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Eine tiefe Freundschaft und ein dramatisches Geheimnis, das alles verändern könnte. Als Paul Post von seiner Studienfreundin Sarah erhält, wird alles wieder lebendig: Die gemeinsame Zeit in Cambridge, Sarahs verkorkste Ehe mit Alan und die endlosen Streitereien mit dem damals schon geheimnisvollen Jack. Auf einer Feier vertraut Paul sich einer fremden Kellnerin an und erzählt ihr seine Geschichte: Wie in einer Silvesternacht in Namibia zwischen den vier Freunden aus Studententagen alles eskalierte und einen tödlichen Ausgang nahm – Paul macht ein letztes, vielleicht verheerendes Geständnis. Midnight: Seite für Seite Nervenkitzel
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Die AutorinCecily von Hundt wurde 1974 in Düsseldorf geboren. Sie studierte Bibliothekswesen in Potsdam und arbeitete als freie Journalistin für BILD Berlin und die Süddeutsche Zeitung. 2004 eröffnete sie in Berlin Mitte den Buchladen Hundt, Hammer Stein und sie lebt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von München. Ihre erste Veröffentlichung war 2001 der Roman Von Pilzen und anderen Menschen, im österreichischen Skarabaeus Verlag. 2004 folgte eine Kurzgeschichte in einer Anthologie im Wagenbach Verlag und 2014 der Thriller Dog days of summer im Südwestbuch Verlag.
Das BuchAls Paul plötzlich Post von seiner alten Studienfreundin Sarah erhält, wird alles wieder lebendig: Die gemeinsame Zeit in Cambridge, Sarahs verkorkste Ehe mit Alan und der mysteriöse vierte Freund Jack. Auf einer Feier, zu der er seine Ehefrau begleiten muss, vertraut Paul sich einer fremden Kellnerin an und erzählt ihr seine Geschichte. Wie in einer Silvesternacht in Namibia zwischen den vier Freunden alles eskalierte und einen tödlichen Ausgang nahm – Paul macht ein letztes, vielleicht verheerendes Geständnis.
Cecily von Hundt
Das letzte Geständnis
Roman
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
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Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMärz 2015 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-95819-028-3
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Es ist heiß. Zu heiß für diese Jahreszeit. Joanna ist geschwommen, das Wasser läuft ihren Hals hinab und verfängt sich zwischen ihren Brüsten. Sie kommt mir auf dem Weg ins Haus entgegen und hat ein blaues Handtuch um ihre Hüften geschwungen, als sie an mir vorbei geht kann ich ihren Geruch nach Sonne und Chlor riechen.
Als Sarahs Brief dalag, meinte ich, mich getäuscht zu haben. Wir hatten festgelegt, uns nicht mehr zu schreiben. Nie mehr. In Cambridge, als Studenten, hatten wir uns kleine Briefe an den Kühlschrank gepinnt oder unter das Kopfkissen gelegt. Einmal hatte sie mir mein Butterbrot in ein Gedicht von Emily Dickens gewickelt und dazugekritzelt, wie unmöglich und banal sie es fand. Wir hatten uns geschrieben, wenn wir in die Ferien gefahren waren, Briefe mit Sand im Umschlag oder kitschige Postkarten mit Leuchttürmen. Eigentlich kenne ich Sarahs Schrift in- und auswendig. Sie ist romantisch, mit runden Buchstaben wie eine Jungmädchenschrift, aber sie hat noch nie zu ihr gepasst.
Joanna hat den Brief aus dem Kasten geklaubt und sich dabei die Hand aufgeschürft, die Blutstropfen auf dem Umschlag sind zu kleinen, hellbraunen Flecken verblasst, wie verschütteter Kaffee, wie immer, weil sie zu faul war, den Schlüssel zu suchen. Diese Nachlässigkeit hätte sie unseren Kindern sicherlich vererbt, wenn wir welche gehabt hätten.
»Sarah Cavelier« steht als Absender auf der Rückseite, und erst jetzt bin ich mir sicher, dass ich mich nicht getäuscht habe. Der Brief lag auf meinem Schreibtisch, als ich vom Markt nach Hause gekommen bin. Der Umschlag ist blassblau, auch so eine Eigenart von ihr. Sie hatte schon immer eine Vorliebe für kitschiges Briefpapier. Ich öffne ihren Brief noch nicht, da ich mir den Inhalt denken kann. Wir hatten eine Abmachung getroffen, damals, als all diese Dinge passiert waren, die wir nicht hatten voraussehen können. Als wir beisammengesessen hatten und ich ihr eine Zigarette angezündet und zwischen die zitternden Finger geschoben hatte. Mir war damals nicht klar gewesen, was ich mir selber damit antun würde, wenn ich sie aus meinem Leben entfernte wie eine lästige Erinnerung, einen Streit, einen Geliebten, der keiner mehr war. Mir war damals nicht klar gewesen, dass ich ein Stück von mir selbst zum Tode verurteilen würde, indem ich sie nie wieder würde sehen können. Aber das war der Deal gewesen und wir hatten uns daran gehalten. Nur dass wir uns voneinander verabschieden, wenn es so weit war, darauf hatte Sarah bestanden, nur ein Brief, hatte sie gesagt, und wie hätte ich uns das abschlagen können?
»Paul, hilfst du mir bitte!« Joannas Stimme zieht mich zurück in die Gegenwart. Sie hat ihre helle Bluse bis über die Ellbogen hochgerollt und wirft ihr langes rotes Haar zurück über die Schulter. Sie steht in unserem Garten, den sie in einen englischen Park verwandelt hat. Weite Rhododendrenrabatten dehnen sich unter hohen Bäumen, der Rasen ist gleichmäßig, millimeterkurz. Tonnen von saurer Erde hat Sarah aus Europa einfliegen lassen, damit die Pflanzen ihre Wurzeln tief in den Boden graben können, jedes Beet ist militärisch genau geplant und üppig bepflanzt – und ich muss zugeben, dass ihr das alles gut gelungen ist. Es ist mir ein Rätsel, wie sie das bei diesem Klima schafft. Meine Frau ist stolz darauf, sie sagt immer, der Blick aus meinem Arbeitszimmer sei der schönste auf dem gesamten Kontinent. Sie hat recht, auch wenn es mir herzlich egal ist, aber das ist nur eines der unendlich vielen Missverständnisse, auf deren Boden unsere Ehe ruht.
Der leicht salzige Schweiß rinnt Johanna über das Gesicht und sie wischt ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite. Der Gartenschlauch hat sich verhakt und solche Schwierigkeiten gehören in meinen Zuständigkeitsbereich. Ich bin der Mann, auch wenn ich mich in Joannas Gegenwart nie als solcher fühle, selbst wenn ich mir noch so große Mühe gebe.
»Ich komme, mein Schatz«, erwidere ich. Sarahs Schrift schaut mich beinahe spöttisch vom Gartentisch aus an, und ich meine, ihre klare Stimme im weitläufigen Garten hören zu können: Steht dir gut, der Hausmann und das Vollweib. Ich wische sie beiseite, wende mich der Frau zu, die mich liebt, und kümmere mich um den trübseligen Gummigartenschlauch.
»Wir müssen uns gleich fertig machen. Für dich heute Abend den Smoking«, ruft sie mir zu, nimmt die Treppen ins Haus mit den ihr typischen, präzisen Bewegungen, und ich nehme einen tiefen Schluck aus meinem Wasserglas. Auf Sarahs Schrift fallen ein paar Tropfen.
Der Ball ist für einen guten Zweck, das funktioniert immer. Mein Smoking kneift unter den Armen und spannt auch an anderen Stellen. Ich habe ihn seit fünfzehn Jahren nicht getragen, um genau zu sein, seit fünfzehn Jahren, elf Tagen und sieben Stunden. Joanna hat ihn aus dem Schrank geholt, ihn prüfend gemustert und mit dem Teppichklopfer im Garten entstaubt. Dann hat sie ihn mit feuchten Tüchern gereinigt. Jetzt traue ich mich kaum, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Zu sehr würden mir die grau melierten Schläfen auffallen, der Bauch, der sich über dem Gürtel rollt, und diese Augen, die nichts zu sehen scheinen. Fünfzehn Jahre, elf Tage, sieben Stunden und neun Minuten.
»Bist du fertig?« Joanna steht in der Tür, sie hat das flammend rote Haar streng nach hinten gekämmt und mit einer Spange zusammengebunden. Ein Lächeln tanzt über ihr Gesicht und gibt ihren Zügen eine Leichtigkeit, die sie nicht hat. Ihr Parfüm ist zu schwer. Ich frage mich, zu wem diese wunderschöne Frau wohl gehören mag.
»Ich komme schon. Du siehst bezaubernd aus.«
»Findest du?« Sie dreht sich einmal albern um ihre eigene Achse. In der schwülen Hitze fächelt sie sich mit der Hand hektisch Luft zu. »Sieh mal: meine neuen Schuhe.«
»Bezaubernd«, wiederhole ich.
Plötzlich steigt mir Übelkeit in die Nase, und ich muss mich an dem niedrigen Tisch festhalten, auf dem die Fotos stehen, festgebacken und unverrückt seit fünfzehn Jahren, dem Tag, seitdem wir hier leben. Namibia ist auf ihnen zu sehen, Namibia ist überall in unserem Haus. Es hängt an den Wänden in Form von gewebten Teppichen, Namibia steht in den Ecken herum, als alte, knorrige Stühle, die aus wilden Ästen gebaut sind, und ist in alte Steinkrüge und Keramikschalen mit Hülsenfrüchten gefüllt. »Du mit deinem Afrika«, pflegt Joanna immer zu sagen, und Eifersucht lässt ihre Stimme eine Nuance höher klingen.
»Denk an die Koffer.« Jetzt steckt sie den Kopf noch einmal durch die Tür. »Um sechs geht der Flug.« Die Koffer sind gepackt, als ob wir nie wieder zurückkämen. Paris, London, Venedig, einen Abstecher in die Toskana und dann Amsterdam. Morgen früh geht der Flug. Wir sind ein ältliches Paar auf Hochzeitsreise, der fünfzehnte Hochzeitstag, und wie so viele andere ältliche Ehepaare wird uns die Rettung unserer Ehe nicht. gelingen »Das Taxi ist da«, ruft Joanna aus dem Flur, und ich atme flach durch die Nase, gehe durch mein elegantes Wohnzimmer und mein elegantes Leben, und ich hoffe schwer, irgendwo anzukommen.
Als ich Sarah und Alan in Afrika besucht hatte, waren Joanna und ich bereits verlobt gewesen. Ich täuschte ihr gegenüber eine Sinnkrise vor, eine Schreibblockade, und sie glaubte mir. Weil sie mir glauben wollte. Sarah und Alan hatten alles hinter sich gelassen: seine Kanzlei im vernebelten London, ihre Lügen, das Leben zu führen, das zu ihnen passte, und diese Wurzeln, die ihnen den Atem nahmen, sie erstickten. In Afrika trug Sarah weiße, breitkrempige Hüte und einen weißen Schal um die Schultern, um sie vor der sengenden Sonne zu schützen. Alan steckte beim Gehen beide Hände tief in die Hosentaschen wie ein Ranger. Aber sie konnten England nicht abschütteln, sie trugen es hinein in die trockenen Felder um sie herum, in die flirrende Hitze und in den süßen Duft des Oleanders und der gärenden Feigen.
Während ich bei ihnen zu Besuch war, herrschte in England Winter. Das Land schien erstarrt unter einer tiefen Schicht Schnee. In dem Jahr, in dem alles passierte, feierten wir zusammen Silvester: Sarah, Alan, sein Freund Jack aus Amerika und ich. Alan und Jack waren gemeinsam zur Schule gegangen. Sie hatten sich ein Siegel machen lassen, mit dem sie ihr Briefpapier stempelten. Sie und die anderen Jungs aus ihrem Internat, die quer über Europa verstreut waren wie Blätter im Wind. Sie hatten sich besucht, wann immer sie konnten, waren unzertrennlich. Obwohl Sarah es nie so formuliert hatte, wusste sie, dass für Alan nach den Jungs eine ganze Weile gar nichts kam. Und dann kam sie.
Ihr Haus war kühl und dezent eingerichtet. Ganz nach Sarahs Art. Wir tranken und feierten die ganze Nacht hindurch. Schließlich warf sie den Rock über die Knie hoch und tanzte mit Alan durch die alten Räume mit den unverputzten Mauern und dem hohen, alten Kamin, in dem man einen Stier hätte braten können.
Der wilde Kontinent sollte mir die Männer austreiben., auch wenn ich vordergründig einen anderen Grund für meine Reise gewählt hatte. Wenn sie im preisgekrönten Cambridger Hockeyteam vor mir Aufstellung nahmen, hielt ich die heißen Hände zusammengepresst im Schoß. Mit brennenden Augen folgte ich ihren verschwitzten Körpern, lauschte stundenlang auf das raue Brüllen, das sie ausstießen wie Tiere, und war verzweifelt. Sarah hatte mir in einer Nacht auf den Kopf zugesagt, dass ich schwul sei. Aber ich wischte ihre Worte weg, tanzte mit schwerhüftigen Mädchen, die ihren Kopf an meine Schulter legten und nach süßem Puder stanken.
Sarah und ich hatten uns ein Apartment in Cambridge geteilt. Als sie dort ankam, brachte sie einen gerissenen Meniskus im linken Knie und den begrabenen Traum von einer Karriere als Tänzerin mit. Sie hatte beinahe ihre gesamte Jugend an der Ballettstange verbracht, die Zähne aufeinandergebissen. Sie wirkte klein und schmal, ihr Gesicht war von kindlicher Schönheit, und ich verliebte mich sofort in ihren Verstand. Da sie eine gute Erzählerin war, nahm sie ihre Zuhörer mit in ihre Geschichten hinein. Ich konnte ewig dasitzen und ihr zuhören. Wir saßen gemeinsam im Orchard, aßen Scones und wandelten auf den Spuren Virginia Woolfs. Beim Punting auf dem Cam war ich ganz der Gentleman und chauffierte sie an den sommerlichen Flussufern entlang und lauschte. Ihre Stimme klang hell, ihre Aussprache war nachdenklich und präzise. Sie lachte wenig. Und wenn, dann warf sie dabei den Kopf in den Nacken, fuhr sich mit der schmalen Hand durch das Haar und richtete ihre Augen dann wieder auf ihr Gegenüber. Umgekehrt hörte auch sie mir aufmerksam zu, keine Kleinigkeit entging ihr, keine Nuance in der Betonung. Sie fragte nach, wenn ich ins Stocken geriet, holte Gedanken tief aus meinem Kopf, faltete sie vor mir auseinander und zwang mich, sie zu betrachten.
»Als mein Knie erst knackte«, sagte sie mir an einem Abend nach einer Menge Rotwein und misslungenem Risotto, als wir uns die Safranfäden aus den Zähnen pulten, »und der Meniskus dann riss, war ich aus dem Schneider. Endlich.« Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, Jungfrau und verdankte ihre Flucht aus ihrem Elternhaus ihrem schwachen Knorpel im linken Kniegelenk. »Meine Mutter hat an diesem Abend wieder angefangen zu trinken«, erzählte sie, »und ich habe am nächsten Morgen meine Koffer gepackt und bin weg.« Ihr Vater überwies ihr jeden Monat einen beachtlichen Betrag auf ihr Konto. Wir verfraßen und versoffen alles. Ich hatte einen kleinen Dealer in der Innenstadt beim Friseur aufgetrieben. Er verkaufte uns pausenlos das falsche Zeug und so rauchten wir uns durch Alte Afghane, Hanf und alles andere, was der Markt so hergab. Ich schlief bis zwölf. Lamentierte über die Studiengebühren und über die Abtreibungsgegner. Ich fühlte mich ganz wie ein Intellektueller. Sarah besaß hingegen eine absolut eiserne Disziplin. Sie konnte mit dem »Gelaber«, wie sie es nannte, nichts anfangen. Sie stand immer um dieselbe Uhrzeit auf, joggte acht Kilometer durch einen Park und verbrachte den Rest des Tages damit, in der Universität zu sitzen, alten Männern zu lauschen, die ihr Geschichten erzählten, die sie nicht interessierten. Sie wälzte dicke Bücher über die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, die sie verabscheute, doch ihre Noten waren so gut, dass sie ein Stipendium bekam, das sie nicht brauchte.
»Was soll ich mit mir anfangen, Paul?«, fragte sie mich immer wieder in warmen Nächten. Wir saßen nebeneinander auf dem Campusrasen, bauten uns gegenseitig Joints, lasen uns Gedichte von Else Lasker-Schüler und W. H. Auden vor und wünschten uns nichts sehnlicher, als uns zu verlieren. Ineinander. In irgendetwas. Sarah hatte keine charmante Art. Dafür war sie zu ehrlich. Zu ungeschminkt. Sie hatte ihre Gesichtszüge zu schlecht unter Kontrolle. Innerhalb weniger Sekunden konnte sie die Augenbrauen zusammen- oder auseinanderziehen und in schneller Abfolge kamen Erstaunen, Verachtung oder Belustigung zum Ausdruck. Sie war keine Emanze, aber sie glaubte einfach nicht an die geistige Trennung von Mann und Frau. »Was soll das sein, Paul?«, fragte sie immer wieder. »Was bist du denn? Dein Gehirn soll anders funktionieren als meins? Bist du ein Mann oder ein Mensch? Wieso soll ich dich davon freisprechen, nach gesundem Menschenverstand zu handeln?« Sie glaubte einfach nicht an unterschiedlich strukturierte Hormonschübe und geschlechtsbedingte Unterschiede im Kopf. Sie kleidete sich elegant-lässig, doch sie war sich ihrer Schönheit nicht sicher. Und alle wollten sie haben. »Fang endlich an zu vögeln«, schlug ich ihr vor, und sie murmelte: »Das gerade von dir.« Ich stand auf Jules, der seinen kleinen, französischen Arsch vor mir hin- und herwedelte, und kam selbst keinen Schritt weiter. »Oder heirate mich. Dann habe ich ein Alibi, und du hast jemanden, der auf dich aufpasst«, schlug ich vor. »Na gut«, sagte sie und blies in die gedrehte Zigarette, dass die Funken wie ein Miniaturfeuerwerk aufstoben und über ihrem Kopf verglühten. »Das Vögeln, meine ich. Wenn du glaubst, dass es hilft.«
Also schlief sie mit ihrem Professor, den das beinahe seinen Hals gekostet hätte, mit dem Hockeytrainer und dem ersten Spieler rechts außen. Sie schlief auch mit einem Mädchen, aber beschloss, das nie wieder zu tun. »Langweilig«, erklärte sie und tat es ab. Sie schlief mit einem hübschen Jungen mit viel Geld und dachte einen Moment darüber nach, sich ein wollenes Twinset und eine Perlenkette zu kaufen und seine Vorhänge auszusuchen. »Langweilig«, entschied sie wieder und tat ihn ab. Sie schlief mit unendlich vielen Männern in diesem Sommer, und obwohl ich geistig kaum ansprechbar war – meine Versuche, meine Konversation mit Jules vom Geldwechseln in der Kantine auf mein Bett zu lenken, nahmen mich mehr als alles andere in Anspruch –, stellte ich erstaunt fest, wie eifrig sie meinem Rat gefolgt war.
»Sir, wir sind da.« Der Taxifahrer spricht makelloses Englisch, und Joanna nimmt ihre beringte Hand, die mich als ihren Besitz auszeichnet, und legt sie kurz auf meine. »Es ist sehr unterhaltsam mit dir«, bemerkt sie schnippisch. Dann zerrt sie ihre kunstvoll zurechtdrapierte Frisur, schiebt ihren Seidentaftrock über die runden Knie und winkt dem Fahrer, damit dieser die Tür öffnet. »Vergiss deine Zigarren nicht.« Ich schiebe mich nach ihr aus dem Wagen, und der rote Teppich, auf dem wir uns ins Zentrum des Geschehens bewegen, riecht neu, nach Plastik und nach Reinigung. Endlose Stufen winden sich vor uns hinauf. Ich höre Joanna neben mir schwer atmen und möchte gar nicht erst wissen, welche Figur ich mache. Der Smoking nimmt mir die Luft, ich komme mir alt vor. Fünfzehn Jahre. Endlich nimmt uns das kühle Foyer gnädig auf, erleichtert schiebe ich meine Hand unter Joannas Arm. Feigling, höre ich Sarah sagen, du brauchst noch immer etwas, an dem du dich festhalten kannst. Joanna zieht mich hinein in das Gedränge. An den Wänden hängen große Plakate. »Heal the world« steht in tiefroten Lettern darauf, außerdem ziehen sie sich die gesamten Wände entlang. Ich habe schon wieder vergessen, für wen wir hier kalten Champagner trinken. Bekannte Gesichter kommen mir entgegen, es riecht nach Schweiß und Zigaretten.
Ich pralle zurück vor menschlichem Geruch und in diesem Fall gegen jemanden. Als ich mich umdrehe, ruhen große, graue Augen auf mir. »Entschuldigen Sie bitte«, stammele ich und versuche, meinen Arm aus Joannas Umklammerung zu ziehen. »Macht nichts«, erwidert die Stimme, die zu den Augen gehört, und der Mund verzieht sich zu einem ungeschickten Lächeln. Das Mädchen ist vielleicht neunzehn, zwanzig Jahre alt. An wen erinnert es mich? Seine Lippen sind zu rot, zu dunkel für die helle Haut. Sie sieht mich konzentriert an, als würde sie mich kennen, doch Joanna zieht mich mit einem Ruck weiter.
Die Tischordnung ist auf zwei kleinen Zetteln getippt und das Gedrängel vor ihnen ist wie der Kampf um Rom. Ich suche meinen Namen, jedoch vergeblich, bis eine vollschlanke Frau auf mich zukommt und mich antippt. »Paul?«, fragt sie und ich gebe mir nicht einmal die Mühe so zu tun, als hätte ich den Hauch einer Vorstellung davon, wer sie sein könnte. »Tut mir sehr leid«, sage ich freundlich, »ich habe ein miserables Namensgedächtnis und für eine Höflichkeitsfloskel ist es einfach zu heiß.« Sie lächelt und streckt mir die Hand entgegen. »Ich bin es, Zoe.« Ein unbestimmtes Bild von etwas Unförmigem huscht mir durch den Kopf: lange blonde Haare, mächtige Schenkel. »Zoe Fineman«, vervollständigt sie ihren Namen, und ich erinnere mich, dass der Gastgeber auch Fineman heißt und mit mir studiert hat. Besser gesagt, mit uns, Sarah und mir, studiert hat. Philosophie oder Psychologie, etwas in der Art. Aus ihm ist jedenfalls etwas geworden, und das unterscheidet uns voneinander. Ich brauche sofort einen Drink. »Natürlich, Zoe Fineman«, sage ich und nicke bedächtig mit dem Kopf. Es muss idiotisch aussehen. Ich nehme ihre fleischige Hand und ziehe sie zum Kuss an meine Lippen. Sie riecht nach Bratenfett. Die Finemans haben wohl noch einen Snack genossen, bevor der Abend losging, kluge Finemans. Es wird ewig dauern, bis wir bei diesen Menschenmassen etwas zwischen die Zähne bekommen. »Du siehst wunderbar aus.« Die Dicke sieht mich misstrauisch an, entschließt sich aber, mir zu glauben.
Joanna unterhält sich mit dem Bürgermeister, sie strahlt wie ein helles Licht. Sie tut nicht viel dafür. Sie ist einfach so präsent, sie ist ausnehmend schön, und sie ist der Mensch, den ich mir ausgesucht habe. Denn sie hat auf der Liste, die ich erstellt und mit prüfendem Blick an jede Frau gehalten habe, ohne, dass ich etwas von dieser Liste wusste, die meiste Punktzahl erzielt. Joanna ist sozusagen die logische Konsequenz der Silvesterfeier, die Alan, Sarah, Jack und ich in Namibia verbracht haben. Sie ist der fleischgewordene Entschluss, dieses Leben, mein Leben, so kontrolliert und langweilig wie irgend möglich verlaufen zu lassen. Wie sich das wohl anfühlt, eine Konsequenz zu sein?
»Das ist meine Frau«, erläutere ich und deute unbestimmt in ihre Richtung. Zoe sagt nichts, sie erinnert sich genau an Joanna, das weiß ich. Die Hässlichen wissen immer, was die Schönen, die Begehrten getan haben, und mit wem sie es getan haben. Dann mustert Zoe Joanna und atmet geräuschvoll durch die Nase ein. »Eine imposante Erscheinung«, sagt sie mit belegter Stimme. »Du Glückspilz«, freundlich und ohne Spott. »Ja«, sage ich, »das bin ich wohl.«
Die Hitze scheint zugenommen zu haben und ist in die hohe Halle hineingekrochen. Joanna dreht den Kopf in meine Richtung und lächelt mir zu, und ich Schuft erwidere ihr Lächeln wie ein verliebter Mann. »Greifen wir an«, sage ich, und biete Zoe den Arm an, ganz Gentleman. Sie nimmt ihn mit ihren Babyhänden und so schieben wir uns zwischen die feuchtwarmen Leiber. Da fällt mir Sarahs Schrift auf dem blassblauen Briefpapier ein.