Das Lieben danach - Helene Bracht - E-Book
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Das Lieben danach E-Book

Helene Bracht

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Beschreibung

„Dieses Buch zu lesen ist eine radikale Erfahrung. Ein leuchtender Text über zerbrechenden Schmerz und die Schönheit der Selbstversöhnung“, so Gabriele von Arnim. Dieses Buch bricht die Scham

Was für eine Entdeckung – es braucht ein ganzes Leben, um einen solchen Text zu schreiben. „Die Geschichte erschien mir viele Jahre lang gänzlich unerheblich.“ Von diesem Satz aus erzählt die heute siebzigjährige Helene Bracht von einer über Jahrzehnte verschütteten Erfahrung, die sie mit sehr vielen Frauen und vielen Männern teilt: der, dass es auf dem Lebensweg mit der Liebe und der Sexualität nicht nur gut und einvernehmlich zuging. Wie liebt und begehrt man, wenn Verletzendes verborgen hinter einem liegt? Wie lebt und liebt man immer weiter? Fulminant ein Tabu brechend und dabei einzigartig gewitzt und souverän erzählt dieser Text vom Missbrauch – und seinen Grenzen. Diese Bilanz wird Denkweisen verändern und vielen Menschen viel bedeuten.

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Seitenzahl: 216

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Das Lieben danach« von Helene Bracht

Über das Buch

Was für eine Entdeckung — es braucht ein ganzes Leben, um einen solchen Text zu schreiben. »Die Geschichte erschien mir viele Jahre lang gänzlich unerheblich.« Von diesem Satz aus erzählt die heute siebzigjährige Helene Bracht von einer über Jahrzehnte verschütteten Erfahrung, die sie mit sehr vielen Frauen und vielen Männern teilt: der, dass es auf dem Lebensweg mit der Liebe und der Sexualität nicht nur gut und einvernehmlich zuging. Wie liebt und begehrt man, wenn Verletzendes verborgen hinter einem liegt? Wie lebt und liebt man immer weiter? Fulminant ein Tabu brechend und dabei einzigartig gewitzt und souverän erzählt dieser Text vom Missbrauch — und seinen Grenzen. Diese Bilanz wird Denkweisen verändern und vielen Menschen viel bedeuten.

Helene Bracht

Das Lieben danach

Hanser

Am Meer

Some of them want to use you, some of them want to get used by you. Lautsprecher wummern irgendwo weit unterhalb meines Fensters. Disco-Outdoor-Spinning. Na prima, denke ich, ausgerechnet. Some of them want to abuse you, some of them want to be abused. Ein Remix des Eurythmics-Hits aus den Achtzigern. Ein Hit zum Abtanzen, ich habe ihn geliebt. Diese Version ist schneller als das Original, metallisch, peitschend. Ich lehne mich über die Fensterbrüstung: Da strampeln sie schwitzend auf ihren Spinningrädern. Sweet dreams are made of this, who am I to disagree. Ja, denke ich, ja, so ist es wohl.

In einem der gehobenen Touristik-Clubs auf den Kanaren. Hier ist Tag für Tag Party. Von morgens bis abends Sport und Unterhaltung, von Spinning über Latschenweitwerfen am Strand bis zu Quiz am Pool. Immer sind von irgendwo die Bässe einer treibenden, rhythmischen Musik zu hören, von Schlager bis Techno, immer hört man aus irgendeinem Event Johlen und Rufe. »Ohne Spaß kein Fun«, brüllt der Animateur in sein Mikrofon. An jedem Tresen, an jedem Esstisch, am Pool, in der Sauna, auf dem Tennisplatz oder der Yogamatte — die Menschen zeigen sich und wollen gesehen werden. In trendigen Sportklamotten, opulenter Abendgarderobe, strahlend weißen Bademänteln oder Designer Casual Wear.

Wie ich dieses Ambiente genieße. Das hier ist mein Schutzgebiet, mein Unsichtbarkeitsasyl, schon seit einigen Jahren zieht es mich immer wieder zum Schreiben hierher. Ich liebe dieses überhitzte Treiben, das mir nichts bedeutet, schmiege mich in die Geschäftigkeit der anderen wie in ein samtenes Futteral. Die vielstimmigen Aufgeregtheiten, die nichts von meinem stillen Vergnügen wissen, sind mir willkommen. Mit mildem Einverständnis betrachte ich ein Treiben, das ich sonst reflexartig ablehnen würde: das Schaulaufen am Abend auf Highheels, das Sich-Spreizen, die Salven überdrehten Gelächters, die Sixpacks unter tief aufgeknöpften Hemden, das viele Bling-Bling — alle wetteifern sie emsig um Rang und Prestige. Wer könnte es ihnen verdenken. Ich bewege mich unter diesen Vergnügungswilligen ohne jeden Vorbehalt. Lächle vor mich hin, schlendere leise summend über das Gelände, bleibe zuweilen stehen und schaue ihnen allen ungeniert bei ihren illustren Tätigkeiten zu. Ich bin alt. Alte Frauen sieht man nicht.

Obwohl gewissermaßen am Spielfeldrand stehend, unbeachtet und unbehelligt, gehöre ich hier dazu, bin Teil der Club-Gemeinschaft, ein Menschenwesen unter anderen Menschenwesen. Hier darf ich, in Anonymität wunderbar geborgen, wochenlang keine Bekanntschaften schließen, mich Stunden und Tage verkriechen oder struppig und gedankenverloren die Laufwege der anderen kreuzen. Ausgerechnet die Fremdheit ihrer Gelüste und Alltagsrituale verschafft mir ein Gefühl tiefer Verbundenheit. Everybody’s looking for something. Eine Figur aus dem Fünfziger-Jahre-Roman »Illusionen« kommt mir in den Sinn, eine ungefähr gleichaltrige Frau, die Gefallen daran findet, zur Rush Hour allein durch die Einkaufsstraßen einer Großstadt zu gehen und dabei mit dem Menschenstrom zu verschmelzen. Über sie heißt es: »Das Bewusstsein der Vereinzelung erlosch, sie genoss […] ein köstliches Dazugehören, ein schicksalsloses, namenloses Untertauchen.« 1 Die Frau empfindet, genau wie ich in dieser Gesellschaft hier, den sie umgebenden Rumor als Bedingung der Möglichkeit eines Seelenfriedens, den nur ein solches auf Verbundenheit bezogenes Alleinsein gewähren kann.

Ich denke an die Schattenwelt all der anderen »älteren« alleinstehenden Frauen, gleichsam den Seniorinnenclub der »Singulären Frau«, über die Katja Kullmann so erhellend geschrieben hat.2 Das ist meine Kohorte. All die Fräuleins, Späten Mädchen und Alten Juffern, wie sie in der westfälischen Familie meines Vaters genannt wurden. Für mich als Pubertierende waren sie Gespenster, peinliche, unglückliche, unerlöste Gestalten. Lauthals und unermüdlich postulierte ich, niemals je so enden zu wollen. So beschäftigt war ich damit, dass sich meine Mutter sogar veranlasst sah, die entsprechenden Frauen in unserer Bekanntschaft in Schutz zu nehmen: »Jeder hat sein Schicksal, Kind, nun sei mal nicht so.« Doch die volkstümlichen Schmähbegriffe leisteten bei mir ganze Arbeit: Besonders augenfällig durch das der Juffer gern vorangestellte Adjektiv »vertrocknet« wurde diesen Frauen ihr geschlechtliches und damit lebendiges Sein abgesprochen — letztlich also ihre Daseinsberechtigung. Das war es wohl, wovor mir graute.

I travel the world and the seven seas. Und am Ende ist es allen Schwüren meiner Jugend zum Trotz doch passiert. Das Alleinsein. Inzwischen — das habe ich absolut nicht kommen sehen — macht mir die Sache richtig Spaß. Eine kapitale Last der vergangenen Lebensjahrzehnte ist mir unversehens vom Gemüt gepurzelt (wann geschah das?), all die körperliche Beklommenheit in der Öffentlichkeit, die immerwährende Selbstüberprüfung mit den Augen der anderen. Bin ich zu dick? Zu dünn? Zu groß? Zu ungelenk? Zu schlampig, zu auffallend gekleidet? Zu geschminkt? Zu wenig gestylt? Ist mein Gang, sind meine Bewegungen weich genug, um als weiblich zu gelten, und bestimmt genug, damit ich überhaupt als eigenständiges Wesen wahrgenommen werden kann? Fällt es auf, dass ich allein unterwegs bin? Und wenn ja, habe ich dann überhaupt ein Daseinsrecht? All diese Fragen, die noch in meinem Körper stecken, knapp unter der Haut, sind hinfällig. Die ewige innere Spannung, als Frau gesehen und doch nicht belästigt werden zu wollen, hat sich gelöst. Alte Frauen sieht man nicht. Es sei denn, sie verhalten sich unbotmäßig, schrill, schrullig — dann sind sie ein Ärgernis. Ein Ärgernis aber bin ich nicht. Ich zähle einfach nicht. Welch unglaublich süße Freiheit.

Ich sitze in meinem Turmzimmer hoch über dem Meer am Fenster und schreibe. Es ist still hier drin, das tosende Club-Remmidemmi rundum gedämpft, nur ein willkommenes Grundrauschen der Stille. Die Tastatur klackert willig und diskret. Gleich hinter dem Monitor, wenn ich aufschaue, das Meer. Weit, so weit, und heute nahezu unwirklich blau. Atlantische Ewigkeit. Draußen, wo die Tiefsee beginnt und die großen Schiffe kreuzen, tragen die Wellen weiße Schaumkronen, dort muss es stürmisch sein.

Im Zimmer nebenan wird mit einem lauten Rumms die Balkontür geöffnet. Es wohnt dort ein bemerkenswert unauffälliges Paar. Mittelalt, mittelgroß, mittelblond, mittelfreundlich. Deutsche. Ich begegne ihnen manchmal im Hotelflur oder auf dem Gelände. Stets in sportlicher Outdoor-Kleidung mit kleinen Tagesrucksäcken, praktisch, blass, unsexy. Wenig typisch für das Ambiente hier. Ihre Gesichter sind leicht zu vergessen, nicht aber ihre stets einander liebevoll zugeneigten Körper. Sie beschäftigen meine Fantasie, diese beiden. Haben sie Kinder, ist vielleicht unlängst der letzte Nesthocker nach dem Bachelor endlich ausgeflogen, handelt es sich also um ein altes, vertrautes Paar, das sich einen zweiten Honeymoon gönnt? Oder haben sie sich im Gegenteil gerade erst kennengelernt, via Internet vielleicht, und sind frisch verliebt? Alles könnte sein. Wann immer ich meine Zimmernachbarn sehe, sind ihre Silhouetten durch eine Berührung verbunden. Wenn sie gehen, halten sie einander an den Händen, wenn sie stehend mit anderen plaudern, lehnen sie sich leicht aneinander oder umfassen die Taille des jeweils anderen, wenn sie sitzen, berühren sich als Minimalkontakt ihre Knie unter dem Tisch. Führt ein Impuls von außen dazu, dass sie sich voneinander lösen müssen, vergeht kaum ein Wimpernschlag, und ihre Körper streben wieder aufeinander zu, wie Pflanzen, die sich dem Licht entgegenstrecken.

Ich finde das entsprechende Gefühl sofort in mir wieder, kann den magnetischen Sog dieser inneren Ausrichtung auf ein Gegenüber förmlich spüren. Eine sanfte immerwährende Hinbewegung, der sich alles andere fügt. Gleich werden sie sich lieben, meine Zimmernachbarn, es ist ihre Zeit: Sie gehen morgens früh zum Sport, danach ein ausgiebiges Frühstück, dann zurück ins Zimmer, wo sie, wie auch ich es stets tue, als Erstes die Balkontür öffnen. Und dann, so stelle ich es mir vor, sinken sie in der hereinwehenden Sonnenluft kosend auf das vom Roomservice frisch gemachte Bett und lieben sich. Ich höre sie. Sie können es nicht wissen, aber ich habe sie mit alldem richtig gern in meiner Nähe. Ihre alltägliche Liebesversunkenheit, die atemberaubende Zartheit im Umgang miteinander, dabei das Graumausige ihrer äußeren Erscheinung, das alles schafft eine schwebende Präsenz liebender Verbundenheit. Eine in der Luft hängende stille Verheißung, die mir unversehens zu Erinnerung wird.

Bilder vergangener Reisen ziehen durch meinen Geist, endlose Autofahrten in liebender Zweisamkeit, immer gen Süden, weiter und weiter, mit Vorliebe in der Nacht, den Geruch von Pinien schon in der Nase, den Gesang der Zikaden im Ohr. Ruhig dahinfließende Gespräche, von einer Intimität und kontemplativen Freimütigkeit, wie man sie nur im dämmrigen Innenraum eines Fahrzeuges auf Autofahrten durch die Nacht führen kann. So mancher Beziehungsknoten ließ sich auf diese Weise lösen, Seite an Seite mit Blick nach vorn in die von den Scheinwerfern unseres in die Jahre gekommenen Gefährts immer etwas asymmetrisch erhellte Dunkelheit. Das kurze Aufscheinen fremdsprachiger Hinweisschilder, vage Umrisse unbekannter Landschaften — draußen die vorbeifliegende schlafende Welt, drinnen die Eintracht des physischen Miteinanderseins, die geliebte Stimme ganz nah, der erregende Gleichklang der Gedanken. Was wäre gewesen, frage ich mich mit pulsierender Lebensdankbarkeit hinter meinen Atemzügen, was wäre gewesen, hätte es für mich all die Vertrauten nicht gegeben, all das Lieben, Lachen und Scheitern.

Einmal, diese an sich völlig unbedeutende Sequenz kommt mir plötzlich in den Sinn, durchfuhren wir nachts die Weiten der Poebene, und vor uns über dem Horizont hing ein riesiger weißer Vollmond. Aus den Autolautsprechern tönte wie so oft Pink Floyds »The Dark Side of the Moon«, die amtierende Lieblingsmusik dieser Reise, und so kreisten unsere Gedanken minutenlang um den Mond. Da umrundet er seit viereinhalb Milliarden Jahren ohne Unterlass die Erde, sinnierten wir, wechselt ständig seine Gestalt, die Zeit seines Auftauchens und seinen Platz am Himmel, und doch ist es immer nur die eine, immer wieder dieselbe Seite, die er uns zeigt. Und obwohl uns seine andere Hälfte in alle Ewigkeit verborgen bleiben wird, scheint er uns hier unten auf der Erde ganz und gar vertraut, der Mond. Istdochverrückt. — Von genau solcher Art waren sie, diese Gesprächsminiaturen, halblaut ausgesprochene Gedanken, assoziativ, versponnen, träge oszillierend zwischen Ironie und Andacht. So gefielen wir uns. Als die letzten Gitarrenriffs verklungen waren, folgte nach einem kleinen Schweigen die profane Conclusio: Man sieht eben nur, was man sieht. — In diesem Moment fühlte ich mich rundum kosmisch geborgen und dachte still: Sei’s drum, wer will die auch schon sehen, die andere Seite.

So nähern sich meine Gedanken verstohlen der Geschichte, die ich erzählen will. Man könnte auch kühn sagen: die ich beleuchten will. Der Geschichte auf der Rückseite meiner Geschichten. Heute Morgen aber, in diesem sommerhellen Turmzimmer, neben dem sich hingebungsvoll liebenden Paar, erscheint mir die Begebenheit, die den Anfang dieser Geschichte markiert, verstörend klein und fremd. Schon schäme ich mich meines Vorhabens. Nichts daran ist spektakulär. Nichts daran könnte einen Anspruch auf unbedingte Beachtung begründen. So denke ich, schwankend zwischen gelegentlichem Pathos und meiner über Jahre eingeschliffenen Nüchternheit. Und doch. Der Anfang. Die Zeit liegt weit zurück. Nahezu ein ganzes Menschenleben.

Drei frühe Lektionen in Sachen Sex

Eins

Eine periodisch wiederkehrende Szene meiner Kindheit, die ich, wenn ich sie abrufe, gestochen scharf in einer Endlosschleife vor mir sehe: meine Mutter in der Küche, mit wie immer zu Berge stehenden Haaren und verzweifeltem Blick, weil wieder irgendetwas gerade anbrennt oder auf andere Weise aus dem Ruder läuft (die Haushaltsunfälle, die meine Mutter produzierte, ergäben eine stattliche Liste). Ihre Hüfte, mit der sie mich unsanft aus dem Weg schubst, anscheinend stehe ich immer gerade da, wo ich sie behindere. »Lenchen, lauf mir nicht immer zwischen die Füße, hilf mir lieber!« Dann urplötzlich der Vater, wie er die Küchentür aufreißt und mit finster entschlossener Miene exakt zwei Worte ausstößt: »Irma, jetzt!«

Jedes Mal, wirklich jedes Mal, nur diese beiden Worte. Danach Kehrtwendung und ab ins angrenzende Elternschlafzimmer. Die Mutter, wie sie nach einem winzigen Moment des Erstarrens die Augen verdreht, das stets über ihrer Schulter hängende Geschirrtuch schnaubend in die Ecke pfeffert, energisch alle Gasflammen abdreht, sich auf dem Weg zur Tür mit einer kurzen, unwilligen Geste ihre Schürze vom Leibe reißt, mir ein halb entschuldigendes Lächeln zuwirft und, meinem Vater folgend, im Schlafzimmer verschwindet.

Zu welcher unbenannten Pflicht meine Mutter da immer wieder antreten musste — hatte ich als Kind eine Vorstellung davon? Ich saß meist noch lange reglos in meiner Lieblingsecke neben der Speisekammer auf dem Boden und hielt die Luft an. Ein vages Gefühl akuter Gefahr kroch regelmäßig an mir hoch. Der Blick meines Vaters so fremd, so gequält, so unerbittlich. Meine Mutter mit ihrer ärgerlichen Ergebenheit. Das alles roch nach für mich Unbegreiflichem. Ich hatte Angst. Um beide, meinen Vater wie meine Mutter. Die Luft anhalten, so lang, bis ich es trotz äußerster Anstrengung nicht mehr aushielt, war das Einzige, was dagegen in Maßen half.

Mein Vater war schwer kriegsversehrt. Sein gesamtes Becken war bei einem Bombenangriff zertrümmert worden und im Lazarett, wie er es formulierte, notdürftig wieder zusammengeflickt. Anzunehmen, dass er sich mit Funktionsproblemen herumschlug, die es ihm nur selten erlaubten, den ehelichen Beischlaf zu vollziehen. Gewiss war es für ihn eine entsetzliche Schmach, auf diese Weise behindert und also kein ganzer Mann mehr zu sein. Meine Mutter — nun, für sie wurde dadurch das Gehorsamsgebot noch bedingungsloser: Der Wille des Mannes war unverhandelbar, und die eheliche Pflicht kannte unter diesen Umständen weder Tag noch Stunde. Sexualität war für meine Mutter in all den langen Ehejahrzehnten reiner Frondienst. Etwas ultimativ Scheußliches, etwas, was man von Zeit zu Zeit möglichst klaglos über sich ergehen lassen muss. Scheußlicher noch als Böden schrubben, viel scheußlicher. So sagte sie mir später, mir, der fragenden Tochter.

Zwei

Ich kam von der Schule nach Hause, stapfte gerade die angeschlagenen Terrazzostufen unseres Treppenhauses hinauf und dachte beklommen an die Klassenarbeit in Rechnen, die wir in der letzten Stunde geschrieben hatten und die ich, das war sonnenklar, vollständig verhauen hatte. Rechnen war Teufelswerk, damit hatte ich nichts zu tun, das wusste ich schon als Drittklässlerin. Ich grübelte, wie ich meiner Mutter ausweichen könnte, wenn sie mir, oben angekommen, wie gewohnt aus der Küche die Frage entgegenschmettern würde: »Wie war die Arbeit, Lenchen?« Meine Mutter ignorierte stoisch die Tatsache, dass ich nicht sprach. Oder nur, wenn es unbedingt sein musste. Plötzlich hörte ich oben die Wohnungstür zuknallen, und mit rauschendem Petticoat und lautem Schluchzen flog mir Connie entgegen, unser Lehrmädchen. Sie war gerade siebzehn geworden und arbeitete seit einem halben Jahr im Büro des Innenausstattungsgeschäfts, das meine Eltern zusammen mit einer Polsterwerkstatt betrieben. Eine junge Frau, die ich abgöttisch verehrte, wohl weil ich sie damals so erwachsen fand mit ihrer toupierten Turmfrisur und den klackernden Pfennigabsätzen. Und weil sie mir wie ein betörend schicker Gegenentwurf zu meinen alten, kriegsgrauen Eltern vorkam — sie waren beide bereits um die fünfzig in dieser Zeit.

Connie nahm stolpernd zwei Stufen auf einmal und rannte mich auf dem Treppenabsatz fast um. Als sie mit mir zusammenstieß, tat sie etwas völlig Unerwartetes: Sie schloss mich in die Arme und drückte mich so fest an sich, dass mein Kopf an ihrem Bauch von den Zwerchfell-Konvulsionen des Schluchzens ordentlich durchgeschüttelt wurde. Ich atmete den Duft des Petticoat-Tülls um mich herum und war vom Donner gerührt. Connie hatte mich zuvor noch nicht einmal zur Begrüßung angefasst, sie nickte immer nur nett und lächelte flüchtig, wenn sie mich traf. Nun konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich über diesen jähen Innigkeitsausbruch stolz oder ob ich nicht vielmehr besorgt sein sollte, denn es musste ja etwas Fürchterliches passiert sein, da oben in unserer Wohnung.

Es kam verschiedentlich vor, dass geschäftliche Gespräche dort stattfanden — unsere Wohnung lag unmittelbar über den Verkaufsräumen — und nicht unten im Chefbüro. In der Regel immer dann, wenn es um delikate Dinge ging, das hatte ich schon bemerkt. Connie musste also irgendwas ausgefressen haben, so dämmerte mir, noch immer in ihrer bestürzenden Umklammerung gefangen. Als sie schließlich von mir abließ und weiterrannte und ich die elterliche Wohnung betrat, empfing mich Eiseskälte. Meine Eltern saßen fahlgesichtig am halb gedeckten Esstisch, schauten sich nicht an und schwiegen beide. Ich blieb ebenfalls schweigend im Türrahmen stehen und wurde nach einem kurzen reglosen Moment, in dem nur das unbeeindruckte Piepsen von Hänschen, unserem Kanarienvogel, zu hören war, in mein Zimmer geschickt. Beim Hinausgehen hörte ich noch, wie meine Mutter zischte: »Dieses elende Herumpoussieren. Und gerade Pater Antonio!«

Ich hatte das Wort, das offenbar Connies Vergehen bezeichnete, schon mal gehört und wusste vage, dass es etwas Verwerfliches war, was vor allem Frauen taten. Und dass diese, wenn sie es damit übertrieben, »Flittchen« genannt wurden. Und Flittchen durften bei der Messe am Sonntag nicht zur heiligen Kommunion gehen, so hatte es mir meine Mutter mal beigebracht. Was also war passiert? Hatte Pater Antonio ihr vielleicht den Leib Christi gegeben, obwohl sie ihn gar nicht bekommen durfte? Pater Antonio, ein aus Ecuador stammender Aushilfspriester der Pfarrgemeinde, der häufig zu Besuch in unsere Familie kam, war nämlich ausnehmend schusselig. Wir alle liebten ihn sehr und hatten großes Vergnügen an seiner verlegenen Ungeschicklichkeit und den drolligen Fehlern, die er beim Deutschsprechen machte.

»Die ist weg, die Connie. Papa hat sie rausgeworfen«, war die einzige Auskunft, die ich später beim Geschirrspülen von meiner sichtlich aufgewühlten Mutter bekam. Und dass es sich um eine Angelegenheit handelte, über die man nicht mit anderen reden durfte. »Hörst du, Kind, kein Sterbenswörtchen!« Wieder ignorierte sie, dass das Schweigegebot bei mir nahezu überflüssig war. Im Laufe der Zeit setzte sich für mich folgendes Bild zusammen: Connie — nun war amtlich, dass sie ein Flittchen war, denn meine Mutter benutzte ihren Namen nur noch mit diesem Zusatz —, also Connie, das Flittchen, hatte nicht nur herumpoussiert, sondern wollte dem armen Pater Antonio ein Kind andrehen. Ich erfuhr des Weiteren, dass unser Pastor dem in letzter Minute einen Riegel vorgeschoben hatte, Connie käme jetzt in ein Heim für gefallene Mädchen, das hatten er und mein Vater als Vertreter des Kirchenvorstands bereits arrangiert. »Weitab vom Schuss, bei den Nonnen«, sagte meine Mutter. Und dann kam ein Satz, der mir durch Mark und Bein fuhr: »Da kann sie dann sehen, wo sie bleibt mit ihrem Balg.«

Das sagte meine damals schon leicht ergrauende Mutter mit einer Bitterkeit, deren Wucht und Ton mich verwirrten. Ich konnte nicht ausmachen, ob darin wirklich die wütende Gehässigkeit Connie gegenüber zum Ausdruck kam, nach der es klang, oder ob darin nicht doch auch Mitgefühl mit Connie und ihrem Schicksal verborgen war, auch das hörte ich nämlich heraus. »Da kann sie dann sehen, wo sie bleibt mit ihrem Balg …« Es war wohl schlechterdings beides darin enthalten. Heute weiß ich, dass dieses Paradox ganz grundsätzlich die Haltung meiner Mutter auf den Punkt bringt. Schroffe Gehässigkeit gepaart mit verborgenem Mitgefühl — eine Gefühlsverrenkung, die Generationen von Frauen im Blick auf ihre Geschlechtsgenossinnen bravourös beherrschten.

Drei

Im Haus gegenüber wohnte ein Mädchen namens Hedwig, genannt Hedi, mit der ich manchmal spielen durfte. Hedi, die mit meiner Stummheit ganz gut zurechtkam, hatte einen kleinen Bruder, Schorsch. Schorsch war immer dabei, wenn wir zusammen etwas unternahmen. Offenbar war der Kleine Hedis Obhut unterstellt, in der Familie gab es sechs Kinder, da war es damals üblich, dass die älteren auf die jüngeren aufzupassen hatten. Schorsch jedenfalls, damals knapp drei Jahre alt, ging uns beträchtlich auf die Nerven. Dabei tat er uns gar nichts, folgte uns nur wie ein Hündchen, mit einem unnachahmlichen Ausdruck trotziger Ergebenheit.

Eines Nachmittags wollten wir in Hedis Zimmer spielen. Der Kaufladen war schon aufgebaut, als Hedis Mutter rief, Hedi solle ihr beim Wäschefalten helfen. So fand ich mich plötzlich allein mit Schorsch, mit dem ich sofort noch viel weniger anzufangen wusste als in den Situationen zu dritt, in Hedis Zimmer wieder. Und da es eine vielköpfige Familie war, konnte das Wäschefalten dauern. Ich beäugte den vor mir stehenden Knirps, den zu beaufsichtigen nun meine Aufgabe war, mit wachsendem Unbehagen. Ich saß ihm im Schneidersitz auf dem Flokati gegenüber, wir beide quasi auf Augenhöhe. Schorsch lutschte hingebungsvoll am Daumen, dicke Spucke lief ihm über das Kinn, er aber stand regungslos und schien mit sich selbst völlig im Reinen zu sein.

Plötzlich keimte in mir eine Idee, wie ich die Situation doch noch für mich nutzen könnte. Ich hatte mir schon seit einiger Zeit vorgenommen, mal rauszukriegen, wie Jungs wohl untenrum aussahen. Ich kannte nämlich nur die Körper der gleichaltrigen Mädchen und den meiner Mutter. Meinen Vater hatte ich noch niemals nackt gesehen, und Geschwister hatte ich keine. Also nutzte ich die Gunst der Stunde und riss mit einem beherzten Ruck dem kleinen Schorsch die Hose runter. Er ließ es widerstandslos geschehen, schaute gelangweilt an sich selbst hinunter und streckte mir, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen, mit einer seltsam trägen Bewegung des Beckens sein kleines Gemächt entgegen.

Ich war furchtbar erschrocken: Was war das da für ein hässlicher, wabbeliger, schrumpeliger Hautzipfel direkt vor meiner Nase? Eine Missbildung vielleicht, eine Wucherung, ein Auswuchs? Wozu sollte so was gut sein? Ich dachte spontan an die Knollennase von Opa Hinze. Und an die dicke Warze am Kinn der Bäckersfrau. Vorsichtig berührte ich mit der Fingerspitze das würmchenartige Etwas. Es fühlte sich kalt und ziemlich eklig an, ich zuckte sofort zurück. Schorsch stand immer noch einfach nur da, stumm und nuckelnd mit heruntergelassener Hose. Beide starrten wir gebannt auf seinen entblößten Schniepel. Die Sache war und blieb ein Rätsel für mich. Plötzlich hörte ich Hedi kommen und erwachte aus meiner Schockstarre. Hastig zog ich dem Kind die Hose wieder hoch, mein Herz klopfte wild. Als Hedi zurück ins Zimmer stürmte, wusste ich, dass nicht richtig gewesen war, was ich gerade getan hatte.

Es ist noch nicht lange her, dass mir diese Szene wieder eingefallen ist. Ihre Einordnung gelang mir nur widerwillig. Viele Fragen knüpften sich daran, die mich weiter begleiteten, Fragen nach der Beschaffenheit von Schuld. Denn diese kleine Begebenheit markiert den Beginn einer Spur in meinem Leben, die ich heute mit Bedacht als Täterinnenspur lese: Nüchtern betrachtet hatte ich mir den ersten Anblick eines männlichen Geschlechtsteils mit einer Rücksichtslosigkeit verschafft, die einem Übergriff nahekommt, einer missbräuchlichen Handlung. Ich hatte mich ungefragt eines schwächeren Wesens als Mittel zum Zweck bemächtigt.

Spät erst wurde mir bewusst, dass diese Episode in die Zeit gefallen sein muss, in der ich meinerseits längst schon mit Streckers Übergriffen zu tun hatte. An eine Verbindung habe ich nie gedacht.

Der Anfang. Here we are. Nun also doch.

Strecker

Es war ein regnerischer Nachmittag. Einer von vielen, die ähnlich abliefen. Schulaufgaben, zuhause in meinem Kinderzimmer. Das Schreiblernheft vor mir aufgeschlagen. Ich starre auf das Blatt. Die noch leere Seite hat sechs mal vier parallele Linien mit jeweils drei Zwischenräumen, in die die Buchstaben ordentlich gemalt werden müssen. Die großen Buchstaben mit dem Kopf bis ganz oben, die kleinen mit dem Bauch in der Mitte und den Füßen bis zum unteren Rand. Ich sitze an meinem Kinderschreibtisch und starre auf ein leeres Blatt. Das Heft ist nigelnagelneu, der Füller auch, bis vor kurzem haben wir noch mit dem Griffel auf einer Schiefertafel rumgekratzt. Es ist still im Zimmer, nur die regelmäßig auf nasser Straße vorbeifahrenden Autos und der Atem des Mannes an meiner linken Seite liefern die gewohnte Geräuschkulisse. Sein Atemrhythmus passt nicht zu dem der Autos. Das geht doch nicht, denke ich, das ist völlig falsch, wenn wir das im Musikunterricht machen würden, müsste unser Musiklehrer wieder herumschreien. Der verliert bei so was leicht die Nerven. Ich nicht. Ich konzentriere mich. Mein Stift schwebt über der obersten Zeile und weiß nicht, was er tun soll. Meine Nase ist auf Höhe des Stiftes, ganz nah über dem Papier. Ein paar meiner Haare, die vornübergefallen sind, bewegen sich direkt vor meinen Augen vor und zurück. Auch ich atme, aber ganz flach und leise. Ich sollte vielleicht so atmen wie er, denke ich, dann wäre wenigstens ein bisschen mehr Ordnung. Die Linien krümmen sich unter meinem Blick, ich studiere einen winzigen platten Holzsplitter im Papier, der quer über die Linien geht und aussieht wie eine Spindel. Oder wie das, was ich mir unter dem Ding vorstellte, woran man sich im Märchen in den Finger stechen kann.

Ich senke den Füller auf den Anfang der ersten Zeile. Aber was war es noch gleich, was ich schreiben sollte? Dumpfe Leere im Kopf. Erstarrung im Nacken, auf den er seine Hand gelegt hat. Das tut er immer, gleich zu Anfang, wenn er noch mit mir spricht und lacht und mir was erklärt und normal atmet. Ich wappne mich für das, was jetzt kommt, ich kenne den Ablauf. Jetzt rutscht die Hand weiter an meinem rechten Arm hinunter. Die Stelle am Nacken, wo sie vorher gelegen hat, fühlt sich augenblicklich kalt an, nackt und ausgesetzt. Unten angekommen umschließt seine warme Hand meine kleine, unentschlossene Hand mit dem Stift und führt sie langsam über die Linien der ersten Zeile. Ich schaue auf die schöne, etwas zittrige Linie, die dabei aus dem Füllfederhalter fließt. Die Linie malt Wörter, eins nach dem anderen, das sehe ich, aber einen Sinn ergeben sie für mich nicht.