Das Land, das ich dir zeigen will - Sara Klatt - E-Book

Das Land, das ich dir zeigen will E-Book

Sara Klatt

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Beschreibung

Eine junge Frau auf den Spuren ihres Großvaters – eine Suche nach dem, was Verbundenheit wirklich bedeutet

»Das Israel meines Großvaters von 1948 ist ein anderes, als das meines Vaters von 1961. Es ist wieder ein anderes, als das Israel meiner Kindheit oder das meiner Jugend und es ist ein anderes Israel, als das von heute.«

Israel – das Land, das sie als Kind oft besuchte, da ein Teil ihrer Familie hier vor Jahrzehnten Zuflucht fand. Es ist das Land der Menschen, die S. durch Erzählungen ihres Großvaters kennenlernte, und gleichzeitig der Menschen, denen sie heute beim Trampen zwischen Tel Aviv und Jerusalem begegnet. Früher, da gab es den Untergrundkämpfer Jitzchak, der Tomaten in der Wüste überleben lassen konnte. Es gab Eva und Zwi Goldberg, die ihre Sehnsucht nach der alten Heimat mit deutschen Rosen zu besänftigen versuchten. Heute ist da Mohammad, der in einem Techno-Club auflegt und nicht über seine jüdische Exfreundin hinwegkommt. Es gibt den Siedler Rafi und den Beduinen Abdallah, die wie Zwillingsbrüder aussehen, aber keine sind. Und es gibt den Cafébesitzer Lior, der davon träumt, mit seiner Tochter einen Roadtrip in einem himmelblauen VW-Bus zu machen. Und während S. immer mehr über das Leben dieser Menschen lernt, eröffnet sich ihr Stück für Stück die eigene Geschichte, die ihres Vaters, ihres Großvaters – und ihr eigener Platz in diesem Land.

Sara Klatt zeigt uns ein Land, so vielschichtig wie seine Bewohner, und nimmt uns mit auf eine außergewöhnliche Reise durch das heutige und das vergangene Israel. Ein Land voller Lebendigkeit. Aber auch ein Land zwischen Traum und Trauma.

»Ein famoser Erstling. Klar, ehrlich, spannend. Wir wollen noch mehr von Sara Klatt lesen.« Rafael Seligmann

»Dieses Buch macht einen fertig! Sara Klatt entfaltet ihre Geschichte erst sanft, dann durchdringend, und verwebt Vergangenheit und Gegenwart zu einem bildgewaltigen und sprachlich herausragenden Roman. Große Leseempfehlung!« Joana Osman

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Seitenzahl: 445

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Sara Klatt, 1990 geboren, ist in Hamburg aufgewachsen. Sie ist Enkelin eines nach Israel ausgewanderten Berliner Juden, ihr Vater flüchtete 1944 aus Königsberg. Im Alter von 21 zog sie erstmals für ein Jahr nach Tel Aviv und kehrte später immer wieder für längere Aufenthalte und zahlreiche fotografische Projekte zurück. In Hannover studierte sie Fotojournalismus & Dokumentarfotografie, in Potsdam und Haifa Jüdische Studien. Sie fotografierte in Jerusalem für eine israelische Presseagentur und betreute zuletzt ein Netzwerk für deutschsprachige Shoah-Überlebende aus Tel Aviv. Sara Klatt lebt in Berlin. Das Land, das ich dir zeigen will ist ihr erster Roman.

»Ein famoser Erstling. Klar, ehrlich, spannend. Wir wollen noch mehr von Sara Klatt lesen.« Rafael Seligmann

»Dieses Buch macht einen fertig! Sara Klatt entfaltet ihre Geschichte erst sanft, dann durchdringend, und verwebt Vergangenheit und Gegenwart zu einem bildgewaltigen und sprachlich herausragenden Roman. Große Leseempfehlung!«Joana Osman

www.penguin-verlag.de

Sara Klatt

Das Land, das ich dir zeigen will

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieses Buch ist ein Roman.

Als literarisches Werk knüpft es in vielen Passagen an reale Geschehen und an Personen der Zeitgeschichte an. Es verbindet Anklänge an tatsächliche Vorkommnisse mit künstlerisch gestalteten, fiktiven Schilderungen sowie fiktiven Personen. Dies betrifft auch und insbesondere vermeintlich genaue Schilderungen von privaten Begebenheiten oder persönlichen Motiven und Überlegungen.

Copyright © 2024 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Verena Simon

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Coverabbildung: © privat

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30226-9V001

www.penguin-verlag.de

Für meinen Großvater, der mir Israel gezeigt hat.

Für meine Großmutter, die mich Hebräisch gelehrt hat.

Für meinen Vater, der mich das Mutigsein verstehen ließ.

Für meine Mutter, die mir ihr Vertrauen schenkt, über all das berichten zu dürfen.

»Und der Herr sprach zu Abram: Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.«

1. Mose 12:1

Prolog – Ich trage den Namen einer Romni

»Lustig ist das Zigeunerleben.

Faria, faria, fum.

Brauchen dem Kaiser kein Zins zu geben,

Faria, faria, fum.

Lustig ist’s in Buchenwald,

wo des Zigeuners Aufenthalt.

Faria, faria, faria, faria

Faria, faria, fum.«

Deutsches Volkslied »Lustig ist das Zigeunerleben«, Umdichtung der Nationalsozialisten

Ich trage den Namen einer Romni. Sie hatte dunkles Haar, und sie hatte keine Beine.

Heute gibt es keine Zigeuner mehr. Ich weiß nicht, ob sie noch da ist. Aber ich trage ihren Namen.

Mein Vater war ein Fahrender. Er fuhr von Deutschland nach Israel in seinem roten Käfer. Das war 1961.

Er fuhr nach Südamerika und ritt auf riesigen Schildkröten. Das war auf Galapagos.

Er fuhr nach Griechenland. Dort kaufte er einen Esel, er nannte ihn Aristoteles. Aristoteles trug seine Bücher, aber lesen konnte er sie nicht.

In Norwegen kaufte mein Vater einen Käse, der war größer als seine Hand. In dem Käse lebten Maden, aber das wusste mein Vater nicht. Er aß den Käse und die Maden, so schlimm war es nicht.

Mein Vater hatte ein Segelboot, das hieß Rona. Vor Schottland ging es unter. Er rettete sich auf ein Riff und machte ein Foto von Rona, bevor sie unterging. Das Foto stand auf seinem Schreibtisch. Er war noch sehr lange traurig.

In Jugoslawien trank mein Vater Slibowitz und aß Ćevapčići. Jugoslawien hatte er erfunden, denn es war auf der Karte nicht zu finden.

In Dänemark lernte er Dänisch, denn er liebte eine dänische Frau. Er liebte sie nicht sehr lang, denn sie rauchte im Schlaf und verbrannte dabei.

Dann hat er einen Schiffbrüchigen gerettet. Er hätte zwei gerettet, aber der zweite war schon ertrunken.

In Paris wurde mein Vater verhaftet. Er wurde verhaftet, weil man in Paris nicht auf Parkbänken übernachten durfte. Das wusste mein Vater und tat es trotzdem.

Er wusste viel, aber er scherte sich wenig.

Auf Mykonos aß er Trauben und sah einen Zentauren. Das war zum Teil gelogen. Er sah den Zentauren vom Wein.

In Russland schlief er im Schlafabteil in der Transsibirischen Eisenbahn und wurde ausgeraubt. Seine Bücher stahlen sie nicht, nur das Geld, und Geld konnte man sich neues kaufen. Daher war es nicht so schlimm.

In Moskau wollte er auf dem Roten Platz landen. Zwanzig Jahre später tat es ein anderer.

In Kanada hatte er einen Bruder. Ihn sah er lange nicht.

In Königsberg wurde mein Vater geboren. In einem grünen Haus in einer grünen Ulitza, von grünen Bäumen gesäumt. In Königsberg wurde ihm ein Kaninchen gestohlen. Er sagte, das war ein Unglück, denn damals gab es nichts zu essen. Königsberg war im Krieg.

Das Kaninchen hatte er sehr gern.

Er sagte, es sei gut, dass es gestohlen wurde, denn er hätte es ja doch nicht essen können.

So hat es ein anderer gegessen.

Auf das grüne Haus fiel eine Bombe, und es ging kaputt.

Königsberg gibt es heute nicht mehr. Das ist gut so, sagte mein Vater.

Und trotzdem hat er geweint.

In England hatte er einen Schlaganfall. Der brachte ihn noch nicht um.

Als ich ein Kind war, fragte ich ihn, was Lebensgefahr ist. Da konnte er viel erzählen.

Mein Vater hatte eine Mutter. Die hatte er lieb.

Und er hatte einen Vater. Der blieb im Krieg.

Mein Vater gab mir den Namen einer Romni.

Wir alle haben eine Geschichte.

Ich bin die Tochter meines Vaters.

Kapitel 1 – Straßenkämpfe

»Nach ihrem Unfall wird S. für den Rest ihres Lebens körperbehindert bleiben. Unabhängig von ihrer schweren Verletzung macht S. auch sonst einen eher kränklichen Eindruck. Sie ist sehr blass, dünn und ganz sicher nicht besonders widerstandsfähig.

S. lebt mit zahlreichen anderen Familienmitgliedern auf etwa 20 qm. Zwei Zimmer, Küche, Bad, Korridor.

Alle Personen über fünfzehn rauchen, auch die Schwangeren.

In der drangvollen Enge stehen drei Farbfernseher, davon ist mindestens einer ständig in Betrieb. Weiterhin befinden sich in der Wohnung etwa zehn Radiorekorder und Kassettengeräte. Müll jeglicher Art landet im Treppenhaus. Kinder laufen bereits im April barfuß durch derart verschmutzte Treppenhäuser. Die menschliche Atmosphäre in der Wohnung ist eigentlich nicht unangenehm, auf jeden Fall aber gastfreundlich. Stets wurde mir eine Tasse Tee und frisch gebackenes Brot angeboten.«

Vaters Bericht aus dem Romalager, 1987

Es regnet auf meinen ausgestreckten Arm.

Ich stehe auf einem israelischen Autobahnzubringer am Jerusalemer Stadtausgang und versuche, ein Auto anzuhalten.

Ich habe es selbst so gewollt.

Der Regen ist nicht sehr stark, aber beständig, und je mehr von ihm auf mich herabfällt, desto schwerer und langsamer werden meine Gedanken.

Wenn ich den Arm noch etwas höher halte, sieht es aus wie ein Hitlergruß. Da muss ich aufpassen.

Der Wind reißt an mir, doch mein Haar ist nass und klamm, sodass er nichts damit ausrichten kann. Er lässt dennoch nicht davon ab, und ich lege meinen schwarzen Schal darüber, ich will ihm nicht schutzlos ausgeliefert sein.

Mit nassen Haaren kann ich nicht nachdenken.

Wie ein Hijab bedeckt der Schal Kopf und Hals, er gibt meinen Gedanken eine schützende Hülle.

Neben mir ist eine Tankstelle, in der noch Tankwarte arbeiten. In ihren blauen Anzügen sind sie damit beschäftigt, Reifendruck zu prüfen, Autos zu betanken und Windschutzscheiben zu putzen.

Auf eine Art sind sie wie ich. Antiquiert stehen sie herum, wie aus der Zeit gefallen, und eigentlich schert sich niemand wirklich darum, ob sie da sind oder nicht.

Sie arbeiten stumm und beschweren sich nie. Ich kenne sie und sie kennen mich, und sie nicken mir jedes Mal zu, sobald ich an der Straße Position beziehe.

Ich habe schon oft hier gestanden.

Ich bin per Anhalter auf dem Weg nach Tel Aviv, bisher habe ich kein Glück.

Aber ich habe Zeit, um nachzudenken. Es gibt gerade nichts weiter zu tun.

Die Gedanken drehen sich im Kreis, der Hijab-Regenschal lässt sie nicht mehr aus meinem Kopf.

Ob der Koran Frauen verbieten würde, per Anhalter zu fahren?

Wie die Leute wohl auf eine Hijab tragende Muslima an der Straße reagieren würden?

Orthodoxe Juden trampen, auch orthodoxe Jüdinnen.

Ich bin nichts von alledem. Ich habe niemand, der mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe.

Niemand, der sich darum schert, dass ich hier stehe.

Tramper, und Leute, die Tramper mitnehmen, sind ohnehin selten geworden.

Ein cremefarbenes Auto mit einer Beule in der Seite hält an, etwa fünfzehn Meter von mir entfernt. Im Laufschritt nähere ich mich dem bremsenden Wagen.

Als er zum Stehen gekommen ist, versucht der Fahrer mit ausgestrecktem Arm, das Fenster auf meiner Seite zu öffnen. Es gelingt ihm nicht. Kurzerhand öffne ich die Beifahrertür und will meinen Kopf ins Innere des Wagens stecken. Sofort fällt mir ein riesiger Pappkarton vor die Füße, einen darauf liegenden schweren Ordner kann ich gerade noch auffangen.

Der Fahrer grinst mich entschuldigend an.

Er ist um die vierzig, hat dunkles Haar und trägt ein Polohemd. Aus dem Lautsprecher dröhnt Zohar Argov und am Rückspiegel hängt ein Lufterfrischer in Form einer Israelflagge.

»Sorry, hier ist Balagan, totales Chaos«, sagt er, während er auf den Rücksitz deutet. Weitere Kartons stapeln sich dort bis zur Wagendecke.

Mir ist unklar, wie ich in diesem Auto Platz finden soll.

»Ich muss nach Tel Aviv«, sage ich auf Hebräisch. »Fährst du dorthin?«

»Nein, Motek.« Er lacht kurz auf. »Viel zu weit. Es ist doch schon Abend, da fährt niemand mehr von Jerusalem nach Tel Aviv.«

»Wohin fährst du denn?«

»Mevaseret Zion. Willst du mit?«

Ich schüttle den Kopf.

»Bist du sicher?«, fragt er mit geheuchelt besorgter Stimme. »Es regnet.«

Das ist offensichtlich, denke ich.

»Ich bin aus Deutschland, ich bin an Regen gewöhnt.«

Ich versuche, ein Lächeln auf mein nasses Gesicht zu zaubern. Dann wünsche ich guten Abend und gute Fahrt und schließe die Autotür.

»Berlin?«, höre ich noch, bevor sie ins Schloss fällt. Ich schüttle den Kopf, drehe mich um und gehe die fünfzehn Meter zurück zu meinem ursprünglichen Platz. Dann richte ich meinen Arm wieder in Richtung Straße.

Im Nahen Osten streckt man beim Trampen den Daumen nicht nach oben wie in Europa. Man zeigt mit dem Zeigefinger auf die Straße. Mein Vater brachte mir das bei.

Er brachte mir auch bei, wie man »Baumwolle« oder »Sonnenhut« auf Hebräisch sagt. Wenn heute einer neben mir steht und »Baumwolle« oder »Sonnenhut« sagt, dann denke ich daran, wie mein Vater es sagte.

In unseren gemeinsamen Sommern in Israel lernte ich auch das Wort hitchhiking kennen.

»Ein wichtiges Wort«, sagte er. »Musst du dir merken.«

Wenn ich an das Israel meiner Kindheit denke, ist da dieses Wort, zusammen mit meinem Vater auf der Straße. Zu Hause in Hamburg blieb in mir nach jeder Rückkehr aus Israel das unbestimmte Gefühl von Heimweh. Dann träumte ich mich zurück in das Land, das nach Sonne roch und in dem mein Vater vierzig Jahre zuvor in fremde Autos gestiegen war.

»Wenn du die Menschen kennenlernen willst, dann musst du zu so vielen Fremden wie möglich ins Auto steigen«, sagte er. »Wenn du Israel verstehen willst, dann musst du das so machen.«

Er war nicht verrückt, mein Vater.

Ein Vater, der seine Tochter liebt und der sich um sie sorgt, der sagt ihr nicht so was, sagten andere Väter.

Mein Vater sagte es so. Und er liebte mich, jeden einzelnen Tag. Dreiundzwanzig Jahre lang.

Man kommt immer irgendwann irgendwo an, sagte er.

Wenn man die Zeit hat zu warten.

Ich habe Zeit zu warten.

Ich versuche mir einzureden, dass ich notfalls die ganze Nacht hier stehen und warten kann, bis mich jemand mitnimmt. Dass ich mich in meinem eigenen Körper ausruhen kann, von der langen Schicht in der Bar, von der durchtanzten Nacht im Club, von dem vielen Herumgelaufe an Shabbat, wenn in Jerusalem keine Busse fahren. Dass ich kein Bett zum Ruhen brauche und dass ich meinen Geist schlafen legen kann, wo auch immer ich gerade bin, während mein Körper wach bleibt. Der Geist ist müde, aber ich brauche nur meinen Körper und meine Augen, um aufrecht zu bleiben, um die fahrenden Autos zu verfolgen, die Lichter zu taxieren und zu reagieren, wenn eines vor mir zum Stehen kommt.

Ich brauche kein Heim, kein Bett, nicht all diesen Luxus-Tand, von dem die gewöhnlichen Großstadtmenschen denken, dass sie ihn brauchen, weil sie daran gewöhnt sind. Ich will meinen Geist überall schlafen legen können, auch auf der Autobahn.

Er fehlt mir, mein Vater.

Jetzt bin ich eine Fahrende, wie er. Ich bin frei. So frei, wie man nur sein kann.

»He!«, höre ich jemanden direkt hinter mir brüllen und bekomme einen Schreck.

Das cremefarbene Auto mit der Beule ist wieder da. Vielleicht war es auch nie fort, der Fahrer des Autos stört meine Gedanken. Offensichtlich war er nicht weitergefahren, sondern hatte die fünfzehn Meter zurückgesetzt, um abrupt vor mir anzuhalten.

»Ich hab’s mir überlegt«, brüllt er durch die geschlossene Autotür. »Ich fahre vielleicht doch noch ein bisschen weiter.«

»Ein bisschen hilft mir nicht, ich muss nach Tel Aviv«, rufe ich zurück und mache eine abwinkende Geste. Wieder versucht er, das Fenster zu öffnen, und wieder misslingt es. Er stößt einen lauten Fluch aus und deutet mir an, die Tür zu öffnen.

Unwillig öffne ich sie zum zweiten Mal, kicke mit dem Knie den Karton zurück auf den Beifahrersitz und fange routiniert den Ordner auf. »Kol hakavod«, sagt er und nickt anerkennend. »Nicht schlecht. Du bist also Deutsche?«, fragt er zusammenhangslos. »Weshalb sprichst du Iwrith? Ich dachte erst, du bist von hier.«

Ich lege den Ordner zurück auf den Pappkarton und schließe die Autotür bis auf einen Spalt, um die Auftürmung zu stabilisieren.

»Lange Geschichte«, sage ich und fasse die lange Geschichte zusammen. »Ich habe jetzt keine Zeit zum Quatschen, ich will hier trampen.«

Er blinzelt zweimal.

»Aber es regnet.«

Wahrscheinlich saß er die letzte halbe Stunde in seinem trockenen Auto und hielt nach irgendwas Ausschau, das er mitnehmen könnte. Jetzt geht er mir auf die Nerven.

»Du kannst hier nicht trampen, es ist viel zu spät«, bekräftigt er.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist achtzehn Uhr dreißig.

»Es ist achtzehn Uhr dreißig«, sage ich. »Das klappt schon noch.« Von Jerusalem nach Tel Aviv ist es etwa eine Dreiviertelstunde Fahrt.

»Ausgeschlossen«, insistiert er überzeugt und schüttelt eindringlich den Kopf. »Außerdem ist Trampen in Israel gefährlich. Wegen der Araber«, fügt er mit einer vielsagenden Geste hinzu.

Unwillkürlich zupfe ich an meinem Hijab-Regenschal.

Er schaut irritiert.

Diese Art von Dialog ist mir vertraut. Ich werde ihm erwidern, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht, da ich die Strecke schon oft getrampt bin. Darauf wird er antworten, dass ich das gar nicht beurteilen könne, da ich ja eine Frau sei und außerdem nicht von hier und überhaupt, dass Männer, die Tramperinnen mitnehmen, nur kranke Gedanken im Kopf hätten. Er selbst als Mann könne das bestätigen.

»Krass«, sagt er stattdessen. »Eine Frau mit Eiern.«

Das ist neu. Die Formulierung kenne ich im Hebräischen nicht. Ich überlege kurz, ob er das mit den Eiern vielleicht wörtlich meinen könnte. Ich habe nur einen kleinen Rucksack und eine Plastiktüte mit einem gegrillten Huhn dabei, eher unwahrscheinlich, dass ich auch noch Eier transportieren würde. Aber auch nicht unmöglich.

»Ich hab’s mir überlegt«, reißt er mich erneut aus meinen Gedanken. »Ich fahre dich nach Tel Aviv.«

»Was? Warum?«, frage ich misstrauisch. Der Regen ist inzwischen stärker geworden, ich brauche einen warmen, trockenen Ort, um mich auszuruhen.

»Du bist interessant, du bist nicht so wie die anderen.«

Er flirtet jetzt schamlos.

Sicher will er die Gelegenheit nutzen, um in Tel Aviv mit mir auszugehen.

»Und ich will die Gelegenheit nutzen, um in Tel Aviv mit dir auszugehen«, fügt er gönnerhaft hinzu.

Na also, denke ich.

»Was sagst du?«, drängt er und stößt mit einer energisch einladenden Geste gegen die Beifahrertür. Erneut stürzen mir Pappkarton und Ordner entgegen, der Ordner landet diesmal schmerzhaft mit einer Ecke auf meinem Fuß und hinterlässt eine Delle in meinem durchnässten Sneaker. Ich hebe ihn auf.

»Sorry, sorry«, sagt er und reicht mir entschuldigend eine Zigarette, die sofort nass wird und die ich dankend ablehne. Er steckt sie sich selbst an und bedeutet mir nun ungeduldig, einzusteigen.

»Nein, ich will nicht«, sage ich. »Du wolltest nach Mevaseret Zion. Das macht keinen Sinn.«

Er blinzelt.

»Du bist so serious«, sagt er dann. »Die deutschen Frauen sind so. So kontrolliert und ernsthaft. Das ist sexy. Kommst du wirklich nicht aus Berlin, Motek?«

Geduld ist eine Tugend der Esel, hätte mein Vater gesagt.

»Nicht alle Deutschen sind aus Berlin«, höre ich mich antworten.

»Nicht schlecht«, grinst er, »eine Deutsche mit Humor, a funny German!«

Er lacht jetzt laut und dröhnend. »Total abgefahren. Deutsche sind nicht lustig, Deutsche sind ernsthaft. Die können gar nicht anders, die sind einfach so, genetisch. Weißt du, die Deutschen haben alle lustigen Deutschen umgebracht, damals in der Shoah. Aber du, du bist lustig, das ist, weil du jüdisch bist. Bist du jüdisch?«

Ich drücke mit der Autotür gegen den Pappkarton, will sie schließen.

Deutsche haben keinen Humor. Mit ihrer Humorlosigkeit bauen sie deutsche Qualitätswaschmaschinen. Weil das ohne Humor besser geht.

Juden haben jüdischen Humor. Juden sind gerissen, listig und schlau. Und sie können mit Geld umgehen.

Zigeuner können in Kaffeesatz die Zukunft lesen. Dafür können sie nicht sesshaft werden, sie zahlen keine Steuern, denn sie sind ein fahrendes Volk. Sie haben bunt bemalte Wagen, mit denen sie stetig herumfahren, und sie spielen den ganzen Tag Akkordeon, denn sie sind heitere Leute.

Gypsy-Lifestyle. Vogelfrei. Faria, faria, fum.

Ich bin eine deutsch-jüdische Zigeunerin. Das hat sich so ergeben.

Mein Vater gab mir den Namen einer Romni. Sie kam von Jugoslawien nach Deutschland. In Jugoslawien war Krieg, und dort konnte sie nicht bleiben. Sie kam, als sie noch ein Kind war, und sie spielte gerne auf der Straße, wie Kinder es tun, Romakinder, deutsche Kinder und alle anderen.

Auf der Straße fuhr ihr im jugoslawischen Krieg ein Lastwagen über ihre Beine.

Mein Vater lernte sie nicht mehr mit Beinen kennen, denn sie mussten amputiert werden.

Er unterrichtete sie in einem Hamburger Lager für Geflüchtete, dort verbrachte er seine Nachmittage. Er brachte ihr Buntstifte, beim nächsten Besuch waren die Buntstifte kaputt. Da brachte er neue Buntstifte.

Viele Kinder lebten im Lager, doch sie konnte er nicht vergessen.

Er wollte sie nicht vergessen und so erzählte er mir von ihr.

Sie teilte sich mit ihren Eltern, sechs Geschwistern, Tanten und Cousinen zwei Zimmer.

Auf seiner Schreibmaschine schrieb mein Vater in seinen Bericht:

»Eine Episode verdient erwähnt zu werden: Ein älterer Bruder von S. berichtete mit gebrochenen deutschen Sprachkenntnissen, dass S. im Krankenhaus Bluttransfusionen erhalten habe. Er stellte die Behauptung auf, das Krankenhaus habe dafür Blut von ›bösen Deutschen‹ genommen und nun sei der Charakter seiner Schwester auch böse geworden. Er lehnte es ab, dass sie weiterhin deutsches Blut bekäme, sollte eine erneute Transfusion erforderlich sein.«

Das Mädchen hatte keine Urgroßeltern.

Die meisten Romnja hatten Urgroßeltern, viele von ihnen heirateten jung.

Sie hatte keine.

Porajmos, sagten die Eltern. Buchenwald.

Zigeunerblut und Judenblut war damals minderwertiges Blut. Das wurde so entschieden. Man sollte es nicht mit deutschem Blut vermischen.

Keine Urgroßeltern, keine Beine und keine Heimat.

Mein Vater konnte nicht viel für sie tun. Später gab er mir ihren Namen.

So bekam ich Zigeunerblut und Judenblut und deutsches Blut.

Blutrache, sozusagen.

Der Autofahrer ist immer noch da, er redet ohne Unterlass.

»Ich wollte schon immer mal nach Berlin, zum Feiern und so, schauen, wie die Leute so drauf sind. Warst du schon in Berlin feiern? Da gibt’s keine Tabus. Komm, ich fahr dich jetzt nach Tel Aviv, dann können wir auf der Fahrt über Berlin sprechen, Motek.«

Mein Fuß beginnt allmählich taub zu werden. Ich versuche, die Zehen zu bewegen, aber ich bin nicht sicher, ob das geht. Ich bin müde und brauche ein Heim und ein Bett, einen Ort, an dem ich meinen vom Regen geschundenen Körper und von dieser Konversation geplagten Geist ausruhen kann.

»Du kennst ja die Deutschen schon, da brauchst du doch gar nicht mehr nach Berlin zu fahren, Motek.«

»Witzig, man hört jetzt, dass du doch nicht von hier bist. Motek, das sagen in Israel nur die Männer zu den Frauen.«

»Gute Nacht«, sage ich. »Und gute Fahrt nach Mevaseret Zion.«

Ich werfe die Autotür zu, bedeute ihm, loszufahren und Platz zu machen, damit andere anhalten können.

Er grinst und macht eine bedauernde Geste, hupt zweimal und zieht geschlagen, aber nicht im Geringsten entmutigt von dannen.

Ich schüttle den Kopf, atme den Regen. Die Müdigkeit lässt mich leicht zittern, meine Glieder bleiern zu Boden sinken. Als ich aufschaue, sehe ich durch den nassen Schleier die beiden Tankwarte belustigt zu mir herübergaffen.

»Motek«, ruft der eine mir zu und hebt seinen rechten Arm mit einer ausholenden Geste. Unwillkürlich fange ich auf, was er zu mir herüberwirft. Als ich meine Hand öffne, sehe ich darin einen Mekupelet-Schokoriegel liegen.

Ich werfe ihm eine Kusshand zu. Er winkt lachend ab, dreht sich um und geht wieder an die Arbeit.

Es gibt Gute und es gibt weniger Gute. Wirklich schlecht sind die wenigsten.

Als ich mich zur Straße umdrehe, um das nächste Auto anzuhalten, bemerke ich, dass ich noch immer den Ordner in meinem Arm halte.

Kapitel 2 – Jitzchak, der Sohn eines Rabbiners

»Mein liebes Kind.

Heute sah ich im Briefkasten deine schöne Zeichnung mit dem Menorah-Leuchter, den Davidsternen und dem Dubi-Bär. Nun wünsche ich dir Mazal tov zu deinem Geburtstag. Ich hoffe, es geht dir gut. In einem Monat, so Gott will, werde ich wieder in Hamburg sein. Grüße die guten Eltern und die lieben Großeltern.«

Geburtstagskarte von Jitzchak, dem Untergrundkämpfer

Der gut aussehende junge Mann Mitte dreißig, zu dem ich schließlich ins Auto steige, stellt sich mir als Isaac vor. Er ist Sohn eines Rabbiners und eigentlich heißt er Jitzchak, aber er findet Isaac klingt moderner und nicht so konservativ wie Jitzchak Ich mag beide Namen.

Isaac, der Sohn Abrahams, der auf dem Berg Moriah geopfert werden soll, noch bevor er das Mannesalter erreicht. Rein und unschuldig. Eine verstörende Geschichte.

Abraham, der von Gott den Befehl erhält, seinen eigenen Sohn zu opfern, wird in der Bibel beispielhaft für seine Gottergebenheit belohnt.

Ich erzähle Jitzchak, dass mir mein Vater die Geschichte von Isaac vorlas, als ich noch ein Kind war. Mein Vater, der mir beibrachte, mich gegen alles Autoritäre zur Wehr zu setzen. Der mich lehrte, alles zu hinterfragen, nichts als gegeben hinzunehmen und meine eigene Sicht auf die Dinge zu entwickeln. Der niemals einer Regel blind folgte und gegen den Willen eines gerade neu gegründeten Deutschlands den Kriegsdienst verweigerte. Der stattdessen nach Israel ging, um in einem Kibbuz Schafe zu scheren. Und sich aus Trotz einen Bart wachsen ließ.

Mein Vater war alles andere als obrigkeitshörig oder einer, der solches Verhalten gebilligt hätte.

Als ich die Geschichte von Gott und Abraham das erste Mal hörte, regten sich in mir Unverständnis, Unmut und Angst.

Ich fragte ihn, ob er mich, seine einzige Tochter, auch opfern würde, falls Gott es ihm befahl.

An seine Antwort habe ich keine Erinnerung mehr.

»Warum vergisst man so wichtige Dinge?«, frage ich Jitzchak.

Ich will ihn an meinen Gedanken teilhaben lassen, denn er sieht aus wie einer, mit dem man sich gut unterhalten kann.

Er zuckt mit den Schultern.

»So ist es nun mal. Der Mensch ist ein fehlerhaftes Wesen«, sagt er.

Ich schaue ihn von der Seite an.

Vielleicht nimmt er wahr, dass ich zu ihm hinübersehe, aber er hält den Blick weiter fest auf die Straße gerichtet. Sein Haar bewegt sich leicht im Fahrtwind des spaltbreit geöffneten Fensters. Weizenblond. Die kantigen Gesichtszüge sind ernst und konzentriert. Große, braun gebrannte Hände umfassen ruhig und gelassen das Lenkrad.

Schöne braune und starke Kibbuz-Arbeiterhände und weizenblondes Haar. Was für ein arischer Typ.

Wahrscheinlich hat er blaue Augen. Ganz sicher hat er blaue Augen. Weizenblondes Haar und blaue Augen.

Er hätte sich ganz fantastisch auf einem Kraft durch Freude-Plakat ikonisieren lassen können. Jitzchak, der Sohn eines Rabbiners.

Ich sage ihm, dass ich mich entschlossen habe, ihn so zu nennen, obwohl er Isaac bevorzugt. Vielleicht mag ich diese Version seines Namens doch lieber. Sie hat etwas Unantastbares, Ehrerbietiges für mich. Etwas Schönes und Gestriges. Und sie erinnert mich an früher.

Mein Großvater hatte einen Freund mit dem Namen Jitzchak.

In meiner Kindheit waren wir oft zu Besuch bei ihm.

Jitzchak war ein Berliner Jude, hieß früher einmal Hans-Joachim und war Untergrundkämpfer gegen den Nationalsozialismus.

Anfang der fünfziger Jahre wanderte er nach Israel aus, wenige Jahre nach meinem Großvater.

In der neuen Heimat nahm er den Namen Jitzchak an und bezog ein winziges Kabuff auf einem Hausdach in der Hafenstadt Haifa. In seiner kleinen Wohnung, die praktisch nur aus einem einzigen Zimmer bestand, stapelten sich Bücher bis zur Decke. Die meiste Zeit verbrachten wir im Freien auf dem riesigen Dach, auf dem seine Behausung wie ein zufällig fallen gelassener, verlorener Würfel anmutete. Die Mittelmeersonne brannte den ganzen Tag, und wir hatten von oben ein wunderbares Panorama auf das Meer, das mit seinem erfrischenden Anblick beständig hin- und herwogte.

Wir waren damals sehr vergnügt.

Jitzchak liebte das kleine braun gebrannte Mädchen, das ich war, und ich liebte den alten, klugen Mann, der im Geiste ein Kind sein konnte.

Wir tranken Limonade, und nichts war verboten. Wenn wir in seiner Wohnung Verstecken spielten und ich versehentlich einen Bücherstapel ins Wanken brachte, lachte er nur und setzte sich im Schneidersitz mit mir auf den Boden, um die Sache zu begutachten. Überhaupt saßen wir bei Jitzchak immer auf dem Boden. Ich glaube mich zu erinnern, dass er einen Schreibtisch besaß, aber das ist bei der Menge an Büchern im Nachhinein nicht sicher zu beurteilen. Jedenfalls weiß ich nicht, ob auch ein Stuhl da war.

Für mich war Jitzchak ein Spielkamerad in Gestalt eines alten Mannes.

Dass er auch Schriftsteller war und in Israel ein bekannter Intellektueller, wurde mir erst später bewusst, als mir ein von ihm verfasstes Buch in die Hände fiel, das vom Untergrund handelte.

Der Untergrund.

Eines dieser geheimnisvollen, mystischen Worte meiner Kindheit. Es wurde oft an der langen Tafel des Hamburger Esszimmers meiner Großeltern davon gesprochen, dass jemand »in den Untergrund« gegangen war.

Was das genau bedeutete, wusste ich nicht.

Ich jedenfalls hatte meinen eigenen Untergrund, denn unter dem massiv hölzernen Esstisch, den man ausziehen konnte, bot sich ein wunderbares Versteck. An Shabbat und zu Feiertagen legte meine Großmutter ein besticktes Tischtuch darauf, dann saß ich unter dem Tisch, im Untergrund, auf den schweren Perserteppichen meiner Großeltern und lauschte den dumpf klingenden Gesprächen der Obergründigen.

Meistens war ich allein im Untergrund, eine doch eher einsame Angelegenheit.

Ich war die Herrin meines Untergrundes und das hatte durchaus etwas Verwegenes, denn ich wusste Dinge, die die anderen nicht wussten. Wer seine Schuhe schlecht geputzt hatte, oder wer Löcher in den Strümpfen trug, zum Beispiel.

Solche Informationen waren nur denen vorbehalten, die in den Untergrund gingen, und eigentlich waren sie nicht besonders nützlich.

Hans-Joachim-Jitzchak kam jedenfalls irgendwie durch den Untergrund nach Israel.

Ich stellte mir damals vor, wie er unter einem unendlich langen Shabbes-Tisch, mit festlich gedeckter Tischdecke wie bei meinen Großeltern, auf allen Vieren langsam aber beständig vom Abendland ins Morgenland wanderte.

Ohne aufzufallen, versteht sich.

Das Auffallen war damals scheinbar so ein Problem.

Mein Senior-Spielkamerad von damals trug nie den gelben Stern. Anfang der dreißiger Jahre tauchte er unter, um eine jüdische Organisation in Nazideutschland zu gründen. Einige seiner Mitstreiter wurden später gefasst und zum Tode verurteilt. Sie verhalfen Jugendlichen zur Flucht nach Palästina. In sogenannten Hachschara-Kursen wurden sie auf das Leben in dem Gebiet vorbereitet, das später Israel heißen würde und das sie schützen sollte.

Die Hachschara-Kurse wurden in den Jugend-Aliyah-Schulen abgehalten. Dort wurde neben Hebräisch, zionistischer Geschichte und Palästinakunde vor allem Landwirtschaft und Handwerk unterrichtet.

Jitzchak erklärte mir, man lernte dort, wie man Tomaten in der Wüste überleben lässt. Das war zunächst am wichtigsten.

1938 wurden jüdische Schüler aus den deutschen Volksschulen entlassen. Als die Schulen judenfrei waren, wurden sie in »gesinnungsreine Volksschulen« umbenannt. Alles wurde umbenannt, damit auch die Sprache gesinnungsrein wurde, und jede noch so kleine Silbe, die mit einer Beschmutzung des Deutschseins in Verbindung zu bringen war, sollte gänzlich aus dem Sprachgebrauch verschwinden.

Das tausendjährige Reich begann zu erblühen, und die gesinnungsreine Sprache war die erste Knospe, die sich öffnete. Man bereitete sich auf eine gesinnungsreine Zukunft vor.

Die Hachschara-Kurse hießen nun auch nicht länger Hachschara-Kurse, sondern trugen den vielmehr sperrigen arischen Titel »Vorbereitungslehrgänge für schulentlassene jüdische Jugendliche«. Die Nationalsozialisten hatten zwar die Macht über das Wort, aber sie waren sich uneinig, wie dieses wohl am besten zu gebrauchen sei.

Im Herbst 1941 wurde der Unterricht an den Jugend-Aliyah-Schulen ganz verboten.

Jitzchak überlegte sich, wie man dennoch mit den Jugendlichen weiterarbeiten könnte. Ein Freund aus der Leitung der »Vorbereitungslehrgänge für schulentlassene jüdische Jugendliche«, die sich inzwischen einer weiteren Umbenennung unterziehen musste und jetzt »Abteilung Berufsvorbereitung der Reichsvereinigung« hieß, erzählte ihm von einer Villa mit einem großen dazugehörigen Grundstück am Wannsee, die die Gestapo beschlagnahmt hatte. Das Grundstück der Villa, in der eine SS-Besatzung hauste, sollte hergerichtet und bewirtschaftet werden.

Jitzchak, der ein Meister der Improvisation war, beschloss, seine verbliebene Schulklasse aus der »Abteilung Berufsvorbereitung der Reichsvereinigung«, kurzerhand in »Gartenbau Umschulungsbetrieb der Reichsvereinigung Wannsee« umzubenennen. So durften sie das Grundstück bewirtschaften und in einem darauf befindlichen Gewächshaus weiter ihren Theorieunterricht abhalten.

Auch die Jugendlichen lernten die Wächter der gesinnungsreinen Sprache schnell zu durchschauen.

Wenn beim unerwarteten Aufkreuzen eines SS-Aufsehers gerade ein Thema aus der zionistischen Geschichte oder jüdischen Kultur behandelt wurde, stellten sie umgehend eine Frage zur Aufzucht der Tomaten.

Und so ging eine Weile lang alles seinen Gang.

Neben Jitzchak wohnte in seinem kleinen Kabuff damals noch Razi, ein junger schwarzhaariger Druse aus der nördlichen Peripherie Haifas. Meine Großeltern pflegten enge freundschaftliche Kontakte in der Gemeinschaft der Drusen, einer arabischen Minderheit in Israel.

Möglicherweise war die Beziehung zwischen Jitzchak und Razi mehr als freundschaftlich, beide liebten Männer.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir in meiner Kindheit jemand Homosexualität erklärt hat. Es war einfach nicht erwähnenswert. Meine Großeltern differenzierten nicht, entweder kam jemand mit seiner Frau oder seinem Mann, mit seinem Freund oder seiner Freundin, es lag schlicht keine Andersartigkeit darin.

Jitzchak war ein Jecke, wie auch mein Großvater einer war.

Selbst im heißesten Sommer trug er sein Jackett, das den deutschen Juden den Namen Jecke verlieh. Sie konnten es nicht lassen, ihre Anzüge zu tragen, denn so waren sie es aus Europa gewöhnt.

Nach dem Krieg wanderten Jitzchak und mein Großvater nach Israel aus, legten ihre deutschen Namen ab und bauten sich das Leben auf, dass ihnen Deutschland verwehrt hatte. Sie wurden zu Israelis und blieben doch Deutsche.

Beide zog es Jahrzehnte später wieder zurück in die alte Heimat – Deutschland. Jitzchak ging nach Berlin, mein Großvater nach Hamburg. Die deutsch-israelischen Freunde, die sie zurückließen und die keinen Fuß mehr auf deutschen Boden setzen wollten, erklärten sie für verrückt.

Seit seiner Rückkehr nach Berlin schickte ich Jitzchak aus Hamburg selbst gemalte Bilder zu seinem Geburtstag. Er schickte mir Postkarten zu meinem. Immer die gleiche Karte mit einem Motiv des Berliner Bären. Ich liebte seine Karten, und ich liebte ihre vordergründige Redundanz und Beständigkeit. Dennoch glich keine Karte der anderen, denn es lag immer ein Jahr gelebtes Leben zwischen ihnen, und ich wurde mit jeder von Jitzchaks Karten ein Jahr älter.

Jitzchak, mein Fahrer, dreht neben mir das Radio auf. Es läuft ein Song von Idan Raichel, den wir beide mögen. Er singt leise mit, und ich merke an, dass er eine schöne Stimme hat.

Er erzählt, dass das Singen an Shabbat ein wichtiges Ritual in seiner Kindheit war.

Sein Englisch hat einen feinen, kaum wahrnehmbaren britischen Akzent. Nicht den schweren, stockenden vieler Israelis.

Sein Vater ist Brite, erzählt er, zu Hause sprechen sie meistens Englisch. Jitzchaks Vater ist kein liberaler aber auch kein orthodoxer Rabbiner, etwas dazwischen, und er kam nach Israel, als er noch ein Kind war.

Jitzchak selbst hat die letzten Jahre in England verbracht, erst vor Kurzem ist er zurückgekehrt. Es ist seine erste Autofahrt nach Jahren des Linksverkehrs, und ich frage mich, ob er deswegen so konzentriert auf die Straße schaut.

»Du könntest den Engländern die Schuld geben, falls du uns versehentlich in einen Unfall verwickelst«, sage ich und sehe zum ersten Mal ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht huschen.

»Die Briten haben hier eine Menge Mist gebaut«, erwidert er.

Seine Stimme hat einen weichen Klang, und ich denke, dass ich ihn gern wiedersehen möchte.

Wir nähern uns Tel Aviv, in einiger Entfernung sehe ich bereits die Skyline aufleuchten. Jitzchak möchte jemanden besuchen, vielleicht hat er auch ein Date, ich frage nicht weiter nach.

Ich muss nach Givatayim, einem Vorort im Westen der Stadt, da sich dort meine Wohnung befindet.

Er lässt mich an einer roten Ampel an der LaGuardia-Auffahrt aussteigen.

»Kennst du dich hier aus?«

Ich kenne mich aus. Ich habe vor zehn Jahren schon in dieser Gegend gewohnt, im »Schwarzen Viertel« der Weißen Stadt, so nannte man es, denn früher wohnten hier auch die Asylsuchenden aus dem Sudan und aus Eritrea. Die Bauhaus-Wohnungen aus hellem Kalkstein, die Tel Aviv zur Weißen Stadt machten, ließ man über die Jahre grau werden.

Noch nicht alle verfallenen Häuser sind abgerissen, aber viele. Die Straßen sehen aufgeräumter aus, und manches Gebäude, in dem sich früher eine Fahrradwerkstatt oder ein Laden russischer oder äthiopischer Einwanderer befand, musste einem modernen Bau weichen. Das alte Arbeiterviertel wurde auf eine groteske Art herausgeputzt.

Die vielen Geflüchteten brachten eine beklemmende Stille in den Südteil der Stadt. »Illegale«, sagten die Mizrachim, die schon vor ihnen da waren. Sie kamen aus Marokko, Algerien oder dem Jemen und hatten selbst nicht viel.

Die »Neuen« kamen ohne Aufenthaltsgenehmigung ins Land, über Ägypten und den Sinai. Zu acht wohnten sie in schmutzigen Einzimmerwohnungen ohne Glas vor den Fenstern, sie schliefen auf dem nackten Boden nebeneinandergereiht, nie waren sie mit sich allein.

Viele schliefen draußen im Lewinsky Park. Abends sagten sie: »Wir gehen nach Hause.« Und meinten den Park.

Auf Tüchern verkauften sie geklautes Zeug, was hätten sie sonst verkaufen sollen. Wenn die Polizei eintraf, waren sie weg.

Ich ging zu ihnen, wenn ich geklautes Zeug brauchte, oder um Zeug wiederzufinden, das mir geklaut wurde.

Manchmal saß ich bei ihnen und trank ihren Guavensaft. Hartnäckig und ohne Erwartungen. Bis sie mir ihre Geschichten erzählten. Sie nahmen mich mit in ihre Zimmer, zeigten auf ihr karges Dasein, auf das, was noch davon übrig war. Viel hatten sie erlebt und besaßen doch nichts.

Alles, was sie hatten, war in ihrem Kopf.

Einige trugen tiefe Narben in der Haut. Als Erinnerung, sozusagen.

Einer nahm sich am Strand meinen Rucksack. Das wertlose Zeug darin schaffte es nicht auf die Tücher, denn die Polizei fasste den Dieb, bevor seine Füße den Sand verließen.

In einem grünen Bus brachten sie ihn zum Verhör. Die Polizisten besetzten alle Sitze, es waren keine weiteren Sitze mehr frei. Der Schwarze Mann kniete in Handschellen auf dem Boden, und seine Erniedrigung verspottete die Überlegenheit aller anderen. Einer schaute auf ihn herunter und schimpfte.

»Die Menschen gehen demonstrieren, damit ihr im Land bleiben könnt. Und was machst du? Du klaust Rucksäcke.«

Er sagte nichts.

Süd-Tel Aviv ist ein raues Viertel, sagen die Leute.

»Gib acht auf dich«, sagt Jitzchak.

Ich verspreche es.

Es bleibt nicht viel Zeit für eine Verabschiedung.

Er schaut kurz, lächelt still.

»Willst du nächsten Shabbat zu uns kommen? Wir feiern bei meinem Vater.«

Er entfaltet ein Stück Papier und schreibt seine Nummer darauf.

»Soll ich einen langen Rock anziehen?«, frage ich noch halb im Scherz, denn ich kann nicht wissen, ob sein Vater, der nicht liberale, aber auch nicht orthodoxe Rabbiner, Wert auf lange Röcke legt.

Die Ampel schaltet auf Grün, und das hinter uns stehende Auto fängt in der gleichen Sekunde an zu hupen. Ich öffne die Beifahrertür, und Jitzchak beantwortet meine Frage mit einem schnellen »Nicht nötig«. Dann ist er weg.

Ich laufe unter dem einsetzenden Geschimpfe des hupenden Autofahrers über die Straße auf einen bürgersteigartigen Asphaltstreifen.

Ein wenig fühlt es sich an wie früher.

Kapitel 3 – Spaziergänger und Liebhaberei

Empfänger:

Die Kommune am Ende von Europa

z. H. Fräulein S.

6 772 091 Tel Aviv, ISRAEL.

Großmutters Post nach Tel Aviv

Ich bin froh, dass die letzten Stunden im Regen vorüber sind, und geschmeichelt, von der Stadt wie von einem eifersüchtigen Liebhaber empfangen zu werden, der mit allem, was er zu bieten hat, seinen alteingesessenen Nebenbuhler auszuschalten versucht.

Die Luft in Tel Aviv ist ganz anders als die Luft in Jerusalem. Das liegt am Höhenunterschied. In Tel Aviv ist sie salzig und mild, in Jerusalem unnachgiebig kalt, auch wenn zugleich die Sonne am Winterhimmel steht.

Obgleich beide Städte kaum siebzig Kilometer auseinanderliegen, sind sie nicht wie Bruder und Schwester, sie sind nicht einmal Cousin und Cousine.

Entfernte Verwandte könnte man sagen.

Wenn ich aus Jerusalem komme und in Tel Aviv aus einem Auto steige, fühlt sich das erste Eintauchen in die Luft wie eine streichelnde Begrüßung an.

»Willkommen zurück, du Liebste! Ab jetzt halte ich dich warm umschlungen, du musst nicht mehr frieren. Bei mir ist es gut. Jerusalem ist zu kalt, zu konservativ, zu kompliziert. Hier, bei mir, ist es wärmer und das Leben leichter. Geh nicht zurück! Warum gehst du doch immer zurück? Was findest du dort, was du hier nicht findest?«

Auf diese Art umweht mich die Stadt. Sie schmeckt nach Salz und nach Meer, die Luft ist samtig, und ich kann mich hineinlegen, ausruhen, wie in einem Kokon.

Aus dem Ankommen in Tel Aviv habe ich ein Ritual gemacht. Es ist ein Dialog in meinem Kopf, für niemandes Ohren bestimmt.

In dem Jahr, in dem ich langsam erwachsen wurde, zog es mich zum ersten Mal alleine hierher. Eine Weile wohnte ich in einer Kommune. Mit mir wohnten eine Koreanerin, die mit spiritueller Hingabe koreanische Gedichte rezitieren konnte, zwei jüdische Amerikaner mit geschickten Fähigkeiten zur Herstellung von Baumhäusern, eine Französin mit kleinen spitzen Brüsten und nervtötendem Akzent, eine Mexikanerin mit einer Vorliebe für türkische Seifenopern, ein Italiener, der nach zwei abgebrochenen Ausbildungen mit dem Trinken anfing und gelegentlich mit dem Kruzifix über seinem Bett sprach, zwei Deutsche ohne besondere Attribute und eine äthiopisch-stämmige Israelin, die ein bisschen fromm war, aber nur ihrer Familie zuliebe, und die deswegen einen Militärersatzdienst ableisten durfte.

Unsere asketische Behausung befand sich im südlichen Tel Aviv in einer Straße namens Yetsiat Eropa. Auf Englisch übersetzt hieß sie Exit from Europe, benannt nach dem berühmten Flüchtlingsschiff Exodus.

Meine Hamburger Großmutter nannte die Straße »Das Ende von Europa«. Das erschien ihr passend, und mir dann auch.

Die Irrfahrt der Exodus from Europe 1947 führte von den Vereinigten Staaten über Gibraltar, Frankreich und Italien nach Palästina, dann zurück nach Frankreich und schließlich in den Hamburger Hafen, wo alle Passagiere von Bord mussten.

Die Päckchen, die meine Großmutter mir nach Israel schickte, gingen in etwa den umgekehrten Weg.

Sie wusste damals nicht recht, wie eine Kommune zu verstehen sei, aber als ich es ihr erklärte, fand sie es dann ganz vernünftig.

Ob jeder sein eigenes Handtuch hatte, wollte sie wissen. Sie war eine deutsche Großmutter.

Ich schrieb ihr Briefe, übte das Hebräisch, das sie mir beigebracht hatte, und schickte ihr bunte Polaroids, auf denen ich glücklich aussah, da ich glücklich war.

Moshe, der Hausmeister, war mein Korrekturleser.

Eigentlich war er kein richtiger Hausmeister, und er war auch nicht der Kompetenteste seiner Art. Er hatte jemanden verprügelt und ihm zwei Schneidezähne ausgeschlagen, dafür musste er Sozialstunden ableisten, und so kam er zur Hausmeisterei.

Moshe konnte Nägel in die Wand hämmern, Fahrräder reparieren und Korrekturlesen.

Man hätte andererseits sagen können, dass er für die Hausmeisterei sehr gut geeignet war.

Als Korrekturleser war er sehr gelassen. Großmüttern zu schreiben sei wichtig, sagte Moshe, der so hieß wie mein Großvater.

Teure Großmutter, Safta yekara. So begann ich, so schlug er es vor.

Meine Briefe, die seiner strengen Zensur unterlagen, blieben nicht lange unbeantwortet.

Die teure Großmutter schickte Päckchen mit Mozartkugeln, die in der israelischen Hitze zerschmolzen. Ihre hebräische Handschrift sah aus wie eine Kinderschrift.

Moshe und ich aßen die Mozartkugeln, er warf sie sich mit zwei schmutzigen Fingern in den Rachen, kaute zweimal und nickte zufrieden.

Im Juli stickte Großmutter die Namen von allen aus der Kommune auf kleine bunte Handtücher. Zehn Handtücher mit Namen in hebräischen und lateinischen Druckbuchstaben. Jeder bekam sein eigenes Handtuch. Handtücher besticken, das machte sie am liebsten, das konnte niemand so gut wie sie.

Die Handtücher gingen den umgekehrten Weg der Exodus von Hamburg nach Israel, und später verteilten sie sich in der ganzen Welt. Amerika, Korea, Frankreich, Mexiko, Italien, Deutschland.

Das hat ihr gefallen. Dinge solcher Art gefielen meiner Großmutter, Dinge solcher Art machten sie glücklich.

Heute ist sie auf dem Hamburger Friedhof und gleichzeitig ist sie überall sonst auf der Welt.

Mit einer ruckartigen Bewegung öffne ich den klemmenden Reißverschluss meiner schwarzen Lederjacke. Anders geht es nicht, denn sie ist alt und verschlissen und man muss rau mit ihr umgehen. So ist sie es gewohnt. Sie kommt von der Straße und weiß mit Sanftheit nichts anzufangen.

An einem Tag mit Nieselregen habe ich sie dort gefunden.

In Tel Aviv liegen an guten Tagen Unmengen von brauchbarem Zeug auf der Straße. Auf die Bänke vor den Häusern legen die Menschen die Dinge, deren Verwendungszweck sie vergessen haben.

Nach einer Weile kommt einer vorbei, der sich erinnert, und nimmt sie mit. So kehren sie in den Kreislauf der Sinnhaftigkeit zurück.

Im Sommer findet man besonders viel.

Kleidung, Schuhe, Schmuck, Taschen, Bücher, Kinderspielzeug. Bilderrahmen, Bilder, goldene Blumenvasen, Blumen.

Das Geheimnis ist, dass man lange genug spazieren gehen muss. Man findet erst die Möbel. Sessel, Tische, Schränkchen. Dann die Dinge, die man in die Möbel hineinlegt oder daraufstellt. Man muss die Reihenfolge einhalten, sonst verzettelt man sich und es entsteht ein Durcheinander.

Ich brauche immer irgendetwas. Folgendes habe ich bereits gebraucht und gefunden: Ein deutsches Märchenbuch, eine riesige asiatische Vase, die aber beim Transport vom Fahrrad stürzte und in lauter kleine Teilchen zerbrach, ein Schüttelglas mit einer winzigen Winterlandschaft im Inneren, auf die es schneit, wenn man es schüttelt. Und eben die schwarze Lederjacke mit dem ausgefransten Reißverschluss.

Ich kann mich nicht beklagen.

In jenem Jahr, in dem ich schon ein bisschen erwachsen war, lud man mich in Tel Aviv zu einer Hochzeit ein.

Am Tag der Chuppa erschien mir nichts passend zum Anziehen, also ging ich spazieren. Nicht weit von der Kommune entfernt fand ich ein bunt geblümtes Sommerkleid.

Für die Schuhe musste ich meinen Radius erweitern und noch eine Runde gehen. Ich fand weiße, hochhackige Pumps aus einer vergangenen Modeepoche.

Für Schmuck, einen Hut, ein Tuch oder eine Handtasche ging ich in ein anderes Viertel, denn die Leute in meiner Gegend hatten so wie ich kein Geld und brauchten ihren Schmuck, ihre Hüte, Tücher und Handtaschen selbst.

Ich fand eine Brosche und eine zerrissene Perlenkette aus Kunstperlen, die man leicht reparieren konnte.

Zu Hause richtete ich das neue Ensemble her. Ich wusch das schöne Kleid mit etwas Kernseife in einem Eimer, wie früher, als es noch keine Waschmaschinen in den Wohnungen gab. Dann hängte ich es nach draußen auf das flache Dach und sah dabei zu, wie es in der Tel Aviver Spätsommersonne trocknete. Nach zwei Tassen Kaffee war es fast so weit.

Zu Rock-’n’-Roll-Songs von Bill Haley tanzte ich kleidlos die Schuhe ein, die Katzen im Hof und der alte russische Nachbar von gegenüber sahen zu mir hinauf, er war ein altmodischer Herr, und er hatte nur noch wenige Vergnügungen. Er war jung gewesen zu Zeiten von Eis am Stiel und hatte über die Jahre die Zeit verloren.

Mein Sommer war wild und nostalgisch in dieser Stadt, die mich beim Erwachsenwerden Vertrauen und Gelassenheit lehrte.

Das Kleid passte wie angegossen, es bedeckte wie eine Blumenwiese meine von der stetigen Sonne gebräunte Haut. Ich legte mein dunkles Haar darüber, schminkte meine Lippen rot, und zur Hochzeit kam ich etwas zu spät, wie man das so macht, wenn man noch ein Kleid finden muss.

Auch mein Großvater, der ein Professor an der Universität gewesen war, war auf der Straße ein Sachensucher.

Er war auch ein Sachenfinder, das hatte er in Berlin gelernt, wo er einer Arbeiterfamilie entstammte, in der das Geld knapp bemessen war.

Das Abitur in Berlin hatten ihm die Nazis gehörig verhagelt. Nach Erez Israel ging er ohne Geld und Habe, er lernte, studierte und arbeitete, und irgendwann gehörten zumindest die finanziellen Sorgen der Vergangenheit an.

Dreißig Jahre später wollten die Deutschen ihn wiederhaben. Die waren inzwischen alle entnazifiziert, nur noch Deutsche, alles neu in Deutschland.

Man hatte begonnen, die Schatten der Vergangenheit tief unter der Erde zu begraben.

Mein Großvater ging zurück.

Ein deutscher Jude bleibt ein deutscher Jude, sagte er und ging zurück.

In der alt-neuen Heimat musste er neue Sachen finden, denn die Hamburger Wohnung, in die er zog, war groß und schön und leer.

Seine Herkunft vergaß er nie.

Mein Großvater konnte alles reparieren. Reißverschlüsse, Wasserleitungen und Geschirrspüler ebenso wie Schuhe und Gürtel und offensichtlich auch die eigene Seele, denn sonst wäre er nicht zurückgekehrt, nicht nach Deutschland.

In einem Jahr, in dem ich noch weit entfernt vom Erwachsensein war, gingen meine Großeltern sonntags in Hamburg Hand in Hand spazieren.

Am Sperrmüll vorbei gingen sie in Richtung Park.

Mein Großvater blieb stirnrunzelnd stehen und kehrte um, vor zwei hölzernen Sesseln, mit grünem und braunem Stoff bespannt, hielt er inne.

»Die sind noch gut, die nehmen wir mit.«

Die Sessel verloren sich in den Weiten der großen Wohnung, sie mahnten stets zu Demut und Verzicht. Nicht, dass ihre neuen Besitzer es nötig gehabt hätten.

Mit ihnen bin ich erwachsen geworden.

Kapitel 4 – Ameisen im Kaffee

»Erinnerst du dich an das Märchen vom süßen Brei? Im Lager warf mir einmal eine Frau ein Kilo Grieß über den Zaun. Ich habe den Grieß dann in der Baracke gekocht. Ich wusste gar nicht, wie man sowas zubereitet, und der Grieß hat gekocht und gekocht und gekocht, über den Topf und durch die Baracke. Da haben wir uns dann alle sattessen können, ganz wie im Märchen. An diesem gar nicht märchenhaften Ort.«

Großvaters Erinnerungen an Buchenwald

Ich laufe zu Fuß durch das abendliche Tel Aviv zur Tachana Merkazit. Die Stadtbewohner nennen ihre Central Bus Station White Elephant. Wie ein verirrter, gigantisch schmutzig grauer Elefant ragt sie schon von Weitem sichtbar über der Weißen Stadt auf und weist den Weg in das Viertel Neve Sha’anan. Hier wohnen die, die nicht vom Leben privilegiert sind.

Der White Elephant ist ein architektonisches Monster. Stockwerk um Stockwerk stapeln sich sinnlos aufeinander, und viel zu viele Busse fahren aus ihnen in alle Richtungen des Landes.

Die Menschen haben hier die Gesichter von Bahnhofsmenschen. Sie schauen müde, laufen in Hast und scheinen doch ohne Ziel, wie Getriebene auf ihren unergründlichen Wegen irgendwohin.

Es gibt unzählige Eingänge in den Bahnhof hinein und ebenso viele Ausgänge wieder heraus. An jeder Tür stehen Soldaten Spalier, damit ja keiner auf die Idee kommt, sich im Bauch des Elefanten in die Luft zu sprengen.

Dutzende Bewohner des Viertels starben bei Anschlägen.

Nachts werden die meisten Ausgänge verschlossen, und es kann passieren, dass man eine ganze Weile keinen Ausweg mehr findet.

Früher stellte ich mir vor, dass sich die Verlaufenen über die Jahre in schicksalhaften Gruppen zusammengefunden haben, die tagein, tagaus durch die Central Bus Station irren, weil sie den Weg nach draußen nicht mehr finden.

Israel, ein Land, das so klein ist, dass man seinen Namen auf dem Globus ins Meer schreiben muss, hat die zweitgrößte Central Bus Station der Welt.

»Es gibt verrückte Leute hier«, sagen die Tel Aviver.

Und manche der Verrückten werden eben Architekten.

Der Weiße Elefant hat in seinem Inneren alles, was man zum Leben braucht. Es gibt zwielichtige Wettbüros und Synagogen, eine jiddische Bibliothek, Sexshops und schmutzige Cafés. Bäckereien, in deren Auslagen Bagel und Sandwiches liegen, an denen stündlich hunderte Menschen vorbeirennen, und billige Modeläden, in denen man Strumpfhosen, Schmuck und schlecht riechende Parfums kaufen kann.

Prostituierte und Bettler kommen hierher und gehen ihrem Gewerbe nach, Drogenabhängige lehnen bewegungslos an den Wänden oder starren mit leerem Blick die Vorbeieilenden an.

Im unterirdischen Stockwerk sind alle Läden bankrottgegangen. Inzwischen ist dort eine Fledermauskolonie ansässig, die sich die Räumlichkeiten mit Ratten und wer weiß wem sonst teilt. Der Verfall nimmt unabänderlich seinen Lauf.

Im sauerstoffarmen Erdgeschoss gibt es eine Zoohandlung. Dort sitzen Sittiche in kleinen bunten Käfigen unter Neonröhren und zwitschern sich die Seele aus dem Leib. Womöglich haben sie nie zuvor in ihrem kleinen Leben richtiges Tageslicht gesehen.

Mein Weg zum Bus Nummer sechzehn, welcher in den Tel Aviver Vorort Givatayim fährt, führt mich in die siebte Etage. Sie bildet zugleich das Dach des riesigen Gebäudes. Ich muss jedes Mal nach dem Bus suchen, auch wenn es inzwischen nur noch selten vorkommt, dass ich mich in den verschachtelten Gängen des Busbahnhofs verlaufe.

Als ich aus dem Gebäude auf die offene Fläche des Daches trete, stolpere ich fast über die Beine eines verwahrlost aussehenden Mannes mit einer leeren Bierflasche in der Hand. Seine Hände sind bläulich rot verfärbt und stark angeschwollen, er scheint in seinem Leben schon viel Alkohol getrunken zu haben.

»Alles in Ordnung?«, frage ich zögernd.

Er schaut nicht zu mir auf.

»Klar, habe aber keine Zeit zum Quatschen. Hast du was zu essen?«, brummt er und öffnet dabei kaum die Lippen. Die Augen hält er geschlossen.

Ich überlege kurz, dann erinnere ich mich an das gebratene Huhn in meiner Tüte.

»Ich habe ein Huhn, möchtest du etwas davon?«, frage ich, während ich mich abwartend über ihn beuge.

»Nein, danke«, erwidert er mit erschöpftem Entsetzen. »Ich esse vegan.«

»Ach so«, sage ich. »Verzeihung.«

In der Zwischenzeit habe ich in einiger Entfernung meinen Bus entdeckt und will hinübergehen.

»Hast du was zu rauchen? Was Grünes?«

Ich habe nichts und schüttle den Kopf. »Scheiße, Mann, kein Erbarmen die Leute …«, murmelt er.

Die Bierflasche gleitet aus seiner Hand und rollt in Richtung der stehenden Busse.

Es ist außer mir kaum ein Mensch zu sehen. Alle anderen haben sich wahrscheinlich verlaufen.

Ich gehe hinüber zur Nummer sechzehn. Der Busfahrer feixt. Er hat die Situation verfolgt und schaut mich tadelnd an.

»Dem ist nicht mehr zu helfen«, meint er und nimmt einen Zug von seiner Zigarette. »Das sieht man doch.«

Ich zucke die Schultern und will in den Bus steigen.

»Keine Tiere«, sagt er plötzlich laut hinter meinem Rücken.

»Was?«, frage ich irritiert und drehe mich zu ihm um. Er deutet auf meinen Rucksack.

»Das Huhn.«

»Ach so«, erwidere ich. »Das ist schon tot.«

Er winkt grinsend ab und drückt seine Zigarette am Bus aus.

»Willst du was von dem Huhn?«, kommt es mir in den Sinn, nachzufragen. Es ist ohnehin viel zu viel für mich allein. »Oder isst du auch vegan?«

Er nimmt mit der rechten Hand seine Kippa vom Kopf und deutet damit nach oben in den dunklen Abendhimmel, zu Gott, oder sonst wem.

»Nur koscher.« Entschuldigend lächelnd hebt er die Schultern.

Dann steigt er mit mir in den Bus, um sich hinter dem Lenkrad einzurichten.

Wie kommt er darauf, dass mein Huhn nicht koscher sein könnte?

Ich setze mich auf den Sitz direkt hinter ihm und bitte ihn, mich in Givatayim zu wecken. Dann lehne ich meinen Kopf an die Scheibe und döse sofort ein.

Eine Weile später höre ich seine Stimme.

»Du bist zu Hause, Lady«, singt er. »Home sweet home.«

Ich bedanke mich, wünsche shavua tov und stolpere schlaftrunken aus dem Bus. Er schaut mir hinterher und gackert wie ein Huhn. Dann fährt er ruckartig an.

Ich schleppe mich und das Huhn, das streng genommen tatsächlich nicht koscher ist, nach Hause.

Es fängt an zu nieseln, als ich die gebogene Rambam Street erreiche. Sie ist, wie viele Straßen in Israel, nach einem Gelehrten benannt. Außerdem ist sie unendlich lang. Möglicherweise, da ihrem Namensgeber Rabbi Mosche Ben Maimon ein langes Leben beschert war. Oder er der Menschheit unendliche Dienste erwiesen hat.

Vor meiner Wohnung kämpfe ich mich durch den verwilderten Garten, ducke mich unter den Zweigen des Zitronenbaums hindurch, an denen ich stets hängen bleibe, wenn ich mein Haar offen trage.

Wenn das Haar so lang ist, dass es im Zitronenbaum hängen bleibt, muss es ab, hätte mein Vater gesagt.

Heute Abend passiert nichts, mein Haar ist zu nass und fliegt nicht im Wind.

Ich schließe die dunkelbraune Eingangstür zu der Wohnung auf, die ich mit meinem Mitbewohner Aviv teile, und werde von einem säuerlichen Gestank empfangen. Wahrscheinlich ist die ganze Woche kein einziges Mal gelüftet worden. Es ist stockdunkel. Ich schiebe mich durch den Flur, der gleichzeitig auch als Esszimmer dient, zum Lichtschalter. Ich stelle meinen Rucksack auf den Boden und spüre erleichtert, wie das Gewicht von meinen Schultern weicht. Die Küche riecht noch unangenehmer als der Rest der Wohnung. Ich schalte das Licht ein und öffne das Fenster, soweit das bei den hölzernen verzogenen Fensterläden möglich ist. Neben der Spüle stapelt sich schmutziges Geschirr, wahrscheinlich weil sich in der Spüle eine zerbrochene Glasschale mit verdorbenen Essensresten befindet. Auf der Anrichte steht ein undefinierbares Plastikgefäß mit verschimmeltem Hummus. Daneben zwei leere Bierflaschen.

Auf dem Boden sehe ich die tote Kakerlake, die auch vor einer Woche, als ich die Wohnung verlassen habe, schon genau dort lag.

Seufzend schiebe ich sie mit der Spitze meines Schuhs in Richtung der Plastiktüte, die uns als Mülleimer dient. Sie hängt an der Türklinke einer Tür, von der ich auch nach einigen Monaten in dieser Wohnung nicht weiß, was sich dahinter befindet, da sie klemmt und sich nicht mehr öffnen lässt.

Ich sammle mich einen Augenblick, dann hole ich tief Luft.

»Aviv!«, brülle ich in die Stille hinein.

Einen Moment lang ist es ruhig.