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Eine ehemalige Zuckerfabrik in Andalusien – heute Sitz der Firma CleanContent. Auch Alejandro arbeitet hier und säubert das Netz, löscht täglich acht Stunden lang Pornographie, Hass und Gewalt. Ein brutaler Job. Aber als eine Kollegin sich umbringt, ahnt Alejandro schnell, dass mehr hinter diesem Tod steckt. Dann tauchen auf seinem Bildschirm Bilder auf, die verschüttete Erinnerungen wecken und seine Mutter in Panik versetzen. Jemand will ihm Angst machen. Doch Alejandro lässt sich nicht einschüchtern. Bald steht er vor einem Grab aus der Franco-Zeit, und damit fängt die Suche erst an. Sie wird mit jeder neuen Wendung gefährlicher, denn Alejandros unsichtbare Gegner sind mächtig – und sie haben die Macht, in die Seelen der Menschen zu dringen.
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Wolfgang Kaes
Thriller
Was du denkst. Was du fühlst. Wer entscheidet das?
Frigiliana, ein idyllisches Dorf in Andalusien. Hier säubert Alejandro für die Firma CleanContent das Internet vom digitalen Giftmüll, von Pornographie, Hass und Gewalt. Als sich seine Kollegin Maria von einer Brücke stürzt, wird Alejandro klar, dass sein Job nicht nur brutal, sondern lebensgefährlich ist. Dann tauchen auf seinem Bildschirm Fotos auf, die verschüttete Erinnerungen wecken und seine Mutter in Panik versetzen. Jemand will ihm Angst machen. Doch Alejandro lässt sich nicht einschüchtern. Bald steht er vor einem Grab aus der Zeit der Franco-Diktatur, als die katholische Kirche noch allmächtig war, und damit beginnt die Suche nach der Wahrheit. Sie wird mit jedem Tag gefährlicher, denn Alejandros unsichtbarer Gegner hat die Macht, in die Seelen der Menschen zu dringen …
Wolfgang Kaes, 1958 in der Eifel geboren, finanzierte sein Studium der Politikwissenschaft und Kulturanthropologie als Waldarbeiter, Hilfsarbeiter im Straßenbau, Lastwagenfahrer, Taxifahrer und schließlich als Polizeireporter. Er schrieb Reportagen für den Stern, die Zeit und andere. 2012 kürte ihn das Medium Magazin zum «Reporter des Jahres», 2013 erhielt er den Henri-Nannen-Preis in der Kategorie «Investigative Recherche». Seit 2003 verarbeitet er seine journalistischen Recherchen auch zu Romanen. Kaes war viele Jahre Chefreporter des Bonner General-Anzeigers, bevor er 2020 entschied, sich künftig ganz dem Bücherschreiben zu widmen.
www.wolfgang-kaes.de
«Jeder Mensch soll alles mit jedem teilen können. Das ist unsere Mission.»
Mark Zuckerberg
«Der Glaube an eine größere Zukunft ist einer der mächtigsten Feinde gegenwärtiger Freiheit.»
Aldous Huxley
«Die Tragödie des modernen Menschen besteht nicht darin, dass er immer weniger über den Sinn seines Lebens weiß, sondern dass ihn das immer weniger stört.»
Václav Havel
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Lösch… Ignorieren!
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignori… Löschen!
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Mann im Kittel, hinten offen wie bei Krankenhauspatient. Er ist barfuß, kniet, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, gefesselt. Angst, weit aufgerissene Augen, große Angst. Schäferhund starrt den Mann an, lässt ihn nicht aus den Augen, keine Sekunde aus den Augen, fletscht die Zähne, dreißig Zentimeter zwischen den Reißzähnen und dem Hals des Mannes. Aber da ist ein Halsband, eine Leine, ein Mann in Uniform hinter dem Hund, Springerstiefel, ein Soldat steht hinter dem Schäferhund, hält die Leine fest, hat alles im Griff …
Ignorieren!
Solange der Hund nicht zuschnappt: ignorieren!
Ignorieren.
Ignorieren.
Das ist Vorschrift! Solange nichts passiert …
Ignorieren.
Ignorieren.
Zwei Sekunden!
Löschen
Ignorieren.
Zwei Sekunden Zeit!
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignorieren.
Zwei Sekunden für jede Entscheidung!
Ignorieren.
Löschen.
Alejandro hält seinen Schnitt.
Ignorieren.
Ignorieren.
Es läuft gut heute. Es läuft fantastisch.
Ignorieren.
Löschen.
Mädchen Asiatin Zöpfe Schulranzen Schulmädchen sitzt auf Mauer lacht verlegen Zahnspange weiße Kniestrümpfe karierter Faltenrock kurzer Rock sehr kurzer Rock …
Löschen!
Ignorieren.
Ignorieren.
Es wird wiederkommen. Alles kommt wieder.
Ignorieren.
Wieder und immer wieder.
Ignorieren.
Kind Baby nackt Junge sitzt auf Schoß …
Ignorieren!
Die Vorschrift lautet: unbekleidete Kinder – sichtbare primäre Geschlechtsmerkmale – löschen! Aber in diesem Fall: ignorieren! Leonardo, Madonna mit der Nelke, spätes 15. Jahrhundert. Die Mutter Gottes mit dem Jesuskind. Kunst. Alejandro kennt sich aus mit europäischer Kunstgeschichte. Und das wissen die da oben. Deshalb haben die ihn eingestellt, jede Wette.
Ignorieren.
Ignorieren.
Das ist die Unternehmensphilosophie, die sie ihm eingebläut haben: So viel wie nötig löschen, so viel wie möglich ignorieren.
Ignorieren.
Kind – Baby – Junge streckt seinen kleinen nackten Hintern der erwachsenen Hand entgegen …
Lösch… Ignorieren!
Leonardo, Madonna mit der Spindel, 1500/1501. Die Hand der Mutter. Die Mutter Gottes mit dem Jesuskind.
Ignorieren.
Ignorieren.
Auch das nächste Bild kennt Alejandro:
Der kleine nackte Junge schlingt seine speckigen Ärmchen um den schneeweißen Hals der Mutter, sie küssen sich, ihre Lippen auf seinen Lippen, nicht wie Frau und Baby, nicht wie Mutter und Kind, eher wie … Mann und Frau …
Quentin Massys, Madonna mit den Kirschen. Antwerpener Schule, frühes 16. Jahrhundert. Quentin Massys war mit Albrecht Dürer und Hans Holbein dem Jüngeren befreundet.
Na und? Macht ihn die Freundschaft zu Dürer und Holbein schon zum großen Künstler?
Billige Effekthascherei, nichts weiter. Keine Tiefe. Alejandro hält Massys für maßlos überschätzt.
Acht Sekunden!
Viel zu lange!
Löschen!
Sexualisierte Kunst. Pornografischer Missbrauch von Kindern. Basta!
Löschen!
Ignorieren.
Ignorieren.
Acht Sekunden! Das gibt Ärger!
Ignorieren.
Ignorieren.
Sie ziehen dir verschwendete Zeit vom Lohn ab. Motivierungshilfe nennen sie das.
Ignorieren.
Ignori… Löschen!
Ignorieren.
Jede Pinkelpause ziehen sie vom Arbeitszeitkonto und am Ende des Monats vom Lohn ab. Der Computer registriert das Verlassen der Kabine und misst die Zeit bis zur Wiederkehr. Manche bringen eine leere Plastikflasche mit und pinkeln da rein, um keine Zeit und kein Geld zu verlieren. Aber so weit ist Alejandro noch nicht.
Ignorieren.
Ignorieren.
Madonna. Ohne Kind. Foto. Schwarzweiß. Madonna auf der Straße. Zigarette im Mundwinkel, die Handtasche baumelt am linken Arm, sie trägt High Heels. Sonst trägt sie nichts, blondierte Haare, aber schwarz behaarte Vulva, cooler Blick, ausgestreckter rechter Arm, der Daumen zeigt nach oben: Halt gefälligst an, lass mich in dein Auto steigen und nimm mich mit …
Vier Sekunden!
Wieder zu lange!
Löschen!
Madonna, die Pop-Ikone.
Sexualisierte Kunst.
Konzentriere dich, Alejandro!
Ignorieren.
Ignorieren.
Die Lampe über dem Bildschirm blinkt auf. Schichtende. Der Bildschirm wird schwarz. Mitternacht.
Alejandro setzt die Kopfhörer ab und legt sie neben die Tastatur, reibt sich die Augen, streckt sich auf dem Bürostuhl aus, so gut es eben geht, streckt Arme und Beine von sich, soweit die enge Kabine dies zulässt, und gähnt ungeniert. Hinter ihm hüstelt jemand. Die Ablösung. Junger Typ. Kleiner als Alejandro. Aber das sind sie alle. Jünger als Alejandro. Auch das sind sie alle. Aber den hier hat Alejandro noch nie gesehen. Muss ganz neu sein. Der Neue wirkt ziemlich nervös. Hat keine Zeit zu verlieren. Kein Geld zu verlieren. Also greift Alejandro nach seinem Rucksack, stopft eilig die halbleere Wasserflasche und die Tupperdose und den Löffel hinein und beeilt sich, den Verschlag zu räumen.
«Hallo, wie geht’s? Ich bin Alejandro.»
Der Kopf des Neuen reicht Alejandro kaum bis zum Brustkorb. Klein und schmächtig. Der Kleine nickt nur schüchtern, vermeidet den Augenkontakt, quetscht sich an ihm vorbei, setzt sich und loggt sich ein.
Alejandro lässt den Blick durch den Saal schweifen. In allen 120 Schuhschachteln ist jetzt Schichtwechsel. Alejandro setzt ein nichtssagendes Gesicht auf. Macht er immer so, ganz automatisch, wegen der Kameras hoch oben in allen vier Ecken. Die Kameras verändern sein Verhalten, manchmal ärgert ihn das. War ein harmloser Tag heute. Der Algorithmus hat es gut mit ihm gemeint. Alejandro, der Glückspilz. Keine Videos. Nur Fotos. Alejandro wirft einen letzten Blick in seine Kabine, schaut über die Schulter des Neuen hinweg auf den Bildschirm. Nur so aus Neugierde, was der Algorithmus dem schweigsamen Neuen zu bieten hat.
Video. Wüste. Drei Männer knien im Sand. Kapuzen über den Köpfen. Hinter ihnen stehen breitbeinig drei vermummte Gestalten. Sie halten Äxte in den Händen …
Alejandro sieht weg. Videos müssen grundsätzlich bis zum Ende angeschaut werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden darf. Schnelldurchlauf ja, aber immer bis zum Ende. Alejandro geht. Er muss sich heute nichts mehr bis zum Ende anschauen.
Am Ende des Saals hockt der Aufseher in seiner gläsernen Kabine. Alejandro nickt. Der Aufseher nickt zurück und hebt die Hand zum Gruß. Dann gähnt er ungeniert. Alles gut. Kein Ärger mehr heute, keine Vorladung in den ersten Stock. Alejandro schiebt die Ausweiskarte, die er vorschriftsgemäß an einem Band um den Hals trägt, in den Schlitz neben dem Drehkreuz. Jenseits der Schleuse springt in dem Schrank neben der Pförtnerloge automatisch die mit seiner Personalnummer etikettierte Schublade auf.
Alejandro nimmt sein Handy aus der Schublade. Handys dürfen nicht mit zum Arbeitsplatz genommen werden.
Draußen steht Maria und raucht.
Alejandro stellt sich neben sie und steckt sich ebenfalls eine Zigarette an. Sie sehen sich nicht an. Kontakte unter Mitarbeitern sind nicht erwünscht. Die Kameras sehen alles. Auch hier draußen. Sie rauchen schweigend und sehen zu, wie die Männer und Frauen nach draußen strömen, während durch die zweite Tür Menschen nach drinnen strömen. Alle jung. Alle ernst. Alle still.
Als sie aufgeraucht haben und alle anderen weg sind, sieht Alejandro Maria an, und Maria nickt. Also gehen sie zu ihren Autos auf dem Parkplatz, Maria zu ihrem verbeulten, vom Rost zerfressenen Nissan Micra, Alejandro zu seinem elf Jahre alten Seat Leon, den er vor vier Jahren günstig von seinem Schwager aus Barcelona übernommen hat. Maria fährt vom Parkplatz, die Schranke öffnet sich, der Nissan biegt nach rechts ab und verschwindet in der Nacht.
Alejandro wartet noch ein paar Minuten. Dann verlässt auch er das Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik. Als er die Schranke passiert, winkt Alejandro dem uniformierten Security-Mann zu. Aber der reagiert nicht. Alejandro biegt ebenfalls nach rechts ab.
Unterwegs stellt sich Alejandro vor, es wäre helllichter Tag. Die Mittagssonne scheint grell vom Himmel, Madonna steht auf der Straße von Maro nach Nerja, mitten auf der alten N-340, Handtasche, High Heels, Zigarette im Mundwinkel, und wartet auf ihn, dass er sie gefälligst mitnimmt in die Stadt.
Maria ist introvertiert, klein und pummelig und lässt die Schultern hängen. Sie ist nicht sein Typ. Und er ist nicht ihr Typ. Aber darum geht es jetzt nicht.
Playa el playazo am westlichen Ende der Stadt. Der hässlichste Strand weit und breit. Im Dunkeln spielt das keine Rolle. Der einsamste Strand weit und breit. Hierhin verirrt sich kein Tourist. Und um diese Uhrzeit auch kein Einheimischer. Auf dem verlassenen Platz vor der Reparaturwerkstatt für Außenborder und Bootselektrik parkt er den Seat neben Marias Nissan und läuft über den staubigen Trampelpfad zwischen den Avocado-Plantagen hinunter zum Strand.
Sie ist schon nackt, aber anders als Madonna, sie hält die Arme um ihren Körper geschlungen und zittert. Nicht vor Kälte. Es ist überhaupt nicht kalt und fast windstill. Er reißt sich die Kleider vom Leib, lässt sie achtlos fallen, sie sieht ihm dabei zu. Er reicht ihr die Hand, sie greift danach, ihr Händedruck ist warm und fest, zusammen rennen sie über den feuchten Sand ins Meer. Es ist ihr immer gleiches mitternächtliches Ritual, wenn sie beide die Abendschicht haben. Seit zwei Monaten geht das schon so. Fast jede Nacht. Sobald das Salzwasser sie umspült, schlingt sie ihre Arme um seinen Hals und ihre Beine um seine Hüften, sie drückt ihre Wange an seine Wange und ihre großen, weichen Brüste gegen seine dürren Rippen, so tanzen sie in den Wellen, unschuldig wie Kinder, sie tanzen ihren mitternächtlichen Tanz, spülen sich all den Dreck von der Seele, sie reden nie, sie wollen nur ein bisschen vergessen.
Außer ihrem Namen weiß Alejandro nichts über Maria.
Nicht, wo sie herkommt, nicht, wo sie hinwill.
Nicht einmal, wo sie wohnt.
Von: Human Resources Management, Nerja/España
An: Human Resources Management, Dubai/VAE
Beurteilungsobjekt: CA Alejandro Vidal Romero
CA-Status: Ende 1. Halbjahr, Anforderungslevel A1
Bio/Charakteristik:
Mit 34 Jahren der mit Abstand älteste Content Analyst am Standort Nerja. Politisch unauffällig, überdurchschnittlich intelligent, überdurchschnittlich gebildet. Vorbeschäftigung: arbeitslos. Betätigt sich nebenher als Maler und Bildhauer, talentiert, aber erfolglos, versieht gelegentlich Restaurationsarbeiten in den Pfarrkirchen der Axarquía.
Katholisch, ledig, kinderlos, aktuell keine feste Beziehung bekannt. Vermutlich heterosexuell. Wohnt bei seiner Mutter in seinem Geburtsort Frigiliana, einem Dorf oberhalb von Nerja. Als Schüler war er Ministrant in der dortigen Pfarrkirche San Antonio de Padua.
Abschluss in Germanistik, spanischer Geschichte und europäischer Kunstgeschichte. Prädikatsexamen. Das Studium an der Universidad Complutense de Madrid wurde mit Hilfe eines Stipendiums des Erzbistums Granada finanziert.
Abweichungen von der Norm:
Plus: CA Alejandro Vidal Romero verfügt über ein außergewöhnlich gutes, geradezu fotografisches Gedächtnis.
Minus: CA Alejandro Vidal Romero ist nach unserer Kenntnis privat in keinem sozialen Netzwerk registriert, geschweige denn aktiv. Beim Bewerbungsgespräch darauf angesprochen, teilte er lediglich mit, er leide nicht an Vereinsamung, und die Lektüre von Fachliteratur sowie der Tageszeitung El País genüge ihm als Informationsquelle. Diese eher ungewöhnliche Normabweichung muss zwar nicht zwangsläufig zum Schaden des Unternehmens sein, schränkt aber die Möglichkeiten der Kontrolle seiner persönlichen Kontakte und seines Privatlebens deutlich ein.
Detailbeurteilung:
Analyse-Kompetenz: *****
Schnelligkeit: ***
Daraus resultierende Effizienz: ****
Zuverlässigkeit/Pünktlichkeit: *****
Loyalität/Verschwiegenheit: noch keine Bewertung möglich
Leistungsbereitschaft: ****
Richtlinien-Kompetenz: *****
Finanzielle Abhängigkeit vom Unternehmen: *****
Empfehlung:
Weiterbeschäftigung, neuer Vertrag über sechs Monate.
Erste Tests für neue Aufgaben im Anforderungslevel A2.
«Hallo, wie geht’s? Ich bin Alejandro.»
Gabriel senkt den Blick und quetscht sich wortlos an dem Langen vorbei. Wie er es hasst, dass fast alle Männer größer sind als er. Und attraktiver. Gabriel setzt die Kopfhörer auf und loggt sich ein. Er spürt, dass der Lange immer noch hinter ihm steht und ihn beobachtet. Gabriel spürt solche Sachen. Gabriel hat gute Instinkte. Wie ein Tier.
Video. Wüste. Drei Männer knien im Sand. Kapuzen über den Köpfen. Hinter ihnen stehen breitbeinig drei vermummte Gestalten. Sie halten Äxte in den Händen …
Gabriel weiß: Videos müssen bis zum Ende angeschaut werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden darf.
Gabriel spürt, dass der Lange sich abwendet und geht. Na also. Wieder einer, der der Wahrheit nicht ins Auge sehen will. Schönen Feierabend.
Bei Videos von IS-Hinrichtungen benutzt Gabriel nie den erlaubten Schnelldurchlauf. Obwohl seine Entscheidung längst gefallen ist:
Ignorieren!
Sollen ruhig alle sehen, zu was diese Mullahs fähig sind. Vielleicht begreifen sie dann endlich!
Ignorieren!
Von: Human Resources Management, Nerja/España
An: Human Resources Management, Dubai/VAE
Beurteilungsobjekt:CA Gabriel Calvo Montero
CA-Status: Beginn 1. Halbjahr, Anforderungslevel A1
Bio/Charakteristik:
Mit 24 Jahren liegt er im Altersdurchschnitt; intelligent, aber eher durchschnittliche Allgemeinbildung. Vorbeschäftigung: arbeitslos. Studierte Elektrotechnik und Maschinenbau an der Universität Salamanca, brach aber nach sechs Semestern ohne Examen ab. Katholisch getauft, ledig, kinderlos, aktuell keine feste Beziehung bekannt. Sexuelle Präferenz: unbekannt. Klein, schmächtig, Stotterer. Wuchs in Madrid bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, verbrachte aber viel Zeit bei seinen streng katholischen Großeltern in einem Dorf außerhalb Madrids.
Abweichungen von der Norm:
Plus:CA Gabriel Calvo Montero zeigt außergewöhnlichen Ehrgeiz. Er äußerte während des Bewerbungsgesprächs, er wolle unbedingt noch etwas erreichen in seinem Leben, etwas Bleibendes schaffen. Er scheint ferner keinerlei Probleme damit zu haben, sich Anordnungen, Anforderungen und Unternehmenszielen bedingungslos unterzuordnen.
Minus:CA Gabriel Calvo Montero wirkte während des gesamten Bewerbungsgesprächs auffällig schüchtern, geradezu verschlossen. Auf Fragen antwortete er ehrlich und aufrichtig, aber einsilbig. Dies hängt möglicherweise mit seinem Stottern zusammen.
Detailbeurteilung:
Analyse-Kompetenz: ***
Schnelligkeit: *****
Daraus resultierende Effizienz: ****
Zuverlässigkeit/Pünktlichkeit: *****
Loyalität/Verschwiegenheit: noch keine Bewertung möglich
Leistungsbereitschaft: *****
Richtlinien-Kompetenz: ***
Finanzielle Abhängigkeit vom Unternehmen: *****
Empfehlung:
Weiterbeschäftigung und erneute Bewertung vor Vertragsende.
Als Ana Romero Perez am Sonntag vom Kirchgang zurückkehrt, schläft Alejandro noch. Soll er. Ist ein guter Junge. Hat ihr noch nie Schande bereitet. Und nur selten Kummer. Hat wieder lange gearbeitet, bis in die Nacht.
Sie nimmt ein Glas aus dem Küchenschrank, hält es unter den Wasserhahn und lässt es volllaufen. Dann schluckt sie ihre Tabletten, eine für den Blutdruck, eine für die Gelenke, eine für die Verdauung, eine für die Stimmung, und leert das Glas in einem Zug. Immer wenn sie zur Kommunion in die Kirche geht, isst und trinkt sie zuvor nichts. Nicht mal einen Schluck Wasser, um ihre tägliche Morgenration an Tabletten einzunehmen. Erst wenn sie wieder zu Hause ist. So ziemt sich das, so war es immer schon, so soll es immer sein.
Ana setzt Kaffee auf.
Als sie die obere Tür des Hängeschranks über der Spüle öffnen will, wird sie plötzlich von hinten umklammert und hochgehoben, als sei sie leicht wie eine Feder.
«Alejandro! Bist du verrückt, dich immer so anzuschleichen? Du erschreckst mich noch zu Tode. Außerdem hebst du dir eines Tages einen Bruch.»
Alejandro lacht und setzt seine Mutter behutsam ab. Sie dreht sich trotz ihrer Leibesfülle in erstaunlicher Geschwindigkeit zu ihm um, täuscht eine Ohrfeige an, tätschelt aber stattdessen seine Wange.
«Du bist noch nicht rasiert.»
«Ich weiß. Bin ja gerade erst wach geworden.»
«Das ist doch keine Entschuldigung. Es ist Sonntag. Der Tag des Herrn. Trinkst du einen Kaffee mit mir?»
«Klar.»
Alejandro trägt das Tablett mit den Kaffeetassen, der Zuckerdose und dem Kännchen mit der heißen Milch vors Haus und scheucht die Katze von der Bank. Der Zucker ist selbstverständlich aus Zuckerrohr hergestellt. Das einstige Gold der Axarquía. Die Zuckerrohrpflanzen brachten die Mauren vor 1300 Jahren mit nach Andalusien. Seine Mutter würde jetzt sagen: Das einzig Gute, was wir den moros zu verdanken haben. Anderer Zucker kommt Ana Romero Perez nicht ins Haus.
Ana entfährt ein Ächzen, als sie sich neben ihrem Sohn niederlässt. Die alte Bank knarrt empört.
«Wird heiß heute.»
Alejandro nickt.
«Viel zu heiß für Anfang Juni.»
«Ja.»
«In den Nachrichten haben sie gesagt, es soll bis zu 39 Grad werden. Und noch heißer.»
«Aha.»
Alejandro nimmt einen Schluck aus seiner Tasse und blickt in den makellos blauen Himmel.
«Hast wieder lange arbeiten müssen, mein Junge.»
«Ja. Bis Mitternacht. Wie immer.»
«Aber du bist erst um zwei nach Hause gekommen!»
«Habe ich dich etwa geweckt? Entschuldige.»
«Nein. Du warst wie immer rücksichtsvoll. Guter Junge. Aber ich habe so einen leichten Schlaf. Die Schlaftabletten, die mir der Arzt verschrieben hat, nützen gar nichts. Außerdem kann ich erst richtig einschlafen, wenn du zu Hause bist. Wo warst du denn noch?»
«Bin ein bisschen rumgefahren.»
«Rumgefahren?»
«Ja. Und ich war kurz schwimmen.»
«Ich mag es überhaupt nicht, wenn du allein im Dunkeln schwimmen gehst. Hörst du? Eines Tages …»
«Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich bin ein guter Schwimmer. Ich kann nach der Arbeit nicht sofort schlafen gehen.»
«Warum nicht?»
«Weil ich zu aufgekratzt bin.»
«Hast du Sorgen?»
«Nein. Alles in Ordnung, Mama.»
«Warum hast du eigentlich immer Spätschicht?»
«Keine Ahnung. Ist nun mal so. Besser als Nachtschicht. Andere haben immer nur Nachtschicht.»
«Werden sie dich behalten?»
«In der Firma?»
«Ja, wo sonst?»
«Weiß noch nicht. Mein Vertrag läuft in drei Wochen aus. Erst zwei Wochen vor Vertragsende kriegt man die Nachricht. In einer Woche weiß ich Bescheid. Aber ich mache mir keine Sorgen. Wird schon klappen.»
«Das ist gut. Ich bin so froh, dass du endlich Arbeit gefunden hast. Und eine Arbeit, bei der du dir nicht die Gesundheit ruinierst wie dein Großvater. Ist schon merkwürdig, dass mein Sohn jetzt in derselben Zuckerfabrik arbeitet wie damals mein Vater. Vielleicht hat sich der Herrgott ja was dabei gedacht.»
«Bestimmt hat er sich was dabei gedacht. Aber das ist nicht mehr die alte Zuckerfabrik. Da steht jetzt ein Neubau.»
«Ja, weiß ich doch. Ich werde nie vergessen, wie die Zuckerfabrik geschlossen wurde. Dein Großvater hat das nie verwunden. Seit seinem zwölften Lebensjahr hatte er dort gearbeitet. Sich zum Vorarbeiter hochgearbeitet. Er war ein fleißiger Mann. Ein Vorbild für alle anderen. Jeden Tag ist er die sieben Kilometer hinunter nach Nerja zu Fuß gegangen. Und abends wieder zu Fuß zurück. Den langen, steilen Weg den Berg hoch. Und dann war er mit einem Mal arbeitslos. Von einem Tag auf den anderen. Ausgerechnet dein fleißiger Großvater! Hat dann nie wieder Arbeit gefunden, der Ärmste. Dem Herrgott sei es gedankt, dass deine Großmutter das nicht mehr miterleben musste.»
Alejandro hört nicht mehr zu. Er kennt dieses Kapitel der Familiengeschichte der Romeros in- und auswendig. Seine Mutter erzählt es ihm mindestens einmal pro Woche. Dieses und ein paar andere Kapitel. Er könnte die Geschichte der Romeros im Schlaf herunterbeten. Wort für Wort.
Ignorieren.
Löschen geht nicht.
Ignorieren.
Alejandros Blick schweift über die Hügel und Gärten und weiß gekalkten steinernen Würfel und roten Ziegeldächer hinab ins Tal und verliert sich in der Ferne. Am Horizont ist ein schmaler blassblauer Streifen Mittelmeer zu erkennen.
Die Geschichte der Romeros geht in der Kurzfassung so: Wäre sein prächtiger Großvater nicht schon wenige Jahre nach Schließung der Fabrik vor Gram gestorben, dann hätte er sicher zu verhindern gewusst, dass die jüngste seiner drei Töchter, seine Lieblingstochter Ana, ausgerechnet während der semana santa auf diesen Hallodri hereinfiel, diesen Vidal, diesen arbeitsscheuen Lebemann und Spieler und Schürzenjäger aus Motril, der sie im Nu schwängerte. Rasch wurde geheiratet, um die Schande zu verbergen, Felipa kam also ehelich zur Welt, und als Ana wieder schwanger wurde, mit Alejandro, da machte sich der verantwortungslose Bursche über Nacht aus dem Staub, heuerte in Málaga auf einem Frachtschiff nach Venezuela an und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
«Hörst du mir überhaupt zu?»
«Natürlich höre ich dir zu.»
«Also?»
«Also was?»
«Ich habe dich gefragt, was genau deine Arbeit in der Zuckerfabrik ist. Was du da genau machst.»
«Das ist nicht mehr die Zuckerfabrik.»
«Das weiß ich! Also?»
«Schwer zu erklären.»
«Ich bin zwar nicht so gebildet wie du, aber auch nicht so dumm, wie du denkst. Also könntest du es wenigstens versuchen.»
«Okay. Es geht ums Internet.»
«Aha. Und weiter?»
«Ich bin als Content Analyst eingestellt.»
«Aha. Ist das Englisch?»
«Ja. Abgekürzt: CA. Ist vielleicht leichter zu merken.»
«Also? Was machst du da … als CA?»
«Schau mal, das ist so ähnlich wie früher bei deiner Arbeit als Zimmermädchen im Hotel unten in Nerja. Du hast den Dreck anderer Leute weggemacht. Oder so ähnlich wie hier in deinem Garten, wenn du das Unkraut aus der Erde reißt. Genau das mache ich auch. Ich räume auf, ich mache den Dreck weg, ich reiße das Unkraut aus und vernichte es. Allerdings im Internet.»
Sie schaut ihren Sohn durchdringend an.
«Dieser Dreck im Internet … der sieht wahrscheinlich anders aus als mein Dreck damals im Hotel …»
«Ja.»
Zum ersten Mal seit einem halben Jahr fragt sie ihn nach seiner Arbeit. Was er monatlich verdient, hat sie ihn damals gefragt, als er den Job bekam. Aber nicht, was er da mache.
«Und wie sieht der aus?»
«Der Dreck im Internet?»
«Ja. Du meine Güte, muss ich dir jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!»
«Das darf ich dir nicht sagen. Ich darf überhaupt nichts über meine Arbeit erzählen. Das musste ich unterschreiben. Sonst fliege ich raus. Und die können mich verklagen.»
«Aber deiner Mutter wirst du doch wohl …»
«Nein. Nicht mal meiner Mutter.»
Sie zieht diesen Schmollmund, der ihm zeigen soll: Ich bin zutiefst beleidigt. Ich bin bitter enttäuscht von meinem Sohn.
Ignorieren.
Löschen geht nicht.
Ignorieren.
Alejandro ahnt schon, was als Nächstes kommt: Hättest du doch etwas anderes studiert, Medizin oder …
«Hättest du besser mal was anderes studiert, Medizin oder Pharmazie oder Theologie …»
«Mama, das hatten wir schon.»
«Ja. Und ich kann es gar nicht oft genug wiederholen. Immerhin hattest du ein Stipendium vom Erzbischof persönlich!»
«Vom Erzbistum Granada, ja. Ich bezweifle allerdings, dass der Erzbischof persönlich …»
«Vom Erzbischof persönlich! Und jetzt lenk nicht ab!»
Alejandro fühlt sich unendlich müde und erschöpft, obwohl er gerade erst aus dem Bett gestiegen ist.
«Mama, ich will nicht schon wieder darüber reden!»
«Wie du meinst. Was verdienst du eigentlich?»
«900 Euro, das weißt du doch genau. Aber wenn man gut war, also gut in der Zeit lag, und wenn man außerdem die richtigen Entscheidungen getroffen hat, dann gibt’s noch einen Bonus. Ist ein ziemlich kompliziertes Berechnungssystem …»
Alejandro erwähnt nicht, dass er noch nie einen Bonus bekommen hat. Und dass sie ihm in den vergangenen sechs Monaten schon zweimal den Lohn gekürzt haben.
«Immerhin verdienst du mehr als ich damals. Aber viel weniger als ein Arzt oder ein Apotheker. Und wenn du schon nicht Priester geworden bist, womit du mich sehr glücklich gemacht hättest, könntest du mir wenigstens allmählich eine Schwiegertochter präsentieren und ein Enkelkind schenken.»
«Du hast doch ein Enkelkind. Von Felipa …»
«Du weißt doch, wie selten sie zu Besuch kommen kann. Von Katalonien sind es 900 Kilometer. Eine halbe Weltreise.»
Der Flug von Barcelona nach Málaga dauert nicht länger als anderthalb Stunden. Und seine ältere Schwester und ihr Mann verdienen ordentlich. Aber Felipa hat einfach keine Lust, ihre ewig an ihr herumnörgelnde Mutter öfter als nötig zu sehen. Alejandro weiß, dass seine Mutter das weiß. Er vermutet, dass sich Felipa damals, gleich nach der Schule, die entfernteste Großstadt in ganz Spanien für ihr weiteres Leben ausgesucht hat.
Um weiteren Vorwürfen aus dem Weg zu gehen, wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr.
«Ach du meine Güte. Ich hab ja Pater Daniel völlig vergessen.»
«Wieso? Was ist denn mit Pater Daniel?»
«Wir sind verabredet.»
«Heute? Am Sonntag?»
«Ja. Er hat mich gebeten, nach San Antonio zu schauen. Der Heiligenschein müsste angeschweißt werden.»
«Am heiligen Sonntag? Was für ein Heiligenschein?»
«Ich schaue mir das nur mal an. Geschweißt wird dann ein anderes Mal.»
«Aber unser San Antonio hat doch gar keinen Heiligenschein! Das wüsste ich! Er hat nur das Jesuskind auf dem Arm.»
«Früher aber doch. Der ist wohl vor deiner Zeit mal abgebrochen. Die Figur ist ja mindestens 200 Jahre alt. Pater Daniel hat den Heiligenschein neulich zufällig beim Aufräumen in der Sakristei entdeckt. Ziemlich verrostet ist er. Ich muss ihn wohl erst mal abschleifen und dann neue Goldbronze auftragen.»
Alejandro erhebt sich von der Bank und sieht erneut demonstrativ auf die Uhr.
«Moment noch! Du kennst dich doch aus. Du hast das doch studiert. Kennst du irgendeinen San Antonio, der einen Heiligenschein trägt? Ich nicht. Eine schlichte Mönchskutte, einen Haarkranz, wegen der Tonsur, aber doch keinen Heiligenschein!»
«Ich auch nicht. Aber unser Antonio hier in Frigiliana ist eben was ganz Besonderes. Pater Daniel hat sogar das angeschraubte Stück Metall am Hinterkopf der Figur entdeckt, wo der Heiligenschein mal befestigt war und dann abgebrochen ist. Außerdem …»
«Wie soll denn ein Heiligenschein einfach so abbrechen?»
«Überleg doch mal, wie oft im Jahr der Kerl durch die enge Kirchentür rein- und rausgetragen wird.»
«Sprich nicht so abfällig von einem Heiligen!»
Alejandro schaut seine Mutter an und sieht in ihren Augen, dass sie ihm kein Wort glaubt. Aber das verwundert ihn nicht weiter. Weil er davon überzeugt ist, dass beim Widerstreit von Glauben und Wissen der Glaube stets den Sieg davonträgt. Schon seit Menschengedenken. Bis heute und in alle Ewigkeit. Er wird Pater Daniel raten, den verrosteten Heiligenschein um des lieben Friedens willen vielleicht besser im hohen Bogen auf den Müll zu werfen.
«Jetzt muss ich aber wirklich los!»
Alejandro geht. Nicht mal gekämmt und rasiert hat er sich, bevor er Pater Daniel aufsucht. Was macht das denn für einen Eindruck? Ana Romero Perez sieht ihrem Sohn lange nach. Bis die Calle Real bei Federicos Bar eine scharfe Biegung macht und Alejandro aus ihrem Blickfeld verschwindet. Federico, dieser Nichtsnutz. Alejandros bester Freund aus Kindertagen. Seit der gemeinsamen Zeit in der Basketballmannschaft. Als die Bar noch von Federicos Vater betrieben wurde, war Alejandros Vater, dieser Hallodri, dort Dauergast. Aber Alejandro ist ein guter Junge.
Nicht so undankbar wie Felipa. Alejandro würde seine Mutter nie im Stich lassen.
Die Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel. Ana erhebt sich ächzend von der Bank, geht zurück ins Haus und bis zum Ende des langen, schmalen Flurs, betritt ihr kühles, ewig abgedunkeltes Schlafzimmer, das seit 34 Jahren kein Mann mehr betreten hat, kniet vor dem gekreuzigten Christus nieder, betet zu ihm und fleht ihn an, er möge dafür Sorge tragen, dass ihr Sohn sie niemals nach der Wahrheit fragen wird.
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignori… Löschen!
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Lösch… Ignorieren!
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignorieren.
Foto. Schwarzweiß. Kind. Mädchen. Abgemagert bis auf die Knochen. Nackt. Läuft auf die Kamera zu. Schreit. Vor Angst. Vor Schmerz. Sie hat noch keine Brüste. Aber die noch unbehaarte Vulva zeichnet sich deutlich ab.
Ignorieren!
Die Vorschrift lautet: unbekleidete Kinder – sichtbare primäre Geschlechtsmerkmale – löschen!
Aber in diesem Fall: Ignorieren!
Alejandro kennt das Foto. Vietnam, 8. Juni 1972. Napalm-Angriff. Die neunjährige Phan Thi Kim Phúc rennt aus ihrem Dorf, über die Landstraße, direkt auf den vietnamesischen Pressefotografen Nick Út zu. Der drückt auf den Auslöser seiner Kamera. Eine hundertfünfundzwanzigstel Sekunde später rettet er das Leben des Mädchens, indem er sie behutsam auf den Arm nimmt und ins nächste Krankenhaus trägt. Die Haut auf ihrem Rücken, auf ihrem Nacken, auf ihrem linken Arm ist fast vollständig verbrannt.
14 Monate verbringt das Mädchen im Krankenhaus. Operationen, Hauttransplantationen. Erst zehn Jahre später wird sich Phan Thi Kim Phúc wieder vollständig bewegen können. Nach einer weiteren Operation, in einer Spezialklinik in Deutschland.
Ignorieren!
Journalismus. Keine Pornografie. Journalismus! World Press Photo 1972. Pulitzer-Preis 1973. Im Hintergrund sieht man amerikanische Soldaten, die ungerührt vom Leid des Kindes die Straße entlangschlendern. Das Foto hat für einen Aufschrei in der Weltöffentlichkeit und eine Ächtung der Napalm-Bomben gesorgt, hat zur Beendigung dieses grauenhaften Krieges beigetragen.
Ignorieren!
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
So ändern sich die Zeiten. Das bei WikiLeaks zu besichtigende Video aus einem Kampfhubschrauber der US-Army, der Angriff auf hilflose irakische Zivilisten und die deutlich vernehmbaren menschenverachtenden Kommentare der Piloten haben im Vergleich zu diesem Foto gar nichts bewirkt.
Ignorieren.
Ignorieren.
Schwarzweiß. Dasselbe Vietnam-Foto!
Ignorieren!
Schwarzweiß. Wieder dasselbe Foto!
Ignorieren!
Was ist los? Zufall? Oder wollen die ihn testen?
Ignorieren!
Löschen.
Ignorieren.
Kein Foto. Ein Video. Aufgenommen mit einer Unterwasserkamera. Das Objektiv ist nach oben gerichtet, in Richtung Oberfläche. Spiegelglatt. Eine Lichtquelle. Dann ein Schatten. Der Schatten kommt rasch näher. Der Schatten durchbricht die spiegelglatte Oberfläche und wühlt das Wasser auf. Der Kopf eines Mannes wird von zwei Händen unter Wasser gedrückt, die Augen sind unnatürlich weit aufgerissen, starren in die Kamera, starren Alejandro an, Angst, Todesangst, Luftblasen quellen aus den Mundwinkeln, aus der Nase …
Löschen!
Die Vorschrift lautet: Videos müssen bis zum Ende …
Löschen! Löschen! Löschen!
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignorieren.
Die Lampe über dem Bildschirm blinkt auf. Schichtende. Der Bildschirm wird schwarz. Mitternacht. Alejandro packt seinen Rucksack und verlässt seinen Arbeitsplatz.
Vor der Kabine wartet schon der Neue. Alejandro vergisst, ihn zu grüßen. Er ist mit seinen Gedanken weit weg.
Draußen steckt er sich eine Zigarette an. Maria ist nicht da. Vielleicht hat sie eine andere Schicht übernommen. Vielleicht hat sie Urlaub. Vielleicht ist sie krank.
Alejandro fährt zum Strand. Er zieht sich aus, rennt los, springt kopfüber in die Brandung. Von klein auf schwimmt und taucht er auch im Salzwasser grundsätzlich mit geöffneten Augen. Keine große Sache. Reine Gewohnheit. Auch wenn er jetzt, in der Dunkelheit, gar nichts sehen kann.
Als er unter der pechschwarzen Welle durchtaucht, sieht er mitten in das Gesicht des Ertrinkenden aus dem Video. In die vor Angst, vor Todesangst geweiteten Augen des Menschen, dessen Kopf unter Wasser gedrückt wird.
Panik.
Alejandro rudert wild mit den Armen, verliert in der Dunkelheit die Orientierung, schließlich sieht er die Straßenlaternen, weit weg, kleine weiße Punkte, er macht auf der Stelle kehrt, krault zurück, so schnell er kann, bis er den sandigen Boden unter seinen Füßen spürt. Er rennt aus dem Wasser. Außer Atem. Er schnappt nach Luft. Er zittert. So wie Maria immer zittert.
Heute hätte er den Langen gegrüßt. Jedenfalls hat er sich das auf dem Weg zur Arbeit vorgenommen. Aber der Lange sieht durch ihn hindurch, als er die Kabine verlässt. Als sei er Luft.
Dann eben nicht.
Gabriel lässt sich vor dem Bildschirm nieder, setzt die Kopfhörer auf und loggt sich ein.
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen!
Manche nennen so was Kunst. Lächerlich.
Löschen!
Entartete Kunst ist das.
Löschen!
Wird höchste Zeit, dass sich etwas ändert in diesem Land.
Federico weiß so ziemlich alles über die Bewohner des Dorfes, das er nie verlassen hat. Über die Einheimischen wie über die wenigen Zugezogenen, zumindest hier im Barrio Morisco.
Von ihm weiß Alejandro, dass die Deutsche ungefähr so alt ist wie seine Mutter. Alejandro kann das kaum glauben. Denn seine Mutter ist 61 und eine alte Frau. Seine Mutter war schon immer eine alte Frau. Solange sich Alejandro zurückerinnern kann. Ihre Unförmigkeit. Ihre teigige, blasse Haut. Ihr schwankender, schleppender Gang. Ihr lautes Ächzen und Stöhnen, sobald sie sich setzt oder vom Stuhl erhebt. Der ständig mürrische Blick. Die Freudlosigkeit in ihren Augen. Die langen, dunklen Röcke, die bis zu den aufgequollenen Fesseln reichen. Das schwarze Kopftuch, das sie trägt, wenn sie zur Kirche geht. Merkwürdig: In seiner Erinnerung war sie zwar noch nicht ganz so dick, aber schon eine alte, verbitterte Frau, als Alejandro noch ein kleiner Junge war. Und sie etwa so alt wie er heute.
Die Deutsche ist anders.
Sie bewegt sich anmutig. Sie trägt Jeans und T-Shirts oder weiße Hippie-Blusen. Sie trägt Turnschuhe aus Segeltuch oder Flip-Flops oder läuft barfuß herum. Ihre Augen blitzen vor Lebenslust. Sie lacht viel und gern und laut. Sie färbt ihr Haar nicht, sondern trägt ihr graues Haar lang und offen und selbstbewusst. In ihrem Haus läuft immer Musik. Manchmal klassische Musik, manchmal Jazz, oft wilder, lauter Rock aus der Zeit, als sie eine junge Frau war.
Unten in Nerja leben jede Menge deutsche und englische und niederländische und skandinavische Rentner. Wegen des einzigartigen Mikroklimas südlich der Sierra Nevada. Wegen des extrem kurzen und milden Winters, der nirgendwo in Europa kürzer und milder ist. Nicht wenige der Residenten wohnen in gated communities mit Hausmeister und Putzkolonne und Poolboy und eigenem Sicherheitsdienst.
Aber hier oben in Frigiliana leben nicht viele Ausländer. Vor allem nicht im Barrio Morisco. Weil an den schroffen Felshängen rund um das einstige maurische Dorf mit seinen steilen, schmalen Gassen kein Platz ist für Neubauten.
Lis Neuhäuser zog als erste Ausländerin ins Oberdorf. Und deshalb hat sie bis heute ihren Namen weg: die Deutsche. Auch weil ihr Nachname Neuhäuser für einen Spanier unmöglich auszusprechen ist. Manche nennen sie auch la periodista alemana. Die deutsche Journalistin. Dabei hat sie nie geschrieben. Sondern fotografiert. Überall in der Welt. Überall, wo es Krieg und Elend und Leid zu fotografieren gab.
Vor zwanzig oder noch mehr Jahren hat sie das Haus gleich nebenan gekauft. Größer und auch komfortabler als das Haus der Romeros. Der ehemalige Sommersitz einer Familie aus Granada, die irgendwann keine Verwendung mehr für das Haus hatte oder Geld benötigte, so genau weiß das niemand mehr. Und es interessiert auch niemanden mehr. Die Deutsche kam zunächst nur zwei- oder dreimal im Jahr für jeweils ein paar Wochen, aber inzwischen wohnt sie das ganze Jahr hier.
«Guten Morgen, Alejandro. Wie geht’s dir?»
Sie spricht ihn auf Deutsch an, obwohl sie fließend Spanisch spricht. Weil sie weiß, dass Alejandro jede Gelegenheit dankbar annimmt, seine Deutschkenntnisse aus dem Studium nutzen zu können, um ein wenig in der Übung zu bleiben.
«Guten Morgen, Lis. Meine Mutter schickt mich. Sie hat frische Tomaten für dich. Aus ihrem Garten.»
«Oh, ihr verwöhnt mich! Richte ihr bitte meinen herzlichen Dank aus. Willst du dich nicht einen Moment setzen? Hast du Zeit für einen Kaffee?»
«Klar doch.»
Für Lis hat er immer Zeit.
«Einen cortado? Wie immer?»
«Wenn es keine Mühe macht.»
«Ich würde doch wirklich keine Mühen scheuen, damit mich ab und zu ein so junger, attraktiver Mann wie du besucht.»
Sie lacht laut über ihren Scherz und verschwindet im Haus. Alejandro weiß, dass sie anzügliche Scherze liebt.
Der Garten seiner Mutter sieht aus wie ein Miniaturkasernenhof mit einer zum Morgenappell angetretenen Kompanie Zinnsoldaten. Das Gemüse in Reih und Glied, keiner schert aus. Dieser Garten hier sieht aus, als stamme er aus einem Märchenbuch. Wild. Üppig. Bis auf das winzige Kräuterbeet und den Zitronenbaum völlig unnütz. Aber zauberhaft. Und mittendrin das mannshohe rostige Fabelwesen, das er für sie geschmiedet hat. Eigentlich ist die Skulptur viel zu groß für den kleinen Garten. Dass sie nun schon seit drei Jahren hier steht, erfüllt ihn mit Stolz.
«Du hast Talent, Alejandro.»
Er hat sie nicht kommen gehört. Sie bewegt sich so geschmeidig und lautlos wie eine Katze. Und sie scheint seine Gedanken lesen zu können. Aus ihrem Wohnzimmer dringt Vicente Amigos «Mezquita». Lis stellt die beiden Kaffeebecher auf das Tischchen. Sie schäumt die heiße Milch, so wie es die Italiener machen. Sie setzt sich, schaut ihm tief in die Augen und wartet geduldig. Also muss er wohl was dazu sagen.
«Ach. Ich hab einfach zu wenig Zeit.»
«Mit deinem Talent solltest du nach Madrid gehen.»
«Da war ich doch schon. In Madrid hab ich studiert. Aber Madrid ist nichts für mich. Zu laut. Zu hektisch. Zu kalt. Zu arrogant. Madrid macht krank.»
«Oder nach Deutschland.»
«Nach Deutschland?»
«Warum nicht? Du kannst Deutsch. Du könntest zum Beispiel nach Düsseldorf gehen. In meine Heimatstadt. Düsseldorf ist das Zentrum der Bildenden Kunst in Deutschland. Bei deinem Talent …»
Alejandro entgegnet nichts. Er weiß, dass Lis feinfühlig genug ist, das Thema zu wechseln, wenn er nicht antwortet.
«Deine Mutter hat mir erzählt, du hast wieder Arbeit.»
«Ja. Schon seit fast einem halben Jahr. Die Zeit rennt.»
«Was arbeitest du?»
«Darf ich nicht drüber sprechen.»
«Du meine Güte. Bist du beim Geheimdienst gelandet?»
Er lacht. Sie lacht. Lis stellt zwar gerne Fragen, fast so viele wie seine Mutter, aber nicht so penetrant wie seine Mutter. Außerdem bewertet sie nichts und verurteilt nichts. Sie ist einfach nur neugierig auf die Menschen in ihrer Umgebung. Auf Alejandro wirkt ihr Staunen über die Welt fast kindlich. Trotz ihres Alters und ihrer jahrzehntelangen Arbeit als Kriegsreporterin. Ein Beruf, der wie geschaffen sei, empathische Menschen binnen kürzester Zeit in abgebrühte Zyniker zu verwandeln. Den Satz hat Alejandro in dem Buch gelesen, das sie ihm mal geschenkt hat. Ein Bildband mit ihren Fotos aus aller Welt. Der Verfasser des Vorworts rühmte Lis Neuhäuser dafür, dass aus ihr trotz all des Grauens, das sie gesehen und dokumentiert habe, überraschenderweise keine Zynikerin geworden sei.
Das Buch schenkte sie ihm, nachdem Alejandro sich beharrlich geweigert hatte, Geld für die Skulptur in ihrem Garten zu nehmen. Im Vorwort des Buches hat Alejandro auch gelesen, dass ihr Mann, der Reporter Roger Neuhäuser, bei Recherchen in Afghanistan erschossen wurde.
«Alejandro …»
«Ja?»
«Es geht mich natürlich nichts an. Und wenn du der Meinung bist, dass ich zu weit gehe, dann musst du es mir bitte auf der Stelle sagen. Dann halte ich die Klappe.»
«Sí, claro.»
Er wechselt reflexartig ins Spanische.
Auch Lis spricht auf Spanisch weiter: «Alejandro, du bist ein sehr charmanter und liebenswürdiger junger Mann. Du bist sprachbegabt, du bist intelligent, belesen, und du besitzt großes künstlerisches Talent …»
«Danke. Du machst mich verlegen. Aber was …?»
«Dir steht die Welt offen. Es ist rührend, wie du dich um deine Mutter kümmerst …»
«Sie ist schon alt. Sie …»
«Ich finde, sie ist noch ganz schön rüstig, wenn ich sie bei der Gartenarbeit sehe. Außerdem ist sie vermutlich nicht viel älter als ich, oder?»
«Was willst du mir damit sagen?»
«Ich will damit sagen: Deine Mutter müsste keineswegs so alleine und einsam sein, wie sie zu sein vorgibt. Du solltest über deine rührende Sorge nicht vergessen, dir dein eigenes Leben aufzubauen.»
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Zu viel löschen bedeutet: Ärger.
Ignorieren.
Ignorieren.
Zu wenig löschen bedeutet: Ärger.
Löschen.
Ignorieren.
Alejandro hat das im Griff. Er weiß, auf was es ankommt in diesem Job. Er weiß, was man von ihm erwartet.
Ignorieren.
Ignorieren.
Video. Geweihe an der Wand. Hirsch. Steinbock. Rehbock. Der ausgestopfte Kopf eines Wildschweins, eines ausgewachsenen Keilers mit mächtigen Hauern. Vermutlich eine Jagdhütte. Rechts im Bild prasselt ein Kaminfeuer. Links im Bild ein Sessel, darin sitzt kerzengerade ein älterer Herr, schlohweißes, volles Haar, energisches Kinn. Zu seinen Füßen liegt ein Jagdhund und schläft. Der Herr im gedeckten Dreiteiler lächelt freundlich in die Kamera und erzählt mit samtener Bariton-Stimme von der guten, alten Zeit, als alles noch seine Ordnung hatte …
Nicht schon wieder dieser Spinner. Alejandro hört schon gar nicht mehr hin, sondern drückt die Taste für den Schnelldurchlauf und trommelt ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Wie heißt der Typ noch gleich? Cristóbal. Genau. Cristóbal Rivera Espinosa. Pensionierter General der Legión Española, der früheren spanischen Fremdenlegion. Gründer eines Vereins, der sich Reconquista 2.0 nennt. Was für ein merkwürdiger Name. Für diesen Verein tritt er regelmäßig im Internet vor die Kamera. Einer von diesen selbstverliebten alten Männern, die nicht akzeptieren können, dass ihre Pensionierung sie zur Bedeutungslosigkeit verdammt hat. In der Sekunde, in der das Video endet, drückt Alejandro die Taste:
Ignorieren!
Weil: Meinungsfreiheit!
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Kopfschmerzen.
Ignorieren!
Löschen.
Seit ein paar Tagen schon. Sie gehen einfach nicht weg.
Ignorieren!
Löschen.
Lösch… Ignorieren!
Löschen.
Das Aspirin aus der Apotheke hilft nicht mehr.
Ignorieren.
Er kann doch seine Mutter nicht im Stich lassen.
Ignorieren.
So einfach ist das nicht, Lis.
Ignorieren.
Vielleicht ist das ja in Deutschland einfacher.
Ignorieren.
In Deutschland, so liest man immer wieder, werden alte Menschen, die gestorben sind, manchmal erst Monate nach ihrem Tod in ihren verwahrlosten Wohnungen gefunden. Niemand hat sie vermisst. Niemand hat sich zu Lebzeiten für sie interessiert. Niemand hat sich im Alter um sie gekümmert.
Ignorieren.
Ignori… Löschen!
Vier Sekunden!
Du musst dich konzentrieren, Alejandro!
Ignorieren.
Ignorieren.
Eine Zeichnung. Eine Karikatur. Ein alter Mann. Steht hinter einer Ziege. Die Hosenträger hängen links und rechts herab. Das Gesicht des Mannes hat der Zeichner recht gut getroffen: Erdoğan.
Löschen!
Vorschrift: Verunglimpfende Karikaturen prominenter Personen der Zeitgeschichte sind zu löschen. Mohammed, der Prophet. Erdoğan, der Prophet. Trump, der Prophet. Putin, der Prophet. Täglich kommen neue Vorschriften. Fotos und Videos mit kurdischen Flaggen sind jetzt ebenfalls verboten.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Diese verfluchten Kopfschmerzen!
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Foto. Eine Synagoge. Alejandro kennt sich aus mit sakralerArchitektur. Außerdem hat er das Gebäude schon mal auf einem Foto gesehen, ganz sicher. Bei Lis! Der Bildband über Berlin steht in ihrem Wohnzimmer im Bücherregal. Alejandro erinnert sich: die prachtvolle Synagoge in der Oranienburger Straße, Berlin-Mitte. Das hier ist aber ein anderes Foto als in dem Bildband. Kein Architekturfoto. Ein Amateurfoto. Vor dem Eingang stehen Menschen, die fröhlich in die Kamera lachen. Eindeutig eine Hochzeitsgesellschaft. Die Männer tragen Anzug und Kippa, die Frauen schöne Kleider. In der Mitte steht das junge Brautpaar. Ein Erinnerungsfoto nach der Hochzeit. Die Menschen auf dem Foto sind bester Laune. Das frisch vermählte Paar guckt sich verliebt an. Unter dem Foto steht dick und fett in deutscher Sprache:
Leider sind noch nicht alle vergast.
Löschen!
Und Meldetaste drücken! In diesem Fall: Meldetaste drücken!
Löschen.
Löschen.
Was für ein Dreck.
Löschen.
Löschen.
«Meme» nennen sie das. Ein ikonisches Foto oder eine kurze Videosequenz, nachträglich versehen mit einer Botschaft. Kurz. Einprägsam. Und krank. Memes verbreiten sich im Internet wie ein Virus auf dem Weg zur Pandemie. Nur schneller.
Löschen!
Löschen!
Löschen!
All dieser Hass!
Löschen.
Löschen.
Woher kommt all dieser Hass?
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Video. Wüste. Drei Männer knien im Sand, Hände hinter den Rücken. Keine Kapuzen über den Köpfen. Angst in den Gesichtern. Hinter ihnen stehen breitbeinig drei Gestalten. Das sind IS-Leute. Die Fahnen. Alejandro kennt die Fahnen. Sie halten keine Äxte in den Händen, sondern Messer. Einfache Jagdmesser. Sie setzen die Messer an die Kehlen der Knienden …
Alejandro drückt das Video mittendrin weg. Nicht gelöscht, auch nicht ignoriert, sondern einfach zurück in den Pool. Man darf ein Video verweigern und weiterreichen – maximal dreimal pro Monat. Wer häufiger als dreimal pro Monat verweigert, arbeitet nicht effizient und kann gleich gehen. Für immer.
Löschen.
Löschen.
Messer sind schlimmer als Äxte. Weil es viel länger dauert. Weil sie mit den Messern nicht nur die Kehlen durchschneiden, bis das Blut aus den Hälsen spritzt, sondern so lange säbeln, bis die Köpfe vollständig abgetrennt sind. Das ist ihnen wichtig. Das soll man sehen in den Videos. Die Mörder empfinden ganz offensichtlich Vergnügen dabei.
Löschen!
Löschen!
Löschen!
Don’t overthink! Den Satz haben sie Alejandro in dem fünftägigen Crash-Kurs eingebläut. Don’t overthink!
Ignorieren.
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Foto. Ein Zimmer. An der Wand im Hintergrund hängt ein Gemälde. Groß. Riesig. Öl auf Leinwand. Alejandro kennt das Gemälde. Es zeigt die heilige Agatha von Catania. Sie führte im dritten Jahrhundert auf Sizilien ein gottgefälliges Leben der inneren Abtötung. Ja, so nennen die das: ein gottgefälliges Leben der inneren Abtötung. Weil die schöne Agatha sich weigerte, von ihrem Gelübde abzulassen, und weil sie sich als gottgeweihte Jungfrau dem Heiratsantrag des römischen Statthalters auf Sizilien widersetzte, brachte man sie erst in ein Bordell und dann, nach der Entehrung, den Folterknechten. Seither wird die Märtyrerin nicht nur auf Sizilien, sondern in der gesamten katholischen Welt des europäischen Mittelmeerraums verehrt …
Acht Sekunden.
Die am oberen Bildschirmrand eingeblendete digitale Stoppuhr fordert unerbittlich eine Entscheidung.
Zehn Sekunden!
Aber Alejandro kann keine Entscheidung treffen.
Alejandro ist vom Anblick des Gemäldes wie gelähmt, sein Gehirn vollkommen blockiert.
Ein öffentlicher Platz. Agatha ist nackt. Ihre Haut ist so weiß wie Porzellan. So unschuldig weiß, dass man den Eindruck gewinnen könnte, ihr Körper sei in diesem Moment zum ersten Mal in ihrem Leben dem Tageslicht ausgesetzt. Mit ihren zarten, schmalen Händen bedeckt sie ihre Scham. Sie hat die Augen gen Himmel gerichtet. Sie ist fast schon im Himmel. Zwei Folterknechte stehen links und rechts von ihr und lachen. Der eine Folterknecht nimmt eine riesige Zange aus dem Feuer und quetscht ihr damit die rechte Brust ab. Das Blut. So viel Blut …
16 Sekunden!
Nein, Alejandro kennt das Gemälde nicht etwa aus dem Studium der Kunstgeschichte. Er kennt es aus seiner Kindheit. Es ist ihm später nie wieder begegnet. Aber in seiner Kindheit ist es ihm begegnet. Manchmal konnte er nicht einschlafen, wenn er sich als Kind an das Ölbild erinnerte. Dann hat seine Mutter ihn in den Arm genommen, ihn an sich gedrückt und ihm von all den Märtyrern erzählt, die für Gott gestorben sind. So viele Märtyrer. Keinen Millimeter seien sie von ihrem Glauben und ihrer Liebe zu Gott abgewichen, selbst unter den grausamsten Martern und Schändungen nicht. Niemals hätten sie ihren Herrgott oder die Jungfrau Maria verleugnet. Niemals.
23 Sekunden!
Löschen!
Das Foto verschwindet augenblicklich.
Auf dem Monitor erscheint das nächste Bild.
Eine Mohammed-Karikatur. Der Prophet Mohammed als dumpfe, kleinwüchsige, billige, lächerliche Witzfigur.
Löschen!
Ignorieren.
Ignorieren.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Weil er so sehr auf das Ölgemälde mit der Folterung der heiligen Agatha an der Wand im Hintergrund fixiert war und weil die digitale Stoppuhr erbarmungslos tickte, ist unmittelbar vor dem Löschen der Vordergrund des Fotos nur bis in sein Unterbewusstsein vorgedrungen.
Löschen.
Ignorieren.
Ignorieren.
Jetzt erst schiebt sich die Erinnerung aus dem Unterbewusstsein in sein Bewusstsein. Der Vordergrund des gelöschten Fotos:
Fünf Jungen. Vor dem Gemälde mit der heiligen Agatha stehen fünf kleine Jungen. Noch so klein, dass ihre Köpfe nicht mal bis an die untere Kante des barocken Rahmens reichen. Sie tragen alle dieselbe Kleidung. Eine Art Uniform: kurze dunkelblaue Hosen, die knapp über den mageren Knien enden, dazu weiße Hemden mit kurzen Ärmeln. So weiß wie die Haut der heiligen Agatha. Und Fliege. Jeder von ihnen trägt eine rote Fliege. So rot wie das Blut der heiligen Agatha. Sie grinsen verlegen in die Kamera.
Nur einer nicht. Der zweite von rechts schaut ganz ernst. Traurig. Schwermütig. Der zweite Junge von rechts ist er: Alejandro.
In der Nacht treffen sie sich am Strand. Sie tanzen stumm im Takt der Wellen und versuchen vergeblich zu vergessen. Dann legen sie sich nackt und nass nebeneinander in den schmutzig grauen Sand, halten sich an den Händen und starren stumm in den sternenklaren Nachthimmel.
Alejandro bricht das Schweigen.
«Mir ist heute etwas Merkwürdiges passiert.»
Maria reagiert nicht.
«Maria?»
Sie schweigt.
«Maria, könntest du nicht heute ausnahmsweise mal mit mir reden? Nur ein bisschen. Bitte! Ich weiß nämlich nicht, mit wem sonst ich darüber sprechen könnte. Mir ist heute etwas sehr Merkwürdiges passiert. Ich habe …»
«Mir passiert jeden Tag sehr Merkwürdiges!»
«Ich meine nicht diesen täglichen Dreck, Maria. Ich meine etwas anderes. Etwas, das mit mir zu tun hat. Bitte hör mir nur einen Augenblick zu! Heute hatte ich nämlich plötzlich ein altes Foto auf dem Schirm. Und auf diesem Foto …»
«Ich kann nicht mehr!»
Sie schreit den Satz heraus.
«Was sagst du?»
«Ich weiß nicht mehr weiter! Ich schlafe nicht mehr. Ich esse nicht mehr. Ich kann mich über nichts mehr freuen. Seit …»
«Maria! Du darfst das nicht so an dich ranlassen. Du musst …»
«Nicht so an mich ranlassen? Wie soll das denn gehen? Ich sitze doch direkt davor! Jeden Tag! Soll ich etwa die Augen schließen? Jeden Abend kommt das Böse zu mir. Und neuerdings …»
«Du musst einen Weg finden, um …»
«Was für einen Weg denn? Lässt dich das etwa kalt, was du in deiner Schicht zu sehen kriegst? Verfolgen dich die Bilder nicht bis in den Schlaf? Nisten sie sich nicht in deine Träume ein? Gib mir bitte eine Antwort: Was macht das mit dir?»
Er denkt über eine Antwort nach. Während er noch nachdenkt, lässt sie seine Hand los, springt auf und zieht sich hastig an.
«Maria! Lass uns doch darüber …»
«Ich kann nicht reden. Mit niemandem. Auch nicht mit dir. Es war schön hier am Strand. Mit dir. Es hat mir geholfen, für einen Moment zu vergessen. Solange wir nicht geredet haben. Schade. Ich wünsche dir alles Gute auf dem Weg, den du für dich gefunden hast. Chao, Alejandro.»
Sie geht. Alejandro bleibt.
Er weiß, wo er suchen muss. Eine alte Hutschachtel im untersten Fach des Küchenschranks. Er bemüht sich, leise zu sein, mitten in der Nacht, weil seine Mutter längst schläft. Er schiebt den Stapel gebügelter und gestärkter Tischdecken beiseite, zerrt den Karton hervor, stellt ihn auf den Tisch und öffnet ihn.
Das visuelle Gedächtnis der Familie. Jedenfalls das des Romero-Zweigs. Der Vidal-Zweig ist aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Alejandro weiß weder von Großeltern väterlicherseits noch von Tanten oder Onkeln, Cousins oder Cousinen, Nichten oder Neffen mit dem Namen Vidal.
Fotos. Ungeordnet, wild durcheinander. Fast alle schwarz-weiß.
Seine Schwester Felipa als kleines Mädchen im weißen Kleid vor der Kirche in Frigiliana. Erstkommunion. Sie trägt ein Blumenkränzchen im Haar. Sie strahlt vor Glück.
Sein Großvater vor der Zuckerfabrik. Die Arme vor der Brust verschränkt. Ein kräftiger Mann in der Blüte seines Lebens. Der Großvater guckt auf dem Bild so ernst und so stolz, als würde ihm die Zuckerfabrik gehören.
Ein Mann auf der Plaza Balcón de Europa, die auf einer weit ins Meer ragenden Felsnase angelegte Flaniermeile im Zentrum von Nerja. Die Schultern durchgedrückt, das Kinn selbstbewusst vorgestreckt. Er lächelt entwaffnend charmant in die Kamera. Lässt sich offenbar gern fotografieren, der Herr.
Vidal. Sein Vater.
Vidal, der Hallodri, wie ihn seine Mutter immer nennt. Alejandro fällt zum ersten Mal auf, dass er den Vornamen seines Vaters gar nicht kennt. Nur den Familiennamen Vidal, der auch Alejandros und Felipas erster Familienname ist.
Ein bemerkenswert attraktiver Mann. Und er scheint sich seiner Attraktivität durchaus bewusst zu sein. Im Hintergrund sind zwei Touristinnen zu sehen, die sich ungeniert und interessiert nach ihm umdrehen und miteinander tuscheln. Vidal trägt ein bleistiftschmales, sorgsam gestutztes Oberlippenbärtchen, eine riesige Sonnenbrille, einen weißen Anzug und einen dazu passenden weißen breitkrempigen Hut. Er sieht aus wie ein wohlhabender Geschäftsmann auf der Durchreise.
Oder wie ein Hochstapler.
Das nächste Foto. Alejandros Mutter als junge Frau. Ihr Blick ist frech und fröhlich. So kennt er sie gar nicht. Alejandro hat sie nie fröhlich und unbekümmert erlebt. Sie trägt ein schickes weißes Kleid mit großen schwarzen Punkten und hat sich bei einer Freundin untergehakt. Sie stehen vor einer churros-Bude. Im Hintergrund ist unscharf ein Kettenkarussell in voller Fahrt zu erahnen. Vermutlich wurde das Foto auf dem Festplatz während der feria zu Ehren des heiligen Antonio gemacht. Wie alt mag sie da wohl gewesen sein?
Das Hochzeitsfoto. Alejandros Mutter schaut merkwürdig ernst, es ist nichts mehr übrig von der unbekümmerten Heiterkeit auf dem Foto mit der Freundin vor der churros-Bude. Da muss sie schon schwanger gewesen sein.
Felipa als Volontärin an ihrem Schreibtisch in der Zentralredaktion von El País in Madrid. Sie schaut so selbstbewusst in die Kamera, als wäre sie mindestens schon Chefredakteurin der Zeitung. Der Stolz, der sich in ihrem Gesicht spiegelt, ähnelt dem des Großvaters auf dem Foto vor der Zuckerfabrik. Ansonsten ist die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter auf dem Foto vor der churros-Bude frappierend. Trotz der unterschiedlichen Frisuren.
Das nächste Foto. Alejandro mit seiner Basketballmannschaft. Acht Jungs im siebten Himmel. Mehr Spieler hatten sie nicht aufzubieten. Die blassgelben Trikots. Alejandro erinnert sich, dass sie die Rückennummern mit einem dicken schwarzen Filzstift auf die billigen Trikots gemalt haben. Gleich neben ihm steht Federico, den silbern glänzenden Pokal in der Hand. Das muss das Jahr gewesen sein, als sie den haushohen Favoriten Torrox im Endspiel um die Jugendmeisterschaft geschlagen haben.
Und schließlich das Foto, nach dem er gesucht hat.
Eines der wenigen Farbfotos in der Sammlung. Das Zimmer mit dem riesigen Ölgemälde, das die heilige Agatha und ihre Folterer zeigt. Und davor, unter dem Gemälde an der Wand, die fünf kleinen Jungs. Von denen der zweite von rechts aussieht wie Alejandro, als er ein kleiner Junge war.
Aber er ist es nicht.
Alejandro öffnet die Schublade des Küchentischs und nimmt die Lupe heraus, mit deren Hilfe seine Mutter immer die Zeitung liest, statt eine Brille zu benutzen.
Tatsächlich ist die Ähnlichkeit verblüffend. Aber er ist es definitiv nicht. Denn Alejandro weiß mit Bestimmtheit zu sagen, dass er noch nie in seinem Leben eine Fliege getragen hat. Keiner der Jungs hier im Dorf hat jemals eine Fliege getragen. Und er kennt keinen der anderen Jungs auf dem Bild. Sie sind ihm völlig fremd. Wenn sie aus Frigiliana wären, würde er sie wiedererkennen.
Alejandro legt das Foto zurück in den Karton.
Und nimmt es gleich wieder zur Hand.
Er ist es nicht.
Er war nie in diesem Zimmer mit dem Ölgemälde. Denn auch daran würde er sich mit Sicherheit erinnern.
Es gibt nur eine plausible Erklärung: Alejandro muss schon als Kind dieses Foto gesehen haben, das er jetzt in der Hand hält. Die Jungen im Vordergrund hat er im Lauf der Jahre vergessen. Vielleicht auch nie richtig wahrgenommen. Weil ihn das Ölgemälde mit der grausamen Folterung der heiligen Agatha so gefesselt hat. Es hat sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Bis in seine kindlichen Träume verfolgt. Und deshalb hat er das Gemälde auch sofort wiedererkannt, als das Foto auf dem Monitor erschien.
Sexualisierte Gewalt.
Ignorieren!
Löschen geht nicht.
Ignorieren!
In der Darstellung sexualisierter Gewalt hat es die europäische Kunst im Lauf der Jahrhunderte vor allem mit dem Segen und im Auftrag der Kirche zu wahrer Meisterschaft gebracht.
Bleiben allerdings noch drei Fragen unbeantwortet:
Wer ist dieser Junge, der ihm so verblüffend ähnlich sieht?
Wer hat das Foto gemacht?
Und wie kommt es in diese Kiste?
«Was machst du hier? Warum gehst du nicht endlich schlafen? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?»
Er hat seine Mutter nicht kommen gehört. Sie trägt ein weißes Nachthemd. Er hat sie noch nie im Nachthemd gesehen, er hat sie noch nie so unvollständig bekleidet gesehen. Nicht, solange er sich erinnern kann.
«Ich schaue mir die alten Fotos an.»
«Warum gehst du nicht endlich schlafen? Es ist schon so spät.»
«Wer ist das, Mama?»
Sie setzt sich. Mit einem Ächzen.
«Räum das wieder weg!»
Er legt das Foto, das er in den Händen hält, auf den Tisch. Er schiebt es ihr über den Tisch zu.
«Wer ist das?»
«Wer?»
«Der zweite Junge von rechts.»
«Räum das wieder ein und stell die Kiste zurück in den Schrank!»
«Wer ist der Junge auf dem Bild?»
Sie schweigt. Sie starrt das Foto an. Sie ist weit weg mit ihren Gedanken. Irgendwo in der Vergangenheit.
«Ich will eine Antwort, Mama. Jetzt.»
Keine Reaktion. Dann schluchzt sie mit einem Mal auf, ein schauerliches Aufheulen, das Alejandro augenblicklich verstummen lässt. Sie zittert am ganzen Leib.
«Mama? Was ist los mit dir?»
Sie streckt ihre Hände ruckartig aus, nicht nach ihm, sondern um nach dem Foto zu greifen, zieht aber ihre Hände sofort wieder zurück und versteckt sie in ihrem Schoß.
Sie kann das Foto nicht anfassen.
«Mama? Ich will doch nur wissen …»
«Es ist dein Bruder.»
Sie findet keinen Schlaf. Sie findet seit Wochen keinen erholsamen Schlaf mehr. Weil sie sich vor ihren Träumen fürchtet. Sie weiß: Sobald sie einschläft, sickert das Grauen in ihre Träume. Das schwarz-weiße Grauen, das in jeder Schicht zu ihr zurückkehrt. Jeden Abend während der Spätschicht. Heute sogar mehrere Male, vielleicht ein halbes Dutzend Male. Das Grauen hat Besitz von ihr ergriffen. Gott im Himmel, warum legst du mir diese schwere Prüfung auf? Gott im Himmel, ich bitte dich, ich flehe dich an: Zeige mir einen Weg aus der Dunkelheit.
Zurück ans Licht.
Sonst bin ich verloren.
Sie sitzt regungslos auf ihrem Stuhl. Seit zwei Stunden schon sitzt sie auf diesem Stuhl, dem einzigen Stuhl in dem 14 Quadratmeter kleinen möblierten Zimmer im fünften Stockwerk des siebenstöckigen Mietshauses, und starrt unentwegt gegen die weiße Wand. Es gibt ohnehin nicht viel zu sehen in diesem Zimmer. Außer dem Stuhl ein schmales Bett, ein verbeulter, an den Kanten verrosteter Spind und ein ständig brummender Kühlschrank. Eine Falttür neben dem Kühlschrank führt in einen winzigen, fensterlosen Verschlag, in den man ein Klo und ein Waschbecken montiert hat.
Ihr neues Zuhause.
Weit weg von ihrem alten Zuhause. Von ihrer Familie.
Die Familie glaubt, es gehe ihr gut. Weil sie das glauben sollen. Weil sie das glauben wollen. Weil sie auch alles andere glauben wollen. Wie soll sie dieser Familie jemals wieder unbefangen gegenübertreten?
Seit das Grauen sie zum ersten Mal auf dem Bildschirm heimgesucht hat, hat sie sich schon zweimal krankgemeldet. Sie war nicht mehr in der Lage, die Wohnung zu verlassen. Wie gelähmt. Ein drittes Mal, und sie wird den Job verlieren. Das hat ihr Don Javier schon angekündigt. Mit einem Lächeln im Gesicht.
Sie wünscht sich einen Augenblick lang, Alejandro läge in ihrem Bett, wartete geduldig, dass sie endlich ihren Stuhl verlässt und zu ihm kommt, streckte die Hand nach ihr aus: Komm zu mir, Maria, ich wärme deine Seele, ich vertreibe deine bösen Gedanken. Aber Alejandro weiß ja noch nicht einmal, wo sie wohnt.
Ihre Gedanken drehen sich unentwegt im Kreis. Kein Anfang, kein Ende. Keine Hoffnung.
Sie betrachtet das Bild, dass sie in den Händen hält. Ein altes Schwarz-Weiß-Foto, das sie seit so vielen Jahren hütet wie einen Schatz. Wie eine kostbare Reliquie. Das Foto zeigt einen ernst dreinblickenden Mann mit gütigen Augen und einem mächtigen Schnäuzer unter der Hakennase. Das zerfurchte, früh gealterte Gesicht eines Arbeiters. Strohhut, zerschlissener Anzug, klobiges Schuhwerk. Das Gewehr geschultert.
Das Gewehr.
Es ist kaum sichtbar. Er hat es mit einem Lederriemen quer über den Rücken gehängt. Der Gewehrlauf mit dem daran befestigten Bajonett ragt über die rechte Schulter hinaus.
Sie hat die Waffe früher nie wahrgenommen. Jetzt starrt sie nur noch auf das Gewehr und das am Lauf befestigte Bajonett, sobald sie das Foto betrachtet.
Sie hat dieses Foto geliebt.
Jetzt zerreißt sie es in tausend Fetzen.
Schleudert sie zu Boden.
Aber das Grauen bleibt.
Zum Kotzen. Die Bälger im sechsten Stock reißen ihn mit ihrem Geplärre und ihrem hysterischen Geschrei aus dem Schlaf. Gabriel verschränkt die Hände hinter dem Kopf und starrt voller Wut hinauf zur Decke. Warum stopft diese verdammte Schlampe ihren Bälgern nicht endlich das Maul?
Elf Uhr.
Zwei Stunden Schlaf. Viel zu wenig nach acht Stunden Nachtschicht. Schlaf ist wichtig. Er hat mal gelesen, dass man Menschen allein schon durch Schlafentzug in den Wahnsinn treiben kann. Die perfekte Folter. Gabriel liest alles, was man zum Thema Folter im Netz finden kann.
Er dreht sich zur Seite, mit dem Gesicht zur Wand.
Letzter Versuch.