Das letzte Experiment - Miriam Rademacher - E-Book

Das letzte Experiment E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

Mutterliebe trifft auf mörderische Teenager.
Hedi Voss begreift langsam, dass sie und die anderen Mütter wahrlich unterschiedliche Vorstellungen von Spaß haben. Während andere Kindergeschrei und eiskaltes Chlorwasser genießen, blüht Hedi erst richtig auf, als ihr Kollege sie bittet, sich einen tragischen Fall anzusehen, der längst zu den Akten gelegt wurde.
Die Mutter der vor fünf Jahren verschwundenen Anastasia fordert immer wieder Antworten von der Polizei. Alles deutet darauf hin, dass Anastasia eine damalige Mitschülerin ermordet hat und seither untergetaucht ist. Doch Hedis Instinkt sagt ihr, die Wahrheit ist komplexer. 
Führten Rivalitäten und beunruhigende Veränderungen in Anastasias Verhalten zu dem tödlichen Ausgang, oder verbirgt sich etwas noch Dunkleres?
Der dritte Cosy-Crime-Roman mit der Ermittlerin in Elternzeit Hedi Voss zeigt die Abgründe, die Mütter von Teenagern im schlimmsten Fall erwarten können. Ein packender Cold Case Krimi voller Spannung, Humor und Ostsee-Flair.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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DAS LETZTE EXPERIMENT

HEDI VOSS ERMITTELT

BUCH 3

MIRIAM RADEMACHER

Verlag:

Zeilenfluss

Werinherstr. 3

81541 München

Deutschland

_____________________________

Texte: Miriam Rademacher

Cover: MT-Design

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer

Satz: Zeilenfluss Verlag

_____________________________

ISBN: 978-3-96714-500-7

_____________________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

PROLOG

FÜNF JAHRE ZUVOR

Cornelia hängte sich bei ihrer Freundin Wilma ein und wankte über die alte Holzbrücke den Lichtern der Stadt entgegen. Sie hatten gemeinsam in ihrer Lieblingskneipe gefeiert, als ob es kein Morgen gäbe. Aber natürlich würde der nächste Tag kommen, und mit ihm der vermutlich schlimmste Kater, den Cornelia in den letzten dreißig Jahren erlebt hatte.

»Wir sind zu alt für so etwas«, lallte Wilma an ihrer Seite und blieb mit dem Absatz an einer der Holzbohlen hängen, woraufhin sie beide kurzfristig bedrohlich ins Wanken gerieten. »Den letzten Whisky-Cola werden wir definitiv bereuen.«

»Man wird nur einmal hundert«, erwiderte Cornelia und gab sich redliche Mühe, die Spur zu halten. Die hölzerne Klappbrücke war eigentlich breit genug für zwei Personen, um entspannt nebeneinander herzugehen. Heute jedoch, in ihrem angeheiterten Zustand, kam sie ihr schmal vor.

Zwei Schulfreunde aus alter Zeit hatten an diesem Abend zu ihrem hundertsten Geburtstag geladen. Und auch, oder gerade, weil die beeindruckende Zahl an Lebensjahren dadurch zustande gekommen war, dass zwei Jubilare ihr Alter einfach zusammengerechnet hatten, war es hoch hergegangen.

»Es ist noch gar nicht so spät«, murmelte Wilma und fummelte an ihrer Armbanduhr herum. »Gerade mal kurz nach Mitternacht. Willst du noch mit zu mir kommen?«

»Auf gar keinen Fall.«

Cornelia wusste, dass diese Einladung nur noch mehr Alkohol bedeutet hätte. Den konnte sie wirklich nicht gebrauchen, sie hatte genug gehabt. Genau wie das junge Mädchen, das ihnen jetzt, da sie die Brücke verlassen und wieder festen Boden unter den Füßen hatten, entgegengewankt kam. Cornelia schätzte die Blondine in dem bauchfreien Top und den roten Turnschuhen auf etwa höchstens achtzehn Jahre und vermutete, dass sie gerade zum ersten Mal über die Stränge geschlagen hatte. Morgen würde sie das vermutlich genauso bereuen wie Cornelia und Wilma. Willkommen in der Welt der Erwachsenen.

Jetzt streckte das Mädchen die Hände nach ihnen aus und stolperte mehr, als sie ging, direkt auf Wilma und sie zu.

»Hey, Vorsicht!«, rief ihre Freundin noch und machte sich von ihr los, um beide Hände frei zu haben. Schon sackte die Kleine in sich zusammen, gab gurgelnde Laute von sich und landete direkt in Wilmas Armen, die sie geistesgegenwärtig auffing.

Ob und was die Fremde hatte sagen wollen, blieb unklar. Ihre Lider flatterten, die Lippen formten Worte, doch kein Laut war zu hören. Wilma gelang es gerade noch, den Kopf des Mädchens so sanft wie möglich auf dem harten Pflaster im Eckernförder Hafen abzulegen. Und erst jetzt, im Licht der Straßenlaterne, sah und roch Cornelia das Blut am Hals und auf dem bauchfreien Top, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr eindeutig zu erkennen war.

Es drehte Cornelia fast den Magen um, vertrieb aber zur selben Zeit auch den Alkoholnebel aus ihrem Bewusstsein. Als ob die letzten Drinks von jetzt auf gleich einfach aus ihrem Blut verdunstet wären, fühlte sie sich plötzlich erstaunlich klar. Sie riss sich den brandneuen geblümten Schal von den Schultern und presste ihn der Fremden auf die zweifellos tiefe Halswunde, aus der noch immer das Blut lief, das vom Stoff ihres Oberteils aufgesogen wurde wie von einem Schwamm. Irgendjemand hatte dem Teenager die Kehle aufgeschlitzt.

»Ruhig atmen«, hörte Cornelia sich selbst sagen. »Hilfe ist unterwegs.« Sie drehte den Kopf zu Wilma und stellte erleichtert fest, dass ihre Freundin tatsächlich ein Handy gezückt hatte und den Notruf wählte.

Erneut versuchte das Mädchen am Boden etwas zu sagen, doch aus ihrem Mund drang nur ein unheimliches Pfeifen. Cornelia hatte das Gefühl, dabei zusehen zu müssen, wie das Leben aus ihr herauslief. Der Schal war bereits ebenso blutdurchtränkt wie das Top und fühlte sich schwer und klebrig an. Jetzt bildete sich auch eine Lache auf dem harten Pflaster. Gab es etwa noch mehr Verletzungen?

Panik stieg in Cornelia auf. Das war mit tödlicher Sicherheit viel zu viel Blut. Die Kleine würde ihr unter den Händen wegsterben, wenn nicht ganz schnell Hilfe kam. Wo blieb nur der Notarzt?

Als ob sie eine Antwort auf ihre Frage suchte, hob Cornelia reflexartig den Kopf. Da fiel ihr Blick auf eine Person, die nicht weit entfernt von ihnen im Halbschatten stand. Allem Anschein nach ein weiterer Teenager in leichter Sommerkleidung. Die Schultern dieses zweiten Mädchens bebten, und sie zitterte am ganzen Körper, als ob sie soeben einen schweren Schock erlitten hätte.

»Wilma, da ist noch eine«, rief Cornelia ihrer Freundin zu, die geduldig die Fragen aus der Notrufzentrale beantwortete. »Halt das mal.« Sie ließ den nassen Klumpen los, der einmal ihr neuer Schal gewesen war, und registrierte, wie Wilma danach griff und ihn energisch auf die Verletzung der Blondine presste. Cornelia erhob sich indessen aus der Hocke und lief, so schnell sie konnte, auf das zweite Mädchen zu.

»Bist du auch verletzt?«, rief sie, noch bevor sie die Kleine erreicht hatte, und bemerkte die vielen dunklen Spritzer auf dem blassen Gesicht und die schreckgeweiteten Augen. Die vollen Lippen des Mädchens bebten, und der Brustkorb hob und senkte sich, als wäre sie vor etwas davongerannt. Auf die Frage antwortete sie nicht.

»Kannst du mich verstehen? Hat dir jemand etwas getan?«, wollte Cornelia wissen und packte die Fremde fest am Arm. Obwohl die Sommernacht noch immer angenehm warm war, fühlte sich die Haut unter ihren Fingern eiskalt an.

Der völlig verstörte Teenager deutete erst ein Nicken, dann ein Kopfschütteln an und erbrach sich so schlagartig, dass Cornelia nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Eine heiße Masse traf ihre nackten Beine und ihre Schuhe.

Es spielte keine Rolle. Cornelia selbst hatte inzwischen so viel Adrenalin im Blut, dass der beißende Geruch der Magensäure sie nun völlig kaltließ.

»Der Krankenwagen kommt sofort, geh nicht weg«, sagte sie in beschwörendem Tonfall, zog rasch ihren Sommermantel aus und legte ihn direkt neben der Pfütze aus Erbrochenem auf die Pflastersteine. »Du hast einen Schock und solltest nicht stehen. Leg dich hin, okay?«

Mit sanfter Gewalt zwang sie das zweite Mädchen in die Knie und musterte sie dabei eingehend. Nein, verletzt schien sie nicht zu sein. Von den Blutspritzern auf Gesicht, Oberkörper und Armen einmal abgesehen, gab es nichts, was darauf hingedeutet hätte. »Bleib so«, schärfte sie dem Mädchen noch einmal ein. »Wir kümmern uns um dich und deine Freundin.«

Die großen Augen in dem schmalen Gesicht starrten sie an, die Lippen zitterten nach wie vor. Nur ungern überließ Cornelia das zweite Opfer sich selbst und rannte zum ersten zurück, wo Wilma mittlerweile aussah, als hätte sie in Blut gebadet.

»Sie hat das Bewusstsein verloren«, rief ihr die Freundin entgegen. »Ich glaube, sie schafft es nicht. Wo bleibt denn die Ambulanz?«

Es waren nur Minuten vergangen, seit der Abend sich von einem feuchtfröhlichen in eine Katastrophe verwandelt hatte, doch Cornelia kam es vor wie eine Ewigkeit. Endlich kündigte das Jaulen der Sirenen die herannahende Hilfe an, und kaum kniete der Notarzt neben dem blutüberströmten Mädchen, erhob sich Cornelia aus der Hocke und sah sich nach dem zweiten Teenager um. Doch unter der Laterne lag nur noch ihr eigener Sommermantel.

»Wo ist sie denn hin?«, rief sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

»Wer?«, wollte einer der Sanitäter wissen.

»Das andere Mädchen«, erklärte Cornelia. »Dort hat sie gelegen!« Sie deutete auf ihren Mantel und suchte gleichzeitig mit Blicken das Gelände ab. Von dem zweiten Opfer war nichts mehr zu sehen.

»Können Sie sie beschreiben?«, wollte der Sanitäter wissen.

»Ich glaube schon.« Cornelia rief sich die Gesichtszüge der Fremden mit den aschblonden, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren in Erinnerung. »Ja, ganz bestimmt kann ich das. Ich schätze, ich würde sie überall wiedererkennen.«

1

Hedi Voss stand das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Doch nur für eine knappe Sekunde, dann drückte sie die Knie durch und tauchte zusammen mit Riko aus dem nach Chlor riechenden Nass auf. Ihr fast neun Monate alter Sohn klammerte sich an ihrem blonden Zopf fest und schrie aus Leibeskräften.

Hedi warf einen hilfesuchenden Blick in Richtung ihrer Freundin Berit, die mit ihrer Tochter Maike auf dem Arm durch den Nichtschwimmerbereich marschierte. Maike schien die Wassergewöhnung ebenfalls nicht zuzusagen. Ihr Gesicht war so rot wie die feinen Haare auf ihrem runden Kopf. Auch ihre Mutter hatte wundervolle brandrote Locken, die heute allerdings unter einer geblümten Badekappe verborgen waren.

»Hat der kleine Riko keinen Spaß?«, fragte die Leiterin der Gruppe und goss einen Schwall Schwimmbadwasser so unvermittelt über Rikos Rücken, dass dieser zusammenzuckte und vor Empörung zu brüllen vergaß.

»Na, bitte. Es wird schon besser«, sagte die Kursleiterin und lächelte breit, bevor sie davonwatete, um als Nächstes Maike mit einem überraschenden kalten Guss zu beglücken. Derweil fand Riko seine Stimme wieder.

»Ich bin auch nicht glücklich mit diesem Mutter-Kind-Angebot, aber du bist zu jung für Kneipentouren und Ego-Shooter, also müssen wir die Zeit bis dahin irgendwie totschlagen«, flüsterte Hedi ihm zu und fing den völlig entsetzten Blick einer jungen Mutter auf, deren Kind das kalte Wasser nichts auszumachen schien. »Es war ein Witz«, beeilte sich Hedi zu versichern. »Einer von der Sorte, die ich nicht mehr wiederhole, sobald er sie nachplappern kann, okay?«

Offensichtlich hielt die andere nicht besonders viel von Hedis Humor. Sie sah zu, dass sie möglichst viele Seemeilen zwischen sich und Hedi brachte. Diese kämpfte sich bis zu Berit durch.

»Erzähl mir nochmal, warum wir hier sind«, bat sie und schaukelte Riko ein wenig, in der Hoffnung, es würde ihn beruhigen.

»Weil Babyschwimmen eine tolle Sache ist und unsere Kinder dadurch intelligenter, gesünder und stärker werden«, leierte Berit noch einmal den Inhalt des Werbeflyers herunter, der sie hierhergeführt hatte.

»Zumindest die Lungen werden hervorragend ausgebildet. Wenn auch nicht gerade durchs Tauchen«, stellte Hedi fest, als nun weitere Kinder der Gruppe ein infernalisches Geschrei anstimmten. »Können wir bitte, bitte von hier verschwinden? Von all deinen Ideen war diese bisher die schlechteste. Mag sein, dass es Kinder gibt, denen das hier Spaß macht, aber unsere beiden gehören offensichtlich nicht dazu.«

Berit sah unschlüssig aus. »Meinst du nicht, sie könnten die falschen Schlussfolgerungen ziehen, wenn wir jetzt aufgeben? Solche wie: Ich muss nur laut genug brüllen, und schon zieht mich meine Mami aus dem Wasser?«

»Das klingt für mich nach einer durchaus richtigen und wichtigen Schlussfolgerung«, stellte Hedi fest, ging durch das immer flacher werdende Becken bis an den Rand und warf einen Blick durch die lange Fensterfront in den bleigrauen Februartag. Von draußen klatschte der Schneeregen an die Scheiben.

»Vielleicht kann ich noch eine Weile im flachen Teil sitzen bleiben, bis das Wetter etwas besser geworden ist«, murmelte sie.

Aber Riko war dagegen. Er zitterte, und eine Gänsehaut bedeckte seine prallen Ärmchen. Sein Gebrüll klang jetzt nicht mehr empört oder verärgert, sondern regelrecht verzweifelt.

Eine halbe Stunde später hatte sie sich und ihr Kind wieder in die warmen Wintersachen gepellt und schwor sich, dass Riko seine nächste Wassergewöhnungsstunde an einem heißen Sommertag in der Ostsee erhalten würde. Und zwar erst, nachdem er laufen gelernt hatte.

Als sie sich, bepackt mit Kind und Taschen, aus der Umkleide kämpfte, erwartete Berit sie bereits und versuchte, Maike in einen Schneeanzug zu stecken.

»So langsam gehen mir die Ideen aus.« Ihre Freundin wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn im Vorraum des Eckernförder Wellenbads war es ziemlich warm. Angenehm, wenn man nicht wie ein Eskimo gekleidet war und dabei auch noch den anstrengenden Versuch unternahm, ein Kleinkind witterungsgerecht anzuziehen. Auch Riko fand es ganz und gar nicht witzig, eine Schirmmütze aus Samt tief ins Gesicht gezogen zu bekommen. Doch außerhalb dieses Gebäudes hatte der Winter die Stadt an der Ostsee fest im Griff, und Hedi glaubte, den eiskalten Wind um die Fassade des Wellenbads bereits fauchen zu hören.

»Du wirst mir dafür noch dankbar sein«, sagte Hedi zu ihrem Sohn und band die Mütze unter dessen Doppelkinn mit einer Schleife fest. »Dankbarer als für das Trauma, das du gerade erlitten hast. Tut mir leid, mein Kleiner. Ich schwöre dir, wir kommen erst wieder her, wenn es Zeit für das Seepferdchen wird.«

»Übermorgen trifft sich eine Gruppe zur gemeinsamen Babymassage.« Berit klang unsicher. »Wollen wir es dort versuchen?«

»Babymassage?«, erwiderte Hedi gedehnt. »Hast du nirgends einen Kurs für Müttermassage auftreiben können? Das wäre jetzt genau das Richtige.«

Seit sie vor zwei Wochen aus ihrer Krabbelgruppe geworfen worden waren, nicht weil ihre Kinder durch ihr Verhalten angeeckt hatten, sondern sie selbst, suchte Berit nach einer Alternative. Bisher ohne nennenswerten Erfolg.

»Alle Kinder werden auf die eine oder andere Weise gefördert, wenn sie im selben Alter sind wie unsere beiden.« Berit deutete beinahe anklagend auf Riko und Maike in ihren Schneeanzügen. »Nur unsere beiden hinken schon jetzt hinterher. Sie werden an ihrem ersten Tag im Kindergarten abseitsstehen, während alle anderen sich bereits kennen und Allianzen geschmiedet haben.«

»Zu zweit abseitsstehen ist gar nicht so schlimm«, tröstete Hedi die Freundin. »Außerdem haben wir bis dahin noch massenhaft Zeit. Jahre, um genau zu sein.«

»Also keine Babymassage?«, fragte Berit resigniert. »Wie wäre es mit einer Sportgruppe für Krabbelkinder?«

»Das besprechen wir morgen bei einer Tasse Kaffee«, schlug Hedi vor. »Diesmal kommst du zu mir.«

»Okay.« Berit schulterte Kind und Tasche und fummelte ihren Autoschlüssel aus der Tasche ihres Anoraks. »Soll ich dich mitnehmen?«

»Nein, Riko und ich sind selbst mit dem Auto hier«, sagte Hedi nicht ohne Stolz. »Mein Gatte ist mit seinen Kumpels in einen Kurzurlaub nach Dänemark abgedüst. Angeblich zum Angeln, aber ich bin mir ganz sicher, dass keiner von denen an einem kalten Februartag einen Fisch aus dem Wasser holt. Höchstens ein neues Bier aus dem Kühlschrank. Aber so hat er ein paar Tage Ruhe vor uns, und wir haben den Wagen. Absolut fair, wie ich finde.«

Sie begann, ihre eigenen Taschen nach dem Zündschlüssel zu durchsuchen, entdeckte ihn nicht und öffnete die Tasche mit dem nassen Schwimmzeug. Aber auch dort wurde sie nicht fündig.

»Verdammt, mein Handy ist ebenfalls verschwunden«, stellte sie fest. »Dabei hatte ich alles ordentlich weggeschlossen, bevor ich ins Wasser gegangen bin.«

In diesem Moment fing ihr Sohn an zu klingeln. Mit einem Ruck öffnete Hedi den Reißverschluss des Schneeanzugs. »Ach, hier ist ja alles. Danke fürs Aufpassen, Riko.«

Sie warf einen Blick aufs Display und las den Namen ihres ehemaligen Kollegen von der Polizei. Thure versuchte, sie zu erreichen. Und das ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal. Sie nahm das Gespräch an.

»Ja?«, rief sie und versuchte, Riko mit der freien Hand wieder einzupacken.

»Hallo Hedi«, dröhnte die Stimme des rotblonden Riesen aus dem Telefon. »Sitzt du bei diesem Wetter auch brav zuhause, wie es sich für eine gute Mutter gehört?«

»Klar«, log Hedi ungeniert. »Wer würde sich heute schon mit einem Kleinkind ins Freie wagen.«

»Dann lässt du mich also rein, wenn ich in fünfzehn Minuten vor deiner Tür stehe?«

Hedi warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Fünfzehn Minuten, um vom Strand bis zu ihrer Wohnung am Domstag zu kommen, erschien ihr sportlich, war aber zu schaffen.

»Okay, du kannst ja Kuchen mitbringen«, antwortete sie und hoffte, auf diese Weise ein paar weitere Minuten rausschlagen zu können.

»Geht klar.«

Thure legte auf, und Hedi flitzte los.

»Was ist denn passiert?«, rief Berit ihr nach.

»Noch nichts«, schrie Hedi. »Aber wenn ich nicht will, dass der letzte Mensch, der mich für eine halbwegs gute Mutter hält, eines Besseren belehrt wird, muss ich mich beeilen!«

Ehe sie auch nur das Auto erreicht hatte, waren Hedi und Riko gleichermaßen durchweicht. In aller Eile schloss sie den Wagen auf, setzte Riko in seinen Kindersitz und fuhr los. Sie kam nur bis zur ersten Ampel. Dort stand Lotte Kern, eine der Canasta-Freundinnen, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, und stemmte sich mit ihrem Schirm gegen den Wind. Hedi konnte an der zierlichen alten Dame unmöglich einfach vorbeifahren. Also fügte sie sich in ihr Schicksal, lenkte den Wagen an den Straßenrand und bedeutete Lotte, einzusteigen.

»Schreckliches Wetter«, murmelte diese zur Begrüßung und legte ihren nassen Schirm in den Fußraum zu all den anderen Sachen, die sich dort angesammelt hatten. »Was für ein Glück, dass du gerade hier langgekommen bist, sonst hätte sich mein Friseurbesuch nicht gelohnt. So haben die Löckchen vielleicht eine Chance, bis zu unserem nächsten Canasta-Treffen zu halten. Wie findest du sie?«

»Zauberhaft«, meinte Hedi, ohne wirklich hinzusehen, und gab Gas. »Wo soll ich dich absetzen?«

»Beim Supermarkt, ich muss noch ein paar Dinge einkaufen. Und von dort ist es nicht mehr weit bis zu mir nach Hause.« Lotte drehte sich zu Riko auf der Rückbank um. »Sag mal, Hedi, sind die Gurte nicht dazu da, deinen Sohn in dem Sitz festzuschnallen?«

»Muss ich vergessen haben.« Hedi warf einen Blick in den Rückspiegel und sah ihren Sohn an der metallenen Schließe kauen. Passierten solche Dinge eigentlich auch anderen Müttern oder immer nur ihr?

Am Supermarkt angekommen, war Lotte gerade aus dem Wagen gestiegen, als Hedi auch schon wieder anfuhr. Keine fünf Minuten mehr bis zu ihrer Verabredung mit Thure. Kaum anzunehmen, dass sie noch vor ihm eintreffen würde. Trotzdem gab sie ihr Bestes, jagte den Domstag hoch, fuhr in die Seitenstraße und in die Sackgasse, von der aus ein Fußweg bis zu den Eingängen des Mehrfamilienhauses führte. Erst als sie schon fast an der ersten der drei Eingangstüren angekommen war, fiel ihr auf, dass sie Riko im Auto vergessen hatte. Fluchend machte sie kehrt und stieß fast mit Thure zusammen.

»Nanu, willst du nochmal weg?«, fragte ihr Kollege und betrachtete mit sorgenvoller Miene das Kuchenpäckchen aus der Bäckerei, das er vor sich hertrug.

»Irrtum, ich war schon weg, und jetzt muss ich noch etwas aus dem Auto holen«, erwiderte sie und dachte plötzlich an Lotte, die ihr eine wundervolle Erklärung geliefert hatte. »Eine meiner betagten Freundinnen musste zum Supermarkt gefahren werden, du verstehst? Ich kann die alten Damen einfach nicht hängenlassen.« Sie deutete zum Haus. »Geh schon mal vor, ich komme gleich zu dir.«

Wenig später betraten sie zu dritt die Wohnung, wo Hedi die Tasche mit den nassen Schwimmsachen in die Küche trug und Thure ins Wohnzimmer schickte. Den schlafenden Riko legte sie im Ehebett ab. Seine erste Wassergewöhnung hatte ihren Sohn erschöpft.

»Es ist mir schleierhaft, wie du das alles schaffst«, sagte Thure, als sie mit zwei Tassen Instantkaffee in ihr Wohnzimmer kam. »Ein Säugling, drei greise Canasta-Damen und der Haushalt, das ist wirklich beeindruckend.«

Er schlug das Einwickelpapier auseinander. Auf dem Pappteller lagen zwei üppige Stücke Marzipantorte und zwei Joghurttörtchen, bei deren Anblick Hedi sofort ein Verdacht kam.

Mit misstrauischem Blick musterte sie das treuherzige Gesicht ihres großen Kollegen. »Thure? Hast du wegen irgendetwas ein schlechtes Gewissen? Ich meine, diese Zuckerbomben hast du beim besten Konditor der Stadt geholt. Du bist extra meinetwegen zum Café Heldt gefahren? Und das einfach mal so? Ohne Hintergedanken? Sag lieber gleich, was du angestellt hast.«

»Na gut, du hast mich erwischt. Aber es geht weniger darum, mein Gewissen zu beruhigen, als dich zu bestechen. Ich hätte da vielleicht eine kleine Aufgabe für dich. Was mir angesichts deiner vielen Pflichten als junge Mutter nun schon fast etwas frech erscheint.«

»Polizeiarbeit? Ich soll für dich ermitteln?« Hedi ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen und streckte die Hände gen Himmel. »Oh, danke, danke, danke! Ich tue alles, wenn ich nur für kurze Zeit von den Freuden des Mutterdaseins erlöst werde.«

»Es geht um Anastasia Auer.« Thure fixierte den Inhalt seiner Tasse, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt als dampfenden Instantkaffee. »Du erinnerst dich vielleicht noch an ihre Mutter?«

»Okay, vergiss es.« Hedi schnappte sich das größere der beiden Marzipanstücke und lud es auf ihren Teller. »Der Fall ist ausermittelt, und das schon seit Jahren. Damit lockst du doch keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Anastasia Auer.« Sie gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Darüber ist bereits alles gesagt worden.«

»Ihre Mutter sieht das nach wie vor anders, und wer würde ihr das verübeln wollen? Immerhin geht es um ihre Tochter. Heute kam die arme Frau wieder aufs Revier, um uns daran zu erinnern, dass die Suche nach Anastasia nie erfolgreich abgeschlossen wurde. Sie fragte mich nach irgendwelchen Fortschritten in der Angelegenheit, und wie immer hatte ich absolut nichts, das ich ihr anbieten konnte.«

Hedi sah zu den grauen Wolken hinauf, die vor ihrem Fenster über den Himmel jagten, und runzelte die Stirn. »Wir haben erst Februar. Für gewöhnlich wurde Sonja Auer immer am Jahrestag des Verschwindens ihrer Tochter vorstellig. Und der ist erst im Juli.«

»Sie hat ihren Rhythmus offensichtlich verkürzt.« Thure wagte es, von der Tasse auf- und sie anzublicken. »Hedi, dieser Fall ist uns allen so angenehm wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt, aber solange Sonja Auer hartnäckig darauf drängt, dass wir Anastasia finden, können wir die Akte nicht verstauben lassen und den Fall einfach vergessen.«

»Anastasia hat eine ihrer Klassenkameradinnen umgebracht und ist davongelaufen, als sich ihr die Gelegenheit dazu bot«, erinnerte Hedi ihren Freund und Kollegen. »Das Mädchen will überhaupt nicht gefunden werden, denn dann würde sie für viele Jahre ins Gefängnis wandern. Ihre Mutter sollte froh darüber sein, dass wir nie wieder eine Spur von ihr entdeckt haben.«

»Das stimmt nicht so ganz«, sagte Thure. »Erst kürzlich ist ihr inzwischen abgelaufener Pass aufgetaucht. In Kiel. Bei einer jungen Drogenabhängigen, die behauptet, sie hätte ihn schon vor Jahren gegen ihren eigenen eingetauscht. Sie fand das wohl lustig.«

»Hat Anastasia selbst die Ausweise mit ihr getauscht, um unter anderem Namen das Land zu verlassen?«, fragte Hedi.

»Das könnte man daraus schlussfolgern«, räumte Thure ein. »Trotzdem stimmt an der Sache etwas nicht, ich kann es förmlich riechen. Anastasia war ein gewöhnlicher Teenager, und es ist ihr gelungen, spurlos von der Bildfläche zu verschwinden. Das schafft manch ausgebuffter Ganove nicht.«

»Der Mord liegt fast fünf Jahre zurück. Inzwischen könnte Anastasia sonst wo auf der Welt leben und einen ganz anderen Namen führen.« Hedi rammte ihre Gabel in eines der Tortenstücke und zog es zu sich heran. »Was soll das Ganze noch? Wo soll ich ihre Spur aufnehmen? Und mal angenommen, ich finde tatsächlich etwas, so werde ich bestimmt nicht um den halben Erdball reisen, um das Mädchen zu suchen, einzufangen und ihrer Mutter zurückzugeben. Anastasia ist längst volljährig. Sie kann tun und lassen, was immer sie will, solange sie nicht in die Mühlen der Justiz gerät. Dort würde man sich allerdings freuen, sie in die Finger zu bekommen. Schließlich verjährt Mord nicht.«

»Niemand erwartet von dir, dass du in der Weltgeschichte herumgondelst, um Anastasia zu finden«, widersprach Thure und stocherte in seinem Kuchen. »Ihre Mutter glaubt, dass sie von allein heimkommt, sobald ihre Unschuld endlich bewiesen ist. Und genau darum geht es. Wir sollen den wahren Mörder von Kim Völker finden, damit Anastasia zurückkehren kann. Sonst macht sie uns die Hölle heiß. Ihre Worte, nicht meine.«

»Das ist doch Blödsinn.« Hedi ließ die Gabel sinken. »Es gibt keinen geheimnisvollen Täter. Anastasia wurde in unmittelbarer Nähe des Tatorts von zwei Zeuginnen gesehen, die sie fälschlicherweise für das zweite Opfer eines nächtlichen Überfalls hielten. Die Blutspritzer auf ihrem Gesicht deuteten darauf hin, dass sie vor Kim Völker gestanden hat, als diese angegriffen wurde. Um ein Muster aus Spritzern abzukriegen, muss man nämlich dabei gewesen sein. Das weißt du genauso gut wie ich.«

»Oder sie hat danebengestanden«, gab Thure zu bedenken. »Sie könnte genauso gut selbst nur eine Zeugin gewesen sein, denn niemand außer der einen dieser beiden Passantinnen hat die Spritzer auf ihrem Gesicht gesehen. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass das Messer, also die Tatwaffe, nicht gefunden wurde. Der Fall ist nicht so eindeutig, wie er im ersten Moment erscheint.«

»Und trotzdem hat das Revier keine Leute, um die alte Geschichte wieder aufzuwärmen. Und da dachtest du dir, ich könnte ja mal umsonst arbeiten, bevor ich noch völlig einroste.«

»Gratis, aber nicht umsonst.« Thure sah sie hoffnungsvoll an. »Es würde Anastasias Mutter so viel bedeuten, wenn wieder Bewegung in den Fall käme. Und ich wäre bereit, dich weiterhin mit Kuchen zu versorgen, wenn du mir die arme Frau abnimmst. Ansonsten muss ich sie in einem halben Jahr schon wieder enttäuschen, wenn sie erneut an meiner Schreibtischkante vorstellig wird.«

»Das ist eine völlig sinnlose Aufgabe«, sagte Hedi noch einmal. »Das Mädchen hat es getan und sich hinterher ins Ausland abgesetzt. Es gibt keine unbeantworteten Fragen in diesem Fall außer Anastasia Auer.« Sie seufzte und zupfte ein Stück Marzipan von der Sahne. »Von der Tatwaffe und der Frage nach dem Motiv einmal abgesehen. Also gut. Ich kann mich ja mal ein bisschen umhören.«

»Wunderbar!« Thure öffnete seine Strickjacke, und zum Vorschein kam ein ockerfarbener Aktendeckel. »Ich habe dir etwas zum Lesen mitgebracht. Es ist nicht viel, aber bestimmt findest du einen Ansatz darin.«

»Du hast gewusst, dass ich Ja sagen würde?« Hedi sah ihren Freund vorwurfsvoll an.

»Nur gehofft«, erwiderte Thure und schob ihr die Akte über den Tisch zu. »Wo du doch in den letzten Monaten zwei Cold Cases auf so brillante Weise gelöst hast, dachte ich, du hättest Gefallen daran gefunden.«

»Das waren ganz andere Fälle«, widersprach Hedi. »Bei denen war ich mir nicht so sicher, den Mörder bereits zu kennen. Die Angelegenheit Auer verspricht wenig Überraschungen.«

»Und wenn du dich irrst?« Thure sah sie gespannt an. »Was, wenn der wahre Täter noch immer in Eckernförde frei herumläuft und Anastasia vollkommen unschuldig ist? Was, wenn sie wirklich irgendwo auf der Welt auf den richtigen Moment wartet, um endlich nach Hause zu kommen?«

* * *

EIN JULITAG VOR FÜNF JAHREN

»Wir haben abgestimmt«, hörte Anastasia jemanden laut sagen. »Es ist heute eindeutig zu heiß für Mathe.«

Anastasia sah von ihrem Hausaufgabenheft auf und entdeckte Kim, wie sie lässig in ihrem bauchfreien Top am Lehrerpult lehnte, an einer ihrer blonden Haarsträhnen kaute und Professor Kern, ihren Lehrer, fixierte.

Hätte jemand anders die Frechheit besessen, so gegenüber dem Naturwissenschaftler aufzutreten, wäre dieser Jemand bestimmt augenblicklich aus dem Klassenzimmer geflogen. Aber nicht Kim. Sie entlockte dem sonst eher strengen Lehrer sogar ein Lächeln.

»So so. Abgestimmt habt ihr.« Er nahm die Brille ab und rieb die Gläser an seiner Krawatte sauber. Ein sinnloses Unterfangen, das nur dazu führte, die Kreidespuren von seinen Fingern auf den karierten Stoff zu übertragen. »Na, dann sollten wir die Doppelstunde Mathe wohl besser an den Strand verlegen. Schließlich leben wir ja in einer Demokratie. Aber das Eis müsst ihr selbst zahlen.«

Lautes Gejohle erhob sich im Klassenraum, und jemand schlug Kim, die sich zurück in die Menge stellte, so kräftig auf die Schulter, dass sie leicht in den Knien einknickte.

»Das klingt nach einer annehmbaren Lösung«, rief Jay, der Klassensprecher, und grinste. »Vorausgesetzt, Sie meinen es auch ernst, Herr Professor, und nehmen uns nicht nur auf den Arm.«

»Warum sollte ich?« Er schlug das Klassenbuch zu. »Die letzte Arbeit ist geschrieben, an den mündlichen Noten wird sich nichts mehr ändern, und das Außenthermometer hat soeben die Dreißig-Grad-Marke geknackt. Packt eure Sachen zusammen, wir legen den Unterricht gewissermaßen auf Eis.«

Unter fröhlichem Gejohle wurden Bücher und Hefte in Taschen gestopft, und einer nach dem andern verließ den Klassenraum. Auch Anastasia. Sie konnte es nicht glauben, dass Kim es mal wieder geschafft hatte. Sie selbst an ihrer Stelle hätte sich nicht einmal getraut, den Mund aufzumachen. So war es schon immer gewesen. Von ihrem ersten Tag auf der weiterführenden Schule an hatte Kim die Führungsrolle innegehabt, entschieden, welcher Look und welche Musik angesagt waren und von welcher Marke das Lipgloss aller Mädchen zu sein hatte. Anfangs hatte Anastasia die schlagfertige Blondine dafür bewundert und versucht, ihr nachzueifern. Doch das hatte sich im Laufe der Jahre gelegt. Inzwischen war sie ganz zufrieden damit, Anastasia zu sein. Die stille, stets korrekte Anastasia, die ihren Weg schon machen würde, wie es ihr einmal ihre Klassenlehrerin versichert hatte. Die Kims dieser Welt hörten einfach auf, Anastasia zu interessieren.

Eine Viertelstunde später nahm eine leicht überforderte Bedienung der Eisdiele die Bestellungen der gesamten elften Klasse auf. Als aber Anastasia an die Reihe kam, schüttelte diese nur stumm den Kopf und hasste die Röte, die ihr völlig grundlos in die Wangen schoss.

»Schon wieder pleite?«, fragte Susanna, die neben ihr saß. »Ich kann dir was leihen, wenn du willst.«

Abermals schüttelte Anastasia den Kopf. Geliehenes Geld barg die Problematik, dass es irgendwann zurückgezahlt werden musste, und das war nicht so einfach für Anastasia. Obwohl sie inzwischen regelmäßig babysittete, um ihr Taschengeld aufzubessern, reichte es meist vorne und hinten nicht. Nicht, wenn es Neuerscheinungen ihrer bevorzugten Manga-Reihen gab, was quasi ständig der Fall war. Ihre umfassende Sammlung hätte manche Bibliothek vor Neid erblassen lassen.

Aber sie brauchte kein Softeis und keinen Cappuccino, um diesen Moment zu genießen, denn gleich neben ihr stand Jay. Jay, der eigentlich Jakob hieß und der hübscheste und netteste Junge der ganzen Klasse war. Jay, der sie vor ein paar Tagen am Strand einfach so angesprochen hatte, um mit ihr über Effie Briest zu plaudern. Jay, der immer, ohne zu klagen, seinen kleinen Bruder mit an den Strand nahm und ganz genau auf ihn achtgab. Jay, der ein Jahr in Amerika als Austauschschüler gelebt hatte und in der Zeit schrecklich erwachsen geworden war. Jay, in den Anastasia, wie sie sich mittlerweile eingestand, etwas verliebt war.

»Du isst nichts?«

Anastasia schrak zusammen, hob den Kopf und ergänzte ihre ohnehin schon lange Liste um einen weiteren Punkt: Jay, der ihr einen beachtlichen Eisberg, garniert mit Krokantstreuseln, unter die Nase hielt.

Zaghaft, die Hände hinter dem Rücken verkrampft, damit niemand sah, wie sie zitterten, kostete sie einen winzigen Teil der kalten Creme mit spitzen Lippen.

»Schmeckt gut, oder?«

Sie nickte und brachte keinen Ton heraus. Dann streckte Jay den Arm aus, um jemand anderem von seinem Eis anzubieten. Die Waffel hielt direkt vor Susanna.

»Willst du auch mal probieren?«

Es war nur ein Klümpchen Eiscreme, aber Anastasia spürte den Stich der Eifersucht und der Enttäuschung in ihrem Herzen. Binnen Sekunden hatte er seine Geste ihr gegenüber relativiert, indem er sie Susanna gegenüber wiederholte.

Diese lehnte allerdings vehement ab. »Lass mal, ich bin erkältet und werde ganz sicher mit niemandem vom selben Eis essen. Es sei denn, ich kann ihn überhaupt nicht leiden.«

Jay lachte, und Anastasia wünschte, sie hätte eine so schlagfertige Antwort parat gehabt.

»Anastasia.« Er hatte ihren Namen ausgesprochen, während er sein Softeis betrachtete, und die Silben dabei auf eine Weise in die Länge gezogen, die ihr einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. »Schöner Name, aber ein bisschen lang. Ist denn noch nie jemand auf den Gedanken gekommen, dir einen Spitznamen zu verpassen?«

»Doch«, behauptete sie und konnte es selbst kaum glauben, als sie sich sagen hörte: »Meine Freunde nennen mich Sassa.«

Neben ihr versteifte sich Susanna spürbar und warf ihr einen langen Blick zu, hielt sich aber dankenswerterweise zurück.

»Sassa. Sassa gefällt mir.« Wie zur Belohnung bot er ihr ein weiteres Mal seine Eiswaffel an.

Und jetzt nahm sie die Eiscreme nicht vorsichtig mit den Lippen ab, sondern leckte mutig an der Stelle, die er zuvor mit seiner Zunge berührt hatte. Fast ein intimer Moment, fand sie. Einer, der bestimmt noch besser gewesen wäre, wenn Kim nicht genau jetzt über irgendeinen Mist gekichert und eine Handvoll Strandsand nach einem Mitschüler geworfen hätte. Aber wer interessierte sich in einem solchen Moment schon für Kims Albernheiten? Besser, man versuchte, sie zu ignorieren.

Wenig später, auf dem Rückweg zur Schule, fühlte Anastasia sich federleicht. Ihre Gedanken kreisten um Jay, der einige Meter vor ihr herging, sich mit einem Mitschüler unterhielt und dabei immer wieder eine seiner sonnengebleichten Haarsträhnen mit einer lässigen Kopfbewegung aus der Stirn zu werfen versuchte. Wie gut, dass sie sich das eigene Eis verkniffen hatte, sonst hätte sie es vermutlich versäumt, seines angeboten zu bekommen.

»Sassa«, sagte Susanna neben ihr plötzlich unvermittelt. »Wer genau nennt dich Sassa?«

Anastasia zuckte mit den Schultern und versuchte, lässig zu klingen. »Freunde eben.«

»Ich bin auch deine Freundin. Das dachte ich zumindest«, sagte Susanna spitz. »Und ich habe diesen blöden Namen gerade zum ersten Mal gehört.«

»Freunde außerhalb der Schule.« Anastasia sah Susanna nicht an. »Es ist ja nicht so, als würde sich mein Leben nur im Klassenzimmer abspielen. Krieg dich wieder ein, Susanna, und werde lieber erwachsen. Wir sind bereits in der Oberstufe. Da werde ich ja wohl noch andere Menschen kennen dürfen, oder nicht?«

DER SALZWASSER-PODCAST IM LIVE-STREAM: ECHTE KRIMINALFÄLLE AN DER OSTSEE.

Auszug aus Folge 23. Quelle: Youtube

»Hallo Leute. Wie schön, dass ihr wieder dabei seid und mit uns bei unserer neuen Folge in einen neuen Fall eintaucht. Dies ist der Salzwasser-Podcast, wir sind Jessy und Yara und erzählen euch heute von einer wirklich grausamen Tat, die sich vor ein paar Jahren in Eckernförde zugetragen hat. Das Opfer war damals nur siebzehn Jahre alt, ihre Mörderin war sogar erst sechzehn. Zwei Teenager, die in einer schicksalhaften Sommernacht aufeinandertrafen, und nur eine von ihnen überlebte. Bis heute gibt der Fall Rätsel auf. Bis heute konnte die Täterin nicht ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Kannst du dich noch an die Mordnacht erinnern, Yara?«

»Aber natürlich, Jessy. Ich war damals so Anfang zwanzig und, wie so viele andere, entsetzt über die Tat. Zumal ja nur langsam durchsickerte, wer sie begangen haben sollte. Also glaubte ich zunächst an einen Verrückten, der nachts am Hafen herumläuft und kleine Mädchen absticht. Und auch, als die Wahrheit ans Licht kam, habe ich mich lange nicht getraut, abends auszugehen. Das war kein schöner Sommer.«

»Das glaube ich dir. Stimmt es, dass du das Opfer sogar persönlich gekannt hast?«

»Flüchtig, wir hatten für eine Weile gemeinsam Klavierstunden. Kim war, wie schon erwähnt, ein paar Jahre jünger als ich und ein ganz besonders hübsches Mädchen. Sehr groß, sehr blond, und in der Schule lief es wohl auch ziemlich gut für sie. Sie hat es immerhin aufs Jungmann-Gymnasium geschafft, das wir beide noch nie von innen gesehen haben. Glaubt man den vielen aufgeregten Stimmen, die nach ihrem Tod laut wurden, war sie dort sehr beliebt. Achtet man allerdings auf die feinen Zwischentöne, ganz besonders, wenn man den Nachruf in der Schülerzeitung liest, galt sie aber auch bei einigen als schwierig. Trotzdem hatte sie wohl viele Freundinnen und Bewunderer.«

»Gehörte ihre Mörderin auch zu diesen Freundinnen?«

»Tja, das ist das Seltsame, Jessy. Angeblich hatten die beiden kaum etwas miteinander zu tun. Sie gingen zwar in dieselbe Klasse, bewegten sich aber in völlig unterschiedlichen Kreisen. Kims beste Freundin, Alexandra, bezweifelte mal in einem Facebook-Post, dass die beiden vor dem Mord mehr als ein Dutzend Mal miteinander gesprochen haben.«

»Und trotzdem ist Kim Völker tot, und ihre Mörderin wird ja wohl einen Grund für diese Tat gehabt haben. Dazu gibt es viele Spekulationen. Auch darüber werden wir euch in dieser Folge berichten. Also, bleibt dran und ertragt tapfer den nun anstehenden Werbeblock unseres Sponsors.«

Kommentare aus der Community:

NenntmichIsmael:

Auf diesen Fall habe ich schon gewartet, der musste ja mal kommen. Danke dafür, ich freu mich darauf, endlich mehr über Kim und Anastasia zu erfahren. Der Kattsund-Mord hat mich damals sehr beschäftigt.

DerPausenclown:

Uh, das ist eine richtig üble Geschichte gewesen. Und niemand hat diesem Mädchen so etwas zugetraut. Es hieß, sie war immer so still und so unscheinbar.

LilaBrause:

Ich kenne den Fall gar nicht. Aber ein Mord unter Teenagern klingt echt krass. Die müssen einander wirklich gehasst haben. Und das hat keiner so richtig mitbekommen? Schon seltsam.

2

Nachdem Thure sich verabschiedet hatte, war Hedis Bedarf an Kalorien zunächst einmal gedeckt. Und da Riko noch immer in ihrem Bett döste, gab es nicht den geringsten Grund für sie, nicht in den Kopien herumzustöbern, die ihr Kollege ihr beim Kaffeeklatsch ganz beiläufig über den Tisch gereicht hatte. Doch es dauerte gar nicht lange, bis sich beim Lesen ein Gefühl der Ernüchterung in ihr breitmachte.

»Dass es keine Tatwaffe und kein Motiv gab, wusste ich ja noch. Aber darüber hinaus ist auch nicht gerade viel bekannt geworden«, sagte sie zu sich selbst und schüttelte den Kopf.

Die Polizisten, die den Mord an Kim Völker untersucht hatten, konnten tatsächlich gar nichts finden, was die Tat irgendwie erklärte. Wäre die Zeugin Cornelia Walter nicht gewesen, die Anastasia zweifelsfrei identifiziert hatte, wäre das Ganze vermutlich im Sande verlaufen. Doch nun waren Blutspritzer auf dem Gesicht des Mädchens gesehen worden, als sie Cornelia Walter im Licht einer Straßenlaterne gegenübergestanden hatte. Eine katastrophale Beweislage, auf deren Basis es niemals zu einem Prozess gekommen wäre, auch wenn man an Anastasias Kleidung weitere Blutspuren hatte sicherstellen können.

Trotz aller Unklarheiten schien der Fall für einige Zeitgenossen auf der Hand zu liegen. Ein Umstand, den Anastasia Auer sich aufgrund ihres Verhaltens gegenüber den Ermittlern selbst zuzuschreiben hatte. Kooperation sah anders aus.

Da klingelte das Telefon und riss Hedi aus ihren Gedanken. Ein rascher Blick auf die Uhr verriet ihr noch vor dem Blick aufs Display, wer der Anrufer war: Lars meldete sich wie jeden Abend aus seinen Ferien. Mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Bier in der Stimme, um sich nach ihrem und Rikos Befinden zu erkundigen.

»Hallo, mein Schatz«, rief sie zur Begrüßung in den Hörer und sprach sofort weiter. »Sag mal, was fällt dir als Allererstes zu dem Fall Kim Völker ein?«

Verdutztes Schweigen folgte. Dann fragte Lars: »War Thure etwa bei dir?«

»Wie hast du das nur erraten? Beißen die Fische?«

»Nein. Ich meine, ja. Ist doch egal.« Lars war etwas von der Rolle. »Was will er denn, das du in diesem Fall unternimmst? Das ist doch kalter Kaffee. Die Mörderin ist untergetaucht und denkt nicht einmal dran, ihren Fuß noch einmal auf deutschen Boden zu setzen.«

»Und wenn sie es nicht gewesen ist?«

»Willst du schon wieder einen Justizirrtum aufdecken?«

»Nein, denn es gab ja nie einen Prozess«, widersprach Hedi. »Und findest du es nicht seltsam, dass trotzdem alle Welt, mich eingeschlossen, genau weiß, dass Kim Völker von ihrer Klassenkameradin Anastasia erstochen wurde? Wie ist es dazu überhaupt gekommen?«

»Ist das dein Ernst?« Lars klang überrascht. »Das kannst du doch nicht vergessen haben. Dieses Mädchen, diese Anastasia, war das verkörperte schlechte Gewissen. Es gibt Fotos von ihr, wie sie nach einem Gespräch mit den Ermittlern die Polizeistation verlässt. Fotos, wie sie Tage nach Kims Tod an der Stelle steht, wo Kim verblutet ist. Fotos, wie sie immer wieder die Straße abgeht, in der der Mord vermutlich geschehen ist. Und alles mit einer Leichenbittermiene.«

»Der Kattsund-Mord«, ergänzte Hedi nachdenklich und dachte an die hübschen mit Rosen berankten Fachwerkhäuser in der urigen Altstadtgasse. »Ja, ihr schuldbewusster Gesichtsausdruck ist mir noch im Gedächtnis, aber reicht das wirklich aus, um sich sicher sein zu können? Es gab kein Geständnis von ihr.«

»Einfach jeder hat ihr das schlechte Gewissen angesehen. Sie musste gar nichts mehr sagen. Und diese blöde Ausrede, sich an nichts mehr erinnern zu können, glaubt eine Polizistin wie du doch schon lange nicht mehr, oder?«

»Sie war erst sechzehn Jahre alt«, erwiderte Hedi. »Womöglich war sie tatsächlich völlig überfordert mit der Situation, und ihr Körper wollte sie mit der Amnesie nur vor einem schweren Schock schützen. Was, wenn sie in Wahrheit eine Zeugin war, und nicht die Täterin?«

»Hat man nicht blutverschmierte Kleidung in ihrem Zimmer unter dem Bett gefunden? Mit Blut, das Kim Völker gehörte?«

Hedi suchte beiläufig die Kopie des Berichtes aus der Akte, in dem die blutbefleckte Kleidung erwähnt wurde, und las.