Das Labyrinth von Grubenberg - Tino Keller - E-Book

Das Labyrinth von Grubenberg E-Book

Tino Keller

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Beschreibung

Detektiv Martin Gummimann bekommt den Auftrag einen Ehemann zu beobachten, dessen Frau glaubt, dass er fremd gehe. Dabei wird er Zeuge wie der Mann entführt wird. Am nächsten Tag sieht er einen der vermeintlichen Entführer und verfolgt ihn zu einem Seminarhotel. Er schreibt sich dort für ein parapsychologisches Seminar ein, um ihn weiter beobachten zu können. Doch mehr und mehr geschehen unerklärliche Dinge, Leute verschwinden, Geister erscheinen, doch er glaubt nicht an so was und kommt dabei in immer grössere Schwierigkeiten.

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Tino Keller

Das Labyrinth

von Grubenberg

Es war dunkel und regnete leicht. Seit drei Stunden wartete Gummimann vor dem Geschäftshaus und nichts geschah. Solche Aufträge hasste er, und dazu kam, heute war Samstag, da hätte er Besseres zu tun gewusst, aber er verdiente gut dabei. Er musste für eine Frau deren Ehemann beschatten, der immer spät nach Hause kam. Sie vermutete, er ginge fremd. Doch, obwohl Gummimann seit fast einer Woche jeden Abend hier in seinem Auto vor dem Gebäude das Büro beobachtete, konnte er bis jetzt noch nichts feststellen, was diese Vermutung bestätigt hätte.

Es war einer der Aufträge, die nach ein bis zwei Wochen ohne Resultat enden würden. Todlangweilig. Nur weil die Dame ihrem Ehemann nicht traute, musste er, Detektiv Gummimann, das jetzt erleiden. Sicher, er hätte ablehnen können, aber sie bot ihm Fr. 5000.- für zwei Wochen, um einfach nur im Auto zu sitzen und zu warten. Das konnte er nicht ablehnen. Eigentlich hätte er das Geld nicht gebraucht. Nach seinem Abenteuer letztes Jahr in Amerika, bekam er von den Amis genug, um ein Jahr ohne Arbeit durchzukommen. Aber einfach nichts tun oder irgendwo im Ausland Ferien machen, wollte er im Moment nicht. Lieber noch in der Schweiz: Berge, Seen, Wandern, aber auch Zuhause war es schön. Darum, damit es ihm nicht langweilig wurde, hatte er sich entschlossen, diesen Auftrag anzunehmen. Doch dieser Auftrag war schlimmer als befürchtet.

Wieder ein nutzloser Abend. Im Nachhinein bereute er seine Zusage, aber jetzt war es zu spät, da musste er durch. Gummimann gähnte, er versuchte sich irgendwie anders hinzusetzten, sein Hintern schmerzte, auch sein Rücken meldete sich unangenehm. Im Radio lief leise Musik, was es war, wusste er nicht, er liess sich einfach damit berieseln.

Auf der anderen Strassenseite hielt ein grauer Lieferwagen. Gummimann sah auf seine Uhr, der war gestern schon um diese Zeit gekommen. Zwei Männer stiegen aus und gingen zum Haus. Die vermutete Geliebte konnte es kaum sein. Zu wem sie gingen, konnte er nicht erkennen, die Sicht war zu schlecht und im Gebäude gab es mehrere Firmen und Büros. 

Flurin Gamesch hiess der Mann, den er beobachten musste, er war Anwalt. Was er genau vertrat, wusste Gummimann nicht, interessierte ihn auch nicht. Seine Aufgabe war es abzuklären, ob er sich heimlich mit einer Frau traf. Dieser Gamesch arbeitete allein, hatte eine schon ältere Sekretärin, die aber vor drei Stunden nach Hause gegangen war.

Die Männer betraten das Gebäude und würden es nach ungefähr zehn Minuten wieder verlassen. Gummimann kannte das, es war gestern so und am Tag vorher und es würde auch heute wieder so sein. Er gähnte, streckte sich und hoffte, Gamesch würde bald Feierabend machen, und er könne endlich nach Hause. Vielleicht würde es dann noch für einen Krimi im Fernsehen reichen. Da erinnerte er sich an das Silserli mit Quark, das er auf der Fahrt hierher bei der Bäckerei Sutter gekauft hatte: Ein kleiner Lichtblick am heutigen Abend. Er nahm es aus der Papiertüte, die auf dem Beifahrersitz lag und biss mit Hochgenuss hinein. 

In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür des Gebäudes, die beiden Männer erschienen wieder, aber diesmal in Begleitung von Gamesch. Gummimann verschluckte sich beinahe, legte das Silserli zur Seite und beobachtete die drei, wie sie zum Lieferwagen gingen. So wie sich die Szene abspielte, ging Gamesch nicht freiwillig mit. Er wehrte sich zwar nicht, wurde aber von den Männern an den Armen festgehalten. 

Wer waren die? Sehr vertrauenswürdig sahen sie nicht aus.

Gamesch musste auf einem hinteren Sitz des Lieferwagens Platz nehmen. Im Licht der Wagenbeleuchtung sah Gummimann, dass die hinteren Sitze mit einem Gitter von den vorderen abgetrennt waren. Er war unsicher, was er jetzt unternehmen sollte. Wirklich gefährlich sah die Situation nicht aus, es könnte auch eine Verhaftung gewesen sein. Nur die Besuche Tage zuvor verunsicherte ihn, bei einer Verhaftung war das eher unüblich. Zur Sicherheit notierte er sich die Nummer des Wagens. 

Die Männer schlossen die Seitentür und stiegen ein, das Innenlicht ging aus. Dann geschah lange nichts. Ins Auto zu blicken, war nicht mehr möglich, dazu war es zu dunkel, auch hatte der Regen zugenommen. Dann gingen die Scheinwerfer an, der Wagen wurde gestartet. Noch kurz wollte Gummimann warten, etwas Distanz lassen, und ihnen dann folgen. Der Wagen fuhr los, an ihm vorbei. Gummimann drehte den Anlasser, der aber reagierte nicht. Eigentlich kannte er das, er musste es nur ein paar Mal versuchen, irgendwann würde der Motor starten, aber es war der denkbar ungünstigste Moment. 

Voller Wut hämmerte er auf das Armaturenbrett und schrie: »Scheisse, Scheisse, Scheisse!«, zugleich wusste er, es war sein Fehler, er hätte den Wagen schon lange reparieren lassen sollen, hatte es aber immer wieder heraus gezögert oder einfach vergessen. Nochmals startete er einen Versuch, und jetzt sprang sein Peugeot 107 an, als ob nie etwas gewesen wäre.

Den Lieferwagen jetzt noch einzuholen, dürfte schwierig werden. Fluchend und sich über sich selbst ärgernd, fuhr er der Strasse entlang. Nach ein paar Minuten hielt er am Strassenrand und schaute auf die Uhr. Es war 22.30 Uhr, noch konnte er es wagen Clearwater anzurufen, er nahm sein Handy und wählte.

Sir Clearwater war ein Freund von ihm, ein älterer Herr, Chef des Schweizer Geheimdienstes GDB Sektion Nordwest, der hier in Basel seine Büros hatte. Bei vielen seiner Abenteuern war Clearwater ihm zur Seite gestanden. Wie alt er war, wusste niemand so genau, und er selbst sprach nie darüber, aber man schätzte ihn auf etwas mehr als sechzig. Sein Markenzeichen war sein weisser Anzug und sein weisser Panama-Hut. Mit seinen weissen Haaren und seinem kurzen, grau melierten Bart wirkte er äusserst kompetent, was er auch war. Vor allem strahlte er Autorität aus. Überall war er hoch angesehen und seine Meinung zählte viel.

Es klingelte nur zweimal und schon hatte Clearwater abgenommen.

»Clearwater.«

»Ich bin’s, Gummimann, ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört.«

»Nein, ich bin noch im Büro, Schreibkram. Wenn Sie so spät noch anrufen, dann dürfte es kein Plauderstündchen werden. Um was geht es?«

»Sie müssten eine Halterabfrage machen. Es geht um einen Lieferwagen aus Basel.«

»Aha, das soll wohl auf unsere Rechnung gehen«, Clearwater lachte. »Also geben Sie mir das Kennzeichen durch.«

»Das ist nett.« Er gab ihm die Nummer. »Ich habe beobachtet wie einer, den ich überwachen muss, abgeführt wurde, aber es war niemand von Ihrer Abteilung, es könnte aber die Polizei gewesen sein. Ich werde, je nach dem, wem der Wagen gehört, noch mit Kommissär Meierhans Rücksprache nehmen.«

Lange war nichts mehr zu hören, dann meldete sich Clearwater wieder: »Da wird Ihnen Meierhans nicht viel mehr sagen können, der Wagen gehört einer Autovermietung und gilt als vermisst. Ich kann Ihnen die Adresse und Telefonnummer durchgeben, aber ich denke so spät an einem Samstagabend, werden Sie dort kaum jemand antreffen. Ich schicke Ihnen eine SMS.«

»Vermisst und nicht gestohlen?«

»Ich denke, der Wagen wurde offiziell gemietet, ist aber nicht zum vereinbarten Termin zurückgebracht worden.«

»Ich sehe schon, viel kann ich im Moment nicht unternehmen. Vielen Dank, Sir Clearwater, ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

Gummimann beendete das Gespräch und wartete auf die versprochene SMS, welche ein paar Minuten später bei ihm eintraf. Gespannt las er sie. Dann wollte er mit Gamesch' Frau reden. Er hatte mit ihr vereinbart, dass er sie jederzeit anrufen konnte.

Für den Fall, dass ihr Mann zu Hause wäre, hatten sie ein Stichwort ausgemacht, und er würde mit einer Ausrede wieder auflegen.

Als er sie am Handy hatte und das Stichwort ausblieb, fragte er sie, ob ihr Mann nach Hause gekommen sei.

»Nein«, antwortete sie, »bis jetzt nicht. Warum fragen Sie, ist etwas geschehen?«

»Nein, das heisst ja.« Er war sich nicht sicher, was er ihr erzählen sollte. »Er ist weggegangen. Hat er Ihnen irgendwas erzählt, ob er noch irgendwo hinwolle oder sich mit jemandem Treffen wolle?«

»Mein Mann erzählt mir nie etwas, ich bin froh, wenn er mich grüsst. Und das Geschäft ist sowieso tabu, davon spricht er nie. Aber sind Sie sicher, dass es keine Dame war, mit der er weggegangen ist?«

»Ja, 100 % sicher.«

»Ah, dann ist ja gut, dann bin ich beruhigt. Aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen, ich möchte ins Bett. Danke für die Info.« Sie hängte auf.

Gummimann war verdutzt, ihr war nur die eventuell unbekannte Dame wichtig, alles andere schien sie nicht zu interessieren. Möglicherweise sah er auch mehr dahinter, als es wirklich war.

Nach kurzem Überlegen entschloss er sich, mit Kommissär Meierhans von der Basler Kriminalpolizei Kontakt aufzunehmen. Es ist besser einmal zu viel, als einmal zu wenig und wählte.

Nach geduldigem Warten wurde abgenommen: »Meierhans«

»Gummimann, es tut mir leid, Sie an einem Samstagabend zu stören, und ich bin mir auch nicht sicher, ob es wirklich nötig ist, dass ich anrufe. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, ich war noch nicht im Bett. Bis jetzt haben sich Ihre Gefühle selten getäuscht. Um was geht es?«

Und Gummimann erzählte ihm die Geschichte. 

»Also unsere Leute waren es nicht. Sie glauben also, dieser Gamesch wurde entführt? «

»Ja, das heisst nein, sicher bin ich nicht, aber bis jetzt ist er auch nicht nach Hause gekommen. Ich fahre jetzt noch bei der Autovermietung vorbei. Er gilt übrigens als vermisst.«

»Wer, Gamesch?«

»Nein, der Lieferwagen oder Bus, wie immer man das nennt, den die Männer hatten.«

»Ich kann nach dem Wagen suchen lassen, aber nicht nach Gamesch. Erst wenn wir tatsächlich eine Vermisstmeldung bekommen, geht das. Inoffiziell aber werde ich auch nach ihm fahnden und ich informiere Sie, sollte ich etwas herausfinden.«

Gummimann gab noch das Kennzeichen durch und verabschiedete sich. Irgendwie war er erleichtert, die Verantwortung, sollte Gamesch wirklich verschleppt worden sein, nun nicht mehr allein zu tragen.

Sein Peugeot startete diesmal sogar problemlos. Bevor er nach Hause fuhr, wollte er noch bei der Autovermietung vorbei, vielleicht war doch noch jemand dort. Es war das Autohaus Bernauer an der Bottmingerstrasse in Münchenstein. Von dort war es dann nur noch einen Katzensprung, bis zur Autobahn nach Liestal und dann zu sich nach Hause, hinauf nach Wallgisdorf, im Volksmund Wallgis genannt.

Natürlich war niemand dort, alles war dunkel, bis auf die Ausstellungsräume, die beleuchtet waren. Er klopfte an der Tür und an die Schaufenster, doch niemand öffnete. Vor dem Gebäude standen mehrere Lieferwagen ähnlich dem, der möglichen Entführer, aber keiner mit der gesuchten Autonummer. Er stieg wieder ein und fuhr nun endgültig nach Hause. 

Heute war Frühlingsbeginn. Mindestens sagte das der Kalender. Aber auch die Natur schien ihn studiert zu haben. Die Sonne schien, Vögel zwitscherten, ein noch kühles aber angenehmes Lüftchen ging. Gummimann öffnete die Fensterläden in seinem Schlafzimmer und genoss dabei die frische Brise und den Ausblick in den Garten. So aufzustehen war superschön. Vor der Wohnungstür lag die SonntagsZeitung. Das hiess, Frau Änishänslin, seine Nachbarin vom ersten Stock, schien auch schon aufgestanden zu sein, denn wenn sie ihre Zeitung holte, nahm sie auch seine aus dem Briefkasten und legte sie ihm vor die Wohnungstür. Sie war eine ältere Dame, etwas zu gesprächig, aber sehr nett. 

Gummimann wohnte schon lange hier. Es war ein älteres dreistöckiges Haus, mit einem schönen Garten. Frau Aenishänslin wohnte im ersten Stock, und der Hausbesitzer hatte im zweiten eine Wohnung, die er aber nur selten nutzte.

Die Sache mit Gamesch gestern hatte er verdrängt. Vermutlich war nichts, im Dunkeln im Regen hatte er es womöglich nicht richtig gesehen und falsch interpretiert. Zuerst waren jetzt der Kaffee und das Lesen der Zeitung an der Reihe, dann konnte er sich noch immer Gedanken darüber machen. Die Kaffeemaschine hatte ihre Arbeit soeben erledigt und Gummimann wollte den Kaffee auf den Küchentisch stellen, als sich sein Handy mit ›Axel F‹ meldete.

Er war erstaunt und auch etwas aufgebracht, ein Anruf so früh am Sonntagmorgen auf seinem Handy, und der Kaffee wartete: Das liebte er überhaupt nicht.

»Ja, Gummimann«, nahm er etwas ruppig ab.

»Gamesch hier! Mein Mann ist nicht nach Hause gekommen, der war bei seiner Geliebten und hat bei ihr übernachtet. Da bin ich mir sicher.«

»Hallo, Frau Gamesch, das kann ich mir nicht vorstellen, er ist mit zwei Männern mitgegangen, nicht mit einer Frau.«

»Sie wollen damit sagen, er sei schwul? Das wäre noch besser, er betrügt mich mit Männern?«

»Nein, ich denke, er wurde gezwungen mitzugehen. Vielleicht hat man ihn entführt, aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen.«

»Also Sie meinen nicht, dass er mit denen …?«

»Nein, das ist eher unwahrscheinlich, ich glaube …« Sie liess ihn nicht ausreden, meinte dann nur, sie sei erleichtert und hängte auf.

Gummimann war etwas irritiert. Seine Bemerkung, ihr Mann sei entführt worden schien sie nicht zu interessieren, nur das mögliche Fremdgehen. Gamesch war also die ganze Nacht weggeblieben.

Der Kaffee war nun nur noch lauwarm, aber Gummimann trank ihn trotzdem. 

Es beschäftigte ihn, nicht dass Frau Gamesch nur das hören wollte, was ihr wichtig schien, das war einfach blöd, nein, das Verschwinden ihres Mannes. Er überlegte, Kommissär Meierhans anzurufen, hatte aber Hemmungen, das an einem Sonntagmorgen zu tun. Vielleicht war es ja wirklich nur ein Sturm im Wasserglas, vielleicht aber war es ernst. Er wählte, aber Meierhans nahm nicht ab.

Die Kaffeemaschine lief, ein frischer, diesmal heisser Kaffee, würde bald für ihn bereit sein. Auch die SonntagsZeitung wartete darauf, gelesen zu werden. Aber er war nicht ganz bei der Sache, immer wieder drifteten seine Gedanken ab zum gestrigen Abend, es liess ihn einfach nicht los. Der Kaffee war fertig, er holte ihn, gab etwas Kaffeerahm dazu und versuchte mit pusten ihn auf eine trinkbare Temperatur runterzubekommen. Doch noch vor dem ersten Schluck klingelte sein Festnetztelefon. Diesmal war es Clearwater.

»Sir Clearwater, was für eine Freude, Sie an einem Sonntag am Telefon zu haben?«

»Guten Morgen, Herr Gummimann! Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört, aber es geht um Gamesch, ich habe mich über ihn informiert.«

Gummimann war erstaunt. »Sie Arbeiten an einem Sonntag?«

»Ja, ich hatte noch zu tun und am Nachmittag wollen Emma und ich ein bisschen aufs Land, spazieren. Nun, dieser Gamesch ist eine zwielichtige Gestalt. Er mag als Anwalt gut sein, aber seine Klienten sind noch zwielichtiger als er. Alle Klienten, die er bis jetzt vertrat, waren entweder Schwerverbrecher, Steuerhinterzieher, Vergewaltiger oder Erpresser, und ich könnte noch mehr aufzählen. Meist gewinnt er die Prozesse oder holt eine milde Strafe heraus. Ausser jetzt, bei seinem letzten Klienten, Albin Herrmann. Der wurde wegen Zuhälterei zu sechs Jahren verurteilt.«

Clearwaters Informationen musste Gummimann zuerst verdauen. Seine Kenntnisse über Gamesch stützten sich nur auf die Aussagen seiner Frau und die hatte so etwas nicht erwähnt. Er musste aber zugeben, er hatte sie nie danach gefragt. 

»Hallo Herr Gummimann, sind Sie noch dran?«

»Ja, ja, sorry. Ich bin nur etwas überrascht, ich wusste nichts davon. Das war nicht der Inhalt meines Auftrages, den ich von Frau Gamesch erhalten hatte, es ging nur um ein mögliches Fremdgehen ihres Mannes.«

»Jetzt wissen Sie’s. Wenn es wirklich eine Entführung war, dann könnte es mit einem seiner Klienten zusammenhängen, mit vielleicht einem, der nicht so glücklich über den Ausgang seines Prozesses war. Haben Sie mit Meierhans gesprochen?«

Gummimann bejahte. »Das habe ich. Er wollte inoffiziell der Sache nachgehen und mich dann informieren.«

»Gut, aber unternehmen Sie nichts allein, es könnte gefährlich werden. Ich höre von Ihnen, und Sie von mir, sollte es Neuigkeiten geben. Ich muss noch meinen Bericht fertig schreiben, dann gehts nach Hause.«

»Vielen Dank, Sir Clearwater, ich werde mir Ihre Anweisungen zu Herzen nehmen.«

»Ja, ich weiss«, er seufzte, »ich kenne Sie«, leichte Ironie schwang in Clearwaters Entgegnung.

Damit verabschiedeten er sich und Gummimann hängte auf. 

Nichts unternehmen konnte Gummimann nicht, das wusste auch Clearwater, und dass es gefährlich werden könnte, war ihm bewusst. Aber es war genau das, was ihn reizte. Jetzt war aus dem langweiligen Überwachungsauftrag doch noch etwas Spannendes geworden. Nur, im Moment wusste er nicht, wo er mit dem Suchen beginnen sollte. 

Zum zweiten Mal diesen Morgen trank er lauwarmen Kaffee, zu heissem hatte er es bis jetzt nicht geschafft. Jetzt war die Zeitung an der Reihe.

Keine zwei Seiten weit war er gekommen, dann klopfte es an der Tür. Es musste Frau Änishänslin sein, sie war die Einzige, die klopfte. Gummimann ging zur Tür und öffnete.

»Guten Morgen Herr Gummimann, das Wetter ist heute besser. Es gibt einen schönen Tag.«

In der Hand hatte sie einen Teller mit vier Brötchen. Gross gekämmt hatte sie sich noch nicht, ihre gefärbten blonden Haare standen noch in alle Richtungen, auch trug sie nur einen Morgenmantel.

»Guten Tag Frau Änishänslin«, begrüsste er sie und war erstaunt, sie am Sonntagmorgen vor seiner Tür zu sehen, das war eher ungewöhnlich. »Ja, es scheint ein schöner Tag zu werden.«

»Ich möchte Sie nicht stören, aber ich habe zu viele Brötchen gebacken und da dachte ich mir, bringst du ein paar Herrn Gummimann.«

»Das ist wirklich sehr nett«, er hatte nichts für das Morgenessen eingekauft, aber er wusste, ganz selbstlos machte das Frau Änishänslin nicht, sie wollte etwas von ihm.

»Herr Gummimann«, begann sie, und er wusste, jetzt würde es kommen. »Herr Gummimann, Sie sind doch gestern ziemlich spät nach Hause gekommen.« – Was wollte sie jetzt, kontrollierte sie, wann er heimkommt? – »Haben Sie die Explosion gesehen, wissen Sie, was da los war? Sie müssten Sie doch gehört oder gesehen haben. Waren das Terroristen, ist jemand gestorben? Heutzutage getraut man sich kaum mehr auf die Strasse.«

Gummimann war erstaunt: »Wo haben Sie von der Explosion gehört? Gestern Abend war alles noch friedlich, ich habe weder etwas gesehen noch gehört.«

Frau Änishänslin war enttäuscht, sie hatte erwartet, die neusten Informationen ihren Kolleginnen und der Nachbarschaft erzählen zu können.

»Ich hörte heute Morgen davon in den Nachrichten. Sie wissen also nichts? Schade. Nun gut, ich habe noch zu tun. Adieu, Herr Gummimann.« 

Sie drehte sich um und ging zurück zu ihrer Wohnung. Gummimann bedankte sich nochmals, und sie bestätigte es mit einem kurzen Winken.

Sofort machte Gummimann in der Küche das Radio an, in zwei Minuten sollten die nächsten Nachrichten kommen. Dann nahm er sich ein Brötchen und begann es zu essen.

Eine Explosion, wo könnte das gewesen sein, und warum hatte ihm Clearwater nichts gesagt? 

Die Nachrichten begannen:

In Basel ist gestern Nacht nach einer Explosion in einem Bürogebäude, eine Anwaltskanzlei ausgebrannt. Vermisst wird bis jetzt niemand. Leichen wurden keine gefunden. Die Polizei sucht noch nach der Ursache, es könnte eine defekte Gasleitung gewesen sein …

Wo die Explosion stattgefunden hatte, darüber sagten sie nichts. Aber schon bei der ersten Zeitung im Internet, wurde der Ort erwähnt: Es war die Strasse, in der er Gamesch überwachen musste. Er war so aufgeregt, er musste ein paar Mal tief ein- und ausatmen. 

Es könnte Gamesch' Kanzlei sein. Wenn dem so war, dann könnte es mit der Entführung zusammenhängen. 

Sofort zog er seine Jacke an, überprüfte, ob er alles dabei hatte: Sein Talisman, der Ibiskus, den gläsernen Schmetterling, den er bei einem Abenteuer von der Herrin eines fremden Landes bekommen hatte, sein Schweizer Taschenmesser, sein Uralt-Nokia Handy, seine beiden Taschenlampen, eine ganz kleine und eine etwas grössere und seine Brieftasche. Ohne diese Sachen verliess er seine Wohnung nie. Dann spurtete er zu seinem Peugeot und fuhr in die Stadt. 

Bis zur Davidsbodenstrasse brauchte er knapp 35 Minuten. Da die Strasse gesperrt war, musste er einen Parkplatz in einer Parallelstrasse suchen. Dort fand er einen nicht ganz korrekten, die Hinterräder standen ausserhalb der markierten Fläche, aber ein anderer war auf die Schnelle nicht zu finden. Er rannte bis zur Davidsbodenstrasse hinunter. Auch von dieser Seite hatte die Polizei die Strasse abgesperrt, aber von Weitem konnte er das Gebäude mit der brandgeschädigten Etage sehen. Wie er befürchtet hatte, war es Gamesch' Kanzlei. Vor dem Haus standen Feuerwehr und Polizeiautos. Etwas näher waren ein Fernsehteam und mehrere Reporter, die Kommissär Meierhans interviewten. Ohne zu zögern kletterte Gummimann unter der Absperrung durch, an einem Polizisten vorbei, der ihn vergebens versuchte aufzuhalten und mischte sich unter die Reporter.

»Weiss man, ob es ein Unfall oder ein Anschlag war?«, fragte der Fernsehreporter.

»Nein, wie gesagt, wir sind am Abklären», antwortete Meierhans.

»Weiss man, was passiert ist? Was genau hat die Explosion ausgelöst?«, die Frage eines weiteren Reporters.

»Nein, auch das sind wir am Abklären.« Man spürte, Meierhans wurde ungeduldig.

»Sind noch andere Wohnungen betroffen?«, ging die Fragerei weiter.

»Nein.«

»Weiss man, wem diese Kanzlei gehört?«

»Ja, das ist die Kanzlei Gamesch, aber bis jetzt konnten wir den Inhaber nicht erreichen. So, das wär’s. Wenn wir neue Erkenntnisse haben, werden wir Sie Ihnen mitteilen.«

Obwohl ihm noch viele Fragen, nach Terrorismus, Asylsuchenden und Ähnlichem, zugeworfen wurde, reagierte er nicht mehr. Ein Polizist wies die Reporter aus dem abgesperrten Bereich. Als Meierhans aber Gummimann in dem Menschenhaufen entdeckte, winkte er ihn zu sich.

»Sie wollte ich soeben anrufen, guten Morgen Herr Gummimann. Zum Glück beginnen nicht alle Sonntage so.«

Er wischte sich den Schweiss von der Stirn und seufzte leicht.

»Ja, das ist eine verrückte Sache, guten Morgen Herr Meierhans. Es ist die Kanzlei, die ich überwachte und hier die vermutete Entführung gesehen habe.«

»Was waren das für Männer? Haben Sie sie gesehen und wohin sind sie gefahren?«

Kurz überlegte Gummimann. »Die zwei sahen eigentlich ziemlich alltäglich aus, mit blauen Jeans, und beide trugen dunkle Windjacken, einer mit einem Baseball Cap, der leicht hinkte, der andere hatte mittellange dunkle Haare. Der mit dem Cap hatte einen kurzen Bart und der andere einen Schnauzer, glaube ich, aber da bin ich mir nicht so sicher.«

»Würden Sie sie wiedererkennen?«

»Ich weiss es nicht, es war dunkel und es regnete, es dürfte schwierig werden.«

»Verstehe, aber ich bitte Sie trotzdem heute Nachmittag ins Kommissariat zu kommen, dann können wir versuchen, eine Zeichnung anzufertigen. Ist das möglich? Ich kann Ihnen dann auch die neusten Erkenntnisse mitteilen. Aber jetzt muss ich noch Leute befragen, Korporal Steiner ist schon dabei. Wir sehen uns.«

Noch kurz schaute Gummimann ihm nach, dann machte er sich auf den Weg zu seinem Auto. Er war gerade in die Querstrasse abgebogen, als ihm ein leicht hinkender Mann in einer schwarzen Lederjacke auffiel, der etwa hundert Meter vor ihm ging. Er trug aber kein Baseball Cap. Es könnte trotzdem einer der Männer sein, der bei der Entführung dabei gewesen war. Gummimann beschleunigte seine Schritte. Dann bog der Mann in einen Hinterhof ab. Nun begann Gummimann zu rennen, er hoffte zu sehen, wo der Typ hinwollte. Bei der Einfahrt zum Hinterhof schaute er vorsichtig um die Ecke. Zuerst sah er nichts, dann hörte er den Motor eines Motorrades aufheulen und ein paar Sekunden später fuhr dieses lärmend und stinkend an ihm vorbei. Es war ein kleines, aber sehr lautes Motorrad. Ähnliche hatte er bei einem Motocross-Rennen gesehen. Der Fahrer trug jetzt einen schwarzen Motorradhelm, verziert mit einem roten Blitz. Leise fluchend rannte Gummimann zu seinem Auto in der Parallelstrasse. Unter dem Scheibenwischer klemmte ein Strafzettel. Etwas weiter vorne sah er die Politesse, aber er hatte keine Zeit für Diskussionen, er hoffte, das Motorrad noch irgendwo einholen zu können. Mit offenem Fenster fuhr er der Strasse entlang, vielleicht konnte er es so hören. Aber die Chancen standen schlecht, es war zu viel Zeit vergangen, der war sicher schon über alle Berge.

Bald kam er an den Kannenfeldplatzkreisel und dann weiter in die Flughafenstrasse, am Kannenfeldpark vorbei. Von einem lauten Motorrad war nichts zu hören, er würde die Suche wohl aufgeben müssen. Gerade nach dem Park war die Strasse blockiert. Ein Auto wartete blinkend in der Strassenmitte zum Abbiegen in eine Seitenstrasse und ein Motorrad stand daneben. Die beiden Männer schrien sich an. Verstehen konnte sie Gummimann nicht, aber der Motorradfahrer war der, den er suchte. Ob es Schäden gegeben hatte, war nicht zu sehen. Ein Auto hinter ihm hupte und in diesem Moment bog auch der Linienbus in die Strasse ein. Nur widerwillig trennten sich die zwei Schreihälse und gaben die Strasse frei. Fluchend, die Faust schwingend fuhr der Motorrad-Typ davon und Gummimann konnte ihm mit etwas Abstand folgen. 

Seit einer halben Stunde verfolgte er ihn. Genügend Abstand hatte er, aber ihm nachzufahren war alles andere als leicht. Auf der Autobahn fuhr er oft so schnell, dass Gummimann grosse Mühe hatte, ihm mit seinem 107er zu folgen. Auch war er durch die Stadt mit seinem Motorrad abenteuerliche Manöver gefahren: überholen an Stellen, die mehr als unübersichtlich waren, ignorieren von Rotlichtern und Ähnliches. Mehr als einmal kam Gummimann ziemlich ins Schwitzen und stand vor einem Nervenzusammenbruch. Jetzt fuhren sie übers Land und er konnte das Motorrad nur noch weit entfernt sehen. Der Weg ging steil bergauf, eine Abzweigung gab es hier nicht, also war die Gefahr klein, ihn zu verlieren. Der Weg wurde flacher und er sah die Spitze eines Kirchturms. Je näher er kam, umso mehr wuchs der Turm und bald war die ganze Kirche und viele Häuser zu sehen. Ein kleines typisches Schweizer Dorf tat sich vor ihm auf, mit vielen alten Bauernhäusern und einigen modernen, die wie aus einer anderen Welt am Dorfrand standen. Der Motorradfahrer war nicht mehr zu sehen. Beim engen Dorfeingang kam ihm der Linienbus entgegen. Gummimann fuhr zur Seite und liess ihn passieren. Dann fuhr er langsam an alten Bauernhäusern vorbei und schaute sich nach dem Motorradtypen um. Vor einem neueren Haus mit mehreren Parkplätzen, in dem es einen Einkaufsladen und ein Café gab, hielt er an und stieg aus. Ein Bauer, der eine Kuh vor sich hintrieb, kam vorbei.

»Entschuldigung«, sagte Gummimann, »ich suche einen Motorradfahrer mit einem sehr lauten Motorrad. Wohnt so einer hier im Dorf?«

Das Gesicht des älteren Bauers verfinsterte sich.

»Nein«, war die kurze, aber aggressive Antwort.

»Aber Sie kennen ihn.«

»Ja.«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Ja.« 

Die Kuh machte mit lautem Muhen auf sich aufmerksam. 

»Irgendwann werde ich meinen Stier auf ihn hetzen«, meinte er dann.

»Und wo wohnt er?«, fragte Gummimann vorsichtig.

Der Mann zeigte Dorf aufwärts. »Das Arschloch. Im Seminarhotel.« Und er ging weiter.

Als Gummimann weiterfuhr, schaute er trotzdem in alle Vorhöfe der Häuser, an denen er vorbeikam, vielleicht hatte er doch irgendwo hier angehalten. Bald kam er zu einer schmalen Gasse, die aus dem Dorf den Hügel hinaufführte. Ein Richtungsschild zeigte, dass es der Weg zum Grubenberg Seminarhotel war. Das musste es sein.

Der schmale Weg führte ausserhalb des Dorfes entlang grüner Felder und Bäumen, die sich auf den Frühling vorbereiteten, den Hügel hinauf und endete auf einer kleinen Ebene, bei einem stolzen, alten Gebäude. Ein grosszügiger Garten mit Bäumen, Wiesen, schönen Blumen, kleinen Teichen mit Seerosen und Sitzbänken umspannten das Anwesen. Es war eine Welt für sich. Überall sassen und spazierten Menschen, die diskutierten, lasen oder einfach den Garten genossen. Manche wandelten auch allein, gedankenversunken durch die verschlungenen Pfade, zwischen Bäumen und den waldähnlichen Gebieten. Es war Sonntag, kurz vor 12.30 Uhr, die Stimmung passte dazu.

Gummimann parkte seinen Peugeot auf einen Besucherparkplatz vor dem Gebäude und stieg aus. Saubere, gut riechende Luft empfing ihn. Etwas erstaunt war er schon, in dieser friedlichen Umgebung sollte Gamesch festgehalten werden? Das war schwer zu glauben. Er schaute zum Garten, streckte sich und atmete die frische Landluft tief ein.

»Für das Essen sind Sie leider zu spät.«

Gummimann erschrak und drehte sich um. Eine ältere Dame in einem eleganten hellblauen Hosenanzug, mit grau melierten Haaren, die ihr bis zu den Schultern reichten und dunkler Hornbrille, kam ihm entgegen.

»Margarethe Meier. Das Essen ist vorbei, wir essen früh um 11.30 Uhr. Sie können sich aber noch Sandwiches an der Theke holen. Für welches Seminar wollen Sie sich denn anmeldet? Viele freie Plätze gibt es nicht mehr. ›Tiere in freier Wildbahn‹ – nein das ist voll – aber es hat noch freie Plätze bei ›Reden und Zuhören‹ oder beim parapsychologischen Seminar ›Geistwesen‹. Ihr Name?«

Sie hielt ihm die Hand entgegen. Er zögerte, fühlte sich gerade etwas überrumpelt, eigentlich wollte er nur kurz den Motorradtyp verfolgen und dann Meierhans informieren.

Auch er gab ihr die Hand. »Gummimann, Martin Gummimann, eigentlich …« Dann entschied er sich plötzlich fürs Dableiben, so konnte er den Motorradtyp, sollte er wirklich einer der Entführer sein und hier arbeiten, am besten beobachten. Stellte es sich als falsch heraus, könnte er das Seminar immer noch abblasen. Er wählte die ›Geistwesen‹. »Das parapsychologische Seminar.«

Frau Meier checkte die Namenslisten. »Sie sind gar nicht aufgeführt? Das ist aber kein Problem. Ihr Auto können Sie hier nicht stehen lassen, der Parkplatz für die Gäste ist hinter dem Haus. Melden Sie sich nachher bei mir am Empfang.«

Sein Entschluss war zwar gut, aber er hatte nicht einmal eine Zahnbürste dabei, er musste Clearwater anrufen und sich bei Meierhans abmelden. Er stieg in sein Auto und fuhr zu den Gästeparkplätzen. Als er ausgestiegen war, betrachtete er das Gebäude: Es war dreistöckig und musste so in den Zwanzigern gebaut worden sein, mit einem steilen Walmdach aus roten Dachziegeln mit Gauben, vermutlich die Zimmer für die Angestellten. Zwei turmartige Anbauten, einer quadratisch, der andere rund, zierten auf beiden Seiten das schöne Bauwerk wie Fremdkörper. Das sollte ihm wohl ein schlossartiges Aussehen geben. Man sah, das Hotel wurde vor kurzem renoviert, die Hauswände waren in einem Gelbton gestrichen, die Fensterrahmen braun und die Fenstersimse dunkelrot. Die könnten, wie beim Basler Rathaus, aus Sandstein sein.

Gummimann schüttelte lächelnd den Kopf: »Wo bin ich hier gelandet?« 

Plötzlich sah er bei einem überdachen Fahrradabstellplatz unweit der Parkplätze das lärmige, stinkende Motorrad. Der Typ war also hier.

Am Empfang klärte ihn Frau Meier über den Werdegang des Hauses auf. Das erzählte sie beim Anmelden allen neuen Gästen.

»Das Gebäude wurde 1922 gebaut, es war lange ein Sanatorium für Leute mit Atembeschwerden, 1935 wurde es dann zu einem Internat. Ende des Zweiten Weltkrieges baute man es zu einem Hotel um und ergänzte es mit den zwei Turmanhängsel«, sie sagte das ziemlich verächtlich. »Die Erbauer wollten sie als Honeymoon Suiten nützen. Aber daraus wurde nichts.«

»Und warum wurde nichts daraus?«

»Zwei Liebespärchen starben während dem Liebesakt in diesen Turmzimmern, niemand wusste warum, und es wurde auch nie aufgeklärt. Aber man munkelt seitdem, es würde dort spuken. Ich hoffe, Sie können jetzt trotzdem noch schlafen.« Sie lachte verschmitzt. »Darum wurden die Zimmer aufgegeben und sind jetzt so eine Art Aussichtsplattform. 1998 wurde das Hotel dann in das Seminarhotel Grubenberg umgewandelt. Nun, ich denke, Sie haben mit den ›Geistwesen‹ ein interessantes Seminar gewählt.«

Gummimann kniff schmunzelnd die Lippen zusammen. »Nicht schlecht, richtig spannend.«

»Hier sind die Zimmerschlüssel, Herr Gummimann. Sie haben Zimmer 128 im ersten Stock. Im Zimmer liegt noch eine Broschüre mit allen Infos auf. Am Ende dieses Flurs sind die Lifte, da vorne die Treppe. Um 18.30 Uhr gibt es Nachtessen und um 20.00 Uhr ist hier im grossen Saal das erste Treffen der Seminarteilnehmer, dann bekommen Sie das Programm für den morgigen Tag und lernen die Seminarleiter kennen. Und wie gesagt, auf der Theke im Speisesaal gibts noch was zum Knabbern.«

Das erste, was Gummimann in seinem Zimmer machte, war mit Meierhans zu telefonieren. Er nahm sich nicht einmal Zeit, sich umzusehen.

»Einer der möglichen Entführer arbeitet hier«, sagte er, nachdem er Meierhans erklärte, weshalb und wie er hierhergekommen war.

»Sein Motorrad steht hier, ihn selbst habe ich bis jetzt nicht gesehen.«

»Aber ganz sicher sind Sie nicht, dass er es ist? Und den Lieferwagen, mit welchem sie Gamesch verschleppt hatten, können Sie ihn irgendwo sehen?«

»Nein, ich bin nicht sicher, ob er es ist und der Lieferwagen ist nicht hier, wäre zu schön gewesen, aber es gibt noch ein Gebäude mit Garagen, dort habe ich noch nicht nachgesehen.«

»Okay, halten Sie mich auf dem Laufenden und machen Sie keine riskanten Alleingänge!«

»Klar, verstanden.« 

Gummimann beendete das Gespräch. So wirklich versprochen hatte er ihm das mit den Alleingängen nicht, aber er wollte sich dieses Mal wirklich daranhalten. 

Bevor er mit Clearwater reden wollte, schaute er aus dem Fenster, um zu sehen, wo er überhaupt war. Sein Zimmer lag auf der Rückseite des Hotels, und er blickte auf den Gästeparkplatz. Links davon, etwas entfernt zwischen Bäumen, war das Gebäude mit den Garagen, das auch im Stil des Hotels gebaut war, mit einem Walmdach, ein Dach mit auf jeder Seite geneigten Dachflächen, nur wesentlich jünger, und rechts war der grosszügige Garten zum Lustwandeln.

Wieder nahm er sein Handy und wollte gerade wählen, da sah er den Motorradtyp, wie er über den Parkplatz ging. Er trug ein schwarz-weisses Baseballcap, ähnlich dem bei der Entführung. Eigentlich dachte Gummimann, er würde sein Motorrad holen, aber er ging daran vorbei zu den Garagen. Leider versperrten ihm einige Bäume die Sicht, so konnte er nicht alles überblicken. Gespannt blickte er ihm nach und wartete: Würde er jetzt mit dem gemieteten Lieferwagen wegfahren? Er wartete mehrere Minuten, als nichts geschah, gab er es auf. 

Er rief Clearwater an, blieb aber am Fenster stehen. 

»Auf Ihren Anruf habe ich gewartet. Kommissär Meierhans hat mich vorinformiert«, war Clearwaters Begrüssung.

»Hallo Sir Clearwater, dann wissen Sie Bescheid über die Explosion und wo ich jetzt bin.«

»Ja, sogar warum. Sie machen Sachen! Und Sie glauben, er ist einer der Entführer?«

»Ja, ich denke schon, aber sicher bin ich mir nicht. Deshalb habe ich mich für ein parapsychologisches Seminar angemeldet, so kann ich ihn besser überwachen. Die Empfangsdame sagte mir, dass es hier spuken könnte. Mal sehen, was das bringt. Gefällt es mir nicht, oder der Typ hat nichts mit der Entführung zu tun, dann bin ich schnell wieder weg. Aber ich rufe aus einem anderen Grund an: Ich habe nichts bei mir. Könnten Sie nicht bei mir vorbeifahren und mir Unterwäsche, Hemden und Socken bringen? Ach ja, den Rasierapparat und eine Zahnbürste brauche ich auch noch. Sie haben ja einen Wohnungsschlüssel und werden die Dinge schon finden. Übrigens, es ist wirklich schön hier.«

Clearwater lachte. »Klar, kann ich machen. Dann spazieren Emma und ich halt bei Ihnen in der Gegend und machen erst einen kleinen Umweg, um die Sachen zu holen.« 

Emma war seit unendlich vielen Jahren Clearwaters Lebenspartnerin. Verheiratet waren sie nicht, aber Clearwater bezeichnet sie immer als seine Frau. 

»Und wo genau ist das Seminarhotel, und wie heisst der Ort?«

»Ich denke der Ort heisst …« Zum Glück fand er auf dem kleinen Tisch ein Hotelprospekt. »Ja, hier steht’s, der Ort heisst: Grubenberg, so wie das Hotel.«

Clearwater seufzte: »Ach Herr Gummimann, es ist immer das Gleiche mit Ihnen, Sie wissen nie, wo Sie sind. Aber wir werden kommen. Ich muss es nur noch Emma schmackhaft machen.«

»Vielen Dank, Sir Clearwater, ich erwarte Sie im Laufe des Nachmittags. Jetzt muss ich noch etwas essen und mich erst mal hier umsehen.«

Sie verabschiedeten sich und Gummimann hängte auf. Dann hatte er endlich Zeit, sein Zimmer zu begutachten. Es war klein, mit einem grossen Bett, einem kleinen Schreibtisch und zwei bequemen Stühlen. Ein Flachbild-TV, den man auch als Radio und Wecker benutzen konnte, hing dem Bett gegenüber über einer Kommode. Beim Eingang hatte es einen grossen Schrank und eine Tür zu WC und Dusche. Das Zimmer war einfach, aber praktisch eingerichtet. 

Nochmals sah Gummimann in den Garten und konnte gerade noch den Motorradtypen mit einem Rechen und einem Plastikkessel sehen, wie er durch die Wiesen ging. Irgendwie zweifelte Gummimann immer mehr, den gesuchten Entführer vor sich zu haben. Aber wie ging doch das bekannte Lied: Der Mörder ist immer der Gärtner, oder war es der Butler?

Dann machte er sich auf zum Speisesaal.

Es war nach vier Uhr, bis Clearwater und seine Frau ankamen. Auf der Autobahn gab es einen Stau, irgendein Unfall und das verzögerte alles. Trotzdem waren beide gut gelaunt und bestaunten die schöne Gegend. Sie spazierten zusammen mit Gummimann lange durch den grosszügigen Garten des Hotels, bewunderten die im englischen Stil gebauten Teiche mit den Wasserspielen. Nebenbei beobachteten Gummimann und Clearwater den Gärtner. Clearwaters Lebenspartnerin, tat so, als würde sie nichts davon merken.

An einem lauschigen Plätzchen mit einer Sitzbank machten sie eine kurze Pause. Von dort sah man ins Dorf herunter und zu den sanften Hügeln der Umgebung.

»Das Hotel liegt wirklich idyllisch, so hatte ich mir das nicht vorgestellt und der grosse Umschwung mit dem schönen Garten«, sagte Clearwater und genoss es richtig.

»Auch das Seminarprogramm ist interessant», meinte Emma, die Gummimann während des Spaziergangs das ›DU‹ angeboten hatte. »Gerade das ›Zuhören und Reden‹ Seminar würde mir gefallen, vielleicht gibt es dort noch freie Plätze. Dann könnte ich dich Martin, beim Beobachten unterstützen«, sagte sie schmunzelnd.

»Du hast es gemerkt.« Gummimann lachte.

»Klar, wenn man euch kennt, merkt man das sofort, vor alle, bei diesem heimlichen Flüstern.«

Clearwater seufzte: »Frauen: Man kann ihnen nichts verheimlichen. Ich sehe schon, das nächste Mal wähle ich einen Hund.«

Emma boxte ihn in den Arm. »Mal sehen, was der für dich kochen würde.«

»Übrigens, wisst Ihr, warum dieses Dorf Grubenberg heisst?«, fragte er dann.

Gummimann schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Weiter oben im Berg hatte es im 18. Jahrhundert eine Asphaltmine, ähnlich wie die im Val de Travers im Jura. Aber man musste sie nach einigen Jahren wieder aufgeben, der Transport war zu aufwändig. Es hatte nicht rentiert. Sie soll etwa zwanzig Kilometer lang sein.«

»Und das haben Sie alles recherchiert, bevor Sie hierherkamen?« Gummimann war erstaunt.

»Sicher, ich gehe nirgendwohin hin, ohne mich vorher zu erkundigen.«

»Ausser beim Einkaufen, er weiss nicht, in welchem Laden man was findet, oft nicht mal wo die Läden sind«, ergänzte Emma verschmitzt lachend.

Langsam gingen sie zum Hotel zurück. Auf dem Rückweg kam ihnen der Gärtner laut und stinkend auf seinem Motorrad entgegen. Sie konnten ihn schon hören, bevor er zu sehen war, und der Gestank schwebte noch lange in der Luft.

»Erstaunlich, dass das Hotel ein so stinkendes Ding, in dieser friedlichen Umgebung zulässt«, bemerkte Emma.

»Ja, und um ihn zu verfolgen, ist jetzt zu spät«, sagte Gummimann.

Wieder im Hotel meldete sich Emma für das ›Zuhören und Reden‹ Seminar und Clearwater und sie für das Nachtessen an.

Am Tisch, als sie auf das Essen warteten, sagte Emma: »Ich werde heute, nach der Seminareinführung mit Anthony zurückfahren und morgen früh wiederkommen. Dann kann ich noch packen.« Dann wandte sie sich an ihren Mann: »Du wirst wahrscheinlich eine Woche hungern müssen. Du kannst ja einen Hund fragen, ob er etwas kocht!«

Clearwater seufzte, Gummimann lachte. 

Eine Dame brachte das Essen und wünschte ihnen ›en Guete‹. Es gab Sauerbraten mit Kartoffelstock und Bohnen. 

»Ich habe mich noch über den Stinker erkundigt«, sagte Emma und wischte sich mit der Serviette den Mund ab.

»Den Stinker?«, fragte Gummimann und ass die letzten Bohnen.

»Ja, den Motorradfahrer. Aber komischerweise wollte mir niemand so richtig Auskunft geben. Sie sagten nur, sie wüssten davon, aber das war schon alles.«

»Das ist wirklich komisch, vielleicht steckt da mehr dahinter«, kommentierte Gummimann.

»Ich sehe schon«, meinte Clearwater, »er hat Blut geleckt. Aber Herr Gummimann seien Sie vorsichtig und sehen Sie nicht hinter allem eine Verschwörung.«

Es war ein verrückter Sonntag. Für Gummimann fast zu viel. Clearwater und Emma waren nach dem kurzen Seminar-Meeting wieder nach Basel gefahren. Morgen sollten also die Seminare beginnen. 

Er studierte das Programm: 

Parapsychologie: Geistwesen, Montag, Tag 1

Morgen, 09.00 Uhr: Einführung und erste Erlebnisberichte.

Mittag, 14.00 Uhr: Besuch einiger Orte von Geister-Sichtungen. 

Abends, 20.30 Uhr: Feedback und Programm des nächsten Tages.

Ende: ca. 21.30 Uhr.

Der morgige Tag war gefüllt. So richtig glaube er nicht an das Übersinnliche. Tote waren tot und blieben das auch. Aber es würde ein interessanter Tag werden, der erste von fünf.

Er lag in seinem Hotelzimmer auf dem Bett, der Fernseher lief, aber im Moment gab es nur Werbung. Bald sollte ein Krimi beginnen, ›der Bulle von Tölz‹, wie fast jeden Sonntag um 22.00 Uhr. Amüsant, leichte Kost, das Richtige vor dem Einschlafen, um geistig abzuschalten. Die Titelmelodie begann und zugleich war durch das offene Fenster das Motorrad zu hören. Es war unangenehm laut und man hörte, wie mehrere Fenster geschlossen wurden. Der Typ liess sich aber nicht beirren, sondern fuhr extra langsam zum Fahrradabstellplatz. Gummimann löschte das Licht und blickte aus dem Fenster. Endlich wurde das lärmige Ding abgestellt. Als der Typ auf das Gebäude zuging, kam ihm jemand entgegen. Wer es war, konnte Gummimann in der Dunkelheit nicht erkennen. Licht kam nur vom Hotel, und das auch nur, weil eine Türe offenstand. Es hätte der zweite Mann sein können, den er mit Gamesch zusammen gesehen hatte. Stimmen waren zu hören, aber verstehen konnte er sie nicht. Die beiden verschwanden im Hotel, doch bevor die Tür ganz zu war, hörte man eine weitere, sehr aufgeregte weibliche Stimme. Dann war es wieder ruhig.

Gummimann wurde neugierig, er zog seine Schuhe an und verliess so leise wie möglich das Zimmer. Im Korridor war nichts zu hören, nur ein schwaches Licht brannte. Um in den unteren Stock zu kommen, wählte er die Treppe. Es war mehr ein Schleichen als ein Gehen. Gelegentliches Knarren der Holzstufen konnte er nicht verhindern, es war ein altes Gebäude. Unten angekommen, hörte er leise die aufgeregte Diskussion der drei. Auf Zehenspitzen ging er näher zum Zimmer, aus welchem die Stimmen kamen. Auch als er direkt davorstand, konnte er sie nicht verstehen, sie sprachen eine Sprache, die ihm vollkommen unbekannt war. 

Die Hoffnung, sein Talisman, der Ibiskus, würde ihn beim Verstehen unterstützen, traf nicht ein. Manchmal half er ihm fremde Sprachen bei Dingen, die ihn direkt betrafen, zu verstehen. Aber das schien hier nicht der Fall zu sein.

Ein Schlüssel verhinderte den Blick durchs Schlüsselloch. Oberhalb der Tür war, wie bei allen Zimmern im Parterre, ein schmales Fenster, vermutlich wurden früher die Korridore so etwas beleuchtet. Die Räume hier waren hoch, so einfach war es nicht, dort hineinzuschauen. 

Aber da kam Gummimanns Fähigkeit zum Zug. Er konnte sich gross und klein, dick und dünn machen. Klein machen ging knapp bis zu einer Grösse einer Maus und vergrössern konnte er sich bis auf ungefähr drei Meter. Auch dick und dünn waren sehr beschränkt, dünn etwa bis sehr schlank und dick wie eine wirklich korpulente Person. Eine solche Veränderung war für Gummimann äusserst anstrengend, lange konnte er nicht in einer anderen Form bleiben. Er sagt immer: ›Das ist, wie wenn man aufs Klo muss und nicht kann‹. Je grösser die Veränderung war und je mehr Veränderungen er gleichzeitig machte, umso anstrengender war es und umso weniger lang konnte er in diesem Zustand bleiben. Gross und klein machte er sich oft, aber dick und dünn nur im Notfall. Von seinen Fähigkeiten wussten nur seine besten Freunde, und denen war bewusst, würden sie es weitererzählen, dann verblasst ihr Wissen davon, wie ein Traum am Morgen. Diese Fähigkeit machte Gummimann zu einem speziellen Detektiv.

Er machte sich so gross, dass er knapp durch das Fenster hineinsehen konnte. Um einen Tisch standen der Motorrad-Typ, Frau Meier und ein Mann, welcher der zweite Mann bei Gamesch’ Entführung sein konnte. Auch ihn hatte Gummimann nur von Weitem gesehen. Der Motorrad-Typ war ohne Bart und auch der Schnauzer beim anderen Typ fehlte, entweder sie hatten sich rasiert oder die Entführer hatten sie sich nur aufgeklebt oder er hatte sich beim Zusehen im Regen geirrt. Die grosse Unsicherheit blieb. Aber er nahm sich vor, morgen trotzdem mit Meierhans darüber zu sprechen. Was sie diskutierten, verstand er nicht, aber es musste ziemlich emotional sein, sie waren laut und erregt, er glaubte sogar, Frau Meier weinen zu sehen. 

Wieder normal gross, ging er zurück in sein Zimmer. 

Der Vorfall beschäftigte ihn ziemlich. Wenn Gamesch wirklich entführt wurde, und die zwei Männer die Entführer waren, wohin hatten sie ihn gebracht, wo war der Lieferwagen und weshalb hatten sie noch die Kanzlei in die Luft gesprengt? 

Um auf andere Gedanken zu kommen, schaute er noch den Rest von ›der Bulle von Tölz‹, es war eine Folge, die er schon kannte, aber es beruhigte ihn und kurz darauf schlief er ein.

Am nächsten Morgen um 7.00 Uhr wurde er, wie gewünscht, durch einen Telefonanruf von der Rezeption geweckt. Heute begann das parapsychologische Seminar. Nach seiner Morgentoilette ging er in den Speisesaal. Frau Meier war nicht da, was aber nichts bedeutete, sie hatte vermutlich erst am Nachmittag Dienst, der dann bis spät abends dauerte. Das Frühstück stand bereit, der Kaffee oder andere Getränke wurden an den Tisch gebracht, während das Essen geholt werden musste. Auch Emma war eingetroffen und setzte sich zu Gummimann an den Tisch.

»Gut geschlafen Martin?«, fragte sie.

»Martin? Ich bin es mir nicht gewöhnt, so angesprochen zu werden.« Er lachte. »Ja, ich habe gut geschlafen. Aber, es hat gestört, dass der Motorrad-Heini um 10 Uhr nachts nach Hause gekommen ist. Laut und stinkig natürlich. Aber sonst habe ich gut geschlafen.«

»Dass sie nichts gegen diesen Typen unternehmen, ist schon ein wenig befremdend. Aber mir soll es egal sein, nach einer Woche bin ich wieder zuhause.«

Von seinem komischen Erlebnis erzählte Gummimann nichts. 

Als dann nicht mehr so viele Personen Essen holten, gingen auch sie zur Theke. Das Angebot war gross, es gab alles, was man sich für ein Frühstück wünschen konnte. Gummimann zweifelte, ob er danach noch am Mittagessen teilnehmen wollte.

Am Morgen war die Einführung in die Seminare. Emma war im Seminarraum 2 zu ›Zuhören und Reden‹ verschwunden und Gummimann im Seminarraum 3, zusammen mit zwölf anderen Personen verschiedenen Alters und Geschlecht. Obwohl er schon ziemlich viel über das Thema Parapsychologie wusste, war es spannend und interessant. Der Kursleiter, Andreas Weirather, ein später Fünfziger mit spärlichem Haar, das einen Kranz auf seinem sonst kahlen Kopf bildeten, war wirklich gut. Er erklärte Begriffe, wie Telepathie, Telekinese, Geistererscheinungen, und vieles mehr. Auch brachte er interessante Beispiele, hauptsächlich zum Thema Geistwesen.

Eines davon handelte von einem jungen Mädchen, die immer, sobald sie das Licht in ihrem Zimmer ausmachte, eine Frau mit traurigem Blick sah, die einfach nur dastand. Sie hatte logischerweise grosse Angst. Ihr Vater fand dann in alten Berichten über ihr Haus, dass sich einst eine Magd in diesem Zimmer erhängt hatte. Nachdem sie Bescheid wussten, verschwand die Erscheinung und ist nie wieder zurückgekehrt.

Weirather erzählte diese Beispiele ohne Wertung, es stand also jedem offen, sie zu glauben oder nicht.

Vor dem Mittagessen telefonierte Gummimann mit Meierhans, er berichtete ihm von seinen Beobachtungen, auch vom Streit zwischen Frau Meier und den beiden Herren. Er versprach, weiter am Ball zu bleiben. 

Nach dem Essen, das er zusammen mit Emma genoss – Gummimann hatte zu seiner eigenen Überraschung erneut Hunger – zeigte ihnen Weirather verschiedene Orte im Hotel, wo den Erzählungen nach Erscheinungen gesichtet wurden. Die Exkursion begann in Untergeschoss. Wie schon bei den Geschichten überliess es der Kursleiter jedem selbst, ob er es glauben wollte oder daran zweifelte. Das Untergeschoss war ziemlich speziell. Einige der Kellerräume wurden als Lager für das Hotel gebraucht, aber den Teil, den sie besuchten, glich einem Labyrinth mit verschlungenen Gängen und Räumen, deren Sinn nicht ersichtlich waren. Der Länge der Gänge und der Grösse der Räume nach, war das Untergeschoss wesentlich grösser als das Hotel selbst. Das Licht in den Gängen war schwach, aber vielleicht gehörte das dazu, es war schon ziemlich gruselig. Heimlich hoffte vermutlich jeder, dass Weirather den Rückweg wiederfinden würde. In einem grösseren Raum machten sie einen Halt. 

»Hier, in diesem Raum«, erklärte Weirather, »wurden den Aufzeichnungen nach, mehrere Knaben gesichtet, die als verschollen galten. Das war noch zu Zeiten, als das Gebäude ein Internat für Knaben war. Man erzählt, sie hätten sich in den unterirdischen Gängen verlaufen und seien nie mehr gefunden worden. Aber hier seien sie mehrmals erschienen und einer hätte einen gossen Schlüssel herumgetragen. Das Rätsel wurde nie gelöst, auch nicht, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte.«

»Warum wurden diese Gänge gebaut? Zu was dienten diese labyrinthartigen Gänge überhaupt?«, wollte ein älterer Herr wissen.

Weirather antwortete: »Die Frage wurde schon oft gestellt und das nicht nur mir. Vermutlich waren das Schutzräume, die man im 1. Weltkrieg gebaut hat, und zwar vor dem Bau dieses Gebäudes. Man hatte dann das Sanatorium einfach darüber gebaut. Das ist die einzig vernünftige Erklärung. Aufzeichnungen gibt es leider keine mehr.«

Gummimann fiel auf, dass es in diesem Raum an einer Stelle am Boden Schleifspuren gab.

»Werden diese Räume noch für irgendetwas benützt?«, fragte er.

»Nein, soviel ich weiss, nur für Führungen, aber alles weiss ich natürlich nicht. Weitere Fragen? Wenn nicht, gehen wir weiter in den nächsten Raum.«

Sie gingen noch in zwei weitere Räume, in denen man Geistererscheinungen gesichtet haben wollte. Später dann, führte Weirather sie zum rechten der beiden Turmanbauten. Der Einstieg befand sich am Ende eines schmalen Ganges im Parterre. Während des Aufstiegs auf einer sehr komfortablen, mit Teppichen belegten Wendeltreppe, mit schönen, alten, roten Wandlampen und Wandbildern, die einen schon fast pornografischen Inhalt zeigten, wahrscheinlich um damals die Liebespaare in Stimmung zu versetzen, erklärte Weirather, wann die Türme gebaut wurden und für welchen Zweck. Im eigentlichen Turmzimmer zeugte aber nichts mehr von diesen Zeiten, es war leer, aber bot einen schönen Ausblick auf den Garten. 

»Hier und im andern Turm, waren vor etlichen Jahren in kurzen Abständen je ein Liebespaar gestorben, vermutlich hatte man sie vergiftet, aber man hatte nie herausgefunden wie und wer es war und weshalb. Danach wurden die Honeymoon-Suiten aufgegeben. Aber noch immer soll es hier spuken. Leute behaupten, sie hätten die Liebespaare am Fenster gesehen, andere glauben gehört zu haben, wie sie einen schrecklichen Tod starben. Jemand meinte, hier im Zimmer erlebt zu haben, wie ihnen unter starken qualvollen Schmerzen, sich umarmend, das Leben genommen wurde. Beweise gibt es keine.«

Am Abend gab es dann eine Feedback-Runde und das Programm für den nächsten Tag wurde erläutert. Das versprach, weiter in der Umgebung alte Grabstätten, Opfersteine und Steinkreise zu besuchen. 

Danach nahm Gummimann noch einen Schlummertrunk und machte mit Emma zusammen einen kurzen Nachtspaziergang durch die beleuchteten Wege des Gartens. Ganz liess ihn das heute Gehörte nicht los, schon auf dem Spaziergang blickte er immer wieder zu den Türmen, aber das Zimmer blieb dunkel.

In seinem Zimmer nahm er sich vor, sich aufs Bett zu legen und das Buch zu lesen, das ihm Clearwater gebracht hatte, so konnte er am besten abschalten. Es war der Krimi ›Lügenfalle‹, der dritte Band des Amerikaners Linwood Barclay, der in Kanada lebt. Gummimann freute sich darauf, doch obwohl er sich alle Mühe gab, kam er nicht vorwärts, die Schleifspuren im Labyrinth, beschäftigten ihn zu stark. Vielleicht hielten sie dort irgendwo Gamesch gefangen? So ein Keller wäre ideal dafür. Er legte sein Buch zur Seite und überlegte, was er unternehmen sollte. Kurz entschlossen setzte er sich dann auf die Bettkante, zog die Schuhe an und verliess das Zimmer. Das Licht liess er brennen, damit man glaubte, er sei noch dort. 

Wieder musste er leise sein, er wollte nicht gesehen werden. Aus einigen Zimmern hörte er Schnarchen, bei anderen lief noch der Fernseher. Die Treppe kannte er, er hatte sich die am lautesten knarrenden Stufen gemerkt. 

Im Untergeschoss brannte noch Licht. Die Befürchtung, jemand könnte sich in den Kellerräumen des Hotels aufhalten, bewahrheitete sich nicht. So konnte er die Ausreden, die er sich zurechtgelegt hatte, für ein anderes Mal aufsparen. Am Ende des Ganges war die Tür zum Labyrinth. Leise drückte er die Klinke herunter, öffnete sie einen Spaltbreit und versuchte zu hören, ob jemand dort war. Gerade bei der Tür war niemand, und er konnte es wagen hineinzugehen.

Die Bezeichnung Labyrinth kam den engen Gängen ziemlich nahe. Weirather bezeichnete sie als Katakomben. So klangt es noch dramatischer. Als Gummimann mit der Gruppe hier durch ging, hatte er sich nicht auf den Weg konzentriert, sondern überliess das Weirather, doch jetzt war es an ihm, den Weg zu finden. Auch hier brannte noch die Beleuchtung, für Gummimanns Empfinden eher unnötige, doch im Moment kam sie ihm ganz gelegen. An den Gang, wo sie das letzte Mal abgebogen waren, konnte er sich nur vage erinnern, deshalb wählte er aufs Geratewohl den vierten abzweigenden Gang. Zur Sicherheit markierte er den eingeschlagenen Weg mit einem kurzen Bleistift, den er einmal bei IKEA mitgenommen hatte. 

Einfach war die Suche nach dem Raum nicht. Mehr als einmal musste er umkehren und einen anderen Weg wählen. Doch schlussendlich fand er ihn. Es war noch alles so wie am Nachmittag. Gummimann studierte die Schleifspuren: Was wurde hier transportiert? Warum waren die Spuren nur an einer Stelle, circa 50 Zentimeter von der Wand entfernt und ungefähr 30 Zentimeter lang? Sie waren leicht gebogen, als hätte jemand eine Tür geöffnet. Doch da war keine, zumindest keine, die man sehen konnte. Er klopfte die Wand ab: alles grob bearbeiteter Bruchstein, wie alle Wände hier. Möglicherweise hatte hier nur jemand eine schwere Tasche abgestellt und sie leicht verschoben. Als er auch nach längerem Suchen nichts gefunden hatte, musste er sich eingestehen: Da war nichts! Wieder einmal hatte er mehr dahinter gesehen, als was wirklich war.

Der Rückweg war nur scheinbar einfacher, seine Kennzeichen waren zwar sinnvoll, nur hätte er die falschen Markierungen entfernen müssen. Aber er kannte ungefähr die Richtung und so hoffte er, sich nicht zu stark zu verirren. Schon fast beim Ausgang, hörte er Stimmen. Sofort versteckte er sich in einem Seitengang. Als sie näherkamen, glaubte er, die Stimmen zu erkennen. Verstehen konnte er sie nicht, aber es war die unbekannte Sprache, die er letzte Nacht gehört hatte. Einen Augenblick später gingen zwei Personen an ihm vorbei. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Wie vermutet, waren es der Motorrad -Typ und sein Kollege. Einen kurzen Moment wartete Gummimann, dann folgte er ihnen. So wie es aussah, gingen sie zum Raum mit den Schleifspuren, den Weg kannte er nun. Sein Abstand war zwar relativ gross, aber so lange er sie hörte, sollte das kein Problem sein. Doch plötzlich wurde es ruhig. Er blieb stehen, vielleicht hatten sie ihn bemerkt und lauerten ihm irgendwo auf. Auf alles gefasst, schlich er der Wand entlang weiter. Bald konnte er den Eingang in den Raum sehen, doch dort schien niemand zu sein. Vorsichtig ging er näher und wagte einen Blick hinein. Der Raum war leer. Dann ging das Licht aus. Sofort wollte er seine Taschenlampe aus der Jackentasche nehmen, aber er griff ins Leere. Seine Jacke hing noch, mitsamt seinen wichtigen Sachen, im Hotelzimmer. Es war komplett dunkel. Leise fluchend drückte er die Beleuchtung seiner Digitaluhr an, so konnte er schwach für ein paar Sekunden etwas sehen. Dann ertastete er sich den Rückweg. 

In der Dunkelheit glaubte er, Geräusche zu hören, Stimmen, Schritte, die sofort verschwanden, wenn er kurz die Beleuchtung seiner Uhr einstellte. Vermutlich war alles nur Einbildung. So wie damals als Kind, als er sich unter die Bettdecke verkroch, weil er überzeugt war, in seinem Zimmer gäbe es Monster. Unheimlich war das hier schon. Nur, unter eine Bettdecke verkriechen, konnte er sich nicht, auch war er langsam zu alt, noch an Monster zu glauben. Trotzdem hielt er inne und versuchte sich auf die Geräusche zu konzentrieren. Noch mal klang es, als wenn jemand sprechen würde, dann blieb es ruhig. 

Ziemlich erleichtert erreichte er den Ausgang. Auch der Keller war dunkel, aber schwach sah er das Licht vom Parterre. Am Empfang war niemand, nur eine Lampe brannte. In einem Zimmer war das kleine Fenster oberhalb der Tür hell, dort könnte Frau Meier sein, die heute Nachtdienst hatte. 

In der Zwischenzeit war es fast 1.00 Uhr geworden. Er war müde und beeilte sich ins Bett zu kommen. Morgen ging’s in die Umgebung, und er wollte nicht verschlafen. 

Doch einschlafen ist nicht immer leicht, hauptsächlich dann nicht, wenn Gedanken einem auch im Bett verfolgten: Wohin waren die Männer verschwunden?

- Ende der Buchvorschau -

Impressum

Texte © Copyright by Martin Keller im Wilaker 10 4106 Therwil [email protected]

Bildmaterialien © Copyright by Martin Keller

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7394-4899-2