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In Lima, Peru, startet ein Flug zu einer Besichtigungstour der Ruinen der Inka-Festung Saqsaywaman. Zehn Personen nehmen an diesem Ausflug teil. Über dem Regenwald geraten sie in ein Unwetter und die Maschine muss wegen einer Panne mitten im Dschungel notlanden. Bei der Landung auf einem unbenutzten Landefeld entgehen sie knapp einer Katastrophe. Die Maschine ist nicht mehr flugtauglich, ein Flügel wurde stark beschädigt und das Frontrad ist abgebrochen. Sie befinden sich weit abseits der üblichen Flugrouten mitten im Niemandsland. Der Funk im Flugzeug ist ausgefallen, telefonieren ist nicht möglich. Bei einer ehemaligen Tierforschungsstation finden sie Unterschlupf. Doch die Station birgt viele Geheimnisse und Gefahren, nicht ohne Grund wurde sie verlassen. Ein Überlebenskampf und das Hoffen auf Hilfe beginnen. Doch schon von Beginn an zeigen sich grosse Probleme in der Gruppe, trotzdem versuchen sie, sich durchzukämpfen. Als sie dann noch zwischen die Kriegshandlungen zweier feindlicher Gruppen geraten, schwindet die Aussicht, nach Hause zu kommen, auf gleich null. Doch die Hoffnung, ihre Familien wiederzusehen, bleibt.
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Tino Keller
Die Hoffnung bleibt
Eine Notlandung, die das Leben änderte
Mehr Informationen über den Autor und seine Bücher auf www.tinokeller.ch
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Februar 2024
Laurin gähnte. Eigentlich war er von diesem Ausflug wenig begeistert, drei Stunden Flug, nur, um irgendwelche alte Mauern anzusehen. Aber Theresa, seine Freundin, hatte darauf bestanden. Genau wegen dieser Ausgrabungen hatte sie sie nach Peru gewollt und er hatte sich geschlagen gegeben. Saqsayhuaman hiess der heutige Ausflugsort, das sagte ihm nichts. Er schaute zum Fenster hinaus und blickte über die scheinbar unendlichen Wälder.
Die zweimotorige Maschine, mit der sie flogen, war alt und laut, und machte einen nicht sehr vertrauenswürdigen Eindruck. Von den dreissig Sitzplätzen waren nur zehn besetzt. Vielleicht hatten andere Passagiere nicht den Mut, mitzufliegen.
Theresa sass neben ihm und schlief. Sie sah so friedlich aus, aber in wachem Zustand, hatte sie oft das Sagen. Warum nur hatte er sich in eine Frau verliebt, die in einem Museum arbeitete und bei jedem Ausflug die Antike dabeihaben musste? Schon in Griechenland hatte er sie zu verschiedenen Altertümer begleitet. Auch dort wäre er lieber am Meer in der Sonne gelegen, um sich zu entspannen. Aber nein, sie bat ihn so lieb um seine Begleitung, er konnte nicht ablehnen. Sie nannte es Allgemeinwissen. Wieder schaute er aus dem Fenster, am Horizont türmten sich riesige schwarze Wolken auf.
Dann gab der Pilot auf Englisch bekannt, man müsse sich anschnallen. Um ihn herum klickte es mehrfach.
Laurin stupste Theresa.
Sie öffnete die Augen und gähnte. »Was ist?«
»Wir fliegen auf eine Gewitterfront zu, und der Pilot möchte, dass wir uns anschnallen.«
»Aha, gut.« Sie griff nach dem Gurt, schnallte sich an und schlief weiter.
Sie konnte das, einfach abschalten. Laurin hatte damit mehr Mühe. Auch die andern Passagiere waren nicht so entspannt wie Theresa, er hörte unruhiges Gemurmel. Viel verstand er nicht, dazu war das Flugzeug zu lärmig.
Eine Männerstimme hinter ihnen sagte laut: »Keine Angst, das ist eine ukrainischAntonow, die schafft das problemlos!«
So zuversichtlich waren die andern nicht. Es waren Leute einer deutschen Esoterikgruppe. Der Gruppenleiter sprach beruhigend auf die Teilnehmer ein. Er versuchte, ihnen die Situation zu erklären, und schwafelte etwas von erfahrenen Piloten, die so was im Griff hätten. Aber am Klang seiner Stimme hörte man, ganz überzeugt war auch er nicht.
Eine Dame sagte immer wieder: »Gott wird uns beschützen.«
Blitze zuckten an der Maschine vorbei. Regen peitschte gegen die Fenster, die Sicht war gleich null. Der Flug wurde unruhiger, es rüttelte stark. Nur der Gurt hielt sie noch auf den Sitzen.
Laurin kämpfte mit seinem Magen, dem diese Flugweise, überhaupt nicht gefiel. Vorbeugend hielt er die Brechtüte bereit. Der Lärm der Motoren wurde lauter, auch die kämpften mit dem Unwetter.
Eine Frau weinte. Alle hatten Angst.
Theresa schlief.
Nach einer Viertelstunde liess der Sturm nach, der Flug beruhigte sich, die Sicht aber war noch immer schlecht. Lange flogen sie so weiter durch den strömenden Regen. Dann ging plötzlich das Licht aus, und es wurde gespenstisch ruhig. Man hörte nur noch das Rauschen des Windes. Niemand schrie.
Das Luftgeräusch wurde intensiver.
Laurin schaute aus dem Fenster und sah, wie der Wald bedrohlich schnell auf das Flugzeug zukam. Für ihn war klar: Die letzten paar Minuten seines Lebens hatten begonnen.
Er tastete nach Theresas Hand, sie war aufgewacht und sass wie versteinert da.
Die ersten hysterischen Angstschreie der Passagiere setzten ein.
Sie flogen auf den Wald zu und berührten kurz darauf den Boden. Das Flugzeug holperte über eine Landebahn, dann gab es einen Knall, Teile des Flügels wurden weggerissen. Ein weiterer Knall musste das vordere Fahrwerk beschädigt haben, die Spitze des Flugzeugs schleifte über den Boden und die Maschine blieb stehen.
Die Leute schrien aus Erleichterung. Erst jetzt realisierten sie, was geschehen war. Aber sie lebten noch.
Der Pilot stürmte in den Passagierraum. »Alles aussteigen! Alles liegenlassen! Schnell, die Maschine könnte Feuer fangen!«
Der Notausgang war offen. Doch obwohl es nur wenige Passagiere waren, herrschte grosses Durcheinander, jeder wollte das Flugzeug als Erster verlassen.
Laurin und Theresa gehörten zu den letzten, die in den strömenden Regen sprangen. Alle rannten zum nahe gelegenen Wald, um sich im Falle eines Brandes des Flugzeugs in Sicherheit zu bringen. Eine ältere Dame hatte sich beim Sprung aus der Maschine, den Fuss verstaucht, und kam nur humpelnd vorwärts.
Es blitzte und donnerte nur noch selten, aber es regnete und der Sturm hatte wieder eingesetzt. Alle hofften, unter den Bäumen sicher vor einer möglichen Explosion des Flugzeugs zu sein. Man konnte den Menschen den Schock ansehen. Einige weinten, viele zitterten und waren verstört. So knapp dem Tod entkommen zu sein, war beängstigend. Der Regen und der Wind waren nur noch nebensächlich, eher befreiend – sie lebten, und das war das Wichtigste.
Der Pilot kletterte auf einen umgestürzten Baum und versuchte zu beruhigen sowie abzuklären, ob es Verletzte gab. Abgesehen von dem verstauchten Fuss der alten Dame und eine leicht blutende Kopfwunde eines Mannes, waren alle unverletzt. Das war Glück im Unglück und bis jetzt war das Flugzeug noch nicht in Flammen aufgegangen.
Der Co-Pilot war den Weg hinauf gerannt und kam zurück. »Hier ist ein Gebäude, dort können wir uns vor dem Regen schützen. Ich und Sergio Morales, unser Pilot, werden uns erkundigen, ob wir dort Hilfe bekommen.«
Laurin versuchte, seine Jacke über Theresa und sich zu halten, um sich vor dem Regen zu schützen. Doch der Wind blies so stark, sie hätten sich vollkommen einhüllen müssen, um trocken zu bleiben.
Langsam gingen sie in Richtung des Gebäudes. Es stand etwas erhöht, und war von einem nicht sehr dichten Wald umgeben. Eine Sturmböe kam, sie mussten sich an den Bäumen festhalten.
Der Co-Pilot rief laut, er musste gegen Regen und Wind ankommen: »Da vorne können wir uns unterstellen.«
Die humpelnde Dame wurde von einem älteren Herrn gestützt. Weit war es nicht, aber es ging bergauf und durch den starken Regen, war es rutschig.
Bald erreichten sie ein grosses Gebäude – ein unansehnlicher Betonklotz, mit vergitterten Fenstern.
»Sieht wie ein Gefängnis aus«, kommentierte Laurin. Theresa musste ihm recht geben, sehr einladend wirkte es nicht.
Die meisten hatten sich etwas beruhigt, das Schlimmste schien überstanden.
Der Pilot wartete vor einer geschlossenen Metalltür unter dem überdachten Eingangsbereich. »Es ist niemand da, es scheint unbewohnt zu sein. Um hineinzukommen, müssen wir einen Zugang finden. Aber dafür brauchen wir Freiwillige«, erklärte er.
»Was ist das hier, ein Gefängnis?«, fragte ihn Laurin.
»Das glaube ich nicht, keine Ahnung.«
Laurin und noch drei weitere Männer meldeten sich spontan. Der Regen störte ihn nicht, er war so nass, da spielte der keine Rolle mehr.
Theresa war der Meinung, es sei Männerarbeit, sie sei gelernte Krankenschwester und ihre Aufgabe sei es, sich um die Verletzten zu kümmern.
Laurin suchte mit Sergio Morales, dem Piloten, und Henri Mahlbaum, so hatte er sich vorgestellt, auf der rechten Seite des Gebäudes nach einem offenen Fenster oder Eingang. Die Gruppe mit dem Co-Piloten sahen sich auf der linken Seite um.
Im Moment regnete es so stark, Laurin hatte das Gefühl unter der Dusche zu stehen. Sie gingen der Hauswand entlang. Alle Fenster waren vergittert. Ein metallisches Geräusch unter Laurins Schuh weckte seine Aufmerksamkeit. Er blieb stehen und schob mit dem Fuss, Erde und Blätter zur Seite. Dort lag eine Metallplatte. Interessiert zog er sie aus dem Schlamm und wischte den Dreck weg. Die andern kamen dazu. Es war eine Messingtafel, auf der in grossen Buchstaben, die Bezeichnung des Gebäudes stand: Centro de experimentación con animales, Allementare.
Der Pilot, Sergio Morales, übersetzte: »Es ist spanisch und heisst: Tierversuchsstation, Allementare. Das Allementare könnte ein Ort oder der Name der Station sein.«
Laurin drehte sie um, konnte aber keine weiteren Angaben finden.
»Sehr lange kann sie noch nicht hier liegen«, meinte Mahlbaum. »Sonst wäre sie nicht so dicht an der Oberfläche gelegen.«
Hinter dem Haus gab es weitere Fenster und eine Tür. Aber auch hier waren die Fenster vergittert, und die Tür abgeschlossen. Die schlechte Nachricht zu überbringen, war frustrierend, hoffentlich hatten die andern mehr Glück.
Als sie zum Eingang kamen, war die Gruppe, mit dem Co-Piloten, noch nicht zurück.
Theresa kam zu Laurin: »Ihr habt keinen Zugang gefunden, stimmts?«
»Ja. Es gibt zwar eine Tür, aber die war abgeschlossen und die Fenster sind wie hier vergittert.«
»Wir haben versucht zu telefonieren«, erklärte sie, »aber es gibt keinen Empfang. Wenn der Regen aufhört, müssen wir einen höheren Ort suchen, vielleicht klappt es dort.«
Ein lauter Pfiff war zu hören. Der Co-Pilot winkte ihnen, es scheint, sie hatten Erfolg. Alle rannten durch den strömenden Regen. Nur die humpelnde Dame und der ältere Herr gingen es langsamer an.
Der Co-Pilot lotste alle durch ein Garagentor in eine Einstellhalle. Es war ziemlich dunkel, nur das offene Tor brachte etwas Licht. Am Boden sah man Reifenspuren, die noch nicht sehr alt sein konnten.
»Die Tür rechts führt ins Haus«, erklärte er, »sie war schon aufgebrochen, als wir kamen. Die Herren Beller und Romano schauen, ob man wirklich hineinkommt und es keine unangenehmen Überraschungen gibt. Die Tür auf der anderen Seite der Einstellhalle ist abgeschlossen.«
»Herr …«, meldetet sich Sergio Morales, der Pilot.
»Helfer, Laurin Helfer«, ergänzte Laurin.
»Ja. Herr Helfer hat eine Messingtafel, mit der Aufschrift ›Tierversuchsstation Allementare‹ gefunden. Allementare, ist entweder der Ort hier oder der Name der Station. Was hier gemacht wurde, wissen wir noch nicht, nur, dass das Gebäude eine Forschungsstation war oder ist.«
Laurin hielt die Tafel in die Luft. Aber was ihn mehr beschäftigte, waren die aufgebrochene Tür und die Reifenspuren. Er als Polizeiermittler war auch in seiner Freizeit bei solchen Sachen immer sehr skeptisch, eine Berufskrankheit. Es könnte sich noch jemand im Gebäude aufhalten. Wie oft wären sie bei ihrer Arbeit in Hinterhalte gelockt worden, hätten sie nicht genau aufgepasst. Doch noch behielt er seine Befürchtungen für sich.
Beller und Romano kamen wieder zurück.
Und Beller erklärte: »Es ist ziemlich schmutzig, dunkel und es stinkt, aber man kommt ins Gebäude. Es gibt einen grösseren Raum. Ich denke, dort könnten wir uns provisorisch einrichten. Folgt mir.«
Der Gang war dunkel, es stank wirklich fürchterlich und der Boden fühlte sich beim Gehen komisch uneben und weich an. Laurins Skepsis nahm zu. Doch Beller führte die Gruppe sicher zu einer offenen Tür. Laurin war froh, als sie den Raum betraten, hier stank es kaum und der Boden war sauber. Wirklich gross war der Raum nicht, aber für eine kurze Zeit sollte er genügen. Die vergitterte Fensterfront liess Licht herein. Nahe beim Eingang gab es ein Waschbecken, leider ohne Wasser, wie Mahlbaum enttäuscht feststellte, und bei der Fensterfront standen zwei Tische mit acht Stühlen. Man sah, jemand musste kürzlich dort gewesen sein, es lagen noch verschimmelte Essensreste und alte amerikanische Zeitungen auf den Tischen, die, laut Datum, knapp ein halbes Jahr alt waren.
Alle setzten sich auf die Stühle, Laurin und Beller auf die Ecke der Tische. Der Pilot und der Co-Pilot blieben vor der Gruppe stehen.
»Mein Name ist Sergio Morales«, begann der ältere Herr, »Ich bin, respektive war ihr Pilot und Herr Catano unser Co-Pilot. Es tut uns schrecklich leid, was geschehen war. Es war grosses Glück, dass niemand ernsthaft verletzt wurde. Eine Erklärung dafür haben wir nicht. Die ganze Stromversorgung war plötzlich ausgefallen. Nur dank Herrn Catano, der von diesem ehemaligen Flugplatz wusste, konnten wir hier landen. Leider versperrten Bäume die Landepiste und machten unsere Maschine unbrauchbar. Trotzdem gelang es uns, einigermassen sicher zu landen. Das Flugzeug hatte zum Glück kein Feuer gefangen. Einen Notruf konnten wir bedauerlicherweise nicht absetzen. Auch die Geräte für eine Ortung sind ausgefallen, nur dank Herrn Catanos Smartphone konnten wir diesen Flugplatz überhaupt anfliegen. Aber wir sind von der offiziellen Route abgekommen. Spätestens, wenn wir nicht zurückkommen, werden sie uns suchen. Aber ich befürchte, das kann noch dauern, wir brauchen Geduld. Wenn der Regen nachlässt, können wir das Gepäck und alles Nötige aus der Maschine holen. Dann müssen wir uns organisieren. Für Fragen stehen wir zur Verfügung.«
Der Leiter der Esoterikgruppe erhob sich. Es war nicht zu übersehen, er war wütend.
»Stefan Willen, Leiter der Esoterikgruppe Willen. Ich werde sie verklagen, die Maschine war schlecht gewartet, das sah man schon beim Einsteigen. Es hat mich überrascht, dass wir überhaupt so weit gekommen sind. Auch zweifle ich an ihrer Kompetenz. Der Absturz war menschliches Versagen!« Er schrie es beinahe.
Catano der Co-Pilot, wollte wütend erwidern, doch Morales hielt ihn zurück: »Herr Willen, ich verstehe ihre Wut. Ja, die Maschine ist alt und laut, aber glauben Sie mir, sie war in bestem Zustand. Sie können uns auch verklagen. Doch im Moment haben wir andere Sorgen. Wir brauchen Wasser, müssen eine Toilette finden, brauchen unser Gepäck, müssen die Suchmannschaften, die uns sicher bald suchen werden, irgendwie auf uns aufmerksam machen. Das alles hat Vorrang.«
Laurin war erstaunt, wie ruhig und sachlich Morales das handhabte. Man merkte, er hatte, mit seinen mehr als fünfzig Jahren, Erfahrung im Umgang mit schwierigen Menschen. Mit seinen fast silbrigen Haaren wirkte er kompetent und strahlte Autorität aus.
»Hätte ich gewusst, was für ein Arschloch dieser Willen ist, wäre ich nie mitgegangen«, sagte Mahlbaum leise zu sich, aber laut genug, dass man es hörte.
Die andern Teilnehmer sagten nichts, sie beteiligten sich nur mit Kopfnicken oder -schütteln an Willens Bemerkung.
»Ich müsste dringendst aufs Klo«, meldete sich die humpelnde Dame. Sie war die älteste Teilnehmerin, modern gekleidet und machte einen fitten Eindruck. Ihre braunen Haare waren vermutlich gefärbt.
»Bis wir etwas Besseres gefunden haben, müssen sie mit dem Gang vorliebnehmen«, sagte Morales. »Lassen sie die Tür offen, damit sie etwas sehen und wir sie hören können, sollte etwas sein.«
Die ältere Dame nickte und humpelte aus dem Raum. Kaum war sie draussen, hörte man einen lauten Schrei.
Die Dame rief: »Hier war etwas! Etwas hat mich berührt!«
Morales, der nahe bei der Tür stand, rannte hinaus.
»Da draussen ist etwas!« hörte man sie erschrocken sagen.
Als sie mit Morales wieder zurückkam, versuchte die Dame die Hosen zuzuknöpfen, aber sie zitterte so stark und war so durcheinander, sie hatte grosse Mühe. Darum hielt sie sie nur fest.
»Waren es Mäuse? Ein Mensch? Ein Tier?«, fragte Morales und versuchte, sie zu beruhigen.
»Ich weiss es nicht.« Sie weinte. Morales fragte sie nach ihrem Namen. »Hasler, Stephanie Hasler«, antwortete sie schluchzend. »Entschuldigung, ich habe überreagiert.«
»Das ist die Strafe Gottes«, kam jetzt der Kommentar von der Dame nahe beim Fenster. »Hier hat man mit der Natur gespielt und wir müssen es büssen. Ulrike Schreiber – ich habe mehrere Bücher über die Strafe Gottes geschrieben – jetzt sind wir daran. Bald werden einige von uns sterben und …«
»Halten sie den Mund!«, rief Laurin dazwischen, »jetzt ist nicht die Zeit für solchen Quatsch! Wir haben andere, richtige Sorgen und brauchen keine zusätzlichen.«
Er musste sich zusammenreissen, um ihr nicht noch andere Dinge an den Kopf zu werfen.
Ulrike Schreiber setzte sich beleidigt hin, aber schwieg.
»Brian Mires, aus London, England« Der älteste der Teilnehmer sprach mit englischem Akzent und wirkte noch sehr rüstig. Ging vermutlich gegen die siebzig. Er schob seine Brille auf der Nase zurecht. Seine blutige Stelle am Kopf war schon kaum mehr sichtbar: »Wir müssen immer alle Türen schliessen, damit keine Tiere hereinkommen. Mäuse, Ratten und anderes Getier, können Krankheiten einschleppen.«
Laurin, wieder ruhig, stimmte ihm zu. »Herr Mires hat recht, das ist sehr wichtig. – Solange wir warten, sollten wir uns kurz vorstellen: Ich bin Laurin Helfer, aus der Schweiz.«
»Gute Idee. Sergio Morales. Seit zwanzig Jahren Pilot bei Tourist-Fly«, er wollte so seine Flugerfahrung betonen.
»Theresa Heimgartner. Laurin Helfer ist mein Lebenspartner. Bevor ich im Museum arbeitete, war ich Krankenschwester. Man kann sich im Notfall an mich wenden.«
»Irmgard Willen, Stefan Willen ist mein Mann, wir sind aus Österreich. Und …«
»Das genügt, mehr brauchst du denen nicht zu sagen!«, schaltete sich Willen ein.
»Sandro Romano«, sagte der etwas mollige Mann nur, während er sich erhob und sogleich wieder hinsetzte.
»Mahlbaum, Henri Mahlbaum. Komme aus Deutschland, Tübingen und bin dort an der Universität Geschichtsprofessor.« Er gab sich wichtig, war anfangs vierzig, gut gebaut, mit Stirnglatze, wirkte etwas konservativ.
»Markus Beller, aus der Schweiz. Landwirt.« Er war noch jung und sah auf den ersten Blick nicht wie ein Bauer aus. Nur seine muskulöse Figur konnte darauf schliessen. Er war der Letzte, der sich meldete.
Ulrike Schreiber, wollte nichts sagen, sie war noch immer beleidigt. Und Stephanie Hasler, schwieg auch, sie schämte sich für ihren Auftritt von vorher.
Es fehlte noch Catano, der Co-Pilot, aber der war schon unterwegs zum Flugzeug.
Morales, der Pilot, bedankte sich, für die Vorstellungsrunde. »Jetzt wissen wir, mit wem wir die nächste Zeit verbringen müssen. Sollte irgendwas nicht gut sein, meldet es mir und wir werden eine Lösung suchen. Ich denke, wir können jetzt unser Gepäck holen, der Regen hat nachgelassen.«
Alle, ausser den Willens, gingen zum Ausgang. Der Leiter der Willen-Gruppe war der Meinung, die Notlandung sei nicht sein Fehler gewesen, und darum müsse sich jemand von der Besatzung um das Gepäck kümmern.
»Dann werden sie wohl ohne Gepäck ihren Aufenthalt hier verbringen müssen«, der coole Kommentar von Morales.
Stefan Willen erhob sich fluchend, aber Morales kümmerte das nicht.
Der Weg zum Flugzeug war eine richtige Sumpftour. Manchmal blieben die Schuhe fast im Morast stecken. Catano wartete schon beim Flugzeug und gab die ersten Gepäckstücke heraus. Zuerst das Handgepäck. Niemand hatte Koffer dabei, alle hofften bei Beginn des Fluges, am selben Tag wieder zurück zu sein. In einem zweiten Durchgang holten sie Essen und Wasser, viel war es nicht, und am Schluss Wolldecken, Taschenlampen, so wie Werkzeuge für alle Fälle, wie Morales betonte.
Mires kümmerte sich auch um das Gepäck der verunfallten Stephanie Hasler. Sie hätte es vermutlich auch selbst geschafft, aber er war ein richtiger englischer Gentleman.
Zurück im Aufenthaltsraum erklärte Morales: »Viel zu essen hat es nicht. Nur die Snacks und Sandwiches, die wir immer an Board haben. Auch das Wasser dürfte bald knapp werden, ich bitte sie so sparsam wie möglich mit allem umzugehen. Wir waren nicht auf längere Aufenthalte eingerichtet und unser Aufenthalt hier könnte dauern. Catano und ich wollen feststellen, wo wir überhaupt sind.«
Es war Willen, der wieder seinen Kommentar dazu abgeben musste: »Ich möchte nur erwähnen, die meisten von uns sind Vegetarier, sie müssen das berücksichtigen.«
Jetzt wurde auch Morales ungeduldig: »Sie werden wohl den Schinken aus den Sandwiches nehmen können oder wollen sie Gras und Blätter im Wald suchen?«
Willen brummelte etwas Unverständliches.
Dann begann Morales, Essen zu verteilen. »Hier sind Wasserflaschen und die Sandwiches, jeder kann sich bedienen. Die Sandwiches müssen heute, spätestens morgen gegessen werden, sehr lange bleiben die nicht frisch.«
Erstaunlicherweise holten sich alle ein Sandwich, sogar Willen. Niemand entledigte sich des Schinkens.
Nach dem Essen kam die Suche nach Wasser, Strom, Toiletten und Zimmer, um zu schlafen. Dafür wurden zwei Gruppen gebildet.
Der Co-Pilot Catano, Laurin, Beller und Geschichtsprofessor Mahlbaum, machten sich auf die Suche nach einem möglichen Stromgenerator. Strom gehörte zum Wichtigsten. Sie hofften, damit würde das Wasser wieder hochgepumpt. Dank der Taschenlampen aus dem Flugzeug mussten sie nicht mehr halb blind durch die Gänge tasten. Dabei entdeckten sie, der schreckliche Gestank kam vom Fäkalien übersäten Boden. Welche Tiere dafür verantwortlich waren, konnten sie nur vermuten: Mäuse, Ratten oder ähnliches Kleingetier. Sie hörten auch eigenartige Geräusche, sahen aber nichts. Obwohl alles mutige und erfahrene Männer waren, fühlten sie sich unwohl und zuckten bei jedem Geräusch zusammen. Niemand sprach. Der Gestank war kaum auszuhalten, aber sie wollten den Generator finden – es musste einen geben. Eine Treppe führte in den Keller. Hier waren die Türen mit Piktogrammen gekennzeichnet. Die Tür mit dem Blitzsymbol dürfte der gesuchte Raum sein.
Als Laurin sich kurz umdrehte und in den Gang leuchtete, meinte er bei einer Wand am Boden eine Bewegung zu sehen. Es ging so schnell, was es war, konnte er nicht erkennen. Er redete sich selbst ein, davon auszugehen, die grossen Löcher, die es dort in einer Wand hatte, seien nur zur Belüftung.
»Also, wollen wir hineingehen?«, sagte Beller und hielt die Türklinke. »Ich hoffe, es gibt keine Überraschung. Ich bin kein Angsthase, aber es ist schon unheimlich hier.«
Die andern sagten nichts, sie nickten nur.
Beller drückte die Klinke nach unten und öffnete vorsichtig. Catano stand hinter ihm und leuchtete hinein. Der Boden war sauber, und es roch nach Diesel, nicht nach Fäkalien. Man konnte eine grosse Maschine sehen, der Ort war richtig, es war der Generatorraum. Laurin betrat ihn als Letzter und schloss die Tür hinter sich.
»Wow, dieser Generator ist ein Ungetüm.« Beller war ganz begeistert. »Meiner auf dem Hof ist gerade winzig dagegen.«
Mahlbaum nickte: »Damit müssen sie das ganze Gebäude mit Strom versorgen. Vermutlich gibt es noch einen zweiten Generator, als Reserve, sollte dieser ausfallen. Jetzt brauchen wir nur noch Diesel, um ihn zum Laufen zu bringen.«
»Wie haben sie dieses Riesending in diesen Raum bekommen?«, fragte Laurin staunend.
Mahlbaum lachte: »Ich denke, die haben ihn hier zusammengebaut. Anders war das gar nicht möglich.«
Sie schauten sich im Raum um, bis Catano rief: »Es hat noch Diesel, der Tank müsste noch halb voll sein.«
»Also versuchen wir, ihn zu starten«, und Beller begann die Anzeigen zu studieren.
Stefan Willen und Ulrike Schreiber weigerten sich, mit Morales, Romano, Theresa und Irmgard Willen, bei der Suche nach Toiletten und Zimmern zum Schlafen teilzunehmen. Sie zogen es vor, zu meditieren. Dazu gingen sie in den nächsten Raum, verliessen ihn aber sofort wieder, weil ein Tierkadaver den Aufenthalt dort, vom Geruch her, verunmöglichte. In einem weiteren Raum, in dem sogar noch Matratzen am Boden lagen, fanden sie ihren Meditationsplatz. Beide waren noch immer beleidigt, das war der eigentliche Grund, warum sie sich nicht an der Suche beteiligen wollten. Willen war auch wütend, weil seine Frau an der Suche teilnahm, aber ihr schien das egal zu sein.
Morales liess sie gewähren und kümmerte sich um die bevorstehenden Aufgaben: »Die Leute hier müssen irgendwo geschlafen und gelebt haben. Schaut in alle Räume, es muss doch Büroräume, Wohnräume und Toiletten geben. Vielleicht finden wir sogar ein Funkgerät und Karten.«
Für einen kurzen Moment ging das Licht an, dann wurde es wieder dunkel, nur ein leises Brummen war zu hören. Von irgendwoher kam Licht, und etwas später wurde es auch bei ihnen wieder hell und blieb hell.
»Sie haben es geschafft!« Theresa war erleichtert.
Erst jetzt sahen sie die Fäkalien auf dem Boden. Einige der Neonlampen im Gang flackerten zuerst, bis sie sich beruhigt hatten.
Dann schauten sie in alle Räume, an denen sie vorbeikamen. Sie fanden Toiletten, leider noch ohne Wasser. Es gab auch ehemalige Labors, mit langen Tischen und Anschlüsse für Strom und Wasser und der Wand entlang kleinere und grössere Käfige. In einigen lagen noch mumifizierte, tote Tiere. Der Boden war sauber, keine Fäkalien. Theresa öffnete den Raum mit dem Kadaver. Doch, ausser dem stinkenden toten Tier, war er leer. Und als Morales in den nächsten Raum trat, wurde er von Willen und Ulrike Schreiber hinauskomplimentiert: Sie seien am Meditieren und wollten nicht gestört werden. Kopfschüttelnd verliess er sie wieder.
Am Ende des Ganges neben dem Eingang fanden sie ein Büro, jedoch kein Funkgerät, obwohl die Anschlüsse für die Antenne vorhanden waren. Vermutlich hatte man bei der Aufgabe der Station alles mitgenommen. Doch auf den beiden Schreibtischen lagen Karten herum, sogar mit Bezeichnungen, des hiesigen Standortes. Es waren amerikanische Karten, alles war in Meilen angegeben. Nun wussten sie, bis zur nächsten Stadt waren es etwas mehr als 300 Meilen. Sie waren im Niemandsland. Warum sie diese Forschungsstation so weit entfernt von der Zivilisation gebaut hatten, war ihnen schleierhaft.
»Es wird einen Grund geben«, überlegte Theresa. »Freiwillig baut niemand eine Forschungsstation mitten im Dschungel.«
»Vielleicht gibt es hier seltene Tiere«, spekulierte Irmgard Willen.
Morales nickte zustimmend. »Möglich, es könnte aber auch sein, dass ihre Forschungen oder Versuche gefährlich waren. Vielleicht mussten sie deswegen die Station verlassen. Das wäre nicht gut für unseren Aufenthalt hier.«
»Oder eine Krankheit, ähnlich Corona« Theresa hatte das von ihren ehemaligen Kolleginnen in der Klinik mitbekommen, die unter Stress, wenig Schlaf und ständiger Angst vor Ansteckung litten. Sie war froh, in einem Museum zu arbeiten, wo Masken ausreichten. Zum Glück war es jetzt vorbei.
Romano beteiligte sich nur mit einem schwachen Nicken am Gespräch. Er sprach wenig, nur das Nötigste, ganz schlau wurde man aus ihm nicht.
Um mehr über die Aufgabe der Station herauszufinden, durchsuchten sie lange das Büro, fanden jedoch nichts Relevantes. Die Schränke waren leer und in den Schubladen befand sich nur Abfall. Einzig die Patronenhülse, die sie am Boden fanden, war noch interessant. Es könnte jemand geschossen haben, doch sie fanden keine Spuren, die das bestätigten.
Im oberen Stock waren tatsächlich die Zimmer des ehemaligen Personals. Und schon das erste Zimmer brachte eine grosse Überraschung. Jemand musste kürzlich hier übernachtet haben. Zwei Rucksäcke standen herum und auf den Matratzen lagen Schlafsäcke, und als sie einen hochhielten, entdeckten sie einen grossen Blutfleck - allerdings schon alt.
Morales untersuchte die Schlafsäcke, währen Irmgard Willen und Theresa die Rucksäcke durchsuchten und Romano den Rest des Zimmers. Sie fanden weder Ausweise noch Brieftaschen, die Aufschluss über die Besitzer hätten Auskunft geben können. Romano kam mit einem Schuh.
»Sie müssen noch irgendwo sein, alles ist noch hier: Schuhe, Schlafsäcke und Gepäck. Barfuss durch die Wälder zu gehen, ist fast nicht möglich.«
»Was war hier los?«, Morales untersuchte die Kleider, die auf einem Stuhl lagen. »Warum sind zwei Personen plötzlich verschwunden? Mussten sie fliehen? Waren noch andere an dieser Flucht beteiligt, oder mussten sie derentwegen flüchten?«
»Ohne Schuhe?«, Romano kam mit einem weiteren rechten Schuh. »Es sind Wanderschuhe, verschieden gross. Also beide sind mit nur einem Schuh unterwegs.«
»Die könnten natürlich Hausschuhe getragen haben«, warf Irmgard Willen ein.
»Möglich, aber für einen Marsch durch den Regenwald? Ich weiss nicht.« Morales blickte durchs Zimmer. »Aber wo sind sie hin? Es ist schon etwas unheimlich, einfach zu verschwinden und alles zurückzulassen.«
»Vielleicht verstecken sie sich vor uns und tauchen plötzlich auf«, überlegte Theresa.
Morales zuckte mit den Schultern: »Auch das wäre möglich.«
Man sah ihm an, er fühlte sich unwohl bei diesem Gedanken.
Sie verliessen das Zimmer und schauten sich die anderen an. Diese waren leer, alle mit ein oder zwei Betten samt Matratzen und einem Tisch mit Stuhl. Bei einigen gab es noch Tischlampen. Sie kamen auch an Toiletten mit Duschen und Waschmöglichkeiten vorbei. Nur Wasser gab es immer noch nicht.
Der Regen prasselte an die Fenster, es regnete wieder intensiv. Und als sie zurück zum Aufenthaltsraum gingen, donnerte es.
Die Generatorgruppe war schon im Aufenthaltsraum. Ausser Willen und Ulrike Schreiber waren alle hier.
»Herr Catano, könnten sie die Meditierenden holen«, bat ihn Morales, der vor der Gruppe stand.
Catano ging und kam nach ein paar Minuten allein zurück. »Sie kommen nicht, ihre Anwesenheit sei unerwünscht, meinte Willen, darum interessiere ihn und Frau Schreiber die Gruppe nicht mehr.«
»Okay, dann sollen sie es bleiben lassen. – Zuerst danke an die Generatorgruppe, ihr habt Grossartiges geleistet. In so kurzer Zeit haben wir wieder Licht, das hätte ich nie erwartet. – Aber wir haben auch unangenehme Informationen und müssen unser künftiges Vorgehen mit ihnen besprechen. Das unangenehme zuerst: Im oberen Stock haben wir in einem Zimmer Schlafsäcke, Kleider und Schuhe zweier Personen gefunden. Wie lange sie schon dort liegen, sieht man den Kleidern leider nicht an. Vermutlich haben sie das Gebäude nicht verlassen, Regenjacken und Schuhe sind auch noch da.«
»Ausser, sie wurden dazu gezwungen«, meldete sich jetzt der Geschichtsprofessor.
»Das wäre natürlich möglich. Aber wir wissen nicht, was wirklich geschehen ist. – Im oberen Stock gibt es viele Zimmer mit Betten. Mein Vorschlag ist darum, jeder holt sich dort eine Matratze und wir schlafen, bis wir mehr wissen, hier im Aufenthaltsraum. Alle zusammen. Dann ist die Gefahr kleiner.«
Ein Murren ging durch die Gruppe, aber niemand sprach sich dagegen aus.
Laurin trat zu Morales: »Noch wegen der Stromversorgung. Markus Beller konnte den Generator starten. Der Tank ist noch zur Hälfte voll, wir haben nach Berechnung von Henri Mahlbaum, für ungefähr zwei Monate Diesel. Natürlich hoffen wir, früher nach Hause zu können. Es gibt sogar einen zweiten Generator, falls dieser den Geist aufgibt, nutzt aber den gleichen Dieseltank. Die Wasserversorgung ist vermutlich auch im Untergeschoss, aber die Tür werden wir später versuchen aufzubrechen.«
Bevor Morales antworten konnte, wollte Stephanie Hasler, die Dame, die diese seltsame Erfahrung im Gang gemacht hatte, wissen: »Was sind das für Fäkalien überall im Gang? Darüber müssen wir sprechen. Sind die beiden Wanderer deshalb geflohen? Sind es Tiere, Ratten oder Mäuse? Oder stammt es von Experimenten in dieser Station, die ausser Kontrolle geraten sind? Wir können das nicht einfach ignorieren. Könnten die uns auch angreifen? Es macht mir Angst. Es müssen viele sein, wenn man sich den Boden ansieht. Und dass mich etwas berührt hat, habe ich mir bestimmt nicht eingebildet!«
Alle schwiegen, es herrschte eine fast unheimliche Stille.
Doch Irmgard Willen durchbrach sie: »Was immer es ist, wir dürfen nicht in Panik geraten, sonst behindern wir uns selbst. Vielleicht stellt sich alles als harmlos heraus. Sicherlich habe auch ich mir Gedanken darüber gemacht. Nur, wo sind diese Viecher?«
Die Worte von Frau Willen hatte die Situation etwas entspannt. Alle begannen wild zu spekulieren und ihre Theorien aufzustellen. Es dauerte, bis normale Gespräche wieder möglich waren.
Morales ergriff erneut das Wort: »Ja, darüber wollte ich auch sprechen. Darum bietet ein gemeinsamer Schlafraum mehr Sicherheit. Wir können es besser überwachen. Es könnten Marder, Ratten, Mäuse sein. Haltet Augen und Ohren offen. Ich glaube aber nicht, dass deswegen die Station geschlossen wurde. Wichtig ist, die Tür hier immer geschlossen zu halten! Aber wie Frau Willen richtig sagte, wir dürfen nicht in Panik verfallen! Sobald der Regen aufhört, können wir uns in der Umgebung umsehen, nach Handyempfang suchen und uns für die Suchmannschaften vorbereiten. – Wenn alle bereit sind, holen wir doch jetzt die Matratzen und richten uns ein. – Frau Hasler, geht es oder soll jemand ihnen eine holen?«
»Ich versuche es.«
Laurin war froh, war Morales hier, er ist der Kapitän im Flugzeug und ist es auch hier. Ohne ihn würde es schwierig werden, die Gruppe ruhig zu halten. Mit seiner Autorität konnte er alle überzeugen. Fast alle.
Theresa, die mit Laurin zum Ausgang ging, wartete dort, und erzählte ihm, was sie noch entdeckt hatten: »Hier gibt es auch ein Büro, doch ausser amerikanischen Karten, war nichts Brauchbares zu finden. Er hat es nur noch nicht erwähnt, der nächste Ort ist ungefähr 300 Meilen von hier. Gross Verkehr wird es auf dieser Strasse nicht geben, sie endet hier. Auch das Blut auf einem der Betten und die Patronenhülse vom Büro hat Morales bewusst nicht erwähnt.«
»Blut? War es viel? Frisch?«
»Nein, es sah alt aus. Ich denke, es hat nichts mit den benutzten Betten zu tun.«
»Morales soll mir die Patronenhülse zeigen, ich frag ihn danach. – Im Keller vor dem Generatorraum glaubte ich, eine Bewegung gesehen zu haben. Vielleicht war es aber nur eine Täuschung. Dort stinkt es noch mehr als hier. Es ist schon unheimlich, eine Geisterbahn mit Gestank. Man erwartet die ganze Zeit, dass sich etwas oder jemand in den Weg stellt.«
Sie schlossen sich den andern an und Theresa erwähnte so nebenbei: »Hier im Gang gibt es auch Toiletten, nur noch ohne Wasser.«
Nachdem sie sich, so gut es ging, eingerichtet hatten, wurden Aufgaben verteilt. Der Regen hatte aufgehört.
Brian Mires, der älteste Teilnehmer und Irmgard Willen, erhielten den Auftrag, den Himmel nach Helikoptern oder Flugzeugen abzusuchen und sich im entscheidenden Moment mit Irmgards roten Mantel bemerkbar zu machen. Die Chancen, gesehen zu werden, waren zwar klein, aber es bestand eine gewisse Hoffnung. Dazu gingen sie auf das Flugfeld. Das Flugzeug lag verlassen da, erst jetzt sahen sie den beschädigten Flügel. Mires konnte immer noch nicht verstehen, wie die Stromversorgung plötzlich ausfallen konnte. Er hatte sich viel mit Flugzeugen beschäftigt und war selbst auch geflogen. Diese Maschine kannte er, eine ukrainischeAntonow An-38, die in den Jahren bis 1998 sehr populär waren. Es waren gute Flugzeuge und er wünschte sich schon lange, in einer solchen mitzufliegen. Deshalb war der Flug für ihn eine grossartige Gelegenheit.
Er kletterte in die Maschine.
»Was haben Sie vor, Herr Mires?«, wollte Irmgard Willen wissen, die ihm auf dem Flugfeld zusah.
»Brian, nennen sie mich Brian. Ich will mir das Flugzeug genauer ansehen. Ich kenne diese Maschine und habe Mühe, an einen Stromausfall zu glauben.«
Er wusste genau, wo die Stellen waren, bei der ein solcher Defekt möglich war, und ging dazu als Erstes ins Cockpit. Lange musste er nicht suchen, auf der Seite des Co-Piloten fand er einen Schalter, mit dem man einen solchen Effekt provozieren konnte. Den hatte man nachträglich eingebaut. Derjenige, der das installiert hatte, musste gute Kenntnisse der Antonow gehabt haben. Brian Mires hatte so was vermutet. Wäre die Landung geglückt, hätte man die Maschine, durch einfaches Einschalten wieder starten können. Aber der umgefallene Baum kam dem Vorhaben in die Quere. Er glaubte nicht, dass Morales damit etwas zu tun hatte, aber Catano traute er es zu. Dieser war ihm von Anfang an suspekt.
Irmgard Willen stand noch immer vor der Maschine. »Haben Sie sich das Flugzeug genauer angesehen?«
»Ja, aber da war nichts, ich wollte eigentlich auch noch meine Pfeife finden. Aber sie ist nicht da. – Sind Flugzeuge vorbeigeflogen?«
»Nein, leider nicht«, antwortete sie etwas enttäuscht.
»Also nehmen wir unsere Aufgabe wahr und beobachten den Himmel.«
Sandro Romano und Henri Mahlbaum suchten nach Handyempfang. Bis jetzt waren sie erfolglos. Mahlbaum hatte die Karten studiert, die er von Morales bekommen hatte, und ungefähr festgelegt, wo es am wahrscheinlichsten war. Einmal glaubte er, für einen kurzen Moment Empfang zu haben, dann verschwand das Signal wieder, es musste eine atmosphärische Störung gewesen sein.
Obwohl Romano mehrmals darauf drängte, wieder zurück ins Gebäude zu gehen, wollte Mahlbaum noch nicht aufgeben. Da die Anweisung lautete, alles sicherheitshalber zu zweit zu machen, war er auf Romano angewiesen.Er wollte auch die Gelegenheit nutzen, das Gebäude von aussen genauer zu betrachten und die Umgebung kennenzulernen. Romano kam mit, aber begeistert war er nicht. Das war Mahlbaum egal, er hatte sowieso Mühe mit ihm. Er sprach kaum, der leicht Mollige wirkte faul, und beteiligte sich wenig am Geschehen. Mahlbaum wunderte sich, warum er überhaupt am Ausflug teilnahm, grosses Interesse an den Ausgrabungen schien er nicht zu haben. Aber das konnte natürlich täuschen. Er kam allein, nicht mit Willens Gruppe. Deshalb war Mahlbaum nicht überrascht, dass er die Suchen nach Empfang so schnell abbrechen wollte.
Sie folgten hinter dem Gebäude einem Steinplattenweg zu einem kleinen Betongebäude. Es sah aus wie ein Würfel, ohne Fenster, nur mit schmalen Schlitzen unterhalb des Daches. Bei der Metalltür klopfte Mahlbaum und rief. Da wie erwartet niemand öffnete, machte er sie auf. Es stank nach Verwesung. Am Boden lagen mehrere tote Mäuse, die sich vermutlich durch die Schlitze gezwängt hatten, aber es nicht mehr ins Freie schafften.
»Das muss die Quellfassung für die Station sein«, sagte Mahlbaum. »Warum man die abgestellt hatte, verstehe ich nicht. Ob man das Wasser noch trinken kann? Wir müssen Beller fragen, ich denke, er kennt sich am besten damit aus.«
Mahlbaum durchsuchte den Raum, fand aber nichts. Romano schaute von der Tür aus zu.
»Was ist das dort oben an der Wand?«, fragte er.
»Wo?«
»Dort«, er zeigte hin.
Da Mahlbaum immer noch nicht wusste, was er meinte, kam Romano hinein und holte auf einem Betonvorsprung unterhalb der Decke, etwas herunter. Es war eine braune Lederbrieftasche, er gab sie Mahlbaum. Vor der Quellfassung betrachteten sie sie. Das Erste, was auffiel, war der kleine Blutfleck auf der Vorderseite. Ob es menschliches oder tierisches Blut war, konnte man nicht erkennen. Die Brieftasche selbst enthielt, ausser einem amerikanischen Fahrausweis, nichts. Der Ausweis lautete auf einen Carlos Dominguez, 35 Jahre alt.
»Wir zeigen es Morales.«
Romano stimmte zu. Sie machten noch einen Empfangstest, leider wieder negativ, und gingen zurück zum Gebäude. Langsam begann die Dämmerung.
Laurin, Morales, Catano und Beller, suchten nach dem Wasseranschluss oder die Pumpe. Trotz des arbeitenden Generators kam noch immer kein Wasser. Sie vermuteten, die Wasserversorgung könnte im Untergeschoss im Raum mit der abgeschlossenen Metalltür sein. Das Piktogramm sagte ihnen nichts.
Nahe beim Eingang von der Einstellhalle gab es im Gang einen weiteren abgeschlossenen Raum, mit einer Metalltür, den sie nicht öffnen konnten. Doch die Wasserversorgung dort zu finden, war sehr unwahrscheinlich, eher die Küche.
Sie mussten wieder ins Untergeschoss, wo es noch stärker als im Obergeschoss stank. Doch es waren nicht nur die Fäkalien, es musste noch etwas anderes sein. Beller glaubte, es stinke nach Verwesung. Neben der Tür war auch die Wand mit den Löchern, die wie herausgehauen aussahen. Um die Tür aufzubrechen, hatte Morales ein kleines Brecheisen und einen Hammer aus der Flugzeug-Werkzeugkiste mitgebracht.
Beller war der Kräftigste, er suchte eine Stelle, bei der man das Brecheisen, zwischen Rahmen und Tür, hätte ansetzen können. Fand aber keine. Darum warf er sich dagegen, doch es brachte nichts. Auch die Versuche zu zweit blieben erfolglos. Einzig, die seltsamen Geräusche von innerhalb wurden lauter.
Laurin klopfte an der Tür: »Hallo, ist da wer?« Doch bekam keine Antwort.
Morales hielt sein Ohr daran. »Jemand muss da drin sein, man hört Schritte und Bewegungen.«
Jetzt hielten auch Catano und Beller ihr Ohr an die Tür.
»Das klingt mehr nach Hühnerstall ohne Gaggern, weniger nach Mensch«, meinte Beller und Catano unterstützte seine Meinung.
»Ich denke, das können wir vergessen«, sagte Morales. »Es gibt kein Wasser, wir müssen mit dem, was wir haben, sehr sparsam umgehen.«
Laurin wollte noch nicht aufgeben. »Es sei denn, der Anschluss ist nicht hier. Vielleicht haben wir in der Einstellhalle etwas übersehen.«
»Okay sehen wir nach«, war Morales Reaktion.
Alle vier waren froh, den stinkenden Ort verlassen zu können. Im Obergeschoss schauten sie noch in den Aufenthaltsraum, in dem Stephanie Hasler, Theresa Heimgartner und erstaunlicherweise Ulrike Schreiber, die Esswaren und das Wasser sortierten und aufteilten, sodass es für ein paar Tage reichen sollte. Wie es schien, hatte sich Ulrike Schreiber wieder beruhigt. Sie sagte nichts, half aber mit.
Stefan Willen fehlte jedoch noch immer. Wie kann jemand so lange meditieren? Laurin hatte schreckliche Mühe damit.
Morales wartete bei der Tür. »Wollen wir noch in der Einstellhalle suchen?«
Laurin war gedanklich noch bei Willen. »Sorry?«
»Gehen wir in die Einstellhalle?«
»Ja klar. Entschuldigung«, antwortete Laurin. »Versuchen wir es dort.«
Schon auf den ersten Blick sahen sie, ausser der anderen Tür, nichts, das auf eine Wasserversorgung hinweisen könnte. Der Versuch, die andere Tür zu öffnen, scheiterte. Sie war ähnlich der im Untergeschoss, also kaum aufzubrechen.
»Geben wir auf«, meinte Beller. »Stellen wir einige Eimer in den Regen und sammeln das Regenwasser. Von denen gibt es genug. Das hilft etwas, hoffentlich bekommen wir keinen Durchfall.«
In diesem Moment kamen Romano und Mahlbaum zurück.
»Die Quellfassung ist hinter der Station. Die sucht ihr doch?«, Mahlbaum war stolz, das berichten zu können. »Ich kann sie euch zeigen!«
Die Quellgruppe war ganz perplex. »Ja genau, danach suchen wir«, erwiderte Laurin.
»Wir kennen es nicht und dachten, das müsste eine Aufgabe für sie, Herr Beller, sein, sie sind der Fachmann für solche Sachen.«
Beller nickte. »Ich werde es versuchen.«
»Ich hole Taschenlampen, es wird langsam Nacht« und Morales ging zurück ins Gebäude.
»Aber es stinkt, es hat viele Kadaver«, ergänzte Mahlbaum.
»Das kennen wir«, seufzte Beller.
Mit den Taschenlampen machte sich die ganze Gruppe auf den Weg. Noch brauchten sie sie nicht, aber die Nacht brach langsam herein. Es begann wieder zu regnen. Vor dem Gebäude begegnete ihnen noch Mires und Irmgard Willen, die vom Flugplatz zurückkamen. Sie staunten nicht schlecht, als sie die grosse Gruppe sahen.
»Wir gehen zur Quelle«, rief Laurin ihnen zu.
Mires rief zurück: »Morgen müssen wir ein Feuer machen. Am Tag soll man den Rauch sehen und in der Nacht das Feuer. Wir müssen das morgen besprechen.«
»Machen wir, gute Idee«, antwortete Morales und sie gingen weiter.
Bei der Quellfassung gingen nur Laurin und Beller hinein, wobei Laurin die Taschenlampe hielt.
Der Regen wurde stärker, Morales kam nun auch ins Trockene, während Mahlbaum, Catano und Romano zurück zum Gebäude rannten.
Beller nahm sich dem Problem Quelle an. Mit dem Hammer versuchte er ein Rad zu deblockieren, das zum Abstellen des Wassers war, was ihm aber nur teilweise gelang. Etwas Wasser floss, aber es war zu wenig. Nach einer halben Stunde gab er auf, er wollte es am nächsten Tag nochmals versuchen.
Es regnete wieder stark und sie rannten zum Garageneingang. Dort trafen sie Catano und Romano, die rauchten.
»Das Wasser läuft noch nicht richtig, ich muss es morgen nochmals versuchen«, erklärte Beller den beiden Rauchern, als er an ihnen vorbei ging.
Diese nickten, gaben sich interessiert und hatten noch ein paar Fragen, die Beller zu beantworten versuchte. Dann ging auch er ins Haus, aber Catano und Romano wollten noch draussen bleiben, bis es ganz dunkel sei.
»Da haben sich zwei gefunden«, sagte er leise zu sich, »beides etwas eigenartige Typen.«
Etwas später trafen sich alle, ausser Willen, im Aufenthaltsraum. Die drei Damen hatten für jede Person ein Essenspaket zusammengestellt. So sollte es für zwei Tage reichen, bis dann hofften sie, auf eine Lösung für das Essensproblem zu finden. Das Essen bestand aus Sandwiches, und Schokoriegeln, alles Vorräte aus dem Flugzeug, viel war es nicht, aber es stillte den schlimmsten Hunger.
Danach gab es eine Besprechung, über das, was bisher geschehen ist und was noch gemacht werden musste.
Es war wieder Morales, der die Leitung übernahm, er wurde von fast allen als Verantwortlicher akzeptiert: »Bald beginnt die erste Nacht und wir haben erstaunlich viel erreicht. Das war Glück im Unglück. Wir können vor Regen und Wind geschützt schlafen, haben Strom, und das Wasser tropft schon. Morgen versucht Herr Beller, es zum Laufen zu bekommen. Warum wir alle hier in diesem Raum schlafen, wissen sie ja. Wir wissen nicht, ob sich noch jemand in diesem Gebäude aufhält und ob sie uns wohlgesinnt sind, dazu kommen die Ratten, Mäuse oder was es auch immer hier in Massen geben muss. Lieber etwas zu vorsichtig. Es mag nichts sein, aber man weiss nie.«
In diesem Moment kam Willen hinein. Alle schauten ihn erstaunt an, sie hatten nicht mit ihm gerechnet.
»Welche Matratze ist für mich gedacht!«, waren seine Begrüssungsworte, sie klangen wie ein Befehl.
»Keine, sie haben doch welche im Meditationsraum. Sonst müssen sie selbst eine Etage höher oder eine aus ihrem Meditationsraum holen«, die genauso unfreundliche Antwort von Morales.
»Das ist die Aufgabe der Flugzeugbesatzung. Und warum hat man mich nicht informiert.«
»Wir versuchten es, aber sie waren am Meditieren«, Theresa war wütend: So ein arroganter Idiot! »Hier ist ihre Verpflegung für heute.«
»Ist das alles?«
»Halt doch dein dummes Maul! Du benimmst dich wie ein Arschloch, ich muss mich für dich richtig schämen«, waren die Worte von Irmgard Willen, seiner Frau.
Beleidigt und wütend nahm er das Verpflegungspaket und ging.
»Es scheint mir, er ist mit sich nicht zufrieden«, bemerkte Stephanie Hasler. »Wir müssen ihm Zeit lassen, er kann nicht plötzlich seine Rolle, als Anführer der Gruppe Willen, ändern. Er wird sich beruhigen. Der Rollenwechsel fällt ihm schwer.«
»Aber er könnte sich anständiger geben, das würde ihm mehr bringen.« Theresa schüttelte verständnislos den Kopf.
»Könnte er, aber es ist schwierig, über seinen eigenen Schatten zu springen«, kommentierte Laurin. Er musste zugeben, Frau Hasler hatte recht. »Der Aufenthalt hier und das, was passiert ist, sind eine Extremsituation. Zwölf komplett unterschiedliche Menschen, die plötzlich zusammenleben müssen, die Unsicherheit wegen den Unbekannten und den Tieren hier im Haus, die ganze Situation stresst, macht Angst. Es ist erstaunlich, wie gut wir es bis jetzt geschafft haben. Vieles ist Herrn Morales zu verdanken, seine Ruhe, sein überlegtes Handeln, er wirkt fast väterlich. Aber oft fällt jemand aus dem Rahmen, hat Mühe mit allem, wird aggressiv und frustriert und das dürfte Willen sein. Auch bei der Polizei wurden wir auf solche Situationen trainiert.«
Morales schmunzelte: »Fast väterlich, sehe ich so alt aus? Aber ich weiss, was sie meinen, und stimme ihnen zu.«
»Wie wollen wir jetzt mit Willen umgehen?«, fragte Beller in die Runde. »Das, was er macht, könnte ungemütlich für ihn werden, sollten wirklich gefährliche Tiere oder sogar unbekannte Menschen hier im Haus sein oder kommen.«
Ulrike Schreiber wollte bei dieser Diskussion nicht mehr zuhören. »Ich finde es fürchterlich über einen Menschen zu reden, der nicht hier ist. Einen Menschen, der nur Gutes will, der göttlich inspiriert ist, Kontakt mit Gott hat. Ihr müsst euch schämen. Ich werde mit ihm meditieren. Ihr werdet Gottes Strafe noch erleben.«
Der Kommentar von Willens Frau dazu: »Soll sie doch zu ihm gehen, wenn sie glaubt, Gott so näher zu sein.«
Morales schüttelte den Kopf, er ging nicht auf Ulrike Schreiber ein und liess sie gehen.
Er setzte sich auf einen Stuhl und bezog sich auf Bellers Aussage: »Menschen glaube ich hat es hier nicht, das hätten wir bemerkt. Die Spuren hier liegen zu lange zurück. Aber Tiere, Ratten, Mäuse, Marder, wären schon möglich. Doch bis jetzt haben wir in den zugänglichen Räumen noch nichts entdeckt, ausser den Fäkalien am Boden. Wir müssen aufmerksam, aber nicht panisch sein. Immer die Augen und Ohren offen halten, keine Alleingänge, sogar die Toilette sollte immer zu zweit besucht werden. Und wichtig, keine Gerüchte in die Welt setzten, das könnte Panik auslösen. Immer erst überlegen, was man sagt und warum man es sagt, erst dann handeln.«
Mahlbaum, war skeptisch: »Genügt es, vorsichtig zu sein? Sollten wir nicht eine Wache aufstellen? Nicht wegen der Tiere, aber falls jemandem in der Nähe unser Aufenthalt hier aus irgendeinem Grund nicht gefällt, wäre ein Überfall möglich. Solange noch alle wach sind, ist es noch nicht so kritisch, aber wenn alle schlafen, wäre es einfach.«
Jetzt kam Leben in Romano: »Sie denken also, die Unbekannten wurden überfallen?«
»Wäre doch möglich. Alles wäre möglich.«
»Ja, es wäre möglich, nur warum? Ich sehe keinen Sinn dahinter. Alles von denen ist noch hier.«
»Alles?«, zweifelte Mahlbaum. »Was sie wirklich bei sich hatten, wissen wir nicht. Auch nicht, warum und wie sie hierhergekommen waren. Zu Fuss kann ich mir schlecht vorstellen. In der Garage waren Reifenspuren, wo ist der Wagen?«
Romano schwieg wieder und setzte sich in eine Ecke.
Plötzlich ging das Licht aus. Alle erschraken. Doch nach ein paar Sekunden wurde es wieder hell.
»Vermutlich ein Aussetzer des Generators«, meinte Beller, »kann vielleicht nochmal passieren. Er wurde lange nicht benutzt. – Ich wäre bereit, eine Wacheinheit zu übernehmen, aber dafür braucht es noch jemand.«
Jetzt stand Catano auf. »Ich werde die erste Wache übernehmen. Herr Romano, machen sie mit?«
Dieser nickte. »Sobald Schlafenszeit ist, denke ich bis vier Uhr, dann können sie, Herr Beller und…?«
»Ich bin dabei« Laurin hielt die Hand in die Luft.
»Sehr gut, dann könnten Herr Beller und Herr Helfer die zweite Schicht übernehmen. Damit ist dieses Problem gelöst.«
Morales ging zu Frau Willen. »Kommen Sie mit zu ihrem Mann? Wir müssen mit ihm und Ulrike Schreiber sprechen, sie sollten nicht in diesem Raum bleiben. Die Gemeinschaft hier ist sicherer. Vermutlich schmollt er noch, aber das ist egal.«
»Ja, ich komme mit. Nur muss ich mir dann wieder etwas anhören von ihm, aber ich werde es überleben.«
Sie verliessen den Raum.
Laurin, der dem Gespräch gefolgt war, hoffte, es komme etwas Brauchbares dabei heraus.
Mires winkte ihm und bat ihn, neben sich zu setzen. »Sie sind doch Polizist in der Schweiz? Gefällt ihnen diese Arbeit?«
»Ja, sehr, eine schöne, aber oft heikle und schwierige Aufgabe.«
»Als Junge wollte ich auch zur Polizei, so ein Detektiv wie Columbo oder wie die alle hiessen, zu sein, war ein Traum von mir. Ich versuchte es, aber wurde aus verschiedenen Gründen abgelehnt. Noch heute finde ich es schade. Ich wollte immer zu den Guten gehören und die Schwachen beschützen. Vermutlich etwas naiv von mir. Dann habe ich mich auf anderes konzentriert. Wie war es bei Ihnen, hat man Sie sofort aufgenommen?«
Laurin lachte. »Ja, eigentlich schon, zuerst kam ich zur Verkehrspolizei, dann wurde ich Leiter Ermittlung und bin es immer noch. Eine spannende Sache.«
»Ich möchte Ihnen etwas erzählen, ich traue Ihnen als Polizist, aber sie müssen es vorerst für sich behalten. Versprechen Sie mir das?«
»Klar, sicher.«
»Der Absturz war weder ein menschliches Versagen noch ein Defekt am Flugzeug«, flüsterte Mires und sah sich dabei um.
»Was, wie meinen sie das?«
»Es war Sabotage.«
»Sabotage? Wie kommen Sie darauf?«
Mires hielt den Zeigefinger an den Mund: »Bitte leise! Früher bin ich oft selbst geflogen und bin noch heute ein Flugzeugfan. Und diese Maschine – eine ukrainischeAntonow An-38, die in den Jahren bis 1998 populär war – hat mich besonders interessiert. Darum wollte ich sie mir von innen ansehen. Ausserdem zweifelte ich an der Begründung für die Notlandung, die Stromversorgung hätte versagt. Das ist zwar auch passiert, aber im Cockpit habe ich beim Co-Piloten einen versteckten Schalter gefunden, mit dem man genau das auslösen kann. Aber ganz sicher bin ich nicht. Deshalb muss es noch unter uns bleiben.«
Laurin musste zuerst ein paar Mal leer schlucken. »Aber die Maschine ist ja nicht mehr brauchbar.«
»Wahrscheinlich war das so nicht geplant. Ich denke, aus irgendeinem Grund wollten sie uns loswerden und ohne uns weiterfliegen.«
»Das heisst, wir müssen Catano und leider auch Morales im Auge behalten«, erklärte Laurin. »Bei Morales zweifle ich, aber man kann sich in einem Menschen täuschen. Vielleicht stellt sich alles als irrelevant heraus, hoffen wir’s. Aber sie haben recht, es muss unter uns bleiben. Sollte es wirklich stimmen, was könnte der Grund sein? Viel Sinn ergibt es nicht.«
»Vielleicht wollten sie flüchten, oder im Gebäude ist etwas versteckt«, überlegt Mires. »Jetzt mit dem unbrauchbaren Flugzeug ist ihr Plan natürlich gescheitert.«
»Okay, das sind nur Spekulationen, es kann auch nichts sein.«
»Ja, das stimmt, aber macht den Aufenthalt hier spannender.«
»Bleiben wir in Kontakt. Ich setze mich zu meiner Freundin, sie wartet schon auf mich, aber gut, dass sie es mir erzählt haben.«
Morales und Irmgard Willen kamen kopfschüttelnd zurück, das Gespräch hatte eher das Gegenteil erwirkt.
Catano und Romano hatten vor einer Stunde mit der ersten Wache begonnen. Im Aufenthaltsraum brannte nur noch eine kleine Lampe über dem Lavabo. Erstaunlicherweise schliefen die meisten. Einige schnarchten oder schmatzten, jemand redete im Schlaf. Laurin hatte Mühe beim Einschlafen, schon der kleinste Lärm störte ihn. Dazu kamen die eigenartigen Geräusche von ausserhalb des Raumes. Vielleicht war ihm das am Tag nicht aufgefallen, doch jetzt war es störend laut. Auch Theresa schlief, er beneidete sie deswegen.
Nach einer Stunde stand er auf und ging hin und her, schon weil seine Beine zuckten. Er horchte an der Tür, hörte flüchtende Geräusche und jemand, der näher kam. Das konnte nur Catano oder Romano sein. Vielleicht suchte er die Toilette auf. Doch er ging daran vorbei. Leise öffnete Laurin die Tür. Im Gang brannte nur ein kleines Notlicht. Er sah, wie jemand mit einer Taschenlampe zum Büro ging, und darin verschwand. Wer es war, konnte er nicht erkennen. Was suchte er dort?
Vorne beim Eingang war niemand, so konnte er es wagen, zum Büro zu gehen. Schon als er in den Gang trat, sah er Bewegungen am Boden, der Grösse nach mussten es Ratten sein. Ganz wohl, fühlte er sich nicht.
Die Tür beim Büro war nur angelehnt. Durch den schmalen Spalt sah er Catano, der etwas suchte. Er suchte lange, scheint es aber nicht gefunden zu haben, denn er kam zur Tür. Laurin versteckte sich hinter der nächsten Ecke.
Catano sah ihn nicht, aber Willens Stimme war zu hören. »Was machen Sie hier?«, fragte dieser.
»Ich halte Wache, damit Sie ruhig schlafen können«, antwortete Catano.
»Und Sie machen die Geräusche da draussen?«
»Nein, ich halte Wache!«
Noch ein kurzes Gemurmel von Willen, dann hörte Laurin, wie er fluchend in der Toilette verschwand. Er verstand nur die Bemerkung: »Es stinkt. Alles stinkt.«
Vorsichtig schaute Laurin um die Ecke. Er sah, wie Catano einen Blick in Willens Raum und in den Aufenthaltsraum warf und weiter zur Einstellhalle ging. Dort wartete Romano auf ihn.
Leise bekam Laurin noch mit, wie er Catano fragte: »¿y lo encontró?« (Und gefunden?), und die Tür schloss.
Was könnte er im Büro gesucht haben? Die zwei kennen sich, daher die plötzliche Freundschaft. Das würde Mires Theorie mit dem Schalter bestätigen. Romano und Catano arbeiteten zusammen, aber das ist nur eine weitere Theorie, dafür gab es keine Beweise. Laurin grübelte dem so intensiv nach, er bemerkte Willen nicht aus der Toilette kommen. Er erschrak, als dieser ihn ansprach.
»Auch auf Wache?«, fragte Willen etwas schnippisch.
»Nein, Toilette.«
Lust, mit ihm zu reden hatte er nicht, auch wenn es vielleicht nötig gewesen wäre. Aber auch Willen verschwand ohne weitere Worte in seinem Raum.
Das mit Catano beschäftigte Laurin, er ging zurück in den Aufenthaltsraum und legte sich hin.
Um vier Uhr wurden Laurin und Beller von Catano geweckt, um ihre Wache anzutreten. Catano und Romano legten sich hin. Laurin war überrascht, überhaupt eingeschlafen zu sein. Beller war sofort wach und wartete auf ihn. Noch etwas benommen, stand Laurin auf, zog sich an und sie verliessen den Raum, mit Catanos Taschenlampe. Wieder waren viele flüchtende Ratten im Gang. Sie fanden es unheimlich.
»Auch bei uns im Stall hat es Ratten. Wir versuchen sie dauernd zu bekämpfen, aber diese Tiere sind zäh. Um vier Uhr aufstehen ist früh, aber zu Hause mache ich das fast täglich. Die Kühe müssen gemolken werden. Im Sommer warten sie vor dem Gatter, sobald es hell wird. Die Kühe nehmen keine Rücksicht auf meinen Schlaf.« Beller schmunzelte.
Wie Catano und Romano richteten sie sich vor der Tür zur Einstellhalle ein. Sie liessen sie etwas offen, damit sie den Gang überwachen konnten.
»Sie sind Landwirt, warum haben Sie an diesem Seminar bei Willen teilgenommen? Das ist eher ungewöhnlich.«
»Ja, ich weiss. Die Teilnahme am Seminar von Willen war die Idee meiner Frau, die leider nicht mitkommen konnte. Unserer sechsjährigen Tochter ging es nicht gut und Marianne, meine Frau, wollte bei ihr bleiben und meine Eltern nicht damit belasten. Aber ich muss sagen, das Seminar bei Willen war überhaupt nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Sie haben ihn ja kennengelernt, er benahm sich wie ein Guru.
Aber es ist schon so, das Bild eines Bauern ist eher konservativ, Tiere, Bauernhof und einfache Bildung. Aber ich habe Agrarwissenschaften studiert und daraufhin den Bauernhof der Eltern übernommen. Und darauf bin ich stolz. Okay, als Landwirt ist das Einkommen nicht sehr hoch, aber wir schlagen uns durch.«
Laurin nickte bewundernd, das hatte er nicht erwartet. »Ja, ich glaube, das Bild des Bauern ist oft mit Vorurteilen behaftet, sie gelten als grob, ungehobelt, einfach im Denken. Aber dass sie studiert haben, imponiert mir, auch ich muss mein Bild korrigieren.«
Lärm kam aus dem Gang, sofort sahen sie nach und entdeckten mehrere grosse Ratten, die in einem Loch in einem der vorderen Räume verschwanden.
Beller staunte: »So grosse Ratten sehe ich zum ersten Mal, die auf unserem Hof, sind Zwerge daneben.«
»Auch dieser Raum ist abgeschlossen, aber warum gehen die dort hinein. Vielleicht ist es die Küche. Das sind die nächtlichen Geräusche. Kommen sie, sehen wir nach, wohin sie gehen, wahrscheinlich bleiben sie nicht in diesem Raum.«
Als sie ins Freie traten, war der Regen nur noch ein Nieseln und feiner Nebel schlich über den Boden. Ab und zu konnte man den Mond durch die Wolken sehen.
Beller blieb beim Garagentor und Laurin suchte an der Gebäudewand nach dem Ausgang der Ratten. Etwas entfernt vom Gebäude, sah er eine Ratte im Wald verschwinden und dort fand er, in einer kleinen Mauer, den Ausgang mehrerer Rohre. Es könnten Abwasser- oder Lüftungsrohre sein. Alle waren einst mit einem Gitter abgesichert, aber jetzt waren nur noch Überreste der Schutzabdeckung zu sehen.
»Und, haben Sie etwas gefunden?«, wollte Beller wissen, als Laurin zurück zur Einstellhalle kam.
»Ja schon, der Ausgang mehrerer Rohre. Vermutlich Lüftungsrohre, vielleicht 25 Zentimeter Durchmesser. Die Schutzgitter fehlen grösstenteils, die Ratten könnten sie durchgebissen haben.«
»Von aussen oder von innen?«
Laurin überlegte: »Darauf habe ich mich nicht geachtet. Stimmt, es wäre noch interessant zu wissen, ob sie dort hineinkamen oder ausbrachen. Ich werde es mir bei Tag nochmals genauer ansehen.«
Zurück im Gebäude, machten sie einen Kontrollgang, schauten dabei in die Räume und liessen sich Willens Beschwerden über sich ergehen. Im Büro und in den Toiletten war niemand. Gegen sieben Uhr erschienen die ersten Personen, die sich in die stinkenden und langsam vollen Toiletten wagten. Der Eimer mit Regenwasser zum Spülen war leer. Zuerst musste man wieder auf Regen warten, um ihn zu füllen. Hoffentlich würde es Beller schaffen, die Wasserversorgung zum Laufen zu bringen. Ihr Wachdienst war fertig. Laurin wusste, weiter schlafen, konnte er vergessen.
Beim Frühstück, das aus zwei Keksen und Wasser aus dem Flugzeug bestand, hatten Beller und Laurin von der Begegnung mit den Ratten erzählt. Das löste eine ziemliche Diskussion aus. Jeder hatte eine noch bessere Idee, wie man sie bekämpfen könnte, aber am Ende waren sich die meisten einig, nur gute Kontrolle und geschlossene Türen würden Schutz bieten.
Dann teilte Morales die Leute ein. Jetzt war das Wetter gut, die Sonne schien, perfekt um Holz für das Feuer auf dem Flugplatz zu suchen. Für alle war es die grosse Hoffnung, damit Hilfe zu bekommen. Alle wollten so schnell wie möglich nach Hause. Sogar Willen half bei der Holzgruppe mit. Es schien, als ob seine Frau ihn so lange überredet hatte, bis er fast nicht anders konnte.Ulrike Schreiber sass auf einem Holzstamm und beobachtete alles, sie müsse Notizen für ihr nächstes Buch machen, war ihre Begründung.
Laurin wollte mit Mires nochmals das Büro und das Schlafzimmer der Verschollenen durchsuchen und Mahlbaum und Beller waren auf dem Weg zur Quelle. Für Beller war die Quelle momentan das Wichtigste. Mahlbaum ging mit, weil sie, laut Anweisung von Morales, alles zu zweit machen mussten und auch, weil es ihn interessierte.
Das Rad, mit der man das Wasser der Quelle anstellen konnte, klemmte. Beller hatte zum Lösen den Hammer und das Brecheisen mitgenommen.