Von Dorftratsch und Provinzintrigen - Cecily von Hundt - E-Book

Von Dorftratsch und Provinzintrigen E-Book

Cecily von Hundt

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein neuer Fall für Hobbydetektivin Lorie Pfeffer Von ihrem Leben in der Kleinstadt im beschaulichen Münchner Umland hatte sich Lorie Ruhe und Frieden erhofft. Doch ihr Lieblingscafé wird neuerdings von Horden von jungen Müttern belagert, deren Nachwuchs für ordentlich Krawall sorgt. Als Lories Freundin Hanne ein Kind adoptiert, ist die Idylle endgültig dahin. Doch dann wird aus dem Krankenhaus ein Neugeborenes entführt und Lorie muss dem Fall gemeinsam mit dem grimmigen Hauptkommissar Peters nachgehen. Dabei stoßen die beiden auf menschliche Abgründe …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Von Dorftratsch und Provinzintrigen

Die Autorin

Cecily von Hundt, geboren 1974 in Düsseldorf, studierte Bibliothekswesen in Potsdam und arbeitete als freie Journalistin für BILD Berlin und die Süddeutsche Zeitung. 2004 eröffnete sie in Berlin Mitte den Buchladen Hundt, Hammer Stein. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in der Nähe von München.

Cecily von Hundt

Von Dorftratsch und Provinzintrigen

Ein Bayern-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinFebruar 2021 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95819-301-7

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Leseprobe: Von Mistgabeln und Moorleichen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

Verdammt. Lorie starrte verzweifelt auf das Ende des Führstricks, an dem sich vor ein paar Sekunden noch ihre Islandstute befunden hatte, und spürte dann erst den brennenden Schmerz, der sich quer über ihre rechte Handfläche zog.

»Ganz wichtig sind die Handschuhe!«, hatte die Reitlehrerin verkündet, so wie sie es immer tat. Das schien eine weitverbreitete Krankheit unter Reitlehrern und Pferdemenschen – ein saublödes Wort! – zu sein. Sie konnten Dinge nicht einfach sagen, nein, sie mussten verkündet werden! »Du glaubst gar nicht, wie viele abgetrennte Finger ich schon gesehen habe!« Die Reitlehrerin hatte ihren Zeigefinger in die Höhe gehalten, damit Lorie wusste, worum es hier ging. »Das liegt daran, dass es wohl zu schwer ist, sich zu merken, niemals eine Schlaufe um die Finger zu binden, wenn man ein Pferd führt! Und – Handschuhe!«

Lorie hätte heulen können. Brinda hatte sich mittlerweile auf die andere Seite der Weide gerettet, graste friedlich, als hätte sie lediglich eine lästige Mücke verscheucht, und drehte Lorie ihren dicken Hintern zu. Was mach ich hier eigentlich?, fluchte Lorie in sich hinein und versuchte, ihren Gummistiefel aus dem Matsch zu ziehen und gleichzeitig das Gleichgewicht zu halten.

»Brinda!«, flötete sie und fuchtelte ziellos mit ihrem Strick vor sich herum. Der blöde Gaul bewegte sich keinen Millimeter.

»Klar mag die dich«, hatte ihre Tochter Sophie versichert und mit einem Auge konzentriert weiter das Finale von Germany̕ s next Topmodel verfolgt, als Lorie vor zwei Tagen abends heulend auf dem Sofa gesessen hatte. Die Mitglieder ihrer Familie hatten sich mittlerweile einen Ton angewöhnt, wenn es um Brinda ging, der halb mitleidig, halb tröstend und halb aufbauend war. So eben, wie man mit leicht grenzdebilen Leuten zu reden pflegte, wenn sie ein Kümmerchen hatten.

»Pferde spüren, wenn du sie magst, ganz bestimmt!«

»Und wenn nicht«, murmelte ihr Ehemann Ferdinand, ohne den Kopf hinter der Zeitung hervorzuschieben, »verkaufen wir sie wieder und machen Schuhe draus. Meine alten sind eh kaputt.«

Sophie hatte dann noch vorgeschlagen, Brinda in Bullar umzubenennen, von Köttbullar, den Fleischklöpschen von IKEA; schließlich sei eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden. Da hatte Lorie sich geschworen, es ihnen allen zu zeigen, inklusive Brinda.

Klappte aber nicht.

»BRINDA!!«, rief sie noch mal, leicht hysterisch, und versuchte die Schlabberlippe von einer anderen Stute aus ihrer Tasche zu ziehen, die immer sofort erschien, sobald Lorie das Feld betrat. Alle Pferde auf der weitläufigen Stutenkoppel, die direkt an die Felder hinter der Villensiedlung angrenzte, in der Lorie wohnte, zeigten Interesse, sobald sie die Wiese betrat. Alle eben außer Brinda.

Lorie blieb stehen und überlegte, ob sie einfach den Rückzug antreten sollte. Es war schweinekalt, heute Nacht hatte es zum ersten Mal Frost gegeben. Inzwischen hatte die Sonne den Nebel aufgelöst, und der vereiste Boden war einer matschigen Fläche gewichen, aber die Luft war eiskalt, und ein heftiger Wind wehte.

Im Grunde wollte ich ja nur mal nach ihr gucken, überlegte Lorie, während ihr der Wind in die Augen schnitt, das machen die anderen Pferdebesitzer ja auch hin und wieder. Und wir waren ja gestern schon in der Halle, schließlich muss ich sie nicht jeden Tag bewegen, sie hat sich auch mal eine Pause verdient …

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken, und mit klammen Fingern fummelte sie das Telefon aus ihrer Jackentasche. Der Striemen, den sie sich gerade bei Brindas Losreißen vom Strick zugezogen hatte, brannte mittlerweile wie Feuer, und Matsch hatte sich in der Wunde gesammelt. Lorie hielt sich das Handy ans rechte Ohr und die andere Hand über ihr linkes.

»Ja?«, brüllte sie gegen den Wind an. Die Stute neben ihr machte einen Satz in die Höhe und sprang zur Seite.

»Lorie?«

»Ja?«

»Ach, Lorie, gut, dass ich Sie erwische!«

Fleischmann. Ihr Chefredakteur vom Eberhausener Boten, bei dem Lorie seit ein paar Jahren als rasende Reporterin arbeitete. Mal mit mehr und mal mit weniger Begeisterung. Eigentlich hatte Lorie sich Brinda auch deswegen angeschafft, um mal »einen neuen Impuls in ihr Leben zu bringen«, wie ihre beste Freundin Hanne ihr vorgeschlagen hatte. Lorie hatte die Idee toll gefunden, wenn sie allerdings Brindas teilnahmsloses Hinterteil betrachtete, war sie sich gerade gar nicht mehr so sicher.

»WAS GIBTS?« Der Wind riss ihr die Worte von den Lippen, und sie presste das Handy noch fester an ihr Ohr.

»Herrgott, warum brüllens denn so?«

Lorie verdrehte die Augen.

»Kommens mal in die Redaktion, ja? Ich hab da was Nettes für Sie.«

»Wann, jetzt?«

»Ja, oder haben Sie grade was Besseres zu tun?«

Lorie ließ ihren Blick noch einmal über die Herde der Stuten wandern, die mittlerweile weit weg von ihr dicht gedrängt aneinanderstanden, zum Schutz gegen die Kälte.

Lorie seufzte. »Nein«, sagte sie. »Alles gut, ich bin schon unterwegs.«

Kapitel 2

Oh, wie sehr sie sie hasste. Diese dicken, aufgeblasenen, überheblichen Supermütter, die ihre voluminösen Bäuche vor sich herschoben wie eine Trophäe. Guckt, was ich kann!, schienen sie ihr entgegenzuschreien, wenn sie ihr entgegenkamen, sieh, wozu mein Körper in der Lage ist! Ich kann schöpfen, ich kann gebären, ich tue das, wozu ich hier auf dieser Erde bin, vollbringe meinen ureigensten, tiefsten menschlichen und spirituellen Sinn! Ich bin gottgleich!

Sie hustete und schob sich auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Sie hatte schon wieder Gewicht verloren, je mehr sie sich so eine Art Körper wünschte, wie diese Frauen besaßen, diese überheblichen Schlampen, üppig und strotzend vor Leben, desto mehr schien sie in sich zusammenzufallen. »Alt, verdorrt, vertrocknet und bitter bist du«, murmelte sie vor sich hin und zündete sich eine weitere Zigarette an, die fein manikürten Fingernägel quetschten den Filter zwischen ihren Fingerkuppen. »Giftig von innen, kein Wunder, dass nichts und niemand bei dir bleiben will.« Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Kaffee, der bitter am Gaumen schmeckte, und sog gierig am gelblichen Qualm, der bis tief in ihre Lungen strömte. Ein Baby am Nebentisch patschte mit seinen kleinen, pummeligen Händen auf dem Teller herum, und die Mutter brach in stolzes, unerträglich quietschendes Gekicher aus. Ihr Blick suchte Beifall heischend die Tische neben ihr ab. Habt ihr das gesehen?, schien ihr Blick zu sagen. Dieses kleine Wunder? Das habe ICH gemacht!

Einfach zum Kotzen. Sie drückte den Zigarettenstummel auf dem Teller aus, auf dem der halb angebissene Kuchen unter einer geschmolzenen Pfütze von Sahne in sich zusammengesunken war. Sie drehte den Filter mit quietschenden Bewegungen auf dem Porzellan hin und her und genoss die hasserfüllten Blicke der Edel-Öko-Muttis um sich herum. Aber niemand hatte ihr bis jetzt das Rauchen am Cafétisch auf dem Bürgersteig verbieten können, und von diesen übersättigten, arroganten Yoga-Muttis würde sie sich erst recht nichts sagen lassen, nein, so weit war sie noch nicht.

Sie lehnte sich genüsslich zurück, ließ die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen ihr müdes Gesicht wärmen und angelte mit ihren Fingern aus der Packung, die vor ihr lag, nach einer neuen Zigarette. Die Stimme ihrer Mutter schoss ihr plötzlich durch den Kopf, wie immer, wenn sie einen Moment nicht achtgab und sie in Schach hielt.

Dass es gut wäre, dass die Familie mit ihr endete, hatte sie immer gesagt. Stell dir mal vor, ein Monster wie du vermehrt sich! Bringt ein neues kleines Monster in die Welt! Gott bewahre! Dann hatte sie ihr dreckiges, hässliches Lachen gelacht und sich eine weitere Zigarette angezündet, ihr korallfarbener Nagellack hatte sich grell gegen die gelben Fingerkuppen abgesetzt. Vorm Abaschen war sie sich durch die blondierten Haare gefahren, und ein paar Krümel Asche waren auf den strohigen Locken liegen geblieben.

»Wenn es nach mir ginge, würde ich dich sofort sterilisieren lassen. Sicher ist sicher. Noch so eine Göre, so ein nutzloses, hässliches Etwas wie du, das die Erde bevölkert, das braucht kein Mensch.« Ihre Mutter hatte einen imaginären Fussel von ihrer blendend weißen Bluse gezupft und sie aus den sorgfältig umrandeten Augen angestarrt.

Unsichtbar werden. Verschwinden. Aus der Tür hinausschlüpfen, auf die weichen Sommerwiesen, die in der Dämmerung vor den hohen Wohnzimmerfenstern lagen. Nur ein paar Meter entfernt und unerreichbar für sie. Sie würde den Abend zu Hause verbringen, hier, genau hier. Auf dem hellgrauen Flanellsofa, vor dem niedrigen Glastisch die hohe Vase mit Lilien, deren stechender Gestank ihr pochende Kopfschmerzen verursachte. Sie würden zusammen Denver Clan gucken, die alten Folgen, die ihre Mutter synchron mitsprechen konnte. Ihre makellos nachgezogenen Lippen taten das lautlos, während sie den Fernseher anstarrte, die dünn gezupften Augenbrauen konzentriert nach oben gezogen, wie ein Clownsmaske sah sie dann aus, blass im Gesicht, blutrot lackierter Mund und das Blau um die Augen neonfarben schimmernd. Wenn Mutter genug getrunken hatte, schlief sie manchmal ein. Dann konnte sie sich davonschleichen. Leise, leise auf Mausepfoten, das Herz hämmernd in der Brust. Eine falsche Bewegung, ein Knarren der Dielen unter dem hohen Florteppich, und Mutters Kopf ruckte hoch, wie der einer Puppe wackelte er einen Moment unsicher auf dem dünnen Hals, dann hatten ihre Augen sie gefunden, fixiert, aufgespießt. Sie würde murmeln, sie wolle nur kurz ein Selters aus der Küche holen, ob sie auch etwas brauche. Irgendwann wäre der Kopf ihrer Mutter auf die Schulter gesackt, und sie könnte sich davonschleichen.

In ihrem Zimmer würde sie sich auf das Bett mit der rosafarbenen Häschen-Bettwäsche legen und Pläne schmieden. Dieselben Pläne, die sie jeden Abend schmiedete. Sie würde ihren Vater finden, sie würde ihn anrufen, und er wäre so glücklich, wenn er ihre Stimme am Telefon hörte. Dann würde er in einem großen, schicken Auto vorfahren, er würde ihren Koffer bis ins Auto tragen und sie von hier wegbringen. Sie würde in einer Wohnung wohnen, irgendwo in der Stadt, mit Cafés um die Ecke und einer Schule, in der sie Freunde finden würde. Sie hätte einen Hund – einen echten Hund! –, und abends dürfte sie alleine auf ihrem Zimmer lesen oder fernsehen oder sich mit ihren Freundinnen fürs Kino verabreden. Und sie würde sogar Taschengeld haben, und davon könnte sie sich eine Jeans kaufen, eine echte LEVI̕S. Niemand würde mehr hinter ihrem Rücken tuscheln wegen der braunen, kratzigen Stoffhosen und Seidenblusen, die sie tragen musste. Und Nagellack, sie würde sich hellrosa Nagellack kaufen und kleine Sticker, die sie daraufkleben würde, mit Smileys oder Schmetterlingen.

»Bist du taub, oder was ist los mit dir?«

Das Glas verfehlte knapp ihr Gesicht, ihre Finger zitterten, als sie sich bückte, um die Scherben aufzuwischen, die sich über den Glastisch verteilt hatten – der Knall, als das Weinglas auf die Tischoberfläche aufgeschlagen war, hallte ihr in den Ohren. Sie musste besser aufpassen. Wenn ihre Mutter in dieser Stimmung war, konnte man es sich nicht leisten, nachlässig zu sein.

»Ich hab dich was gefragt, antworte gefälligst, wenn ich dich etwas frage, du dummes Miststück!«

Das Gesicht ihrer Mutter war direkt vor ihrem, ihr Atem roch nach Weißwein, Zigaretten und etwas Undefinierbarem, Süßlichem.

»Es tut mir leid, Mutter, ich habe nicht gehört, was du gesagt hast. Ich muss einen Moment in Gedanken gewesen sein.«

»Aha!« Ihre Mutter starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, sie sah irre aus, so irre wie der Clown aus ES, ging es ihr durch den Kopf.

»Du willst mich wohl für blöd verkaufen, du dumme Nuss«, zischte ihre Mutter. »Wisch das endlich auf, und dann setz dich neben mich. Du weißt, dass ich nicht gerne abends alleine fernsehe. Und beweg endlich deinen Arsch, du armselige Kreatur.« Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und fixierte ihre Tochter, die den Rest der Scherben zusammensammelte. »Wie konnte so etwas wie du nur aus mir herauskommen«, murmelte sie und fuhr sich mit der Hand über die auftoupierten Haare. »Eine völlige Missgeburt, eine Enttäuschung von vorne bis hinten.«

»Ja, Mutter«, sagte sie leise und erhob sich vorsichtig. Tränen brannten unter ihren Lidern. Jetzt nicht auch noch heulen, dachte sie bei sich und ballte die Hände zu Fäusten. Die Scherben schnitten in die Handflächen, und der Schmerz war einen Moment lang wie eine Erleichterung. Ein anderes Gefühl – etwas, das den anderen Schmerz für einen Moment lang betäubte. Beim Hinausgehen spürte sie ihre Beine nicht, ihr ganzer Körper fühlte sich federleicht an. Verschwinden, sich in Luft auflösen, in die warme Sommernacht. Eines Tages.

Es war brütend heiß in der Redaktion. Und zu allem Überfluss hatte Heinz’ Sekretärin ihre Liebe zu Duftkerzen entdeckt, die die Imkerin aus Unterpfaffenhofen mit Bienenwachs und »einer großen Portion Liebe und kosmischen Kräften« herstellte, wie ihre Zettelchen drohend verkündeten, die von den dicken Kerzen baumelten.

Lorie kämpfte sich durch einen Schwall von »Heiß-süßer-Tannenlust« und »Schmelzendem Vanilletraum« und ließ sich seufzend auf dem Stuhl vor Heinz̕ Schreibtisch nieder. Hier roch es wenigstens nach altem Kaffee und getrocknetem Männerschweiß.

Im Hintergrund lief der Fernseher, und Lorie konnte an der Anzeigetafel erkennen, dass Bayern gegen Eintracht Frankfurt spielte, und der Punktestand war 4 zu 2. Für Eintracht. Das war wohl auch der Grund für Heinz̕ kurze Konzentrationsspanne.

»Lorie!«, sagte er und lächelte gequält. »Ich hatte ja schon vor ner Stunde mit dir gerechnet!«

»Tut mir leid, ging nicht schneller.«

Lorie stellte die Handtasche am Boden ab und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Heinz̕ Schreibtisch nieder. Noch irgendwas roch hier komisch. Nach etwas Vertrautem, etwas, das nicht hierher passte. Sie hob noch einmal schnuppernd die Nasenflügel, und dann wusste sie, was es war – es muffelte nach Stall! Lorie hob panisch die Schuhe und guckte unter die Schuhsohlen ihrer Stiefel. War sie im Stall in Pferdeäpfel getreten? Nein, sie trug ihre Wildlederstiefel ja nicht im Stall, sie zog sie nur an, wenn sie ausging oder in die Redaktion fuhr. Aber sie täuschte sich sicher nicht, es stank nach Stall. In dem Moment hörte sie ein leises, quiekendes Geräusch, eher wie ein Flöten, und hatte die Quelle des unangenehmen Geruchs ausgemacht. Unter dem Fernseher, eingeklemmt zwischen Kaffeemaschine und einem Stapel von Papier, stand ein Käfig mit einem goldbraunen Meerschweinchen, das Lorie aus kugelrunden, glänzenden Augen vorwurfsvoll anstarrte.

»Äh«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf den unerwarteten Gast, dessen Unterkiefer sich unablässig mahlend hin und her bewegte.

»Ach«, Heinz winkte mit seiner fleischigen Hand ab. »Das ist Löckchen, ist nur vorübergehend hier.« Sein Gesicht war rot, röter als sonst, und auf seiner niedrigen Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gesammelt, die seine Haut wie ein Netz überzogen. »Gehört meiner Nichte, muss das Vieh beaufsichtigen, bis sie aus den Ferien zurück sind. Goldhamster«, fügte er noch hinzu.

»Aha«, Lorie nickte und betrachtete das Meerschweinchen, das aufgehört hatte zu kauen und Lorie weiter mit offenem Mund anstarrte.

»Jedenfalls!« Heinz ließ seine Handflächen auf den Tisch krachen, und Löckchen zuckte zusammen und verschwand unter einem großen Haufen Heu.

»Ich möchte, dass du einen Artikel über Frauen ohne Kinder schreibst.«

Lorie sah ihn verständnislos an. »Wie meinst du das?«

»Na, ich mein Frauen, die keine Kinder haben und auch keine kriegen.«

Lorie war verdattert. »Wie kommst du denn darauf?« Nicht, dass ungewollte Kinderlosigkeit kein Thema war, alle Frauenzeitschriften waren voll von Schicksalsgeschichten, überall sprossen Kinderwunschkliniken aus dem Boden, und Lorie hatte vor Kurzem gelesen, dass in Italien eine Frau mit sage und schreibe vierundsechzig Jahren ein Kind zur Welt gebracht hatte. Aber dennoch – was hatte Heinz damit zu schaffen?

»Ja, nur so halt!« Er sah ein wenig verlegen aus, und plötzlich machte es klick bei Lorie. Anna! Heinz̕ neue Lebensgefährtin Anna, die er seit ein paar Monaten hatte, war nicht mehr ganz so taufrisch, um es mal vorsichtig auszudrücken. Und soweit Lorie wusste, hatte sie keinen Nachwuchs. Daher wehte also der Wind.

Lorie grinste. »Nee, klar, wenn sich einer mit so was auskennt, dann du.«

Heinz̕ Gesicht verdüsterte sich, und sein Teint nahm eine bedrohliche Färbung an. »Was meinst damit?«

Lorie winkte schnell ab. »Nichts, nichts, alles gut!«

Plötzlich kam sie sich schlecht vor – was, wenn das Thema Heinz und Anna wirklich betraf? Heinz war zwar der Letzte, den Lorie sich als liebenden Familienvater vorstellen konnte – höchstens den Sprössling in FC Bayern-Trikot zwischen Bierflaschen auf Heinz̕ Schoß, seine Jungs in der Glotze anfeuernd. Aber wer konnte das schon wissen? Vielleicht hatte er eine zarte, väterliche Seite, die Lorie nicht kannte und die Annerl in ihm geweckt hatte.

Heinz̕ Gesichtsfarbe wechselte von blass zu hummerrot.

Lorie beugte sich vor und sah ihn eindringlich an. »Geht̕ s dir gut, Heinz?«

»Ja, warum?«

»Du siehst nicht so wirklich gesund aus.«

»Ach, Schmarrn!« Er winkte ab und schnäuzte sich noch mal. »Mir geht̕s wunderbar!«

Lorie betrachtete ihn misstrauisch. Bis jetzt war Heinz nicht für seinen Arbeits-Übereifer bekannt, im Normalfall war er froh über jede Mühe, die er auf Lorie abwälzen konnte. Wenn er an der berüchtigten Männergrippe litt, war das immer ein guter Grund, sich zu Hause ordentlich auszukurieren.

In dem Moment klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch, Heinz nickte Lorie kurz zu und drückte den Annahmeknopf.

»Redaktion Eberhausener Bote!«, sagte er mit dröhnender Stimme, und sein beflissenes Gesicht verdüsterte sich nach ein paar Sekunden.

»Ja, is scho gut«, murmelte er.

Lorie musste grinsen. Seit Heinz sich das Annerl angelacht hatte, die Inhaberin der Metzgerei Schrammerl, und nach ein paar Monaten mit ihr zusammengezogen war, stand er ganz schön unterm Pantoffel.

»Ich kann jetzt halt noch net«, sagte er schließlich matt. »Ich muss noch bisschen schaffen, ja, ich komm bald.«

Er ließ den Hörer sinken und starrte mutlos auf die Tischplatte.

»Sind Annerls Eltern zu Besuch?«, fragte Lorie sanft. Jetzt machte sein Arbeitseifer plötzlich Sinn.

»Ja«, brummte Heinz.

»Ein paar Tage?«, fragte Lorie.

»Ja«, brummte Heinz. »Bis Donnerstag.«

»Oje«, sagte Lorie.

»Was ist jetzt?«, fragte Heinz grantig. »Machst du die Story oder net?«