Endstation - Wolfgang Kaes - E-Book

Endstation E-Book

Wolfgang Kaes

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Beschreibung

2013 Neun Schulfreunde besuchen eine Diskothek in Bad Hombach. Zwei Wochen später wird einer von ihnen tot aus dem Rhein geborgen. Die Rechtsmedizin findet keine Hinweise auf Fremdverschulden. Die Ermittlungsbehörden mutmaßen Suizid. Die Akte wird geschlossen. 2018 Für den LKA-Zielfahnder Thomas Mohr ist eigens eine Ein-Mann-Abteilung Cold Cases geschaffen worden. Dort will man ihn vergessen. Endstation. Auf seinem neuen Schreibtisch: Ein Stapel Akten. Ganz zuoberst: Der Fall des toten Studenten. Zunächst durchblättert Mohr die alten Dokumente eher lustlos. Doch dann erwacht sein Ermittlerspürsinn: Irgendetwas stimmt nicht mit der Akte aus Rheinheim. Die Behörden haben schlampig gearbeitet. Zeugenaussagen wurden ignoriert. Und was war mit der Rockergang, die die Türsteher stellte? Wieso wurden die Ermittlungen so blitzartig eingestellt? Je mehr Mohr gräbt, desto deutlicher tritt eine Parallelwelt zutage, eine Schattenwelt jenseits des Blicks der Öffentlichkeit. Ein perfektes System der Angst und des eisernen Schweigens. Und es wirkt immer noch.

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Wolfgang Kaes

Endstation

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

2013

Neun Schulfreunde besuchen eine Diskothek in Bad Hombach. Zwei Wochen später wird einer von ihnen tot aus dem Rhein geborgen. Die Rechtsmedizin findet keine Hinweise auf Fremdverschulden. Die Ermittlungsbehörden mutmaßen Suizid. Die Akte wird geschlossen.

 

2018

Für den LKA-Zielfahnder Thomas Mohr ist eigens eine Ein-Mann-Abteilung Cold Cases geschaffen worden. Dort will man ihn vergessen. Endstation. Auf seinem neuen Schreibtisch: ein Stapel Akten. Ganz zuoberst: der Fall des toten Studenten. Zunächst durchblättert Mohr die alten Dokumente eher lustlos. Doch dann erwacht sein Ermittlerspürsinn: Irgendetwas stimmt nicht mit der Akte aus Rheinheim. Die Behörden haben schlampig gearbeitet. Zeugenaussagen wurden ignoriert. Und was war mit der Rockergang, die die Türsteher stellte? Wieso wurden die Ermittlungen so blitzartig eingestellt? Je mehr Mohr gräbt, desto deutlicher tritt eine Parallelwelt zutage, eine Schattenwelt jenseits des Blicks der Öffentlichkeit. Ein perfektes System der Angst und des eisernen Schweigens. Und es wirkt immer noch.

 

«Ein deutscher Thriller-Autor der Premium-Klasse.» (Kölner Stadt-Anzeiger)

Vita

Wolfgang Kaes, Jahrgang 1958, war nach seinem Studium zunächst Polizeireporter. Er schrieb Reportagen für den STERN, die ZEIT und andere. Heute ist er Chefreporter beim Bonner General-Anzeiger. 2012 war er «Journalist des Jahres», 2013 erhielt er den Henri-Nannen-Preis in der Kategorie «Investigative Recherche». «Endstation» ist sein achter Roman.

 

www.wolfgang-kaes.de

 

«Wolfgang Kaes’ Romane zeichnen vielschichtig strukturierte und glaubhafte Charaktere, eine komplex ausgelegte Handlung und eine Atmosphäre der lauernden Bedrohung aus. Elektrisierende Spannung!» (Hamburger Abendblatt)

«… so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt

noch zufällig, sondern unvermeidlich …»

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum

 

«Wenn Polizei, Justiz und Politik versagt haben, muss es

den Geschichtenerzählern erlaubt sein zu sagen: Es ist

nur eine Geschichte, aber vielleicht war es so.»

Wolfgang Schorlau: Die Blaue Liste

Die wichtigsten Figuren dieses Romans

Die Opfer

Jonas Frederik Barthold, 19 Jahre, Student

Holger Barthold, der Vater

Adela Lorena Macedo de Barthold, die Mutter

 

Landeskriminalamt Düsseldorf

Thomas Mohr, Kriminalhauptkommissar, Ex-Leiter Zielfahndung

Dr. Bernd Köstring, LKA-Direktor

Philipp Pretzke, Personalchef

Dr. Vera Voss, Polizeipsychologin

Hans Gollmann, IT-Experte

Klaus Becker, Kriminalkommissar, Zielfahnder

 

Staatsanwaltschaft Rheinheim

Anita Wiesemann, Staatsanwältin

Wieland Piel, Oberstaatsanwalt

 

Polizeipräsidium Rheinheim

Dietmar Böck, Kriminalhauptkommissar, Vermisstensachen

Florian Keller, Kriminaloberkommissar, Vermisstensachen

Albert Dreesen, Polizeioberkommissar, Wache Ost

Uwe Ziegler, Polizeihauptkommissar, Wache Ost

Heinz Oestrich, Polizeihauptkommissar, Prävention

Paul Wernscheidt, Kriminalhauptkommissar, KK11

 

Damaliges Personal der Diskothek «Rheingold» in Bad Hombach

Angelo Schumacher, Geschäftsführer

Birgit Neumann, Kassiererin

Roman Warnke, Türsteher

Aleksandar Stankovic, Chef der Türsteher

 

Rheingold-Besucher in jener Nacht

Malte, Fabian, Dennis, Toni (Schulfreunde von Jonas Barthold)

Rashid Bassir (Stammgast)

Ottokar Popow (Stammgast)

Jamal Bassir (Rashids Cousin)

Jessica Riske (Bekannte von Rashid und Jamal)

Svenja Schultheiß (Jessicas Begleiterin)

 

Weitere Personen

Artan Murati, Clan-Chef

Dr. Anne Fischer, Psychiaterin

Tarik Milici, Inhaber der Kneipe «Scheinbar»

Dr. Christoph Emmerich, Anwalt und Strafverteidiger

Willy Nowak, Kölner Ex-Boxer und Ex-Türsteher

Dietrich Eckmann, Pfarrer in Bad Ahrbrunn

Prof. Dr. Alfred Büsch, Rechtsmediziner, Duisburg

Dr. Johannes Hauschild, Justizministerium NRW

Friedhelm Bühler, Leiter des Jugendzentrums in Bad Hombach

Dr. Dietmar Vonderheide, Anwalt der Familie Barthold

Wolf Gossmann, Direktor der JVA Siegburg

Freitag, 8. November 2013

Und schon geht die Leier wieder von vorne los.

«Hey, Jonas …»

«Was denn?»

«Jetzt sei doch mal nicht so langweilig.»

«Nee. Ich hab echt kein Bock.»

«Was’n los mit dir?»

«Kein Bock. Ganz einfach.»

«Komm schon! Jonas!»

«Wollt ihr da im Ernst jetzt noch hin?»

«Klar, Mann. Die Nacht ist noch jung.»

«Nee, das wird mir echt zu spät …»

«Zu spät? Wieso zu spät? Morgen ist doch Samstag. Also keine Uni. Morgen kannste also ausschlafen, oder? Was willste denn sonst jetzt machen … ins Bett gehn vielleicht? Um elf ins Bett gehen kannste noch, wenn du mal 30 bist.»

«Aber …»

«Was aber?»

«Was aber was aber was aber. Ich hab meiner Mutter versprochen, ich geh morgen früh mit ihr shoppen.»

«Shoppen?»

«Ja.»

«Mit deiner Mutter?»

«Jahaaa!»

«Heute ist heute, und morgen ist morgen.»

«Außerdem hab ich nicht genug Kohle dabei.»

«Brauchste nicht viel. Wir leihen dir was.»

«Aber das ist doch so’n Edel-Laden.»

«Ein Mega-Laden, sag ich dir. Heute ist da Flatrate-Abend. Eintritt und Vodka-Energy bis zum Abwinken, alles inklusive für nur 15 Euro. Also, was jetzt? Jonas! Biste dabei?»

«Wer von euch kann denn jetzt noch fahren? Ihr habt alle ganz schön getankt.»

«Mann, wir fahren alle mit der Bahn. Die 92, die bringt uns bis vor die Tür. Easy. Guter Laden ist das. Bisschen feiern, bisschen tanzen. Die Mucke da ist nice. Also?»

«Ja … okay.»

«Mega. Du bist mein Mann.»

Von Bad Ahrbrunn erst mal nach Norden, bis zur U-Bahn-Station unter dem Rheinheimer Hauptbahnhof, die Rolltreppe hoch und kurz rein bei McDonald’s, weil sie hier sowieso umsteigen müssen, schnell noch was essen, dann wieder runter und weiter mit der 92, über den Rhein, immer am Ostufer entlang, wieder Richtung Süden, die Nacht ist jung, die Bahn rast durch die Nacht, vorbei an kaum noch beleuchteten Dörfern, sie haben den Wagen fast für sich alleine, kurz vor Mitternacht, abgesehen von den zwei Typen vor ihnen, zwei Latinos, Jonas setzt sich natürlich gleich zu denen, bisschen was wegquatschen, macht er gerne, der Jonas, wildfremde Leute anquatschen, wo kommt ihr denn her und so, auf Spanisch natürlich, muss er ja immer raushängen lassen, dass er perfekt Spanisch spricht, und außerdem noch perfekt Französisch, weil er ein paar Jahre mit seiner Familie in Frankreich gelebt hat, jajaja.

Die Latinos studieren in Aachen Maschinenbau, oje, die Armen, das ist Höchststrafe, Maschinenbau an der RWTH, auf sieben Männer im Hörsaal kommt eine Frau. Ehrlich, wenn ich es dir sage, die Statistik lügt nicht. Die beiden sind im dritten Semester, ziemlich schüchtern, sie kommen aus Ecuador und wollen übers Wochenende Landsleute besuchen, die in Bad Hombach wohnen, und Jonas sagt:

«Ey, was für ein Zufall, ich bin auch im dritten Semester, aber Jura, in Köln. Ich hab ein Stipendium für die Sorbonne, nächstes Jahr gehe ich nach Paris.»

«Wieso sprichst du so gut Spanisch?»

«Meine Mutter ist Mexikanerin. Kommt ihr noch mit uns in den Club? Bisschen feiern? Soll nice sein da.»

Die beiden Schüchternen schütteln die Köpfe. Sie steigen eine Station vorher aus.

«Bueno, amigos. Alles Gute.»

Stipendium für die Sorbonne. Das kriegt jetzt wohl jeder aufs Ohr gedrückt. Und morgen Shoppen mit Mama.

Bei der nächsten Station müssen sie raus. Endstation. Mensch, ist das noch warm. Im November! Kurz vor Mitternacht. Man könnte glatt noch im T-Shirt rumlaufen, wenn das nicht so asimäßig aussähe. Vorbei am verwaisten Berufspendler-Parkplatz, vorbei am Taxistand. Von ferne glüht die Reklame des Ladens verheißungsvoll in die warme Novembernacht:

RHEINGOLD

Gesichtskontrolle am Eingang, Alterskontrolle, du meine Güte, was für Asis, die Türsteher, rasierte Schädel, Stiernacken, aufgepumpte Oberarme, wie im Kino. Komischerweise müssen nur sie die Persos vorzeigen, obwohl sie alle über achtzehn sind, nicht aber die vier fremden Mädels vor ihnen in der Schlange. Die sehen aus wie fünfzehn, sind sie wahrscheinlich auch, kichern nur albern rum, klimpern mit ihren falschen Wimpern und werden einfach durchgewinkt. Drinnen wird’s hoffentlich besser, weniger asimäßig.

Weiter zur Kasse, 15 Euro für die Flatrate, Plastikbändchen ums Handgelenk. Garderobe kostet noch mal einen Euro extra, blöd, was soll’s, und weiter, durch den langen Gang in Richtung der wummernden Bässe. Die Nacht ist noch jung.

Und Jonas Barthold, neunzehn Jahre alt, Student im dritten Semester an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, das Stipendium für die Pariser Sorbonne in der Tasche, hat noch drei Stunden zu leben.

FÜNF JAHRE SPÄTER – MONTAG, 3. SEPTEMBER 2018

Mohr macht eine Beobachtung: Alles auf diesem Schreibtisch ist exakt im rechten Winkel zueinander angeordnet. Also nicht ungefähr 98 Grad oder 82 Grad. Sondern exakt 90 Grad. Als seien die Abstände zu den Tischkanten mit dem Lineal vermessen worden.

Das Notizpapier. Der Füllfederhalter. Das Telefon. Das Notebook. Die drei Körbchen aus transparentem Plastik. Eingang Dr. Köstring/Ausgang Intern/Ausgang Poststelle. Und Mohrs Personalakte. Unübersehbar, mittig auf dem Schreibtisch platziert.

Thomas Mohr. Geboren am 15. Januar 1969. Geburtsort: Köln. Familienstand: ledig. Kriminalhauptkommissar. Dezernat 34, LKA NRW. Letzte Verwendung: Leiter Zielfahndung.

Letzter Einsatz: ein Desaster. Ein Desaster.

So sieht es jedenfalls Köstring, weiß Mohr. Weil der Innenminister es so sieht. Und der sieht es so, weil ein Reporter des WDR es so sah, nachdem Muratis Anwalt es ihm in den Block diktiert hatte: Die übergriffigen Methoden eines Polizeistaates …

Mohr kann diese Auffassung nicht teilen. Aber er hält die Schnauze. Weil seine Auffassung nicht relevant ist. Weil es völlig irrelevant ist, was er denkt und meint. Mohr hat keine Ahnung, was da sonst noch so alles drinsteht in seiner Personalakte. Er starrt an dem Mann hinter dem Schreibtisch vorbei durch das Fenster und liest, was jenseits der Völklinger Straße auf der Reklametafel steht:

Mr. Wash. Nur 6 Euro. Gratis saugen! Tägl. bis 20 Uhr.

«Begreifen Sie es bitte als Chance, Herr Mohr», sagt der Mann hinter dem Schreibtisch.

Mohr sagt nichts. Er hat den Job als Leiter der Zielfahndung geliebt.

Der Mann hinter dem Schreibtisch heißt Dr. Bernd Köstring und ist Direktor des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen. Das zum Beispiel ist relevant. Köstring rückt seine rechteckige Brille zurecht, beugt sich vor, faltet die Hände, stützt die Ellbogen auf die Tischplatte, beugt sich noch ein Stückchen weiter vor, Richtung Mohr, weiter geht’s wirklich nicht, und sagt:

«Um ganz deutlich zu werden: Es ist Ihre einzige Chance.»

«War’s das?»

«Von unserer Seite: ja. Es sei denn, Sie hätten noch Fragen …»

«Ja. Eine noch.»

«Schießen Sie los!»

Schießen Sie los. Köstring gibt sich gern salopp, wenn er mit Untergebenen spricht. Im Grunde ist er kein übler Kerl. Mohr hatte früher nie Probleme mit ihm. Nicht vor dieser Sache. Vor dem Desaster. Köstring weiß immer alles, und natürlich weiß er immer alles besser. Aber das haben Führungskräfte so an sich. Naturgesetz. Weil das so ist, machen sie Karriere.

Außerdem steht Köstring wegen der neuen Landesregierung mächtig unter Druck. Die hat ihn zum Direktor gemacht. Und die hat außerdem ihren Wählern mehr Sicherheit versprochen. Und muss jetzt liefern. Sollte das Wahlversprechen nicht einzulösen sein, muss deswegen natürlich kein Politiker zurücktreten. Dafür gibt’s schließlich Leute wie Köstring. Die Bauernopfer. Schmerzensgeld statt Gehalt.

Schießen Sie los.

«Nur mal so: Das LKA verfügt über eine Dienststelle OFA mit neun Planstellen. Hocheffiziente Truppe. Neun erfahrene Fallanalytiker. Gute Leute. Wozu also jetzt noch eine neue, zusätzliche Dienststelle?»

«Wo Sie das gerade erwähnen … das wissen Sie vermutlich noch gar nicht. Nein, das können Sie ja gar nicht wissen. Hat sich nämlich viel getan in dem halben Jahr Ihrer Abwesenheit. Wir benutzen in unserer Außendarstellung neuerdings nicht mehr diesen sperrigen Begriff Operative Fallanalyse, wir benutzen nach außen hin auch nicht mehr diese schreckliche Abkürzung OFA. Wir sagen jetzt in der Außendarstellung: LKA-Profiler.»

«Aha.»

«Klingt einfach besser. Da kann sich auch der Laie draußen im Land gleich was drunter vorstellen. Wir wollen unsere Arbeit künftig nach außen hin offensiver verkaufen. Lebensnaher darstellen. Vor allem das Feld nicht mehr tatenlos diesen selbsternannten Profilern überlassen, die abends im Fernsehen in den Talkshows hocken und mit Hilfe ihres angelesenen Wörterbuchs der Küchenpsychologie über Fälle schwadronieren, die sie überhaupt nicht kennen.»

«Schön. Also?»

«Was also?»

«Meine Frage. Wozu eine weitere Dienststelle?»

«Ganz einfach: Weil unsere Fallanalytiker immer häufiger von den sechzehn Kriminalhauptstellen in NRW um Amtshilfe gebeten werden. Und immer frühzeitiger. Das ist ja insgesamt eine begrüßenswerte Entwicklung, die zeigt, dass die polizeiinterne Akzeptanz unserer OFA wächst und wächst. Das bedeutet aber auch: Wenn die Fallanalytiker immer häufiger und frühzeitiger in noch frische Fälle einsteigen, und Sie wissen, dass die OFA immer in Vierer-Teams arbeitet, also bei neun Kräften brutto zeitgleich maximal an zwei Fällen arbeiten kann, vorausgesetzt, es ist maximal nur ein Mitglied in Urlaub oder krank, dann bleibt zwangsläufig immer weniger Zeit für die Cold Cases. Und da kommen Sie ins Spiel, Herr Mohr.»

Köstring macht eine Pause. Mohr wartet ab.

«Letzter Punkt, Herr Mohr: Wir planen, mittelfristig hier im Hause eine zentrale digitale Datenbank aller ungeklärten NRW-Altfälle von gewisser Deliktschwere aufzubauen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Die Kriminalhauptstellen in Nordrhein-Westfalen müssen dafür selbständig die alten Ermittlungsakten digitalisieren und uns dann elektronisch übermitteln. Natürlich nach einem Raster, das wir vorgeben. Sie ahnen, was das an Mehrarbeit für die Kollegen in den Kriminalhauptstellen vor Ort bedeutet.»

«Ich ahne, dass dieses Projekt genau daran scheitern wird.»

«Wieso das?»

«Die Mehrarbeit wird man als Argument vorschieben, aber der wahre Grund ist die Eitelkeit. Wer lässt sich schon gern vom LKA sagen, dass bei den Ermittlungen Fehler gemacht wurden?»

Köstring lehnt sich wieder zurück. Schafft emotionale Distanz durch räumliche Distanz. Hat er wahrscheinlich in einem Seminar für Führungskräfte gelernt. Körpersprache: ganz wichtig.

«Herr Mohr, diese defätistische Haltung gefällt mir nicht. So kenne ich Sie gar nicht. Jedenfalls habe ich Sie früher nie als Bedenkenträger erlebt.»

«Hat sich viel getan in dem halben Jahr …»

«Ich denke jetzt mal laut in die Zukunft: Mit Hilfe moderner, intelligenter Software könnte der Computer eines Tages zum Ermittlerkollegen werden. Nur damit Sie eine Vorstellung haben: Wir reden von roundabout 900 ungeklärten Mordfällen im Zeitraum siebziger Jahre bis heute.»

«Mit welchem der 900 Mordfälle fange ich am besten an? Im Ernst: Mir will nicht in den Kopf, warum man eine neue Dienststelle mit nur einer Planstelle startet …»

«Herr Mohr, das ist doch nur die Testphase. Wir wollen erst mal sehen, ob Sie in der Lage sind, einen Mehrwert zu generieren. Bevor wir das Geld der Steuerzahler zum Fenster rauswerfen. Da müssen Sie auch den Minister verstehen. Im Übrigen: Auch die OFA hat mal klein angefangen …» Köstring schaut auf die Uhr. «So viel vielleicht mal fürs Erste, Herr Mohr. Meine Tür steht Ihnen selbstverständlich immer offen.»

Mohr steht auf und verlässt das Büro. Einen Mehrwert generieren.

Köstring seufzt, lehnt sich wieder zurück und wendet seinen Blick dem Jüngeren zu, der schweigend und mit verschränkten Armen am Sideboard lehnt. «Und, Herr Pretzke? Was ist Ihre Meinung?»

«Die kennen Sie, Herr Direktor: Mohr hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Der Mann ist impulsiv, unberechenbar, er ist …»

«Das weiß ich selbst», unterbricht Köstring ihn. «Aber als Chef der Zielfahndung hatte er eine spitzenmäßige Erfolgsquote. Schauen Sie sich das Benchmarking an: Die Zielfahndung des LKA NRW war unter Mohr bundesweit die erfolgreichste.»

«Wenn Sie mich fragen: Er hat seine Emotionen nicht im Griff, er neigt zu übergriffigen Aktionen, er überschreitet eindeutig seine polizeilichen Kompetenzen …»

«Aber danach habe ich Sie nicht gefragt, Herr Pretzke. Ich will lediglich Ihre Meinung hören zu der kleinen Szene von eben.»

«Meine Meinung: Wir sollten ihn unbedingt im Auge behalten, Herr Direktor.»

«Sehr gut. Das sehe ich auch so.»

«Damit wir rechtzeitig …»

«Und genau das ist nun Ihr Job, Herr Pretzke.»

«Was?»

«Ihn im Auge behalten. Das ist jetzt Ihr Job.»

«Wieso meiner?»

Köstring kann Philipp Pretzke nicht besonders gut leiden. Er hält ihn für unterdurchschnittlich begabt und allenfalls durchschnittlich intelligent und vor allem für viel zu gut gekleidet. Immer Anzüge, immer Krawatte und Einstecktuch, immer wie frisch vom Friseur. Einer, der seine gesamte Energie und Arbeitszeit in die sorgfältige Planung seiner Karriere investiert und konsequent sämtliche Aufgaben delegiert, die auch nur entfernt die Möglichkeit des Scheiterns bergen könnten. Angeblich, so hört man, steht ihm dank der Unterstützung seiner Parteifreunde der Sprung ins Düsseldorfer Innenministerium unmittelbar bevor.

Natürlich ist Köstring bemüht, sich diese persönliche Meinung im Umgang mit Pretzke nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Manchmal gelingt ihm das.

«Sie sind doch Leiter ZA1, oder nicht? Nach meinem Kenntnisstand ist Ihre Abteilung somit für alle Personalangelegenheiten zuständig, oder irre ich mich da?»

«Herr Direktor, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, wir beschäftigen neben Herrn Kriminalhauptkommissar Mohr noch weitere 1300 Bedienstete im Haus, die meiner Aufmerksamkeit bedürfen. Ferner ist die Zentralabteilung 1 neben den Personalangelegenheiten auch noch für die Finanzen und für die Liegenschaften des LKA zuständig. Ich habe also …»

«Manchmal muss man Prioritäten setzen, Herr Pretzke. Sie erstatten mir bitte regelmäßig Bericht. Schönen Tag noch.»

SAMSTAG, 9. NOVEMBER 2013

Adela Lorena Macedo de Barthold ist auf der Stelle hellwach, als sich ihr stummgeschaltetes Handy auf dem Nachttisch mit einem nervösen Brummen bemerkbar macht. Sie greift danach, richtet sich im Bett auf und registriert im Display zwei Informationen.

Die Uhrzeit.

1.54 Uhr.

Und dass ihr Sohn der Anrufer ist.

Sie drückt die Annahmetaste.

«Jonas?»

Keine Antwort. Stattdessen fremde Stimmen. Ein Mann. Eine Frau. Noch eine Frau. Laut. Dazwischen, hin und wieder, die Stimme ihres Sohnes. Sie versteht kein Wort von dem, was da gesprochen wird. Die Stimmen klingen dumpf, wie in Watte gepackt.

«Jonas? Was ist los? Jonas!»

Jonas redet. Aber nicht mit ihr. Er scheint seine Mutter gar nicht zu hören.

Die Stimmen werden lauter, alle reden durcheinander. Sie versteht immer noch kein Wort.

«Jonas?»

Dann ist die Verbindung unterbrochen. Sie schaut neben sich. Aber ihr Mann schläft tief und fest.

Adela Lorena Macedo de Barthold reibt sich den Schlaf aus den Augen und versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Viel Zeit bleibt ihr nicht fürs Nachdenken. Denn das Display leuchtet erneut auf, das Handy vibriert in ihrer Hand.

2.03 Uhr.

Sie drückt die Taste.

«Jonas?»

«Hallo? Hier ist Jonas Barthold. Ich stehe hier vor der Tür des Rheingold und …»

«Jonas, qué pasa? Was ist los?»

«Ach so. Entschuldigen Sie bitte.»

«Jonas, ich bin es doch. Deine Mutter. Wo bist du?»

Sie schreit vor Verzweiflung in das Handy. Die Verbindung bricht ab. Holger Barthold ist inzwischen aufgewacht. Er sieht seine Frau fragend an. Sie nickt nur.

«Wo ist er denn?»

«Irgendwas stimmt da nicht, Holger.»

Barthold setzt sich auf, nimmt seiner Frau das Handy aus der Hand und wählt die Nummer seines Sohnes.

Nichts.

Er versucht es noch einmal.

Nichts.

Er tippt eine SMS: Bitte melde dich!

«Adela, was hat er denn gesagt?»

«Er steht vor der Tür von … ich weiß nicht was. Aber die feiern doch Fabians Geburtstag, im Haus von Fabians Eltern. Wo um Himmels willen ist er denn jetzt?»

«Adela, er hat doch gesagt, dass sie von dort aus möglicherweise noch gemeinsam weiterziehen. Die sind doch jetzt garantiert in irgendeiner Disco.»

«Und wieso hat er keinen Empfang? Wieso erreichen wir ihn nicht auf seinem Handy?»

«Ist doch klar! Er ist wieder rein. Diese Discos haben dicke Wände. Außerdem würde er dadrinnen sowieso nicht hören, wenn sein Handy klingelt. Wegen der lauten Musik. Jetzt mach dir keine Sorgen. Irgendwann liest er die SMS und ruft zurück. Schlaf jetzt bitte weiter.»

«Aber wenn ihm etwas passiert ist …»

«Dann wäre der Anruf von der Polizei oder aus einem Krankenhaus gekommen, und nicht von Jonas.»

«Aber er klang so merkwürdig …»

«Adela! Er ist doch nicht allein. Er ist mit seinen Kumpels unterwegs. Was soll ihm denn da passieren?»

«Lass uns hinfahren!»

«Wohin denn?»

«In die Diskothek.»

«Welche ist das denn?»

«Rheingold … oder so ähnlich.»

«Rheingold? Nie gehört. In Bad Ahrbrunn? In Rheinheim? In Köln? Oder irgendwo dazwischen?»

«Wir finden das bestimmt im Computer. Wir können das doch googeln. Irgendwas mit Rhein im Namen.»

«Adela, jetzt beruhig dich bitte. Willst du deinen Sohn vor seinen Freunden dermaßen blamieren?»

«Aber …»

«Du kannst Jonas doch nicht ein Leben lang bemuttern. Und die sind doch heute Nacht in Fußballmannschaftsstärke unterwegs. Jonas ist ein vernünftiger Junge, er kann selbst auf sich aufpassen. Jonas macht keine Dummheiten.»

Sie liegen nebeneinander, starren stumm an die Decke und hängen ihren Gedanken nah. Nach zwei Minuten schlägt Holger Barthold die Bettdecke zurück und richtet sich auf.

«Okay.»

«Was machst du?»

«Ich werf jetzt den Computer an und versuche, die Adresse rauszufinden. Und dann ziehen wir uns an und fahren hin.»

Sie legt ihre Hand auf seinen Arm.

«Nein. Du hast ja recht. Er ist erwachsen. Ich muss endlich damit aufhören, ihn wie ein Baby zu behandeln.»

Sie sagt das, um ihren Mann zu beruhigen. Und sich selbst. Aber sie findet in dieser Nacht keinen Schlaf mehr.

MITTWOCH, 14. MÄRZ 2018

Kurz nach drei Uhr morgens. Mohr unterdrückt ein Gähnen. Seit fünf Stunden sitzt er bewegungslos hinter dem Lenkrad und starrt in die Nacht. Mal abgesehen von den zwei kurzen Pinkelpausen. Drei Grad. Die Kälte kriecht durch die gefütterte Jacke, selbst durch die dicken Schuhsohlen.

Seit fast einer Woche observieren sie diese verdammte Raststätte. Siegburg-Ost, A3 Köln–Frankfurt, Fahrtrichtung Süden. Rund um die Uhr, in drei Schichten, zwei Teams pro Schicht, zwei Leute pro Team. Der schwarze Audi des zweiten Teams steht am anderen Ende des Parkplatzes. Die Nacht hat ihn verschluckt. So wie den anthrazitfarbenen BMW, in dem Mohr hockt. Genügend Distanz zum nächsten Laternenmast, kein Innenlicht, kein laufender Motor, nicht einmal eine brennende Zigarette.

Klaus tritt aus der Tür der hell erleuchteten Tankstelle. Den Kragen seiner Jacke hochgestellt, die Schultern eingezogen, in jeder Hand einen Kaffeebecher, steuert er durch den Nieselregen auf die Dunkelheit und den BMW zu. Kriminalkommissar Klaus Becker ist der mit Abstand Jüngste in Mohrs Truppe, erst seit knapp zwei Monaten bei der Zielfahndung. Deshalb hat ihn Mohr in seine Schicht genommen, in seinen Wagen. Damit er ihn unter Kontrolle hat.

Becker steigt ein, reicht Mohr den Becher in seiner rechten Hand, schließt die Beifahrertür.

«Danke, Klaus.»

«Was für ein Sauwetter. Pass auf, der Kaffee ist ziemlich heiß. Was machen wir, wenn er wieder nicht kommt?»

«Dann fahren wir gleich nach Schicht zum Informanten.»

«Um sechs Uhr morgens?»

«Sechs Uhr morgens ist die beste Zeit, um Informanten zu besuchen.»

«Was ist das eigentlich für ein Typ?»

«Der Informant?»

«Das Zielobjekt.»

«Artan Murati? 59 Jahre alt. Gebürtiger Albaner. Wird per internationalem Haftbefehl gesucht. Wegen …»

«Chef! Ich hab den Haftbefehl gelesen!»

«Sorry. Was willst du denn noch wissen? Oberhaupt eines weitverzweigten Familienclans, der halb Nordrhein-Westfalen kontrolliert. Das komplette Programm: Menschenhandel, Zwangsprostitution, Schutzgeld-Erpressung, Geldwäsche, Spielcasinos, vornehmlich Pokerrunden mit manipulierten Blättern und versteckten Kameras, um die Opfer per Schuldschein in die Abhängigkeit zum Clan zu bringen. Außerdem alles, was knallt: Kokain, Heroin, Crack, Crystal Meth, Ecstasy, Speed und so weiter und so weiter.»

«Und wieso läuft der noch frei rum?»

«Weil unsere Staatsanwaltschaften das nie hingekriegt haben. Aber die Niederländer haben es jetzt hingekriegt.»

«Und einen internationalen Haftbefehl ausgestellt …»

«Ja. Wegen des dringenden Tatverdachts der Vergewaltigung. Eine Siebzehnjährige in Amsterdam. Artan Murati besitzt seit zwei Jahren die niederländische Staatsangehörigkeit.»

«Amtshilfeersuchen …»

«So ist es.»

Der Kaffee schmeckt grauenhaft.

«Ich dachte immer, Murati wohnt in Köln?»

«Hat er ja auch. Jedenfalls die meiste Zeit. Er besitzt noch ein paar weitere Wohnsitze in Europa.»

«Gebürtiger Albaner, wohnhaft in Köln. Und wieso hat er dann die niederländische Staatsangehörigkeit?»

«Frag ihn selbst, sobald wir ihn haben. Keine Ahnung, wie und warum er sich die besorgt hat. Jedenfalls: Seit ihn die Niederländer suchen, ist er abgetaucht.»

«Und jetzt hat der Informant …»

«Genau!»

«Verstehe.»

Sie schweigen eine Weile. Nicht lange. Jedenfalls nicht so lange, wie Mohr es sich gewünscht hätte.

«Chef?»

«Ja?»

«Hast du gewusst, dass wir uns hier sozusagen auf kriminalhistorischem Boden befinden?»

«Nein.»

Mohr findet, dass Klaus Becker auf dem besten Weg ist, ein guter Polizist zu werden. Hat Talent, der Junge. Kann was werden mit ihm. Wenn er nur nicht so viel quasseln würde während der Observationen. Aber Mohr will nett zu ihm sein:

«Nun sag schon.»

«Das Geiseldrama von Gladbeck. August 1988. Erinnerst du dich? Hier war die Zirkusshow zu Ende. Die Polizei hat genau auf diesem Parkplatz hier sämtliche Zündschlüssel der Reporter und Kamerateams einkassiert. Damit das SEK endlich freie Bahn hatte für den Zugriff auf der A3.»

«Stimmt. Hier war das. Hat ja dann auch prima geklappt.»

«Wie meinst du das?»

«Eine der beiden Geiseln ist dabei draufgegangen. Achtzehn Jahre war sie alt. Wie hieß sie noch mal? Silke Bischoff.»

«Aber das waren ja nicht unsere Kollegen. Das war doch einer der beiden Bankräuber …»

«Ja. Während deine Kollegen 62 Schüsse auf den Fluchtwagen abgaben, hat er sie erschossen.»

«War ja auch keine einfache Aufgabe, den Wagen auf der Autobahn zu stoppen und …»

«Sag mal, Klaus … 1988 … warst du da überhaupt schon auf der Welt?»

Klaus klingt beleidigt: «Ich bin 1986 geboren.»

«Keine leichte Aufgabe. Also nicht deine Geburt, die zweifellos auch. Ich meine den Zugriff auf der Autobahn. Es war vor allem eine völlig bescheuerte Idee. Nur weil die Idioten im Düsseldorfer Innenministerium die Sache unbedingt auf den letzten Metern beenden wollten, bevor der Fluchtwagen ein paar Kilometer weiter die Landesgrenze passiert hätte. Aus Prestigegründen. Weil man vorher so viel verbockt hatte. Und weil in Rheinland-Pfalz auf Bitte der Mainzer Landesregierung schon die GSG 9 bereitstand.»

«Hab ich nicht gewusst.»

«Dabei gab es vorher jede Menge guter Gelegenheiten. Die erste verpasste Gelegenheit schon gleich zu Beginn in Gladbeck. Dann wäre auch der vierzehnjährige Junge noch am Leben, der versucht hat, auf dieser Raststätte bei Bremen seine kleine Schwester im Bus zu beschützen. Wie hieß er noch gleich?»

«Emanuele de Giorgi. Raststätte Grundbergsee an der A1.»

Mohr ist immer wieder verblüfft über Beckers phänomenales Gedächtnis für Fakten.

«Später, in der Kölner Fußgängerzone, wäre es ebenfalls ein Kinderspiel gewesen. Ein Kollege hatte sich unter die Reporter gemischt, er hatte schon seinen Arm durch das offene Fenster um Rösners Nacken gelegt, ihm freundschaftlich die Schulter getätschelt. Ein Griff, und er hätte Rösner erledigt, der wusste, wie man so was macht, er hätte Rösner just in dem Moment erledigt, als sein Buddy lässig am Kofferraum lehnte und durch die Heckscheibe aus nächster Nähe freies Schussfeld auf Degowski hatte. Wenn er denn seine Waffe aus dem Holster unter der Jacke gezogen hätte. Aber nein, die Einsatzleitung im Kölner Präsidium hat den Zugriff verboten. Unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen.»

«Aber …»

«Nix aber. Das kommt dabei heraus, wenn die wichtigen Entscheidungen am grünen Tisch getroffen werden. Bei der GSG 9 entscheidet übrigens seit ihrer Gründung der Einsatzleiter vor Ort. Anders geht’s auch nicht. Jedenfalls könnte Silke Bischoff noch leben. Emanuele de Giorgi könnte noch leben. Was für eine Scheiße. Was für eine gottverdammte Scheiße.»

«Chef?»

«Was denn noch?»

«Ich hab dich noch nie an einem Stück so lange reden gehört.»

«Ist auch jetzt Schluss damit für diese Nacht.»

Sie schweigen. Etwa zwanzig Minuten lang. Dann sagt Mohr ins Funkmikrophon: «Sie kommen.»

Ein 7,5-Tonner mit rumänischem Kennzeichen. Der weiße Kastenwagen stoppt neben einer der Diesel-Zapfsäulen für Laster. Der Fahrer springt aus dem Führerhaus und öffnet den Tank. Der Beifahrer braucht etwas länger, um aus dem Führerhaus des Lastwagens zu klettern. Er streckt sich umständlich, reibt sich die Augen. Vermutlich hat er während der langen Fahrt geschlafen. Dann lupft der Mann den Ärmel der Lederjacke und blickt auf die Uhr an seinem Handgelenk.

Keine zwei Minuten später rollt ein schwarzer S-Klasse-Mercedes mit Kölner Kennzeichen im Schritttempo auf die Tankstelle zu und stoppt neben dem 7,5-Tonner. Der Fahrer steigt aus, schließt die Tür der Limousine und schaut sich aufmerksam um.

Das breite Kreuz eines Schwergewichtsboxers. Der schwarze Anzug spannt um die Schultern. Artan Muratis Chauffeur und Leibwächter. Der Mann umrundet das Heck der Limousine und reißt die jenseitige Tür zum Fond auf. Mohr wundert sich, dass er dabei nicht salutiert.

Artan Murati steigt aus. Die Schuhe glänzen im grellen Licht. Der Anzug sitzt tadellos. Wie aus dem Ei gepellt. Mittelgroß. Kein Gramm zu viel. Kurzgeschnittenes, volles Haar, wenn auch inzwischen ziemlich grau. Das weiß Mohr allerdings nur von den aktuellen Fotos der Amsterdamer Kollegen. Bei der Entfernung zum Zielobjekt ist die Haarfarbe nur zu erahnen.

Murati nickt kurz in Richtung Rückbank. Der Leibwächter greift ins Wageninnere, zieht einen Mantel hervor und legt ihn seinem Chef um die Schultern. Murati geht auf die Besatzung des Lastwagens zu, schüttelt den beiden Männern die Hand, klopft ihnen auf die Schulter. Die beiden lächeln dankbar.

Ein kurzer Wortwechsel, dann beugt sich der Fahrer des Lastwagens wieder über die Tanköffnung und hantiert am Zapfhahn, während der Beifahrer zum Heck marschiert, dort unter den Kasten greift und die elektrische Hebebühne herablässt. Muratis Chauffeur tritt hinter den Mercedes und öffnet den Kofferraum. Und Murati schaut gelassen zu, keine Spur von Nervosität.

Arschloch. Jetzt kriegen wir dich.

Doch dann wirkt Murati mit einem Mal abgelenkt. Er greift in seine Hosentasche, zieht ein winziges, altmodisches Handy hervor, hält es ans Ohr, hört einen Moment aufmerksam zu, steckt das Telefon nach ein paar Sekunden wieder weg, schaut sich hektisch um.

«Zugriff», brüllt Mohr ins Funkmikrophon.

«Aber wir sollen doch nur observieren. Das SEK …»

«Zugriff», brüllt Mohr erneut ins Mikro. «Murati ist gewarnt worden. Der haut ab.»

Artan Murati bellt Befehle, sein Leibwächter knallt die Klappe des Kofferraums zu, zieht eine riesige Pistole aus dem Holster unter seinem Jackett und dreht sich einmal um die eigene Achse. Murati reißt die Fahrertür auf, springt hinter das Steuer des Mercedes, startet den Motor und gibt Gas. Der Wagen heult auf und schießt über den Parkplatz davon. Nicht Richtung Autobahn, sondern zur Betriebsstraße, die von der Raststätte durch den Wald nach Siegburg führt.

Die Stimme aus dem Funk: «Chef, wir haben aber doch ausdrückliche Order, dass wir …»

«Das ist ein Befehl! Ich folge dem Mercedes, ihr kümmert euch um den Lastwagen und die drei Typen. Zugriff. Jetzt!»

Mohr blickt zu Becker: «Raus mit dir. Du unterstützt die beiden Kollegen.» Becker zieht seine Waffe, schlüpft aus dem BMW und geht hinter einem geparkten Sattelschlepper in Deckung. Mohr drückt das Gaspedal durch und folgt den beiden Rücklichtern, die in der Dunkelheit schwächer und schwächer werden.

SAMSTAG, 9. NOVEMBER 2013

Als Adela Lorena Macedo de Barthold die Schritte im Vorgarten hört, hat sie noch keine Sekunde geschlafen. Sie schaltet die Leselampe auf dem Nachttisch ein und wirft einen Blick auf die Anzeige des Radioweckers. 5.30 Uhr. Sie rüttelt kurz an der Schulter ihres schlafenden Mannes, springt aus dem Bett, wirft sich den Bademantel über, und als unten an der Haustür geklingelt wird, ist sie schon an der Treppe.

Ein Mann und eine Frau. Zivilkleidung. Sie zeigen ihre Dienstausweise. Sie nennen ihre Namen, aber Adela Lorena Macedo vergisst sie sofort wieder. Polizeipräsidium Rheinheim. Kriminalwache. Dürfen wir reinkommen?

Ihr Mann steht mit einem Mal neben ihr. Ebenfalls im Bademantel. Er legt seine Hand um ihre Schulter.

«Holger … die Polizei.»

«Sie sind die Eltern von Jonas Frederik Barthold?»

Halb Frage, halb Feststellung. Ein stummes Nicken. Adela spürt, wie sich ihr Hals zuschnürt.

«Ist Ihr Sohn da?»

«Nein, noch nicht. Er ist mit Freunden …»

«Frau Barthold, Herr Barthold, dürfen wir reinkommen? Ist vielleicht besser, wenn wir drinnen weiterreden …»

Sie gehen in Wohnzimmer.

«Was ist mit Jonas?»

«Bitte setzen Sie sich, Frau Barthold.»

«Was ist mit ihm?»

Sie setzen sich an den Esstisch. Adela zittert am ganzen Körper. Sie will nicht zittern. Niemand soll sie zittern sehen.

«Wir haben die Geldbörse Ihres Sohnes am Rheinufer gefunden. In Bad Hombach. Ganz in der Nähe einer Diskothek namens Rheingold. Wir haben deshalb Grund zu der Annahme, dass sich Ihr Sohn diese Nacht das Leben genommen hat …»

«Das Leben genommen?»

«… und zuvor seine Geldbörse am Ufer ablegte, bevor er ins Wasser ging, um Suizid zu begehen.»

Der Beamte kramt den durchsichtigen Plastikbeutel mit der Börse aus seiner Jackentasche und legt ihn auf den Tisch.

«Ist das das Portemonnaie Ihres Sohnes?»

Ein Schrei.

Adela Lorena Macedo hört einen kurzen, heftigen Schrei. Es ist ihr eigener: schrill, laut, fremd. Sie schlägt die Hände vors Gesicht. Sie will nichts mehr sehen. Nichts mehr hören. Keine Träne. Stark sein jetzt.

Holger Barthold greift nach dem Plastikbeutel, bevor die Beamtin dies verhindern kann, er nimmt die Geldbörse heraus und klappt sie auf. Die Beamtin will etwas sagen, lässt es dann aber.

Der Studentenausweis seines Sohnes, die Karte der Kölner Universitätsbibliothek, die Karte für die Mensa. Etwas Hartgeld im Münzfach. Nicht viel. Kein Papiergeld. Und auch sonst nichts.

«Der Personalausweis fehlt. Mein Sohn würde niemals ohne seinen Personalausweis das Haus verlassen.»

«Es war aber keiner in der Börse. Wir haben schon das Rheinufer abgesucht …»

«Und unser Sohn? Wo ist unser Sohn?»

«Wir haben unverzüglich ein Rettungsboot der Feuerwehr eingesetzt, aber in der Dunkelheit …»

In diesem Augenblick klingelt es erneut an der Haustür. 5.45 Uhr. Holger Barthold erhebt sich vom Tisch, verlässt das Wohnzimmer, tritt in die Diele und öffnet.

«Frau Barthold, sollen wir einen Seelsorger kommen lassen?»

«Warum sollte mein Sohn sich umbringen? Warum? Ich verstehe das nicht. Ich glaube das nicht.»

Die Kriminalbeamtin steht auf, entfernt sich ein paar Schritte, spricht in ihr Handy. Ihr Kollege starrt auf seine Hände, die auf der Tischplatte liegen. Er ist noch jung.

«Haben Sie mir überhaupt zugehört? Mein Sohn hat keinen Grund, sich das Leben zu nehmen!»

Der Polizist sieht auf, sagt aber nichts. Seine Kollegin spricht weiter in ihr Handy.

Holger kehrt ins Wohnzimmer zurück. Hinter ihm drei der ehemaligen Schulkameraden aus dem Abiturjahrgang. Malte, Fabian, Dennis. Sie lassen die Köpfe hängen. Die Beamtin beendet ihr Telefonat, kehrt zurück an den Tisch, setzt sich und beugt sich zu ihr.

«Der Seelsorger kommt gleich, Frau Barthold. Soll ich Ihnen vielleicht ein Glas Wasser aus der Küche holen?»

Adela Lorena Macedo schüttelt den Kopf. Sie wendet sich den drei Jungs zu. «Wollt ihr euch nicht setzen? Wir können noch ein paar Stühle aus der Küche holen.»

«Geht schon so. Kein Problem, Frau Macedo.»

«Wo ist Jonas? Was ist passiert?» Sie friert. Trotz des Bademantels. Sie hat Angst vor der Antwort.

«Wissen wir nicht», sagt Fabian. «Auf einmal war er weg.»

«Wieso weg? Wohin denn?»

Die Jungs schweigen.

Adela Lorena Macedo wirft ihrem Mann einen flehenden Blick zu. Holger Barthold ahnt, was sie wissen will: «Aber ihr seid doch sicher alle zusammen in die Diskothek …»

Sie nicken stumm.

«Und wieso …»

«Wir sind zusammen hingefahren», sagt Fabian. «Mit der Bahn. Im Club war es dann ziemlich voll. Da waren bestimmt 300, 400 Leute, wenn nicht noch mehr. Keine Ahnung, wie das kam. Wir haben uns in dem Trubel irgendwie aus den Augen verloren.»

«Aus den Augen verloren?»

«Ja.»

«Wie seid ihr jetzt hergekommen?»

«Mit dem Taxi.»

«Und die anderen? Wo sind die anderen?»

«Keine Ahnung.» Malte deutet auf die Geldbörse mitten auf dem Esstisch. «Ist das …»

«Die Geldbörse des Vermissten», sagt der Beamte. «Unsere Kollegen haben sie bei der Suche am Ufer gefunden. Deshalb liegt der Verdacht nahe …»

«Blödsinn», sagt Dennis.

«Wie bitte?» Der Ton des jungen Kriminalbeamten ist mit einem Mal scharf. Alle sehen ihn überrascht an. Dabei hat er nur Sorge, aufgrund seines Alters könnte jemand seine Autorität in Zweifel ziehen. Was auch zutrifft.

«Das ist absoluter Blödsinn!» Dennis wird lauter. «Seine Geldbörse hat Jonas nirgendwo hingelegt, die hat er auf dem Platz vor dem Rheingold einem Polizisten gegeben. Und der hat sie eingesteckt. In seine Uniformtasche. So war das!»

«Woher wollen Sie das wissen?»

«Da gibt’s jede Menge Zeugen für. Haben wir später mitgekriegt, als sich die Leute draußen unterhielten. Als schon nach Jonas gesucht wurde. Jonas hat sein Portemonnaie vorher einem Polizisten gegeben!»

Der Beamte von der Kriminalwache starrt hilfesuchend seine Kollegin an. Die runzelt die Stirn und sagt: «Also, davon wissen wir nichts. Das können wir uns so auch gar nicht vorstellen, um mal ganz ehrlich zu sein. Aber wir werden das auf alle Fälle klären.»

«Da war ein Autounfall auf dem Platz vor der Diskothek. Ein Stück seitlich, Richtung Bahnhaltestelle. Da ist ein Auto gegen einen Laternenpfahl geknallt, und der Fahrer ist abgehauen. In eins der Taxis gestiegen und einfach weggefahren. Deshalb war dann der Streifenwagen da. Zwei Polizisten in Uniform. Und einem von den beiden hat Jonas sein Portemonnaie in die Hand gedrückt, bevor er verschwunden ist. Das haben jede Menge Leute gesehen. Das müssten Sie doch …»

«Meine Kollegin sagte Ihnen doch gerade, wir werden das prüfen», bellt der junge Beamte mitten in den Satz.

«Ja, tun Sie das», bellt Dennis zurück.

In diesem Moment klingelt es erneut an der Haustür. Holger Barthold steht auf und verlässt das Wohnzimmer. Einen Moment lang muss er sich am Türrahmen abstützen, bevor er die Diele betritt.

Die Kriminalbeamtin legt besorgt ihre Hand auf Adelas Unterarm. Die unerwartete Berührung durchzuckt die Mutter wie ein Stromschlag. «Sie sehen nicht gut aus, Frau Barthold. Soll ich nicht besser einen Arzt rufen?»

Holger Barthold kehrt aus der Diele zurück. Mit dem Seelsorger. Nein, zwei Seelsorgern. Katholisch, evangelisch, sicherheitshalber. Neun Menschen drängeln sich nun im Wohnzimmer des Fachwerkhauses. Adela würde das Zimmer in diesem Augenblick gern mit nur einem einzigen Menschen teilen.

Mit Jonas.

DIENSTAG, 4. SEPTEMBER 2018

«Bitte nehmen Sie Platz, Herr Mohr.»

Also nimmt Mohr Platz.

Dr. Vera Voss setzt sich ihm gegenüber. Zwei bequeme Ledersessel mitten im Büro, vis-à-vis, zwei Meter neutraler Luftraum dazwischen. Sie macht es sich bequem, sie lehnt sich entspannt zurück, stützt die Ellbogen auf die Armlehnen, faltet die Hände und sieht ihn erwartungsvoll an.

«Danke, dass Sie spontan und so spät noch Zeit für mich gefunden haben. Ich denke, wir bleiben beim Dienstag, treffen uns aber künftig schon um 17 Uhr. Einverstanden?»

«Kein Problem.»

«Wie war der zweite Arbeitstag?»

«Sehr erfolgreich. Der Hausmeister hat mir heute ein Telefon und einen Computer besorgt. Einen Schreibtisch hatte er gestern schon irgendwo im Keller aufgetrieben. Den habe ich mit etwas lauwarmem Wasser und ein paar Papierhandtüchern aus dem Herrenklo picobello saubergekriegt. Der Bürostuhl ist dafür nagelneu. Kann man nicht meckern.»

Ein Lächeln. Das Lächeln steht ihr.

«Herr Mohr, Sie wissen, warum Sie hier sitzen.»

«Ist das eine Frage oder eine Feststellung?»

«Pardon. Ich habe den Satz irrtümlich nicht wie eine Frage betont. Werden Sie mich deswegen jetzt verhaften?»

«Festnehmen.»

«Wie bitte?»

«Ich kann Sie nicht verhaften. Das gibt es nur im schlechten Krimi. Einen Haftbefehl kann nur ein Richter auf Antrag der Staatsanwaltschaft erteilen. Ich könnte Sie höchstens festnehmen. Aber wozu sollte ich das tun?»

«Danke für die Belehrung. Sollte nur ein kleiner Scherz sein. Aber vielleicht bleiben wir besser ernst.»

«Gern.»

«Herr Mohr …»

«Ja?»

«Würden sie jetzt bitte meine Frage beantworten?»

«Welche Frage?»

«Wissen Sie, warum Sie hier sitzen?»

«Ich kann nur raten. Vermutlich, weil der Leiter ZA1 es wünscht, dass ich einmal pro Woche hier sitze.»

Sie öffnet kurz den Mund, sagt dann aber doch nichts.

«Philipp Pretzke. Den kennen Sie doch sicher. War die Antwort falsch, Frau Dr. Voss?»

Draußen auf der Straße hupt jemand wütend. Sie sehen sich in die Augen, studieren einander. Unbewegte Mienen. Unbewegte Körper. Minuten vergehen wie Sekunden. Sie kann das ziemlich gut, findet Mohr. Respekt.

«Das ist kein Verhör, Herr Mohr.»

«Vernehmung.»

«Wie bitte?»

«Es heißt: Vernehmung. Nicht Verhör. Vernehmung. Verhör heißt das nur im Fernsehen. Schauen Sie gern Fernsehkrimis, Frau Dr. Voss? Tatort oder so? Entspannt Sie das nach des Tages Müh? Wie lange arbeiten Sie schon für die Polizei?»

«Die Fragen stelle ich, Herr Mohr, nicht Sie. Auch wenn das für Sie ungewohnt sein mag. Ich spüre deutlich die Verbitterung in Ihrer Stimme, aber ich kann sie nicht einordnen. Habe ich Ihnen irgendwas getan?»

«Sie? Nein! Wie kommen Sie darauf?»

Sie macht sich eine Notiz. Sie lässt sich Zeit mit der Notiz. Mohr kennt das Spiel. Weil die meisten Menschen die Kombination aus Nähe und Stille nicht lange ertragen können, durchbrechen sie die Stille oft schon nach erstaunlich kurzer Zeit. Und reden dann deutlich länger, als sie ursprünglich beabsichtigten.

Mohr kann Stille ganz gut aushalten.

Sie legt Block und Stift wieder auf der breiten Armlehne des Sessels ab und fixiert ihn. Enge, dunkelblaue, schnörkellose Jeans und eine schlichte, weite, weiße Seidenbluse, luftig und betont nachlässig in den Hosenbund gesteckt. Sie trägt kein einziges Schmuckstück. Warum nicht? Mohr schätzt sie auf Mitte vierzig. Und er schätzt, dass sie regelmäßig und diszipliniert Sport treibt, dass sie konsequent auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung achtet. Tochter aus gutem Hause. Natürlich raucht sie nicht. Vermutlich verzichtet sie auch auf Alkohol.

«Wenn Sie es so genau wissen wollen: Ich arbeite seit 21 Jahren als Psychologin, aber erst seit acht Monaten für die Polizei.»

«Und Sie sollen nun …»

«Ich bin nicht Ihre Therapeutin, Herr Mohr. Damit da keine Missverständnisse aufkommen. Ich habe mich sehr früh auf Betriebspsychologie spezialisiert. Ich soll Sie im Auftrag Ihrer Vorgesetzten beim Neuanfang begleiten. Bei Ihrer beruflichen Wiedereingliederung. Und natürlich, da bin ich ganz ehrlich, habe ich regelmäßig über Sie Bericht zu erstatten.»

«An wen?»

«An den Leiter ZA1 des LKA.»

«An Pretzke.»

«Ja, an Herrn Pretzke.»

«Vielen Dank für Ihre Ehrlichkeit. Dann wäre das schon mal geklärt. Glauben Sie mir: Ich will Ihnen den Job nicht unnötig erschweren. Also? Was wollen Sie wissen?»

«Blicken Sie zuversichtlich auf Ihre neue Aufgabe?»

«Nein.»

«Warum nicht?»

«Ich dachte, in Psychologenkreisen seien Warum-Fragen verpönt. Hab ich mal irgendwo gelesen.»

«Oder vielleicht im Fernsehen aufgeschnappt? Also: Was missfällt Ihnen denn an Ihrer neuen Aufgabe?»

«Ich habe nicht gesagt, dass sie mir missfällt.»

«Aber Sie sagten doch gerade …»

«Ich blicke nur nicht zuversichtlich auf sie. Das war doch Ihre Frage, oder? Blicken Sie zuversichtlich auf Ihre neue Aufgabe? Meine Antwort ist: Nein.»

«Verraten Sie mir den Grund?»

«Da wird eine neue Dienststelle zur Prüfung von Cold Cases aufgemacht … Sie wissen, was Cold Cases sind?»

«Ich ahne es.»

«Ungeklärte Altfälle. Wahrscheinlich hat sich Pretzke diesen Anglizismus für die neue Dienststelle ausgedacht. Der mag so was.»

«Herr Mohr? Können wir Herrn Pretzke vielleicht mal einen Moment aus dem Spiel lassen?»

«Verzeihung. Cold Cases. Die Ermittlungen sind nicht offiziell eingestellt, weil es sich unzweifelhaft um ein Verbrechen handelte. Offizielle Einstellungen werden unter Umständen schnell publik und beunruhigen dann die Öffentlichkeit. Das will man natürlich vermeiden. Aber irgendwann tritt man nur noch auf der Stelle, findet keinen neuen Ermittlungsansatz mehr, außerdem stapeln sich inzwischen neue Fälle auf dem Schreibtisch … auch solche, die bequemer und schneller zu lösen sind und sich als geeigneter erweisen, um die Kriminalstatistik aufzuhübschen.»

«Aber das kann man doch auch positiv sehen.»

«Was denn?»

«Ich meine, wenn diese alten Fälle künftig nicht mehr in der Versenkung verschwinden und nun eigens eine Abteilung gegründet wurde, um sie neu aufzurollen …»

«Ja. Könnte man auch positiv sehen.»

«Aber?»

«Wenn diese neue Dienststelle nicht aus einem einzigen Ermittler bestünde, der jetzt gerade vor ihnen sitzt. Und wenn es sich nicht um die Cold Cases aus sämtlichen sechzehn Kriminalhauptstellen des mit 18 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Bundeslandes handeln würde. Gestern wurde ein erster Schwung alter Akten in mein Büro gebracht. Ein Bruchteil. Damit ich schon mal was zu tun habe. Nicht auf dumme Gedanken komme. Keine Ahnung, nach welchen Kriterien die ausgewählt wurden. Ein bewaffneter Raub, 6 Vermisstenfälle, 14 Vergewaltigungen, 32 Tötungsdelikte. Womit würden Sie anfangen?»

Vera Voss braucht einen Moment, um die Zahlen zu verdauen. Und, so schätzt Mohr, um sich eine kluge Frage zu überlegen, die das Gespräch geschmeidig in Gang hält.

«Und wie … alt sind diese Fälle?»

«Völlig unterschiedlich. Hängt von der Verjährungsfrist des jeweiligen Verbrechens ab.»

«Verstehe.»

«Nur so als Faustregel: Die Frist orientiert sich in etwa an der möglichen Höchststrafe im Strafgesetzbuch. Nur Mord verjährt nie. Manche Fälle sind drei Monate alt, andere zehn Jahre. Verjährte Fälle landen nicht auf meinem Schreibtisch, weil sie strafjuristisch nicht mehr relevant sind. Pech für die Opfer.»

Zum ersten Mal wendet sie den Blick von ihm ab. Sie schaut in Richtung Fenster. Sie schaut tatsächlich aus dem Fenster, das sieht er ihren auf Fernblick justierten Augen an. Mohr folgt ihrem Blick. Die Wolken sind verschwunden. Die Sonne taucht hinter den Bürotürmen ab, der Himmel über Düsseldorf färbt sich rosa.

«Schön, nicht?»

«Wie bitte?»

«Der Himmel, Frau Dr. Voss. Das Farbenspiel der Natur. Sieht schön aus, nicht wahr?»

«Herr Mohr, vielleicht ist das ja nur ein Anfang. Und die neue Abteilung wird alsbald personell aufgestockt.»

Alsbald. Was für ein schönes, altmodisches Wort aus ihrem Mund, der bedauerlicherweise so selten lächelt. Mohr, pass auf. Du beginnst, sie zu mögen. Sehr gefährlich.

«Haben Sie’s zufällig gesehen, Frau Doktor? Der Innenminister hat sich gestern vor die Fernsehkameras gestellt und diese neue zentrale Prüfstelle für Cold Cases als weitere Errungenschaft der neuen Landesregierung vorgestellt.»

«Und was ist dagegen einzuwenden?»

«Sie müssen den politischen Kontext betrachten. Man war ja vergangenes Jahr mit dem Thema Innere Sicherheit sehr erfolgreich im Wahlkampf. War ja auch nicht so schwierig, bei all den Steilvorlagen der damaligen Landesregierung. Die Kölner Silvesternacht. Oder der Fall Amri, den Mann hätte man schon in Nordrhein-Westfalen ausbremsen können. Ausbremsen müssen! Bevor er in Berlin den polnischen Lastwagenfahrer erschoss und mit dem Sattelzug in den Weihnachtsmarkt raste und elf Menschen totfuhr. Es gab Warnungen des LKA an den damaligen Landesinnenminister. Wussten Sie, dass Amri zuvor in Italien ein Flüchtlingsheim abgefackelt hat? Wussten Sie, dass er in seiner Heimat Tunesien ein Berufskrimineller war?»

«Wurde das nicht seinerzeit vor der Landtagswahl von der Opposition angeprangert?»

«Ja. Aber jetzt ist die Opposition nicht mehr Opposition, sondern hat die Wahl gewonnen. Und jetzt muss die neue Landesregierung liefern, jetzt muss sie ihre Versprechen einlösen, ihrem Wahlvolk was bieten. Und sei es nur blinder Aktionismus wie die Razzias bei den Clans im Ruhrgebiet. Oder eben ein Placebo wie diese neue Dienststelle.»

«Herr Mohr, ich sage es noch einmal: Ich bin nicht Ihre Therapeutin. Sie dürfen nicht mit meiner Verschwiegenheit rechnen. Alles, was Sie mir hier erzählen, kann bei Ihren Vorgesetzten landen …»

«Deshalb erzähle ich es Ihnen ja.»

Der Satz macht sie einen Moment sprachlos. Sie schaut angestrengt auf ihren Notizblock.

Innendienst. Schreibtischjob. Ein Pilotprojekt, haben sie ihm gesagt. Von wegen, ein Abstellgleis. Das spürt er. Deutlich. Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wunderbar. Dort wird der Mohr keinen Schaden mehr anrichten können, dann kann man den vergessen.

Endstation.

«Vielleicht sehen Sie das zu pessimistisch, Herr Mohr.»

«Eigentlich neige ich weder zu Optimismus noch zu Pessimismus. Ich versuche, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. So gut das geht.»

«Und was sagt Ihnen Ihr Realismus?»

«Gestern bin ich zum Direktor bestellt worden. Der teilte mir mit, dass ich bei den Altfällen über keinerlei polizeiliche Befugnisse verfüge. Die örtlichen Ermittlungsbehörden bleiben Herrinnen des Verfahrens. Ich soll lediglich die alten Akten auf Plausibilität prüfen, Mängel und Lücken aufzeigen, neue Ansätze für weitere Ermittlungen anbieten. Ob die dann umgesetzt werden, das entscheiden die Staatsanwaltschaften vor Ort.»

«Wo ist das Problem?»

Mohr lächelt. «Wer lässt sich schon gerne vorführen und darauf hinweisen, dass schlampig gearbeitet wurde? Vielen Dank, Herr Mohr. Mensch, dass wir aber da nicht selber draufgekommen sind.»

«Wie viele Leute braucht man denn für eine Ermittlung?»

«Zum Beispiel bei Mord?»

«Zum Beispiel.»

«In den Fernsehkrimis sind das ja normalerweise zwei kluge Leute von der Kripo, die binnen 90 Minuten jeden Fall lösen. In Wahrheit brauchen Sie bei einem Mord ein bis zwei Dutzend Kräfte. Und alle diese Leute von der Kripo sind nur Handlanger und Hilfsarbeiter der Staatsanwaltschaft. Denn dort und nur dort wird entschieden, ob und vor allem mit welcher Intensität in einem Fall ermittelt wird. So ist das.»

«Und warum ist das nicht gut?»

«Auch eine Staatsanwaltschaft ist ein Spiegel der Gesellschaft. Da gibt’s tüchtige, engagierte Leute. Da gibt’s aber auch Leute, die es gern bequem haben. In den Staatsanwaltschaften sitzen leider auch einige Juristen, deren Staatsexamen nicht gut genug war, um Richter zu werden, die aber auch nicht die Traute hatten, sich als Anwalt selbständig zu machen, und stattdessen lieber die risikofreie Beamtenlaufbahn gewählt haben. Außerdem haben die leider oft nicht den blassesten Schimmer von kriminalistischer Ermittlungsarbeit.»

Sie schlägt die Beine übereinander. «Herr Mohr, ich denke, wir wechseln jetzt mal das Thema.»

Sie meint es ernst. Sie will nichts mehr davon hören.

«Wie Sie wünschen.»

«Kommen wir auf den 14. März zu sprechen.»

«Gerne.»

«Warum haben Sie Artan Murati so übel zugerichtet?»

Warum.

«Er hat sich der Festnahme widersetzt.»

«Bis sein rechter Unterarm gebrochen war, außerdem drei Rippen und das linke Schlüsselbein? Sie hätten ihn beinahe getötet.»

«Wenn ich ihn hätte töten wollen, dann hätte ich ihn getötet. Er war bewaffnet. Und er war nicht allein.»

«Warum haben Sie nicht auf Verstärkung gewartet?»

«Niemand wusste, wo ich war. Ich konnte überhaupt keine Verstärkung anfordern, weil ich keinen Handyempfang hatte. Aber das wissen Sie doch längst. Steht doch alles im Untersuchungsbericht.»

«Sie hätten umkehren müssen. Auf den Zugriff verzichten …»

«Hat Pretzke Ihnen das erzählt?»

Sie schweigt.

«Frau Dr. Voss: Wissen Sie, wer dieser Artan Murati ist?»

«Sagen Sie es mir.»

«Der Mann lockt fünfzehnjährige Mädchen unter falschen Versprechungen aus den ärmsten Ländern Osteuropas hierher. Ein Job als Kindermädchen, als Kellnerin, als Küchenhilfe, das ist einfach zu verlockend. Das schöne Geld. Die Aussicht auf ein besseres Leben, auch für die Familie daheim. Die will man natürlich nicht enttäuschen. Schon auf der Fahrt nimmt Artan Murati ihnen die Pässe ab, vergewaltigt sie, um ihren Willen zu brechen, und spritzt ihnen Heroin. Er zerstört ihre Seelen, noch bevor sie im Westen ankommen. Er steckt sie in Bordelle der schlimmsten Sorte. Ich verzichte darauf, Ihnen im Detail zu schildern, wie es in einem Bordell der schlimmen Sorte zugeht. Er sagt ihnen, sie müssten jetzt gefälligst ihre Schulden abarbeiten. Die Reisekosten zum Beispiel. Kost und Logis. Und wenn sie nach ein paar Jahren nicht mehr genug Profit abwerfen, weil inzwischen nicht nur ihre Seelen, sondern auch ihre Körper zerstört sind, dann schickt er sie zurück. Er quetscht sie aus, dann wirft er sie weg.»

«Um solche abscheulichen Verbrechen zu ahnden, dafür gibt es Gerichte. Sie können doch nicht …»

«Er ist nie von einem deutschen Gericht verurteilt worden.»

«Aber nun doch von den Niederländern.»

«Ja. Vor zwei Wochen.»

«Kann es sein, dass Sie den Mann so übel zugerichtet haben, um selbst für Gerechtigkeit zu sorgen?»

«Nein. Selbstjustiz bedeutet das Ende des Rechtsstaates.»

«Was haben Sie sich also dabei gedacht?»

«Nichts. Ich habe in dem Moment gar nicht mehr gedacht. Mein Handeln war nicht mehr von rationalen Gedanken gesteuert; so haben es mir die Leute in der Klinik erklärt. Eine Sache von Sekunden. Dann hat mein Verstand wieder funktioniert, und ich habe augenblicklich von ihm abgelassen.»

«Warum haben Sie sich anschließend selbst angezeigt?»

«Um die Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Ich wollte das ganz offiziell geklärt wissen. Aber man hat die Anzeige auf Anweisung von ganz oben unter den Teppich gekehrt und mir stattdessen meine Arbeit als Leiter der Zielfahndung entzogen. Ich bin vorübergehend suspendiert, dann ein paar Monate krankgeschrieben und in diese Klinik für seelisch Erkrankte geschickt worden. Seit gestern bin ich zurück im Dienst, und heute sitze ich hier. Aber das wissen Sie doch alles. Und vermutlich wissen Sie noch viel mehr darüber als ich.»

«Fühlen Sie sich wieder gesund?»

«Ich habe mich nie krank gefühlt. Aber wenn ich noch ein paar Wochen länger in dieser Klinik geblieben wäre …»

«Ich glaube Ihnen nicht.»

«Was glauben Sie mir nicht?»

«Dass der kriminelle Lebenswandel dieses Mannes der einzige Grund für Sie war, ihn halbtot zu prügeln.»

Krimineller Lebenswandel. Diesmal sieht Mohr als Erster aus dem Fenster. Das Rosa ist verschwunden und hat einem bleiernen Grau Platz gemacht.

«Herr Mohr, Ihre Personalakte …»

«Meine Personalakte?»

«… war bis zu diesem Ereignis ganz in Ordnung.»

«Ganz in Ordnung?»

«Sie haben während Ihrer gesamten Laufbahn vorwiegend gute bis sehr gute Beurteilungen von Ihren Vorgesetzten erhalten.»

Mohr schweigt und wartet ab.

«Sie sind ehrgeizig.»

«Ich war mal ehrgeizig. Jetzt bin ich’s nicht mehr.»

«Sie besitzen Meistergrade in Wing Tsun und Krav Maga. Habe ich alles in Ihrer Personalakte gelesen. Spreche ich das richtig aus? Was ist das? Kampfsport?»

«Nein, kein Sport. Eine chinesische und eine israelische Kampfkunst. Keine Sportart.»

«Was ist der Unterschied?»

«In einer Sportart halten sich alle an Regeln.»

«Und in der Kampfkunst?»

«Geht es ausschließlich darum, einen Aggressor, der sich an keine Regeln hält, außer Gefecht zu setzen. Mit welchen Mitteln auch immer. Bevor es dem Aggressor gelingt, Sie zu verletzen oder zu töten. Kampfsport ist was für Turnhallen, Kampfkunst ist für die Straße.»

«Aha. Verstehe. Sie haben insgesamt eine ziemlich steile Karriere hingelegt, sagen Ihre Vorgesetzten.»

«Karriere?»

«Nun ja, wenn ich lese, dass Sie …»

«Karriere? Haben Sie tatsächlich das Wort Karriere im Zusammenhang mit dem Beruf des Polizisten benutzt?»

«Ja, warum auch nicht?»

«Wissen Sie, was ein Kriminalhauptkommissar im Monat verdient? Deutlich weniger als ein Studienrat. Oder, um den Studienräten nicht zu nahe zu treten: pro Monat etwa so viel, wie bei Artan Murati an guten Tagen pro Stunde reinkommt. Wissen Sie, wie viele Überstunden jeder Kriminalbeamte Monat für Monat schiebt, ohne dass es jemanden interessiert? Das Land Nordrhein-Westfalen schuldet seinen 40000 Polizeibeamten aktuell den Gegenwert von 5,4 Millionen unbezahlten Überstunden. Das wäre doch zum Beispiel mal eine schöne Aufgabe für den neuen Innenminister.»

«Definieren Sie Karriere ausschließlich über Geld?»

«Ich spreche nicht von Geld, sondern von gestohlener Zeit, die den Kollegen zur körperlichen und seelischen Regeneration fehlt. Zum Auftanken leerer Akkus. Hören Sie doch mal einfach nur zu, Frau Dr. Voss. Hören Sie mir nur einen Moment lang aufmerksam zu, dann sind Sie wieder dran mit Ihren Fragen. Vielleicht stellen Sie anschließend andere.»

«Okay. Bitte schön. Ich höre Ihnen zu, Herr Mohr!»

«Ich kenne Mordermittler, die nach der Tatortbegehung auf der Couch schlafen, weil ihre Frauen den Leichengeruch im Schlafzimmer nicht mehr ertragen. Wenn ein Leiter einer Mordkommission, der einen guten Job macht, sagen wir mal, einen sehr guten Job sogar, wenn der beruflich weiterkommen will, weil er vielleicht ein Häuschen abzubezahlen hat oder zwei Kinder hat, die beide studieren wollen, dann muss er sich schon als Leiter der Motorradstaffel bewerben oder als Wachleiter bei der Schutzpolizei, um ein paar Euro mehr zu verdienen. Er wird unglücklich sein mit seinem neuen Job, die Polizei verliert einen hervorragenden Mordermittler und überlässt diesen wichtigen Aufgabenbereich womöglich dem Mittelmaß. So ist das. Kennen Sie die Scheidungsrate von Polizeibeamten? Das System ist durch und durch faul, Frau Dr. Voss. Das System ist völlig verrottet. Das haben die Politiker prima hingekriegt. Geben Sie das gerne weiter. Schreiben Sie alles in Ihren Bericht.»

Sie schweigen eine Weile.

Dann sagt sie: «Vielleicht sollten wir eine Pause machen.»

Und er sagt: «Ja, vielleicht sollten wir das.»

«Gut. Dann schlage ich vor, wir sehen uns in fünfzehn Minuten in diesem Zimmer wieder.»

Mohr verlässt das Büro, fährt mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, durchquert das Foyer, das von einem Künstler gestylt wurde, dessen Namen er längst wieder vergessen hat, weil er sich den Namen nicht merken wollte. Er tritt durch die Tür ins Freie und zündet sich eine Zigarette an. Seine Hände zittern.

MITTWOCH, 14. MÄRZ 2018

Zweimal war Mohr so nah dran gewesen an Artan Murati, dass er dessen Angstschweiß riechen konnte.

Lange her.

Da war Mohr noch bei der Kölner Kripo. Drogenfahndung, anschließend OK. Organisierte Kriminalität. Beim ersten Mal ging es um den Transport von 360 Kilogramm Kokain. Eine Lieferung aus Kolumbien. Verkehrswert in Westeuropa: rund 22 Millionen Euro. Zielhafen: Rotterdam. Der größte Seehafen Europas und einer der größten der Welt. 60000 Menschen arbeiten in dem gut 100 Quadratkilometer großen Hafen, der sieben Prozent des gesamten niederländischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. 460 Millionen Tonnen Fracht werden hier pro Jahr umgeschlagen. Noch vor Antwerpen und Hamburg ist Rotterdam außerdem der größte Containerhafen Europas.

Unüberschaubar. Unkontrollierbar. Wenn man nicht weiß, wonach man sucht.

Murati ließ stets nur kleinere Mengen von Kolumbien nach Europa transportieren und wechselte ständig die Schiffe und die Zielhäfen, um das Risiko zu minimieren. Das lief auch lange reibungslos. Bis zu jenem Container, der im Beatrix-Becken auf ein 135 Meter langes belgisches Binnenschiff umgeladen wurde, zusammen mit 186 anderen, insgesamt 3000 Tonnen Fracht. Offiziell ein Leercontainer; da fallen 360 Kilo Kokain nicht weiter auf, wegen des hohen Eigengewichts und weil ohnehin ein Drittel aller Container, die weltweit unterwegs sind, leer zu ihrem Startort zurückgefahren werden.

Am späten Abend machte sich das Schiff auf die Reise nach Duisburg, dem größten Binnenhafen Europas. Dort hätte man nach der Ankunft am nächsten Morgen wie schon am Abend zuvor in Rotterdam bequem zugreifen können – aber dann hätte man nicht beweisen können, wer der Auftraggeber der Ware war.

In Duisburg wurde der Container am Terminal im Südhafen gelöscht und von Muratis Soldaten geöffnet. Die Lieferung wurde geviertelt und in Chargen zu je 90 Kilogramm auf vier 38-Tonner verteilt, sorgsam zwischen der amtlich registrierten Ladung versteckt. Dann ging es über die A3 nach Süden. Schnurstracks in Muratis Lagerhaus in Köln-Dellbrück.

Razzia, Festnahme, U-Haft, Anklage, Prozess.

Am dritten Verhandlungstag wurde überraschend ein Cousin Muratis als Zeuge der Verteidigung aufgeboten. Der nahm alle Schuld auf sich, legte ein umfassendes Geständnis ab, wurde noch im Gerichtssaal festgenommen, später zu viereinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Der Angeklagte Artan Murati verließ den Gerichtssaal als freier Mann.

Freispruch erster Klasse.

Mohr saß in der letzten Reihe. Beim Verlassen des Gerichtssaals warf Murati dem Mann, der ihn festgenommen und im Kölner Präsidium stundenlang vernommen hatte, einen triumphierenden Blick zu. Und vermutlich hatte er Mohr schon wieder vergessen, noch bevor draußen in seinen Mercedes stieg.

Jedes männliche Mitglied der weitverzweigten albanischen Großfamilie wäre jederzeit bereit gewesen, für Artan Murati in den Knast zu gehen. Frau und Kinder des Cousins wurden vom Clan gut versorgt, und als der nicht vorbestrafte und zuvor noch nie polizeilich in Erscheinung getretene Mann nach drei Jahren vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen wurde, musste er sich fortan keine materiellen Sorgen mehr machen.

Beim zweiten Mal ging es um Geldwäsche, ziemlich komplizierte Geschichte, und Mohrs Vertrauen in den Rechtsstaat wurde zum ersten, wenn auch nicht zum letzten Mal erschüttert, als die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aus heiterem Himmel einstellte. Aus Mangel an Beweisen, es kam erst gar nicht zur Anklage. Zwei Jahre ihres Lebens hatten Mohr und sein Team geopfert, Tag und Nacht und unzählige Wochenenden daran gearbeitet, die nötigen Beweise zu erbringen, die personellen Verflechtungen unzähliger Matrjoschka-Firmen zu entwirren, Dutzende Schlüsselfiguren rund um die Uhr zu observieren, den Weg des Geldes zurückzuverfolgen. Und der zuständige Staatsanwalt fegte am Ende alles vom Tisch.

Jetzt gibt es ein drittes Mal. Dank der Amsterdamer Kollegen. Die vielleicht letzte Gelegenheit, Murati zu kriegen.

Der BMW fliegt durch die Nacht, über das schmale, schwarze, regennasse Band der Landstraße, folgt dem schwachen Schein der Rücklichter des Mercedes am Horizont und dem stärkeren, aber seltenen Aufflackern der Bremsleuchten. Mohr schließt die Augen zu schmalen Schlitzen, weil die Straße das Licht der Scheinwerfer reflektiert. Aber der Regen hat zum Glück aufgehört.

Dranbleiben. Die einzige Chance. Unter allem Umständen dranbleiben.

Murati meidet Autobahnen, Bundesstraßen, das Lichtermeer der braven, zivilisierten Welt. Der Mercedes rast mit Vollgas durch die Wahner Heide. Links die grellen, neonblauen, in den Boden eingelassenen Begrenzungslichter der Landebahnen des Flughafens Köln. Dicht über das Dach des BMW dröhnt eine Boeing 737 hinweg und setzt schwer und mit kreischenden Bremsen auf der Querwindbahn auf.

Durch den Königsforst, Richtung Bergisches Land, Mohr holt auf, verkürzt die Distanz, Meter für Meter, dank der Serpentinen, der Motor des Mercedes ist zwar stärker, aber in den engen Kurven ist die lange, schwerfällige S-Klasse deutlich im Nachteil. Der kleinere und leichtere BMW hingegen liegt wie ein Gokart auf der Straße. Links und rechts huschen reflektierende Hinweisschilder vorbei: Golfplätze, Wellness-Hotels, für ihre exzellente Küche prämierte Landgasthöfe.

Dann wieder nichts als das von dichtem, schwarzem Wald gesäumte Band aus Asphalt.

Mohr schaltet in den dritten Gang zurück und peitscht den BMW mit Vollgas durch die Kurve.

Als der Wagen aus der Kurve schießt, sind die Rücklichter vor ihm verschwunden. Einfach weg.

Mohr hat zuvor keine Abzweigung nach links oder rechts verpasst, ganz sicher nicht. Wenn der Mercedes nicht vom Erdboden verschluckt wurde, gibt es dafür nur eine Erklärung: Murati fährt jetzt ohne Licht. Und scheint auch aufs Bremsen zu verzichten.

Mohr drückt das Gaspedal durch. Ich krieg dich, du Arschloch. Diesmal krieg ich dich.

Zwei Kilometer weiter teilt sich die Landstraße wie eine Wünschelrute. Mohr tritt auf die Bremse, bringt den Wagen zum Stehen und haut mit der flachen Hand aufs Lenkrad.

Dann öffnet er das Handschuhfach, reißt den Schnellhefter mit dem Dossier heraus und schaltet die Leseleuchte über seinem Kopf ein. Irgendwas war doch da noch. Er blättert hastig die Seiten durch, überfliegt den Inhalt, den er zuletzt vor einer Woche studiert hat, blättert am Ende wieder zurück.

Da! Er hat sich nicht geirrt. Da steht es, schwarz auf weiß. Die Jagdhütte. Murati hat irgendwo in der Nähe eine Jagdhütte. Kann nicht weit weg sein. Mohr aktiviert das GPS-System und tippt die im Dossier verzeichneten Koordinaten ein. Breitengrad. Längengrad. Machschonmachschonmachschon!

Endlich. Das Ding reagiert. Links. Nach links! Mohr tritt das Gaspedal durch.

Nach vier Kilometern zweigt im Scheitelpunkt einer Rechtskurve auf der linken Straßenseite ein Waldweg ab. Privatweg! Durchfahrt verboten! Murati, das war ein Fehler. Jetzt sitzt du in der Falle.

Der BMW quält sich jaulend über die holprige, aufgeweichte Piste. Schlaglöcher, armdicke Baumwurzeln. Zweige peitschen gegen die Windschutzscheibe. Noch 200 Meter, meldet das GPS-System. Mohr stoppt den Wagen, schaltet das Licht aus und stellt den Motor ab. Dann macht er sich zu Fuß auf den Weg.

Eine Lichtung. Am anderen Ende die Hütte, dahinter schimmert schwach ein See. Einstöckiges Blockhaus, daneben ein Carport. Darin steht der Benz. Durch das linke Fenster der Jagdhütte dringt Licht.

Mohr zieht sein Handy aus der Tasche. Kein Empfang. Nada. Damit wäre er schon mal der Sorge enthoben, später irgendwelchen Idioten erklären zu müssen, warum er nicht angerufen und auf Verstärkung gewartet hat.

Der Morgen dämmert schon. Zu hell, zu riskant, die Lichtung