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Der französische Philosoph Henri Bergson (1859-1941) interessierte sich zeitlebens für Themen, die der trockene akademische Mainstream links liegen ließ. Dennoch blieb Bergson nicht unbeachtet: 1927 erhielt er den Nobelpreis für Literatur, und damals wie heute erfreut er sich einer großen Leserschaft. Zu den wenig diskutierten Themen, die die Philosophie bis heute hartnäckig ausklammert, gehören der Humor und das Lachen. Bergsons gleichnamiger Essay "Das Lachen" erschien erstmals im Jahr 1900 und zeigt auf vergnügliche und anschauliche Art, warum wir Menschen manche Dinge überhaupt witzig finden und darüber lachen. In den drei Kapiteln beschäftigt sich Bergson mit der Bewegungskomik, der Situations- und Wortkomik sowie der Charakterkomik. Zentral ist für Bergson dabei die Frage nach den sozialen Aspekten des Lachens und vor allem des Auslachens. Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Henri Bergsons Essay "Das Lachen" im ungekürzten Original-Wortlaut der deutschen Übersetzung.
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Seitenzahl: 161
Der französische Philosoph Henri Bergson (1859-1941) interessierte sich zeitlebens für Themen, die der trockene akademische Mainstream links liegen ließ. Dennoch blieb Bergson nicht unbeachtet: 1927 erhielt er den Nobelpreis für Literatur, und damals wie heute erfreut er sich einer großen Leserschaft. Zu den wenig diskutierten Themen, die die Philosophie bis heute hartnäckig ausklammert, gehören der Humor und das Lachen. Bergsons gleichnamiger Essay „Das Lachen“ erschien erstmals im Jahr 1900 und zeigt auf vergnügliche und anschauliche Art, warum wir Menschen manche Dinge überhaupt witzig finden und darüber lachen. In den drei Kapiteln beschäftigt sich Bergson mit der Bewegungskomik, der Situations- und Wortkomik sowie der Charakterkomik. Zentral ist für Bergson dabei die Frage nach den sozialen Aspekten des Lachens und vor allem des Auslachens. Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Henri Bergsons Essay „Das Lachen“ im ungekürzten Original-Wortlaut der deutschen Übersetzung. *
Henri Bergson
In diesem Bande sind drei Aufsätze über das Lachen (genauer: über das durch Komik hervorgerufene Lachen) vereinigt, die ursprünglich in der Revue de Paris erschienen sind. Diese Aufsätze hatten die Bestimmung der wichtigsten ›Kategorien‹ des Komischen zum Ziele, es wurde versucht, durch die Gruppierung möglichst vieler Tatsachen die Gesetze zu entwickeln; kritische Auseinandersetzung mit den vorhandenen Theorien verbot schon allein ihre Form. Hätten wir das bei der Neuherausgabe nachholen sollen? Vielleicht hätten unsere Behauptungen durch Vergleich mit den Theorien unsrer Vorgänger an Sicherheit gewonnen; dafür wäre dann aber die Darstellung unverhältnismäßig verwickelter und die Abhandlung sehr viel umfangreicher geworden, als es der Bedeutung des Gegenstandes entspricht. So bringen wir also die Aufsätze, wie sie das erste Mal erschienen sind, und beschränken uns darauf, die Hauptuntersuchungen über das Komische aus den letzten dreißig Jahren hier aufzuführen. Paris, April 1900 H. B.
Was ist das Wesen des Lachens? Was liegt allem Lächerlichen zugrunde? Was haben ein Clownsgesicht, ein Wortspiel, eine Verwechslungsszene in einem Schwank und eine Szene eines feineren Lustspiels gemeinsam? Wie destillieren wir die Substanz heraus, die so verschiedenen Dingen das gleiche, bisweilen aufdringlich starke, bisweilen ganz diskrete Aroma verleiht? Die größten Denker von Aristoteles an haben sich an der Lösung dieses winzigen Problems versucht, das einem, wenn man es fassen will, unter der Hand zerrinnt, verschwindet, gar nicht dagewesen ist und sich doch wieder aufwirft; eine unerhörte Herausforderung an den philosophischen Scharfsinn. Was uns entschuldigt, wenn wir unsererseits an dieses Problem herantreten, ist, daß es uns fern liegt, das Wesen des Komischen in eine Definition zu zwängen. Wir sehen in ihm vor allem etwas Lebendiges. Wir werden es, sei es auch noch so unwichtig, stets mit der Achtung behandeln, die man Lebendigem schuldet. Es soll uns genug sein zu sehen, wie es wächst und sich entfaltet. Es wird vor unsern Augen in unmerklichen Übergängen die sonderbarsten Verwandlungen aus einer Gestalt in die andere durchmachen. Nichts von dem, was wir sehen, soll uns zu unbedeutend sein. Möglich, daß wir bei solch ständigem Kontakt sogar etwas Geschmeidigeres, Fruchtbareres gewinnen als eine abstrakte Definition, eine Kenntnis praktischer und intimer Natur, wie diejenige zu sein pflegt, die aus langem und vertrautem Umgang entspringt. Und vielleicht finden wir gar, daß wir, ohne es zu wollen, auch eine nützliche Erkenntnis gewonnen haben. Denn in seiner Weise vernünftig selbst unter den närrischsten Formen, methodisch in seiner Regelwidrigkeit (dem Traume gleichend, aber einem Traume, der Gesichte hat, die sofort von einer ganzen Reihe Menschen erfaßt und begriffen werden): wie sollte das Komische uns nicht über die Arbeitsweise der menschlichen Phantasie, vor allem der sozialen, kollektiven, der Phantasie des Volkes reiche Aufschlüsse geben? Wie sollte es, Kind des wirklichen Lebens und der Kunst nahe verwandt, nicht auch sein Wort zu sagen haben über Kunst und Leben? Wir geben zunächst drei Beobachtungen, die wir für grundlegend halten. Sie beziehen sich weniger auf das Komische an sich als auf die Umgebung, in der es auftritt. Der erste Punkt, auf den ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, ist: Es gibt keine Komik außer in der menschlichen Sphäre. Eine Landschaft kann schön, lieblich, erhaben, langweilig oder häßlich sein; nie wird sie lächerlich erscheinen. Man lacht wohl über ein Tier, aber nur, weil man eine menschliche Gebärde oder einen menschlichen Ausdruck an ihm entdeckt hat. Man lacht über einen Hut; allein worüber man lacht, ist nicht das Stück Filz oder Stroh, sondern die Form, die diesem die Menschen gegeben haben, der schnurrige Einfall, den wir in dieser Form verkörpert sehen. Ich frage mich, warum denn eine so wichtige und dabei so einfache Sache die Aufmerksamkeit der Philosophen nicht mehr auf sich gezogen hat. Manche haben den Menschen definiert als ein Tier, welches lacht. Sie hätten ihn aber auch ein Tier nennen können, das lachen macht, denn wenn das ein anderes lebendes Wesen oder ein toter Gegenstand tut, so geschieht das nur auf Grund irgendeiner Ähnlichkeit mit dem Menschen, auf Grund irgendeines Zuges an ihm, der vom Menschen herrührt oder auf Grund des Gebrauchs, den der Mensch von ihm macht. Als eine nicht minder merkwürdige Eigenschaft des Komischen möchte ich zweitens die Gefühllosigkeit betonen, die gewöhnlich dem Lachen zur Seite geht. Das Komische scheint seine durchschlagende Wirkung nur äußern zu können, wenn es eine völlig unbewegte, ausgeglichene Seelenoberfläche vorfindet. Seelische Kälte ist sein wahres Element. Das Lachen hat keinen größeren Feind als jede Art von Erregung. Ich will nicht sagen, wir könnten über einen Menschen, der uns etwa Mitleid oder gar Liebe einflößt, nicht trotzdem lachen: allein dann muß man für einen Augenblick diese Liebe vergessen, dieses Mitleid unterdrücken. In einer Welt von reinen Verstandesmenschen würde man wahrscheinlich nicht mehr weinen, wohl aber noch lachen; wohingegen ewig sensible, auf Harmonie mit dem Leben abgestimmte Seelen, in deren Herzen jeder Ton, jedes Ereignis in gefühlvoller Resonanz nachklingt, das Lachen sowenig kennen wie begreifen würden. Man versuche nur einmal, an allem, was man hört und sieht, innerlichst Anteil zu nehmen, man denke sich mit den Tätigen tätig, mit den Fühlenden fühlend, man gebe seiner Sympathie die weiteste Ausdehnung: wie unter einem Zauberstabe werden die leichtesten Gegenstände schwer werden, und ein Schatten wird über alle Dinge gleiten. Und dann löse man sich innerlich los und stehe dem Leben als unbeteiligter Zuschauer gegenüber, und die meisten Trauerspiele werden Komödie. So brauchen wir in einem Salon, wo man tanzt, nur die Ohren gegen die Musik zu verschließen, und die Tänzer erscheinen uns lächerlich. Wieviel menschliche Handlungen möchten wohl bei solcher Prüfung bestehen? Und würden nicht viele, sowie wir nur die Gefühlsmusik, die sie begleitet, zum Schweigen bringen, ihr ernsthaftes Gesicht ablegen und zum Scherz übergehen? Kurz, das Komische setzt, soll es voll wirken, etwas wie eine zeitweilige Anästhesie des Herzens voraus, es wendet sich an den reinen Intellekt. Aber dieser Intellekt muß immer mit fremden Intellekten kommunizieren. Das ist das dritte, worauf ich die Aufmerksamkeit lenken möchte. Man würde für das Komische kein Organ haben, wenn man allein stünde. Das Lachen bedarf offenbar des Echos. Man höre nur genau hin: es ist kein artikulierter, scharfer, deutlich begrenzter Laut; sondern etwas, was, indem es überall widerhallt, immer weiter gehen möchte, etwas, was wie mit einer Explosion einsetzt, um dann, dem Donner in den Bergen gleich, langsam weiter zu rollen. Jedoch braucht dieser Widerhall nicht ins Unendliche zu gehen. Der Kreis, in dem er herumgeht, kann groß oder klein sein; immer ist er geschlossen. Unser Lachen ist stets das Lachen einer Gruppe. Jeder hat wohl schon, wenn er im Zug oder an der Table d'hôte saß, die andern einander Geschichten erzählen hören, die entschieden komisch sein mußten, da jene von ganzem Herzen über sie lachten. Man hätte mitgelacht, hätte man zu ihrer Gesellschaft gehört. So aber verspürte man dazu nicht den geringsten Anreiz. Einer, den man fragte, warum er bei einer Predigt, wo alles Tränen vergoß, nicht auch weinte, erklärte: Ich bin nicht aus dem Kirchspiel. Was dieser Mann vom Weinen hielt, trifft noch mehr vom Lachen zu. Das freieste Lachen setzt immer ein Gefühl der Gemeinsamkeit, fast möchte ich sagen, der Hehlerschaft mit anderen Lachern, wirklichen oder nur vorgestellten, voraus. Wie oft hat man nicht darauf hingewiesen, daß man im Theater um so lauter lacht, je voller der Saal ist. Wie oft hat man nicht auch bemerkt, daß viele Witze in andere Sprachen unübertragbar sind, weil sie sich eng auf Sitten und Ideen einer ganz bestimmten Gesellschaft beziehen. Weil man die Wichtigkeit dieser Tatsache nicht genug gewürdigt hat, hat man das Komische als eine bloße Kuriosität, als eine amüsante, aber müßige, wissenschaftlicher Behandlung unwürdige Frage abtun und im Lachen selbst nichts als ein unerklärliches Phänomen sehen wollen, das außer allem Zusammenhang mit unseren übrigen Lebensäußerungen stehe. Daher jene Definitionen, die aus dem Komischen eine vom Subjekt vollzogene Relation einzelner Vorstellungen machen und ›logischer Kontrast‹, ›intuitiv erfaßte Absurdität‹ oder ähnlich lauten, Definitionen, die, gesetzt sie paßten wirklich auf alle Arten des Komischen, nicht das Mindeste darüber aussagen würden, warum das Komische uns zum Lachen bringt. Woher käme es denn, daß nur gerade diese bestimmte logische Relation, so oft sie wahrgenommen wird, unsern Körper packt, krümmt, schüttelt und daß sonst alle ihn in Ruhe lassen? Von dieser Seite kommen wir also dem Problem nicht näher. Das Lachen wird nur verständlich, wenn man es in seinem eigentlichen Element, d. i. in der menschlichen Gesellschaft, beläßt und vor allem seine praktische Funktion, seine soziale Funktion, zu bestimmen sucht. Diese also wird, können wir jetzt sagen, die leitende Idee unsrer Untersuchung sein. Das Lachen wird eine gewisse Aufgabe im Leben der Gemeinschaft haben, wird eine soziale Note tragen müssen. Sagen wir kurz, worauf demnach unsre drei vorläufigen Beobachtungen hinauslaufen. Das Komische entsteht, scheint es, wenn eine Anzahl als Gruppe zusammengehöriger Menschen ihre Aufmerksamkeit alle auf einen lenken, ihr Gefühl beiseite schieben und lediglich ihren Intellekt spielen lassen. Worauf aber haben sie ihre Aufmerksamkeit zu lenken? Worauf hat sich der Intellekt zu richten? Diese Fragen beantworten heißt dem Problem schon näher kommen. Da werden aber ein paar Beispiele unerläßlich. Ein Mann, der über die Straße gelaufen kommt, stolpert und fällt hin: die Vorübergehenden lachen. Sie würden nicht lachen, denk ich mir, wenn sie sich vorstellen könnten, er sei plötzlich auf den Gedanken gekommen, sich zu Boden zu setzen. Sie lachen darüber, daß er sich unfreiwillig gesetzt hat. Also nicht sein jäher Stellungswechsel bringt uns zum Lachen, sondern das Unfreiwillige dieses Stellungswechsels, seine Ungeschicklichkeit. Vielleicht lag ein Stein im Wege. Dann hätte er seinen Lauf ändern und das Hindernis vermeiden müssen. Aber aus mangelnder Gelenkigkeit, Zerstreutheit oder Widerspenstigkeit des Körpers haben nach dem Gesetz der Trägheit die Muskeln ihre frühere Bewegungstätigkeit fortgesetzt, während die veränderten Umstände es anders geboten. Darum ist er gefallen, und darüber lachen die andern. Ein anderer liegt seinen kleinen Geschäften mit mathematischer Pünktlichkeit ob. Allein eines Tages hat sich ein Witzbold einen schlechten Spaß mit ihm erlaubt, so daß alles um ihn herum wie verhext ist. Er taucht seine Feder ins Tintenfaß und zieht Schlamm heraus, er glaubt sich auf einen festen Stuhl zu setzen und fällt rücklings zu Boden, kurz, er handelt sinnlos, wie eine Maschine, die leer läuft, immer gemäß dem Prinzipe der Trägheit. Die Gewohnheit gab ihm den Anstoß zu seiner Bewegung. Er hätte sie abbrechen oder doch irgendwie umbiegen müssen. Aber nichts davon geschah, mechanisch ist sie in gerader Linie fortgesetzt worden. Das Opfer eines Budenzaubers ist also in einer ähnlichen Lage wie der, der läuft und hinfällt. Beide sind in ganz demselben Sinne komisch. Was an dem einen wie an dem andern lächerlich ist, ist eine gewisse mechanische Starrheit, da wo wir geistige Rührigkeit und Gelenkigkeit fordern. Zwischen beiden Fällen ist nur der Unterschied, daß der erste von selber kommt, während der zweite künstlich in die Wege geleitet wird. Die Vorübergehenden sahen lediglich zu; der Witzbold im zweiten Falle experimentierte. In beiden Fällen aber war es etwas rein Äußerliches, was komisch wirkte. Das Komische war also akzessorischer Natur. Es blieb sozusagen auf der Oberfläche. Soll es tiefer sitzen, so muß die mechanische Starrheit, um aktuell zu werden, nicht erst eines äußeren Widerstandes bedürfen, den der Zufall der Sachlage oder die Böswilligkeit der Menschen ihr in den Weg stellten. Sie muß aus sich selbst heraus auf rein natürliche Weise die ununterbrochen fortwirkende Möglichkeit haben, sich nach außen zu manifestieren. Also denken wir uns einen Menschen, der mit seinen Gedanken nie bei dem ist, was er tut, weil er stets an das denkt, was er getan hat, wie eine Begleitung, die immer hinter der Melodie zurückbleibt. Denken wir uns eine gewisse angeborene Ungelenkigkeit der Sinne und des Geistes, derzufolge man noch sieht, was nicht mehr zu sehen ist, hört, was nicht mehr klingt, sagt, was nicht mehr paßt, kurz sich nach einer vergangenen, bloß noch eingebildeten Situation richtet, wo man sich dem, was augenblicklich wirklich ist, anzupassen hätte. Jetzt wird das Komische in der Person selbst liegen: sie ist es, die alles beibringt: Inhalt und Form, Ursache und Gelegenheit. Ist es da noch erstaunlich, daß die Figur des Zerstreuten (denn von keiner anderen ist die Rede) immer wieder die Lustspieldichter gereizt hat? Als La Bruyère auf diesen Charakter stieß, fand er bei näherem Zusehen, daß er da ein Rezept in der Hand hielt, mit dem eine ganze Reihe komischer Wirkungen auf einmal hervorzubringen waren. Er trieb Mißbrauch damit. Es ist keine längere und detailliertere Schilderung möglich als die des Ménalque, auf den er immer wieder zurückkommt und auf den er unverhältnismäßig viel Gewicht legt. Das Bequeme des Gegenstandes ließ ihn nicht los. Denn mag man auch mit der Zerstreutheit gewiß noch nicht an der Quelle des Komischen selbst sein, so befindet man sich doch mit solchen Geschehnissen und Bildern recht in dem Strom, der direkt aus der Quelle des Komischen fließt; sieht sich auf einem der größeren natürlichen Abhänge des Lachens. Die Zerstreutheit als solche wieder kann auf uns verschieden stark wirken. Es gibt ein allgemeines Gesetz, von dem wir eben eine erste Anwendung gemacht haben und das wir so formulieren werden: ein beliebiger komischer Effekt, der aus einer beliebigen Ursache herrührt, ist für uns um so komischer, je natürlicher uns dieser sein Ursprung erscheint. Wir lachen schon über einen Fall von Zerstreutheit, den man uns als bloße Tatsache erzählt. Weit lächerlicher erscheint er uns, wenn wir ihn mit eigenen Augen haben entstehen und um sich greifen sehen, seinen Ursprung kennen und uns seine Geschichte rekonstruieren können. Denken wir uns, um einen bestimmten Fall zu nehmen, jemand liest mit Passion Liebes- und Ritterromane. Ganz eingenommen von seinen Helden, verliert er nach und nach all sein Denken und Wollen an sie. Wie ein Nachtwandler geht er durch die Welt: seine Handlungen sind Zerstreutheiten. Aber alle seine Zerstreutheiten führen auf eine nachweisbare Ursache zurück. Sein Geist ist nicht bloß abwesend, sondern zugleich anwesend in einem sehr bestimmten, wenn auch imaginären Reich. Hinfallen bleibt Hinfallen; aber es ist ein anderes, in einen Teich fallen, weil man nicht aufgepaßt, ein anderes, hineinfallen, weil man nach einem Stern geguckt hat, wie – Don Quijote. Wie tief liegt die Komik eines solchen romantisch-grotesken Gemüts! Und doch, führt man den Oberbegriff der Zerstreutheit wieder als Bindeglied ein, so wird man gewahr, wie verwandt diese Fälle wirklich innerer Komik jenen früheren einer mehr oberflächlichen, äußeren sind. Diese verträumten, überspannten Geister, diese in ihrer Weise klugen Narren, wir lachen über sie, weil sie dieselben Saiten in uns berühren, dasselbe innere Triebwerk in Gang setzen wie jenes Opfer eines Schabernacks oder der Mann, der mitten auf der Straße hinfällt. Auch sie sind Läufer, die hinfallen, große Kinder, die man zum Narren hält, Sterngucker, die über Realitäten stolpern, sorglose Träumer, denen das Leben schadenfroh ein Bein stellt. Aber in erster Linie sind sie große Zerstreute, die vor gewöhnlichen Zerstreuten voraus haben, daß ihre Zerstreutheit Methode hat, um eine Zentralidee schwingt – auch, daß ihre Torheiten samt und sonders an jener unerbittlichen Logik scheitern, nach der das Leben verfährt, wenn es Träume zerstört, und daß sie so durch Wirkungen, die sich unbegrenzt steigern, in ihrer Umgebung ein ständiges Lachen hervorrufen. Gehen wir jetzt einen Schritt weiter. Was auf intellektuellem Gebiet fixe Ideen sind, entsprechen dem nicht gewisse Mängel auf moralischem? Sei das Laster nun Charakterfehler oder Willensschwäche, jedenfalls ist es sehr oft eine Art Seelenlähmung. Ohne Frage gibt es welche, in die die Seele mit allen Kräften, die sie in sich birgt, restlos eingeht und die, von ihrem Odem belebt, immer neue Formen finden und von Frevel zu Frevel fortgewirbelt werden. Das sind die tragischen Laster. Die aber, die uns, wenn sie uns anhaften, lächerlich machen, gehören im Gegenteil nur äußerlich zu unserem Wesen, sind wie ein fertiger Rahmen, in den wir uns einfügen. Sie übertragen ihre Starrheit auf uns, statt daß auf sie unsere Lebendigkeit übergeht. Wir vervielseitigen sie nicht, im Gegenteil, sie vereinseitigen uns. Hier scheint mir recht eigentlich – wie ich im einzelnen noch im letzten Abschnitt dieser Studie versuchen werde zu zeigen – der eigentliche Unterschied von Komödie und Tragödie zu liegen. Wenn im Trauerspiel Leidenschaften und Laster, die eigene Namen haben, auf der Bühne erscheinen, so werden sie doch so durchaus in dem Träger der Handlung verkörpert, daß ihre eigenen Namen fast verschwinden, der allgemeine Begriff verblaßt und wir überhaupt nicht mehr an sie, sondern nur noch an die Person denken, in der sie wirken; darum kann der Titel eines Trauerspiels kein anderer sein als ein Eigenname. Umgekehrt tragen viele Komödien einen Gattungsnamen: der Geizhals, der Spieler usw. Wenn ich jemand auffordere, sich ein Stück vorzustellen, das, sagen wir, der Eifersüchtige heißen könnte, so wird ihm sofort Sganarelle einfallen oder George Dandin, nicht aber Othello; der Eifersüchtige kann nur Titel einer Komödie sein. Das komische Gebrechen mag sich so innig wie nur denkbar mit den Personen verbinden; es behält trotzdem seine unabhängige und ungeteilte Existenz; es bleibt die unsichtbare, aber immer gegenwärtige Hauptfigur, von der die Personen von Fleisch und Blut auf der Bühne abhängen. Bisweilen beliebt es ihm, sie vom festen Boden zu heben und mit ihnen einen Abhang hinunterzurollen, öfter aber wird es auf ihnen spielen wie auf einem Instrument, oder es wird sie laufen lassen wie Marionetten. Man sehe genau hin, und man wird sehen, daß die Kunst des Komödiendichters die ist, uns so genau mit einem bestimmten Laster bekannt zu machen, uns bis zu dem Grade von Vertrautheit mit ihm zu führen, daß wir Zuschauer schließlich die Hauptdrähte überschauen, auf denen es spielt, und das Spiel selbst in die Hand nehmen. Ein großer Teil unseres Vergnügens schreibt sich daher. Also auch hier ist das lachenerregende Moment eine Art Automatismus. Und zwar ein Automatismus, der der einfachen Zerstreutheit sehr verwandt ist. Um sich davon zu überzeugen, wird es genügen, daran zu denken, daß eine komische Person im allgemeinen im selben Verhältnis komisch ist, als sie nichts von ihrer Eigenschaft weiß. Das Komische ist unbewußt. Als ob es ein Gegenstück zum Ring des Gyges wäre, sichtbar den andern allen, sich selber unsichtbar. Eine Person im Trauerspiel würde ihr Betragen nicht ändern, wenn sie erführe, wie wir urteilen; sie bleibt, wie sie ist, auch bei klarem Bewußtsein davon, wie sie ist, ja, im vollen Gefühl des Schreckens, den sie uns einjagt. Einen lächerlichen Fehler aber sucht sie, sobald sie ihn merkt, abzulegen, zum mindesten äußerlich. Wenn Harpagon uns über seinen Geiz lachen sähe, so würde er ihn, wo nicht ablegen, so doch weniger offen oder auf andere Weise zeigen. In diesem besonderen Sinne kann man also jetzt sagen, daß das Lachen die Sitten geißelt. Es bewirkt, daß wir sofort suchen zu scheinen, was wir sein sollen und was wir ohne Zweifel eines Tages wirklich sein werden. Ich will diese Untersuchung für jetzt nicht weiter treiben. Von dem, der läuft und hinfällt, zu dem Harmlosen, den man zum Narren hält, vom Schabernack zur Zerstreutheit, von der Zerstreutheit zur Überspanntheit, von der Überspanntheit zu den verschiedenen Auswüchsen des Willens und Charakters haben wir verfolgt, wie das Komische immer mehr mit der Person selbst verschmilzt, ohne doch selbst in seinen sublimiertesten Erscheinungsformen aufzuhören, uns immer wieder an das zu gemahnen, was uns bei jenen massiveren Beispielen auffiel: daß es eine Folge des ihm zugrunde liegenden Automatischen oder Starren ist. Wir können jetzt aus genügender Ferne eine erste, gewiß noch vage und unbestimmte Übersicht über die lächerliche Seite der menschlichen Natur und die normale Funktion des Lachens halten. Was Leben und Gesellschaft von jedem von uns verlangen, ist einmal eine beständig gespannte Aufmerksamkeit, die die Umrisse einer jeden Situation augenblicklich erfaßt, und dann eine gewisse Geschmeidigkeit des Körpers und Geistes, die uns in stand setzt, uns ihr anzupassen. Spannung und Geschmeidigkeit