ermahnungswürdig. Er hatte gegenüber der Schule verschwiegen, dass ihm das gelegentliche Kiffen viel mehr Sorge bereitete.
»Das machen doch alle«, hatte Jonas auf die Vorhaltungen seines Vaters entgegnet.
Lüder seufzte. Es gab einfachere Berufe als den des Vaters. Zum Beispiel den des Kriminalrats in der Abteilung3 des Kieler Landeskriminalamts, dem Polizeilichen Staatsschutz.
Bevor er seinen Rechner hochfuhr, besorgte er sich einen Kaffee im Geschäftszimmer. Edith Beyer begrüßte ihn freundlich und fragte, wie er das Wochenende verbracht habe. Sie selbst habe schöne Tage verlebt.
Was soll man da auch sagen?, dachte Lüder. Niemand wird seinen Kollegen erzählen, er habe an den freien Tagen Knatsch mit dem Partner gehabt, sich aus Ärger am Sonnabend betrunken und den Sonntag damit zugebracht, den schmerzenden Kopf wieder ins Lot zu rücken. Nein! Das traf auf ihn nicht zu, auch wenn die unbeschwerten Zeiten in seiner Familie Vergangenheit waren, seit Islamisten ihn und Margit überfallen und als Geisel genommen hatten. Margit litt immer noch unter diesem Trauma und hatte ihre Unbekümmertheit noch nicht wiedererlangt.
An seinen Schreibtisch zurückgekehrt, sichtete er den elektronischen Posteingang. Die morgendliche Lagebesprechung hatte er versäumt. Lüder wandte sich der Tagesroutine zu, als Edith Beyer anrief und ihn zum Abteilungsleiter bat.
»Bitte sofort«, setzte sie hinzu.
Der Abteilungsleiter saß in seinem Büro und sah auf, als Lüder eintrat.
»Guten Morgen, Lüder«, begrüßte ihn Dr.Starke. Der Kriminaldirektor zeigte sich wie immer mit einer vom Solarium unterstützten Gesichtsbräune. Er war mit einem zartblauen Hemd und einer perfekt dazu passenden Krawatte bekleidet. Den dunkelblauen Blazer hatte er ebenfalls nicht abgelegt. »Wie war das Wochenende?«
»Zu kurz«, erwiderte Lüder knapp.
Auf einen Händedruck verzichteten sie. Die abgrundtiefe Abneigung der vergangenen Tage war einer neutralen Distanziertheit gewichen. Dr.Starke hatte ihm nach der Befreiung aus der Geiselhaft sogar das Du angeboten.
»Wir sollen zum Chef kommen«, erklärte Dr.Starke und stand auf.
Der »Chef« war Jochen Nathusius, der stellvertretende Leiter des LKA.
Jochen Nathusius empfing sie mit freundlichen Worten, drückte beiden die Hand und bat sie, Platz zu nehmen.
»Wir hatten gestern einen ungewöhnlichen Mord in Eutin während der Aufführung der ›Fledermaus‹.« Nathusius berichtete von den bisher bekannten Einzelheiten. »Der Fall wird von der Lübecker BKI bearbeitet. Beim Opfer handelt es sich um Josef Kellermann, Dompropst des Erzbistums Hamburg. Der Generalvikar hat sich heute Morgen direkt an das Innenministerium gewandt. Von dort sind wir als LKA gebeten worden, parallel zu den laufenden Ermittlungen der Lübecker einen Blick darauf zu werfen. Das Innenministerium möchte einen Zwischenbericht von uns und wird den dann an den Erzbischof in Hamburg weitergeben. Ich würde Sie, Herr Dr.Lüders, bitten, sich der Sache anzunehmen und mich dann in Kenntnis zu setzen. Wir sollten den Fall diskret behandeln. Die Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, sollen außen vor bleiben.«
Lüder und Dr.Starke versicherten, dass dies eine Selbstverständlichkeit sei. Seitdem in Kiel eine neue Landesregierung im Amt war, waren Lüders persönliche Kontakte zum Innenminister gekappt worden.
»Gut«, sagte Nathusius. »Mehr ist meinerseits nicht anzumerken.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Dr.Starke auf dem Rückweg.
Lüder zuckte mit den Schultern. »Ich werde mich erkundigen«, versprach er und suchte zunächst von seinem Arbeitsplatz aus nach Informationen über das Opfer.
Josef Kellermann war neunundfünfzig Jahre alt und wohnte in Hamburg.
»Ledig«, sagte Lüder schmunzelnd. »Kein Wunder. Der ist Priester.«
Lüder nahm telefonischen Kontakt mit dem Generalvikariat auf und wurde mit einem der Stimme nach älteren Mann verbunden, der auch nach Rückfrage seinen Namen nicht nennen wollte. Immerhin war sein Gesprächspartner bereit, etwas über Kellermann zu berichten. Lüder vermutete, diese Bereitschaft basierte auf einer Anordnung der Bistumsspitze, den Behörden bei den Ermittlungen behilflich zu sein. Das Opfer war im westfälischen Coesfeld geboren und in der Kleinstadt Gescher aufgewachsen, hatte das St.-Pius-Gymnasium in Coesfeld besucht und an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Theologie studiert. Daneben hatte Kellermann ein paar Semester Philosophie und Kunstgeschichte absolviert und das Philosophiestudium an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg abgeschlossen.
»Ein gebildeter Mann«, murmelte Lüder unhörbar. Parallel zum Studium hatte Kellermann seine Priesterausbildung am Bischöflichen Priesterseminar Borromaeum absolviert. »In Sichtweite des Hohen Doms zu Münster«, hatte der Gesprächspartner angefügt. Nach dem Diakonat war Kellermann in seiner Heimatdiözese zum Priester geweiht worden, war drei Jahre als Kaplan in der Kirchengemeinde St.Andreas in Velen tätig gewesen und dann zu weiteren Studien nach Rom abgeordnet worden. Nach seiner Rückkehr hatte Kellermann das Amt des Regens an seiner Ausbildungsstätte übernommen. Von dort aus hatte man ihn in sein jetziges Amt im Erzbistum Hamburg berufen.
»Hat Herr Kellermann nie eine Pfarrei geleitet?«, unterbrach Lüder seinen Gesprächspartner.
»An seinem Werdegang erkennen Sie, dass er zu Höherem berufen war«, erwiderte der Mann ein wenig schnippisch.
»Was macht ein Dompropst?«, wollte Lüder wissen.
»Das wissen Sie nicht?« Es klang nasal, von oben herab. »Der Dompropst ist eine Dignität…«
»Das kommt aus dem Lateinischen– dignitas– und heißt Würde«, unterbrach Lüder den Mann.
Sein Gesprächspartner stockte in seinen Ausführungen und schien überrascht. »Der Dompropst leitet das Domkapitel und vertritt es nach außen. Ist die Bischofskirche Sitz eines Erzbischofs oder Metropoliten, bezeichnet man das Domkapitel auch als Metropolitankapitel. Es ist das leitende Gremium an einer katholischen Bischofskirche und unterstützt den Bischof bei der Leitung und Verwaltung des Bistums. Eine wichtige Aufgabe des capitulum ist es auch, nach dem Tod oder dem Amtsverzicht des Bischofs einen neuen zu wählen.«
»Ich gehöre nicht Ihrer Fakultät an«, sagte Lüder. »Deshalb sehen Sie mir meine Unwissenheit nach. Ich bin der Meinung gewesen, der Weihbischof vertritt den Erzbischof.«
Sein Gesprächspartner holte tief Luft. »Wenn der Diözesanbischof aufgrund der Größe des Bistums die bischöflichen Aufgaben nicht allein wahrnehmen kann, vertritt ihn der Weihbischof vor allem bei Weihehandlungen wie der Kirch- oder Diakonweihe oder beim Spenden des Sakraments der Firmung. Er führt auch noch andere oberhirtliche Aufgaben durch. Der Vertreter des residierenden Bischofs, also des Diözesanbischofs, in Sachen Verwaltung und Jurisdiktion ist der Generalvikar.«
»Das ist der Verwaltungschef, also eine Art kaufmännischer Direktor«, fuhr Lüder dazwischen.
»Das ist eine etwas unpassende Formulierung«, tadelte ihn der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Und wo steht nun der Dompropst?«
»Ich hatte es Ihnen schon gesagt: Er steht dem Metropolitankapitel vor. Dessen Aufgaben sind in einer Satzung festgeschrieben. Das Kapitel ist übrigens eine öffentliche kollegiale juristische Person kanonischen Rechts und eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Aber es würde zu weit führen, einem Laien die rechtlichen Aspekte zu erklären.«
»Du mich auch«, murmelte Lüder unhörbar. »Du sprichst mit Dr.jur. Lüder Lüders.« Laut sagte er: »Also war Josef Kellermann ein leitender Mitarbeiter im Bistum, er gehörte mit zur Führungsmannschaft.«
»Sie bedienen sich Termini, die für mich fremd klingen«, erwiderte der Mann schnippisch. »Im übertragenen Sinne trifft es aber zu. Das Domkap… das Metropolitankapitel«, verbesserte sich der Gesprächspartner, den Lüder irritiert zu haben schien, »hat die vornehme Aufgabe, sich um die Feier der Gottesdienste in der Domkirche St.Marien und um die Verkündigung des Wortes Gottes zu sorgen. So vertritt der Dompropst den Bischof bei der Feier der heiligen Messe bei dessen Abwesenheit.«
»Das sind alle Aufgaben?«
»Nein. Ich sagte schon, dass dem Kapitel bei Tod oder Amtsverzicht des Bischofs eine wichtige Aufgabe zufällt.«
»Sonst nichts weiter?«, blieb Lüder hartnäckig.
Die Stimme senkte sich ein wenig, wurde leiser.
»Die Finanz- und Vermögensverwaltung des Kapitels nimmt in dessen Auftrag der Dompropst wahr.«
Lüder konnte mit Mühe einen Überraschungspfiff unterdrücken. »Da geht es um viel Geld, um große Vermögen«, sagte er.
»Das kann nicht Gegenstand unseres Gespräches sein«, belehrte ihn der Mann am anderen Ende der Leitung und beendete mit einem kurzen »Auf Wiedersehen« das Telefonat.
Ein Mord ist immer ein schlimmes Ereignis, dachte Lüder. Häufig finden sich die Täter im Umfeld des Opfers. Dort ist auch das Motiv zu suchen. Hass. Habgier. Sexuelle Straftaten. Mord im Affekt. Das sind die häufigsten Gründe.
Auf den ersten Blick schieden sie bei einem katholischen Geistlichen alle aus. Es gab keine Familie. Kein Ehedrama. Anzeichen für einen Raub lagen auch nicht vor. Hatte Kellermann Feinde? Sicher gab es Neider. Missgunst ist auch in einer Kirche verbreitet. Aber reichte das als Mordmotiv? Eifersucht? Schwer vorstellbar. Rache? Dazu müsste man in Kellermanns Vergangenheit forschen.
Habgier– welches Gebot war das noch gleich? Das neunte? Oder das zehnte? Beides, fiel ihm ein. Die Katholiken und die Lutheraner hatten eine abweichende Aufteilung. Er würde sich auf jeden Fall für Kellermanns Verantwortungsbereich in Sachen Vermögens- und Finanzverwaltung interessieren müssen.
Nach dem Telefonat sah Lüder auf seine Aufzeichnungen. Er hatte sich noch nie damit beschäftigt, wie man Priester wurde. Es ist ein langer Weg, dachte er. Aber warum wird jemand mit diesem Werdegang ermordet? Konnte man Feinde haben? Gab es im persönlichen Umfeld Motive für Mord? Rache? Wenn ja– wofür?
Spontan fiel Lüder ein, dass in den Medien immer wieder Berichte über straffällig gewordene Geistliche auftauchten. Meistens ging es um sexuellen Missbrauch. Natürlich gab es Berufsgruppen, die bei diesem Straftatbestand besonders in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Solche Ausnahmen schürten in manchen Kreisen das Vorurteil, eine Vielzahl von Geistlichen sei pädophil veranlagt, der Rest neige zur Homosexualität. Lüder empfand es als widerwärtig, wenn solche Behauptungen kolportiert wurden. Kinder und andere Schutzbefohlene mussten vor jeder Art von Übergriffen oder Missbrauch beschützt werden. Das galt aber auch für Pädagogen und alle Leute, denen Kinder anvertraut waren. Daran gab es keinen Zweifel. Wie jemand seine persönlichen sexuellen Neigungen auslebte, sollte hingegen keinen Dritten interessieren, unabhängig vom Wirkungskreis des Betroffenen.
Lüder rief in der Lübecker Bezirkskriminalinspektion an. Hauptkommissar Ehrlichmann zeigte sich überrascht und wollte wissen, weshalb sich das LKA für den Fall interessierte. Lüder wich aus, erklärte, dass der Mord an einem hohen kirchlichen Würdenträger etwas Besonderes sei und ein Informationsbedarf der oberen Stellen im Land bestehe.
Der Hauptkommissar mochte das nicht einsehen. »Wenn jemand aus den oberen Etagen etwas wissen möchte, soll er sich an mich wenden.«
Es bedurfte noch einer längeren Diskussion, bis sich Ehrlichmann bereit erklärte, Lüder die gewünschten Informationen zukommen zu lassen. Sicher trug dazu auch bei, dass Lüder dem Lübecker seine bisherigen Ergebnisse mitteilte.
Wenig später traf Ehrlichmanns Bericht ein. Lüder las ihn durch und rief den Hauptkommissar zurück.
»Sie haben in Ihrem– übrigens mit Akribie verfassten– Bericht geschrieben, dass man im Hotel in einem Nebensatz angemerkt hat, Kellermann sei gelegentlich über Nacht fortgeblieben. Wir können davon ausgehen, dass er sich weder in Discos noch in Bars herumgetrieben hat.«
Ehrlichmann zögerte für einen Moment mit der Antwort. »Dieser Zwischenton ist Ihnen aufgefallen? Tatsächlich habe ich mich auch darüber gewundert. Man könnte vermuten, dass er bei Frau Holzapfel übernachtet hat.«
»Die beiden werden kaum die ganze Nacht an einem geistigen Gedankenaustausch festgehalten haben.«
»Er war katholischer Geistlicher. Und Karin Holzapfel ist nach eigenem Bekunden seit dem Tod ihres Mannes in Sachen Männer abstinent.«
»Tja«, erwiderte Lüder gedehnt. »Sie wird kaum damit hausieren gehen, dass sie ein intimes Verhältnis zu einem katholischen Würdenträger gepflegt hat. Beiden war daran gelegen, es unter dem Mantel der Verschwiegenheit zu belassen. Hat die Frau eigentlich Angehörige? Kinder?«
Der Lübecker Hauptkommissar konnte die Fragen nicht beantworten. »Gut. Ich werde das prüfen. Wir werden auch noch einmal die Nachbarn befragen, ob ihnen hinsichtlich Männerbesuch etwas aufgefallen ist.«
»Wir ermitteln rein sachlich«, erklärte Lüder. »Es ist weder unsere Aufgabe, ein moralisches Urteil über die Beziehung zweier Menschen zu fällen, gleich welche Lebensgeschichte sie aufweisen, noch, was die Öffentlichkeit in Anbetracht des Amtes Kellermanns dazu sagen würde. Mich würde aber interessieren, ob man im Domkapitel über Kellermanns Aktivitäten während seiner Aufenthalte in Bad Malente informiert war oder ob die beiden es wirklich geheim halten konnten.«
»Natürlich haben wir uns diese Frage auch gestellt«, erwiderte Ehrlichmann ungnädig. »Aber mehr als zwei Arme und zwei Beine hat keiner von uns. Wir arbeiten unsere Punkte der Reihe nach ab. Und das Festlegen der Priorität behalte ich mir vor.« Lüder versicherte ihm, dass er keinen Zweifel an der Qualifikation der Lübecker Beamten habe und sich auch nicht in deren Arbeit einmischen wolle.
Der Lübecker verabschiedete sich mit einem Knurrlaut.
Lüder wählte die Rufnummer des Instituts für Rechtsmedizin an und ließ sich mit dem Oberarzt verbinden.
»Moin, Herr Dr.Diether«, sagte er, als sich der Arzt am Telefon meldete.
»Ah, Sie schon wieder. Habe ich etwas übersehen? In unserem Gefrierschrank liegt doch keine Anlieferung von Ihnen?«
»Es geht um einen älteren Fall.«
»Ich verstehe. Da kennen Sie sich aus. Ich gehöre noch nicht Ihrem Jahrgang an. Geht es um Winnetou? Oder noch älter? Tutanchamun? Der starb einen unerwartet plötzlichen Tod, vermutlich ein Unfall«, erklärte der Rechtsmediziner.
»Hier handelt es sich um einen abgeschlossenen Fall«, sagte Lüder. »Vermutlich aus einer Zeit, als Sie sich noch auf Ihren Beruf vorbereitet haben.«
»Lästern Sie ruhig. Der war mir vorbestimmt. Wir wohnten damals in Friedhofsnähe. Nach der Kita bin ich mit meiner Plastikschaufel los und habe auf dem Gräberfeld geübt. Haben Sie mit Ihrem Beruf auch so früh angefangen? Ich weiß«, gab sich Dr.Diether selbst die Antwort. »Jurist und Polizist. Sie haben die Großeltern belogen und auf dem Spielplatz die anderen Kinder verprügelt.«
»Schöne Vorstellung«, bestätigte Lüder. »Es geht um den Vorgang Hans Kramarczyk, den Ihre Kollegen vom Campus Lübeck bearbeitet haben. In diesem Zusammenhang taucht der Name Josef Kellermann als belanglos erscheinende Randnotiz auf. Mich macht es stutzig, dass hier ein möglicher religiöser Exzess stattgefunden haben könnte.«
»Da müsste ich mir den Vorgang ansehen«, erwiderte der Rechtsmediziner. »Ich melde mich.«
Es dauerte zwei Stunden, bis der Rückruf eintraf.
»Heiße Sache«, begann Dr.Diether. »Ich habe den komplexen Vorgang in der Kürze der Zeit nur überflogen. In Groß Zecher, das ist ein Ortsteil von Seedorf, damals ganz am Rande der Republik am Schaalsee, lebte eine Familie Kramarczyk. Wissen Sie, dass der Name slawisch ist und in der deutschen Entsprechung ›Krämer‹ oder ›Kleinhändler‹ bedeutet? Natürlich wissen Sie das nicht«, gab der Arzt wieder selbst die Antwort. »Die Eltern waren einfache Landarbeiter, deren Vorfahren nach dem Krieg aus Schlesien geflüchtet waren. Damals hat sich Schleswig-Holsteins Bevölkerung fast verdoppelt.«
»Können Sie sich den Geschichtsunterricht sparen und zur Sache kommen?«, bat Lüder.
»Ein wenig Allgemeinbildung könnte Ihnen nicht schaden«, entgegnete Dr.Diether. »Aber in diesem Fall gehört es zum Verständnis. Also– die Eltern haben auf einem großen Bauernhof gearbeitet und wohnten in einem einfachen Haus, wie es früher nicht unüblich war. Das größere ihrer Kinder, Hans, ist als Dreijähriger eine steinerne Kellertreppe hinabgestürzt. Dabei hat sich das Kind schwere Kopfverletzungen zugezogen, genau genommen ist es zu Hirnblutungen gekommen. Dadurch ist ein Areal im Gehirn ausgefallen. Drücke ich es einfach genug aus, damit auch Sie es verstehen?«, fragte Dr.Diether zwischendurch.
»Ich bemühe mich«, versicherte Lüder.
»Gut. Als Folge des Unfalls war das Kind dauerhaft behindert. Es hatte Sprachstörungen. Auch die Motorik war beeinträchtigt, ganz abgesehen von der geistigen Behinderung. Eine weitere Folge des Unglücks war, dass der kleine Hans zu periodischen Krampfanfällen neigte, die durch die regelmäßige Einnahme von Medikamenten, Antiepileptika, gedämpft wurden. Die müssen regelmäßig eingenommen werden. Der Junge war zeitlebens ein Pflegefall und hat die– ich will niemandem zu nahe treten– einfach gestrickten Eltern überfordert. Hinzu kam, dass sie sich zeitlebens Vorwürfe gemacht haben und sich schuldig am Schicksal des Sohnes fühlten. Die Einzelheiten des weiteren Geschehens müssen Sie anderen Quellen entnehmen. Jedenfalls erfolgten Behandlungen durch Dritte, Nichtmediziner, in deren Verlauf Hans Kramarczyk nicht mehr die regelmäßig erforderlichen Medikamente verabreicht wurden. So kam es zu einem Status epilepticus. Der kann ohne geeignete Hilfsmaßnahmen lange dauern. Bei jedem Krampfanfall werden Gehirnzellen zerstört. Der Patient krampft und krampft. Im schlimmsten Fall kann das zum Tode führen. Das ist hier leider geschehen.« Dr.Diether hatte bei den letzten Sätzen die Stimme gesenkt.
»Epileptiker werden doch öfter von Krämpfen befallen«, warf Lüder ein.
»Das ist leider so. Der gefürchtete Status epilepticus tritt meistens bei einem länger als fünf Minuten dauernden Anfall oder einer Serie von Anfällen auf. Es könnte sich auch um einen Anfall in Form von Absencen handeln. Das gilt auch, wenn ein fokaler Anfall länger als zwanzig bis dreißig Minuten dauert. Das führt zu einer fortschreitenden Bewusstseinsstörung. Der Status, wie die Neurologen verkürzt sagen, ist lebensbedrohlich. Das liegt an der enormen körperlichen Belastung, aber auch an der Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems. Wichtige Körperfunktionen wie Blutdruck und Atmung können ausfallen. Die Letalität des Status beträgt etwa zehn Prozent. Aber was besagen schon Statistiken?«
»Also hatte Hans Kramarczyk kaum eine Chance«, sagte Lüder.
»Hier unterscheiden sich die Ansichten von Ärzten und Juristen. Die Mediziner versuchen ihr Bestes und setzen ihr ganzes Wissen und ihre Erfahrung ein. Wir können aber nicht Gott spielen. Die Juristen suchen stets einen Schuldigen.«
»Heißt das, Hans Kramarczyk war nicht zu helfen gewesen?«
»Doch. Vielleicht hätte er gerettet werden können. Ein Notarzt hätte eine intravenöse Erstbehandlung durchgeführt und den Patienten zügig in eine Klinik bringen lassen. Das ist hier unterblieben. Dass Laien nicht direkt helfen können, versteht jeder. Aber unterlassene Hilfeleistung ist etwas anderes.«
Lüder bedankte sich bei Dr.Diether und forderte die Ermittlungsakte zum Vorgang an. Kurze Zeit später brachte sie Friedjof, der mehrfach behinderte Bürobote, vorbei.
»Na, Herr Ratspräsident«, begrüßte ihn der junge Mann fröhlich. »Bist du unter die Historiker gegangen und fragst nach alten Akten? Oder hast du den… den… Wie heißt der dänische Krimischriftsteller mit dem Vogelnamen noch gleich?«
»Du meinst Jussi Adler-Olsen?«
»Kann sein. Ist der das, dessen Held im Keller sitzt und alte Akten aufarbeitet?«
»Das war jetzt sehr verkürzt, Friedhof«, meinte Lüder.
Friedjof wedelte mit der Akte. »Was ist das für ein Vorgang?«
»Ein schlimmer. Das Opfer ist als Kind verunglückt, eine Treppe hinabgestürzt und hat sich schwere Kopfverletzungen zugezogen, die ihn zu einem dauerhaften Pflegefall gemacht haben. Seine Eltern haben ihm irgendwann die medizinisch notwendige Hilfe versagt. Daran ist er gestorben.«
»Und was hast du damit zu tun?«, wollte Friedjof wissen.
Lüder streckte den Arm aus und nahm die Akte entgegen.