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Die Macht der Musik Der Ruf der Magie Die Eulen in der Nacht Oma Thea soll eine Wicca gewesen sein? Carolin ist mehr als skeptisch, als sie an ihrem 16. Geburtstag eine Nachricht von ihrer verstorbenen Großmutter erhält. Neugierig ist sie trotzdem. Zwischen Klassenarbeiten und Musical-Proben, Geistervögeln und verwirrenden Visionen macht sie sich auf die Suche nach ihrem magischen Erbe. Allerdings dürfen ihre Eltern nichts davon erfahren – strikte Anweisung ihrer Oma. Was als magisches Abenteuer beginnt, führt Carolin bald auf dunkle Pfade, und schließlich muss sie sich entscheiden: Was ist ihr die neu gewonnene Macht wert? In »Das Lied des Herbstmondes« betrachtet Christina Löw die düstere Seite von Jorinde & Joringel und erzählt in einer modernen Fabel über das Wesen der Magie, wie die Hexe des Grimm’schen Märchens entstand.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
© Oktober 2021 Christina Löw
Von-Bodelschwingh-Str. 13, 51061 Köln
Lektorat: Anna Peter
Korrektorat: Kerstin Radermacher
Cover: saje design, www.saje-design.de
unter Verwendung von vectorstock.com, 123rf.com
Illustrationen: Dominik Peter
E-Book-Buchsatz: Christina Löw und Laura Kier
Auch als Taschenbuch erhältlich:
ISBN: 978-3-98595-036-2
Wenn Christina Löw nicht gerade schreibt oder sich um ihre stetig wachsende Plotbunny-Herde kümmert, arbeitet sie als Literatur-Übersetzerin und Lektorin/Korrektorin sowie Journalistin und Kunstvermittlerin.
»Träume voller Schatten«, 2018 (Roman)
»Der Kater unterm Korallenbaum, oder: Wünschen will gelernt sein«,(2019 (Roman) – nominiert für den Selfpublishing-Buchpreis 2020
»Maneki-neko«, 2019 (Novelle) – Vorgeschichte zu »Der Kater unterm Korallenbaum«
»Das Lied des Herbstmondes, 2021 (Roman)
Es war einmal … ganz anders.
Dieser Titel würde gut zu einer Entstehungsgeschichte der Romane »Das Lied des Herbstmondes« und »Die Stille der Herbstblume« passen. Denn als Julia Maar und ich im Herbst 2019 mit der Arbeit an einer gemeinsame Adaption des Märchens Jorinde und Joringel begannen, hätten wir beide nicht gedacht, dass unsere fertigen Werke die heutigen Formen annehmen würden. Eigentlich waren sie als Novellen-Paar für die Reihe »Licht und Schatten« der Märchenspinnerei gedacht … allerdings hatten die Bücher etwas größere Pläne, aber natürlich weiterhin sehr märchenhafte.
Ganz im Sinne der Reihe betrachten unsere beiden Geschichten einmal die ›böse‹ und einmal die ›gute‹ Seite des Märchens, jeweils in einem modernen Setting. Es sind eigenständige Romane und doch sind sie sowohl durch das Originalmärchen als auch verschiedene Handlungsstränge und Figuren miteinander verbunden. »Das Lied des Herbstmondes« erzählt im Jahr 2005 die Vorgeschichte einer Figur, die – 16 Jahre später – in »Die Stille der Herbstblume« eine deutlich andere Rolle bekommt. Und die Protagonistin aus »Die Stille der Herbstblume« schaut auch schon mal in »Das Lied des Herbstmondes« vorbei.
Lust auf eine märchenhaft-magische, musikalische und düstere Reise? Dann bitte weiterblättern!
Gedankenverloren schaute Carolin aus dem Fenster. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in warme Orange- und Rottöne und verwandelte die Bäume im Garten in dunkle Scherenschnitte mit langen Schatten. Sie gähnte, schaute hinüber zur Uhr an der Wand ihres Zimmers und schüttelte dann den Kopf. Es war eigentlich noch viel zu früh, doch wie jedes Jahr wurde sie im Winter müde, sobald es draußen dunkler wurde. Auch wenn es noch früh am Nachmittag war. Anfang 2005 war sie eindeutig nicht wacher als 2004.
Sie unterdrückte ein erneutes Gähnen und kramte in ihrem Rucksack nach dem Hefter, in dem sie die Notenblätter aufbewahrte. Eigentlich müsste sie ihre Französisch-Hausaufgaben machen, doch darauf hatte sie keine Lust. Viel lieber ging sie den Text durch, den sie für den Chor morgen lernen musste.
»Akt 1, Szene 1«, las sie leise. »Die BEWOHNER und BEWOHNERINNEN VON OZ strömen auf die Bühne, jubelnd und feiernd. Wir befinden uns vor dem Palast des Zauberers, in der Smaragdstadt, Hauptstadt des Landes Oz.« Die nächsten Zeilen übersprang sie, denn wirklich wichtig waren für sie nur die Teile der Rolle, die sie haben wollte: Galinda, die gute Hexe.
»Meine lieben Mitbürger und Mitbürgerinnen von Oz!«, sprach sie und stand dann von ihrem gemütlichen Platz auf dem Bett auf. Sie musste mehr Energie in ihre Stimme legen, wenn sie auch nur eine Chance haben wollte, sich gegen die anderen Anwärterinnen auf die Rolle durchzusetzen.
Sie atmete tief durch, stellte sich aufrecht hin und fuhr halblaut fort: »Dies ist ein Tag dankbarer Freude! Lasst uns jubilieren, der Tugend droht nicht mehr die Bösartigkeit von der – ihr wisst schon wer.« Ihre Stimme wurde dabei immer kraftvoller, tönender und schließlich schmetterte sie: »Am Ende siegt doch stets – das ist das Wunderbare – das Gute, Schöne, Wahre.«
Dabei wanderte ihr Blick wieder zum Abendhimmel, den sie vom Fenster aus sehen konnte, eine Bewegung am Rande ihres Sichtfelds lenkte ihre Aufmerksamkeit vom Notenblatt in den winterlich kahlen Garten. Sie blinzelte. Saß dort drüben im Apfelbaum tatsächlich ein großer Vogel? Sie sah genauer hin und wirklich: Auf einem der oberen knorrigen Äste hockte ein Vogel, dem Umriss nach eine Eule.
Carolin runzelte die Stirn. Was machte denn eine Eule hier, mitten in der Stadt? Klar, in Köln flogen auch Papageienschwärme durch die Gegend – aber Eulen? Die waren nicht dafür bekannt, ein allzu großes Interesse an Menschenansammlungen zu haben. Und noch etwas war sonderbar an dem Vogel: Sein Umriss schien zu flimmern, war längst nicht so scharf geschnitten wie der des Apfelbaums, auf dem er saß. Ein bisschen wie eine Fata Morgana, nur anders, natürlich. Mehrere Minuten lang beobachtete sie die Eule. Und irgendwie hatte sie das Gefühl, als würde diese sie auch aus leuchtend roten Augen intensiv anstarren. Immer bohrender schien der Blick zu werden, als wollte die Eule bis in ihre innersten Gedanken dringen.
Der SMS-Ton ihres Handys ließ Carolin zusammenzucken. Das musste Annika sein – bereit für einen abendlichen Austausch über den Tag. Sie runzelte die Stirn. Normalerweise meldete ihre beste Freundin sich erst kurz vor dem Abendessen. Und dafür war es doch noch viel zu früh. Oder nicht? Konnte es sein, dass sie so lange aus dem Fenster geschaut und nichts weiter getan hatte, als die Eule anzustieren?
Ihr Blick huschte zur Uhr. Tatsächlich. Irgendwie war die Zeit verronnen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Carolin schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich, als wäre sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht. Ein leichter Schauer überlief ihren Rücken und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Sie schaute aus dem Fenster, zum Apfelbaum. Doch die Eule war verschwunden.
Ein weiterer Signalton. Sie sah zu ihrem Handy hinüber, das neben ihren Französischsachen auf dem Schreibtisch lag. Offenbar wurde Annika ungeduldig. Wahrscheinlich wollte sie über das morgige Vorsingen reden. Carolin seufzte, griff nach dem Handy und schrieb: Brauche noch fünf Minuten. Rufe dich gleich an.
Dann lief sie aus ihrem Zimmer auf den Gang und über die Treppe nach unten. Leise huschte sie an der offenen Tür zur Küche vorbei. Dort bereiteten ihre Eltern – den Geräuschen und Gerüchen nach zu urteilen – bereits das Abendessen zu. Carolin schlich sich ins Wohnzimmer und trat schließlich durch die Terrassentür in den Garten. Sie brauchte ein Zeichen. Irgendetwas, das ihr sagte, dass sie sich die Eule nicht nur eingebildet hatte.
Im schwachen Licht, das aus dem Inneren auf den Rasen fiel, suchte Carolin die Umgebung ab, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und bemühte sich, die Dunkelheit mit ihrem Blick zu durchdringen. Langsam näherte sie sich dem Apfelbaum, musterte den Stamm und schaute durch das blattlose Astwerk nach oben, wo die Eule gesessen hatte. Doch sie konnte nichts erkennen, was die Anwesenheit eines großen Vogels verraten hätte.
Fröstelnd wandte Carolin sich schließlich ab und ging zum Haus zurück. Was hatte sie schon erwartet? Ein großes Schild mit der Aufschrift Eine Eule war hier? Wohl kaum. Auch wenn sie nicht glaubte, dass sie im Hellen mehr sehen würde, nahm sie sich vor, dem Apfelbaum am nächsten Tag einen weiteren Besuch abzustatten. Schaden würde es sicher nicht.
Sie rieb sich die kalten Arme, als sie die Terrassentür erreichte, blickte ein letztes Mal in den Garten und wollte gerade zurück ins Haus gehen, als sie direkt neben ihrem linken Hausschuh etwas im Gras entdeckte. Carolin bückte sich und betrachtete ihren Fund in dem schwachen Licht, das aus dem Wohnzimmer nach draußen schien. Eine Feder. Hellbraun mit schwarzbraunen Flecken. Eine Eulenfeder? Sie strich behutsam über die weiche Federfahne.
Also hatte sie sich den Vogel schon einmal nicht eingebildet. Aber was hatte die Eule bloß in ihrem Garten gewollt? Vorsichtig, sodass sie nicht beschädigt wurde, steckte Carolin die Feder in ihre hintere Hosentasche und huschte wieder ins Warme. Im Flur nahm sie das schnurlose Telefon von der Ladestation und lief nach oben in ihr Zimmer.
Sie sollte schnell Annika anrufen. Auch wenn sie in diesem Moment lieber weiter über die Eule gegrübelt hätte.
»Na, bist du wegen morgen nervös?«, drang kurz darauf die Stimme der Freundin an ihr Ohr.
Carolin verzog das Gesicht. »Etwas. Ich kann so schlecht abschätzen, wie gut unsere Konkurrenz aus der Theater-AG ist.«
»Ach, die haben doch gegen den Chor keine Chance! Vor allem nicht gegen dich.«
»Du singst aber auch vor, oder?« Es hatte Carolin einiges an Überredung gekostet, bis Annika eingewilligt hatte, es zumindest zu versuchen. Sich für eine Rolle zu bewerben und sich nicht nur im Ensemble zu verstecken.
»Ja-haaa« Annika klang alles andere als überzeugt.
Carolin unterdrückte ein Seufzen. »Du hast eine schöne Stimme, die es verdient, wahrgenommen zu werden. Und hey, wenn du es versuchst, kann ich danach nicht mehr sagen, du würdest dich ja nie etwas trauen …«
Annika lachte. »Du bist fies, weißt du das?«
»Nur zu deinem Besten!«
»Und genau deshalb gebe ich mich überhaupt mit dir ab.«
»Touché.« Carolin kicherte. »Und bevor du fragst: Nein, ich habe meine Französisch-Hausaufgaben noch nicht erledigt …«
Sie sah förmlich vor sich, wie Annika am anderen Ende die Schultern hob, und kam deren üblichem Kommentar zuvor: »Ich weiß, es ist meine Sache, wenn ich meine Note versauen will. Was ich nicht vorhabe. Nicht absichtlich, jedenfalls.«
»Sollen wir vor deiner nächsten Klassenarbeit zusammen üben?«, fragte Annika, anstatt auf Carolins Bemerkung einzugehen.
»Das wäre super, danke. Zum Glück steht die ja erst im nächsten Halbjahr an. Viel wichtiger ist aber bis dahin: Hast du für deine Rolle gelernt?«, lenkte Carolin das Thema wieder auf das Musical und das anstehende Vorsingen.
Als Annika schwieg, setzte Carolin nach: »Oder wir könnten über meine Eule sprechen.«
»Über deine Eule?« Nun klang Annika interessiert.
»Als ich vorhin den Anfang des Stücks durchgegangen bin, habe ich aus dem Fenster geschaut – und da saß sie: auf einem Ast des Apfelbaums in unserem Garten. Lindenthal ist zwar nicht die Innenstadt, aber ländlich oder in der Nähe eines Waldes wohnen wir auch nicht.«
»Und weiter?«, hakte Annika nach.
»Dann wurde es richtig sonderbar«, fuhr Carolin fort. »Soweit ich mich erinnern kann, zumindest.«
»Soweit du dich erinnern kannst?«
Carolin zögerte, dann erklärte sie mit gesenkter Stimme: »Mir fehlt etwa eine Stunde. Ich weiß noch, dass die Sonne unterging. Deshalb hatte ich schließlich nach draußen geschaut. Und im nächsten Moment hast du mir dann die erste SMS geschickt. Da war es schon dunkel.«
»Das klingt wirklich eher … weniger normal. Aber was hat dein Zeitverlust mit der Eule zu tun?«
Carolin seufzte. »Das frage ich mich auch noch. Jedenfalls war sie am Anfang da und am Ende weg. Und ich habe mir die Eule ganz sicher nicht eingebildet.« Sie biss sich kurz auf die Lippe, dann fuhr sie fort: »Als ich dir schrieb, ich müsste noch was erledigen, bin ich in den Garten gegangen. Ich brauchte einfach einen Beweis, dass ich mir die Eule nicht nur eingebildet hatte. Und da fand ich eine Feder.« Gedankenverloren zog sie die Eulenfeder aus ihrer Hosentasche und betrachtete sie erneut.
»Eine Eulenfeder?«
»Sicher bin ich mir natürlich nicht«, räumte Carolin ein. »Ich hatte noch keine Zeit, nach einer Website für Eulen-Enthusiasten oder so etwas zu suchen. Aber es wäre ein ziemlicher Zufall, würde die Feder nicht von der Eule stammen.«
»Eulen-Enthusiasten?« Annika lachte. »Du könntest sonst auch mal im Tierpark nachfragen. Die haben sicher jemanden, der sich mit Vögeln auskennt.« Sie schwieg einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Aber du hast recht. Sonderbar ist es auf jeden Fall.«
Bevor Carolin mehr Sonderbares zu der Eule erzählen konnte, musste Annika auflegen, weil ihre Familie zu Abend essen wollte – wie jeden Tag um Punkt 18 Uhr. Deshalb nahm Carolin sich vor, ihrer Freundin eben am nächsten Tag davon zu berichten.
Da ihr selbst noch etwas Zeit blieb, bis ihre Eltern sie nach unten rufen würden, ging Carolin zu ihrem Schreibtisch hinüber, drückte den Start-Knopf an ihrem Rechner und schaltete den klobigen Bildschirm ein. Während sie wartete, dass der Computer hochfuhr, spielte sie erneut mit der Feder. Einige geräuschvolle Minuten später konnte sie den Browser öffnen und die Yahoo-Suche aufrufen.
Bald darauf wusste sie, dass es sich bei der Eulenfeder wahrscheinlich um die einer Waldohreule handelte. Zu Eulen, die Menschen geradezu hypnotisierten, fand sie allerdings nichts. Die rote Färbung der Augen musste sie sich eingebildet haben, denn normalerweise hatte eine Waldohreule wohl leuchtend orangegelbe Augen. Vielleicht eine Lichttäuschung durch den intensiven Sonnenuntergang, überlegte Carolin. Daran lag es wahrscheinlich auch, dass der Umriss so unscharf gewesen war. Immerhin hatte sie in Richtung der Sonne geschaut, bestimmt war das einfach zu viel für ihre Netzhaut gewesen.
Kopfschüttelnd trennte sie schließlich die Internetverbindung. Ob ihre Nerven schuld waren? Sorgte sie sich doch mehr um das morgige Vorsingen, als sie sich bisher eingestanden hatte?
Sie atmete tief durch, machte eine der Übungen, die ihr Chorleiter ihnen gezeigt hatte – für den Fall, dass sie vor einem Auftritt Lampenfieber bekamen – und griff erneut nach den Notenblättern. Wenn sie nervös war, musste sie eben mehr üben. So lange, bis sie sich sicher fühlte. Sie wollte diese Rolle so sehr!
Wenn doch bloß ihre Eltern verstehen würden, wie wichtig ihr das Singen war, wie wohl sie sich dabei fühlte und dass sie am liebsten nicht viel anderes gemacht hätte. Dass es so ziemlich das Einzige war, was ihr – neben Naturwissenschaften – in der Schule wirklich Spaß machte. Erst im Musikunterricht und nun besonders im Chor. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass von den Erwachsenen sie nur Herr Reinhardt verstand.
»Und Tugend weiß, auch Böse sind verletzlich«, sang sie leise vor sich hin. »Tugend weiß, der Böse stirbt allein. Denn der Preis für das Bösesein ist letztlich: Einsam sein.«
Langsam arbeitete sich Carolin durch die Notenblätter, rief sich alle von Galindas Passagen in Erinnerung, sang sich durch Szene um Szene, bis die Stimme ihrer Mutter sie schließlich aus ihrer Konzentration riss.
»Carolin – Abendessen!«
Sie seufzte und legte die Notenblätter beiseite, schielte zu den Französischsachen hinüber, um die sie sich immer noch nicht gekümmert hatte – und nach denen ihre Eltern gleich sicherlich fragen würden. Wie sie es seit der letzten Klassenarbeit mit erschreckender Regelmäßigkeit taten.
»Carolin – Essen!«, rief ihre Mutter erneut.
»Ich komme gleich!«
Bevor sie ihr Zimmer verließ, überflog Carolin die Aufgaben. Wenn sie wenigstens sagen konnte, was sie zu tun hatte, würden ihre Eltern hoffentlich nicht im Detail nachbohren. Und sie könnte mit einer Notlüge davonkommen – auch wenn sie die Aufgaben erst später erledigen würde, notfalls mit ihrer Nachttischlampe unter der Bettdecke. Und nachdem sie auch den Rest von Galindas Text durchgegangen war, leise natürlich, denn nach dem Abendessen wollten ihre Eltern in Ruhe Fernsehen schauen und nicht ihren Gesangsübungen lauschen. Deren Worte, nicht ihre.
»Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich traue.« Annika griff nach Carolins Hand und die drückte sie.
»Du schaffst das.« Carolin lächelte die Freundin an.
Sie saßen zusammen auf dem Gang vor dem Musikraum, in dem das Vorsingen stattfand. Ebenso wie alle anderen aus dem Chor und der Theater-AG, die sich auf Sprechrollen bewerben wollten.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Carolin die Konkurrenz. Einige lehnten entspannt an der Wand, andere gingen fieberhaft die Notenblätter durch, die auch sie selbst gestern noch bis kurz vor dem Einschlafen wieder und wieder durchgegangen war. Dann kehrte ihr Blick zu Annika zurück, die nervös mit einer ihrer langen Haarsträhnen spielte.
Carolin lehnte sich so weit zur Seite, dass ihre Lippen beinahe das Ohr ihrer besten Freundin berührten, dann flüsterte sie: »Vanillepudding.«
Sofort zupfte ein leichtes Lächeln an Annikas Mundwinkeln. »Schokosoße«, wisperte sie zurück.
Carolin seufzte erleichtert – und spürte, wie sich ihr Magen meldete. »Du glaubst gar nicht, wie viel ich gerade dafür geben würde, noch mal sechs zu sein und mich mit dir um die letzte Portion Vanillepudding mit Schokosoße zu streiten.«
Annika kramte in ihrem Rucksack. »Dinkelbrezeln oder Apfelchips?«
»Dinkelbrezeln.«
Annika reichte ihr die Packung. Carolin öffnete sie hungrig, nahm sich einige Brezeln und gab die Tüte ihrer Freundin zurück. Die schüttelte den Kopf. »Behalt sie. Ich weiß echt nicht, wie du jetzt Appetit haben kannst.«
Carolin zuckte die Achseln. »Du weißt doch: Ich werde immer hungrig, wenn ich nervös bin … Und ich –«
»Will die Rolle unbedingt«, beendete Annika grinsend den Satz. »Ich weiß.«
Bevor Carolin noch etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür und ihre beste Freundin wurde als Nächste in den Raum gerufen. Sie drückte erneut Annikas Hand. »Ich würde dir ja viel Glück wünschen, aber das brauchst du nicht.« Sie zwinkerte ihr zu.
Annika schluckte sichtbar, griff nach ihrem Rucksack und richtete sich langsam auf. Nach einem weiteren Blick zu Carolin ging sie auf die Tür zu.
Als diese sich hinter ihrer Freundin geschlossen hatte, aß Carolin zuerst die noch verbleibenden Brezeln. Dann schaute sie sich im Gang um. Es war deutlich leerer geworden. Anfangs waren es noch kleinere Grüppchen gewesen, die sich leise unterhielten, nun saßen alle, die noch warten mussten, einzeln auf dem Boden oder lehnten an den Wänden.
Um ihrer Langeweile entgegenzuwirken und ihre Nervosität in Grenzen zu halten, zog Carolin die Notenblätter aus ihrem Rucksack. Sie ein letztes Mal zu lesen, würde sicher nicht schaden.
Die Zeit, bis sie selbst an der Reihe war, zog sich gleichzeitig gefühlt bis in alle Ewigkeit und war doch zu kurz, um alle Texte des Musicals erneut durchzugehen. Carolin klappte den Hefter zu, als sie aufgerufen wurde, stopfte ihn in ihren Rucksack und eilte in den Musikraum.
Ihr Herz pochte, als sie neben dem Klavier Platz nahm, doch in ihrem Kopf herrschte konzentrierte Ruhe. Sie atmete kurz durch, richtete sich auf und schaute Herrn Reinhardt und Frau Silvano, die Leiterin der Theater-AG, direkt an. »Ich möchte für die Rolle von Galinda vorsingen«, sagte sie möglichst selbstbewusst.
Die beiden Erwachsenen wechselten einen kurzen Blick, dann räusperte sich der Chorleiter. »Wir haben die Galinda eigentlich schon besetzt.« Er wirkte leicht unbehaglich, als er das sagte.
Carolin runzelte die Stirn. »Aber ich habe doch noch gar nicht vorgesungen. Und draußen sitzen auch noch einige.«
»Deshalb kannst du natürlich auch trotzdem für die Rolle der Galinda vorsingen«, erwiderte Frau Silvano. »Wir lassen uns gerne positiv überraschen. Solltest du dich nun allerdings auf eine andere Rolle bewerben wollen, könntest du das ebenfalls tun.«
»Aber ich habe für Galinda geübt … viel.« Carolin war wie vor den Kopf gestoßen.
Wieder schauten sich der Lehrer und die Lehrerin an.
Herr Reinhardt nickte ihr schließlich zu und lächelte. »Präsentiere uns, was du vorbereitet hast, und dann sehen wir weiter.«
Leicht verunsichert wandte sich Carolin zu dem älteren Schüler, der am Klavier saß, die Notenblätter vor sich. »Ich würde gerne mit dem Anfangslied beginnen – Keiner weint um Hexen.«
Sie kam gut durch die ersten Verse, merkte aber, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Konzentrier dich, schalt sie sich. Streng dich gefälligst an!
Das half. Carolin steigerte sich über die nächsten Verse, ging ganz im Singen auf – und fühlte sich dabei erneut unglaublich lebendig. Sie schloss das Lied mit einer gefühlvollen Interpretation von Galindas Fragen an die Bevölkerung von Oz: »Ist jemand von Geburt aus böse? Oder bekommt man das Böse erst später eingeflößt? Immerhin hatte sie einen Vater. Sie hatte eine Mutter … Wie so viele von uns.«
Zufrieden verstummte sie und schaute Herrn Reinhardt und die Leiterin der Theater-AG erwartungsvoll an. Beide lächelten sie an. Und doch wirkten sie nicht vollends überzeugt.
»Ich kann auch noch ein weiteres Lied singen«, versuchte Carolin die Flucht nach vorne.
Aber der Chorleiter winkte nach einem Blick zu Frau Silvano ab. »Du bist eine unserer besten Sängerinnen«, setzte er an. »Auch wenn ich dir das wahrscheinlich gar nicht sagen muss. Allerdings passt deine Stimme eher zu einer anderen Rolle. Was hältst du davon, wenn du dich an einem Part von Elphaba versuchst?«
Carolin schluckte. Alles in ihr schrie danach, herauszufinden, wer an ihrer Stelle Galinda werden sollte, und dafür zu sorgen, dass diese Schülerin die Rolle doch nicht bekam. Sie biss die Zähne zusammen und schob den Impuls beiseite.
»Mit Elphaba wäre deine Rolle tatsächlich noch etwas größer, als wenn du Galinda spielen würdest«, warf die Leiterin der Theater-AG ein, während Carolin noch überlegte.
»Aber Elphaba ist die böse Hexe«, erwiderte Carolin impulsiv, bevor sie sich aufhalten konnte.
Frau Silvano legte den Kopf schief. »Liegt das nicht viel eher im Auge des Betrachtenden?«
Carolin runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, sieh es einmal so«, meldete sich Herr Reinhardt zu Wort. »Elphaba setzt sich für die sprechenden Tiere ein und möchte diesen helfen. Das ist ja erst einmal gut. Allerdings will sie damit zugleich die Ordnung der Welt verändern, die Regeln von Oz. Das finden natürlich nicht alle gleich gut – erst recht nicht der Zauberer, der die Regeln aufgestellt hat. Für ihn ist Elphaba böse, weil sie ihm zuwiderhandelt.«
»Und nur weil er ihr Handeln als böse einstuft, sorgt seine Propaganda dafür, dass ganz Oz schließlich Elphaba für böse hält«, ergänzte Frau Silvano. »Einschließlich ihrer Magie. Dabei ist Magie an sich weder gut noch böse, sondern immer das, was man daraus macht.«
»Das klingt verwirrend.« Carolin war nicht überzeugt. Außerdem hatte sie sich auf Galinda gefreut. Sie kannte die Rolle, mochte die Rolle. Wie sollte sie jetzt so schnell zu einer anderen Rolle umschwenken, die sie nicht einmal haben wollte?
Erneut wechselten die beiden Erwachsenen einen Blick. Dann sagte Herr Reinhardt: »Du würdest uns wirklich helfen, wenn du dich an der Elphaba versuchst. Bisher hat uns noch keine der Kandidatinnen überzeugt, und wenn ich mir die Liste so anschaue, ist es auch unwahrscheinlich, dass vor der Tür noch ein unentdecktes Talent lauert.«
Carolin seufzte leise. Was sollte sie gegen dieses Argument schon einwenden? Sie nickte. »Okay. Aber die Passagen kann ich natürlich nicht auswendig – ich habe sie schließlich nicht einmal geübt.«
»Du kannst heute vom Blatt singen«, erwiderte der Chorleiter. »Und du darfst dir auch eine Szene aussuchen.«
Schnell nahm Carolin die Partitur, die der Schüler am Klavier ihr reichte, und blätterte durch die Seiten. Schließlich zuckte sie die Achseln und schaute zu dem Tisch hinüber, an dem Herr Reinhardt und Frau Silvano saßen. »Vielleicht ihren ersten Auftritt – in der Schule, als ihre Magie entdeckt wird?«
»Gerne.« Ihr Chorleiter nickte ihr zu und bedeutete dem Pianisten, mit dem Lied zu beginnen.
»Hab’ ich richtig verstanden?«, sang Carolin. »Hab’ ich mich unterschätzt all die Zeit? Kann mein kleiner Tick, dieses Ungeschick, ein Talent sein, das den Zauberer verzaubert? Bring ich es weit? Ich bin bereit!«
Sie brauchte einen Moment, um sich an die tiefere Tonlage von Elphabas Text zu gewöhnen, aber nach einigen Zeilen fühlte sie sich auch dort recht wohl. Tatsächlich merkte sie, dass sich ihre Stimme im Mezzosopran noch einmal ganz anders entfaltete.
»Ab jetzt flieg’ ich den Träumen nach«, fuhr sie fort. »Ich hab’ eine Vision, an der ich mich orientier’. Und ist auch das Bild noch recht verschwommen: Ich weiß, so wird es kommen.«
Hin und wieder blickte sie beim Singen vom Blatt auf und schaute aus dem Augenwinkel zu den beiden Erwachsenen hinüber. Sie wirkten zufrieden, machten sich Notizen – und lächelten sie an, als Carolin schließlich endete. Ihr Chorleiter ließ sich sogar zu leichtem Beifall hinreißen.
»Ich wusste doch, dass das noch besser zu deiner Stimme passen würde!« Er strahlte sie regelrecht an.
Carolin spürte, wie ihre Mundwinkel sich bei diesem Lob ebenfalls hoben. Dann jedoch schaute sie zur Leiterin der Theater-AG und wartete deren Urteil ab.
Frau Silvano zögerte kurz, nickte schließlich aber ebenfalls. »Das war tatsächlich sehr gut«, räumte sie ein. »Aber das heißt natürlich nicht, dass wir dir die Rolle einfach geben können. Es singen immerhin noch mehr vor.«
»Wir sollten die übrigen Kandidatinnen und Kandidaten auch nicht länger warten lassen«, setzte Herr Reinhardt hinzu. »Schließlich sollen alle die Chance zum Vorsingen bekommen.« Er lächelte Carolin erneut an. »Die finalen Entscheidungen werden wir morgen aushängen. Es wäre aber nicht verkehrt, wenn du dir die Partien von Elphaba schonmal etwas genauer anschaust.«
Carolin verabschiedete sich und verließ den Raum durch die Tür am gegenüberliegenden Ende. Ihre Gedanken rasten. Wollte sie Elphaba spielen? Wer bekam stattdessen die Rolle der Galinda? Und wieso war nicht einfach alles nach Plan verlaufen?
Auf dem Gang stieß sie fast mit Annika zusammen. »Du hast noch gewartet?«
Die Freundin nickte. Sie wirkte ähnlich verwirrt, wie Carolin sich fühlte.
Sie drängte ihr eigenes inneres Chaos beiseite und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Annika. »Ist etwas passiert? Wie ist es bei dir gelaufen?«
»Ich …« Annika stockte. »Ich … Ich soll die Galinda spielen.«
»Bitte – was?!« Mehr brachte Carolin nicht heraus.
Leise schloss Carolin die Haustür auf, streifte im Flur ihre Schuhe ab und hängte ihre Jacke auf. Dann schulterte sie erneut ihren Rucksack und schlich auf Socken zur Treppe.
»Carolin?« Ihre Mutter streckte den Kopf aus der Küche. »Da bist du ja!« Sie strahlte.
Carolin unterdrückte einen Fluch, zwang ihre Lippen zu einem leichten Lächeln und wünschte sich – nicht zum ersten Mal –, dass ihre Mutter nicht solche Luchsohren hätte.
»Ist alles in Ordnung?« Ihre Mutter musterte sie aufmerksam.
Carolin senkte den Kopf. »Schule war nur etwas anstrengend heute«, sagte sie an den Fußboden gewandt.
Die Hausschuhe ihrer Mutter kamen näher. Sanft hoben ihre Finger Carolins Kinn an, bis diese sie anschauen musste. »Das Vorsingen? Das war doch heute, oder?«
Carolin tat einen Schritt zurück. Sie runzelte die Stirn. »Jaaaa«, bestätigte sie misstrauisch. Ob Annika angerufen hatte, während sie noch draußen herum gelaufen war?
»Du musst gar nicht so skeptisch dreinschauen.« Ihre Mutter lächelte. »Ich denke zwar, dass Schule deine oberste Priorität sein sollte, aber ich höre dir durchaus zu, wenn du etwas erzählst – und wenn du singst sowieso.«
Carolin schwieg. Was sollte sie schon sagen? Dass sie wütend war, dass ihre beste Freundin wahrscheinlich ihre Rolle bekommen würde? Dass sie sich gleichzeitig für Annika freute? Dass sie nicht wusste, ob sie die andere Rolle haben wollte? Sie schüttelte innerlich den Kopf. Ihre Mutter würde es nicht verstehen. Sie wäre sicher froh, sollte Carolin die Rolle der Elphaba ausschlagen, nun, da sie Galinda nicht bekommen würde … schließlich könnte sie sich dann wieder mehr auf die Schule konzentrieren.
Ihre Mutter seufzte. »Du musst mir auch nicht sagen, was dich bedrückt. Ich will nur helfen.« Sie schaute Carolin an, als warte sie auf eine Reaktion, doch Carolin blieb stumm.
»Magst du mir dann vielleicht in der Küche mit dem Abendessen helfen?«
»Ich würde lieber allein sein«, brachte Carolin schließlich heraus. »Ich bin auch nicht hungrig – wegen mir musst du dir keine Mühe machen.«
Ihre Mutter hob eine Braue. »Du warst den ganzen Tag unterwegs. Du hattest noch das Vorsingen. Da kannst du mir nicht erzählen, dass du keinen Hunger hast.«
»Ich mag aber lieber allein sein«, wiederholte Carolin und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ihre Mutter seufzte erneut. »In Ordnung. Dann geh erstmal auf dein Zimmer. Aber wenn das Essen fertig ist, kommst du wieder nach unten.«
Am liebsten hätte Carolin bockig den Kopf geschüttelt, wäre in ihr Zimmer gegangen, hätte die Tür abgeschlossen und wäre frühestens am nächsten Morgen wieder hervorgekommen. Das leicht flaue Gefühl in ihrem Magen sagte ihr allerdings, dass ihre Mutter wahrscheinlich recht hatte. Also nickte sie.
Dennoch war sie froh, als sie für den Moment die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich schließen konnte. Sie ließ sich aufs Bett fallen, vergrub den Kopf im Kissen und stieß einen erstickten Schrei aus. Dann blieb sie einfach liegen.
Der SMS-Ton ihres Handys ließ sie langsam den Kopf heben und zu ihrem Rucksack schielen. Sollte sie nachschauen, wer es war? Wobei sie das eigentlich schon wusste: Annika. Sicherlich war das Annika. Doch wollte sie wissen, was Annika schrieb?
Seufzend rutschte Carolin zur Bettkante und griff in ihre Schultasche. Ist alles in Ordnung?, las sie. Du warst so schnell weg. Wir sind gar nicht dazu gekommen, uns richtig zu unterhalten.
Carolin überlegte, was sie antworten sollte. Einerseits konnte ihre Freundin nichts dafür, dass Herr Reinhardt und Frau Silvano sie für die Figur der Galinda haben wollten. Andererseits wusste Annika genau, dass Carolin für diese Rolle geübt hatte, seit klar war, dass sie das Musical Wicked aufführen würden.
Sie ließ den Kopf erneut ins Kissen sinken. Sie konnte unmöglich alles, was ihr durch den Sinn ging, in 160 Zeichen packen. Also rollte sie sich schließlich herum, stand auf und tappte leise die Treppe hinunter in den Flur und zum Festnetz-Telefon. Schon auf dem Rückweg nach oben wählte sie. Annikas Nummer, beziehungsweise die ihrer Eltern, kannte sie auswendig.
Es klingelte. Einmal, zweimal. Dann meldete sich Annikas Stimme. »Hallo?«
»Ich bin’s.«
»Carolin?« Sie klang zögerlich, als wüsste sie nicht recht, was sie als Nächstes erwarten sollte.
»Ich … Ich wollte mich entschuldigen«, platzte es aus Carolin heraus, bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, was genau sie Annika sagen wollte – und in welcher Reihenfolge. »Dafür, dass ich dich einfach stehen gelassen habe. Ich war nur … wie vor den Kopf geschlagen. Doch dafür kannst du natürlich nichts.« Sie schluckte.
»Ich kann es auch nicht fassen«, erwiderte Annika. »Es war, als hätten sie sich schon vorher in den Kopf gesetzt, wen sie für welche Rolle wollten. Zwar habe ich für die Nessarose vorgesungen, wie wir es besprochen und geübt haben, aber Herr Reinhardt und Frau Silvano haben mich fast sofort unterbrochen und mir gesagt, ich sollte doch mal etwas von Galindas Rolle singen.« Sie hielt inne und holte tief Luft.
Diese Pause nutzte Carolin aus, um ebenfalls etwas zu sagen: »Ich werfe es dir nicht vor.« Das stimmte, erkannte sie in diesem Augenblick. Sie war Annika nicht böse. Sie war verletzt, verwirrt, vor allem verwirrt, aber nichts davon war Annikas Schuld. »Es war einfach etwas viel, glaube ich.« Sie seufzte. »Der Stress des Vorsingens, vorher das ganze Üben, das dann für die Katz war … Weißt du, wahrscheinlich würden sich ganz viele freuen, wenn ihnen einfach so Elphaba angeboten würde. Aber da ich die ja gar nicht haben wollte, fühlt sich das … falsch an.«
»Du sollst stattdessen Elphaba spielen? Wow.« Erleichterung schwang in Annikas Stimme mit, gepaart mit Anerkennung.
Carolin hob die Schultern, auch wenn ihre Freundin das am anderen Ende der Leitung natürlich nicht sehen konnte. »Ja«, antwortete sie schlicht.
»Das ist doch toll! Immerhin ist Elphaba die wirkliche Hauptrolle, wenn man es genau betrachtet.«
»Aber sie ist die böse Hexe im Stück«, wandte Carolin ein, wie sie es schon Herrn Reinhardt und Frau Silvano gegenüber getan hatte. »Außerdem ist sie grün.«
Ein Prusten aus dem Hörer antwortete ihr. »Das sind nicht wirklich ernstgemeinte Argumente, oder?« Annika klang amüsiert. »Dass Elphaba nicht wirklich böse ist, wissen doch alle – außer der Bevölkerung von Oz und selbst die glauben das nur, weil der Zauberer es ihnen eingeredet hat. Und seit wann scherst du dich um Äußerlichkeiten?«
»Ach, ich weiß auch nicht …«
»Das ist neu.« Carolin hörte geradezu, dass Annika schon wieder grinste. »Du weißt doch sonst immer genau, was du willst.«
Carolin zog eine Grimasse. »Diesmal weiß ich es wirklich nicht. Ich sage dir immer, dass du eine großartige Stimme hast – und dazu stehe ich auch. Also kann ich dir jetzt nicht böse sein, wenn Herr Reinhardt und Frau Silvano das ebenfalls so sehen. Trotzdem wollte ich nun mal Galinda spielen. Und ich bin noch gar nicht dazu gekommen, richtig zu überlegen, wie ich zu Elphaba stehe.« Sie schluckte. »Und ob ich mir die Partie zutraue.«
»Dann solltest du wahrscheinlich genau darüber mal nachdenken«, warf Annika ein.
»Wahrscheinlich«, stimmte Carolin mit einem Seufzen zu.
Bevor sie noch etwas anderes sagen konnte, hatte Annika ihr alles Gute dabei gewünscht und sich verabschiedet. Und dann saß Carolin wieder allein mit ihren Gedanken auf dem Bett.
Sie streckte gerade die Hand nach ihrem Rucksack aus, um den Hefter mit den Notenblättern herauszuziehen, als es an ihrer Tür klopfte.
»Carolin?«, fragte die Stimme ihrer Mutter. »Kommst du zum Essen nach unten?«
Erst wollte Carolin ablehnen, doch ihrer Magen war anderer Meinung: Allein bei dem Gedanken an Nahrung begann er zu gurgeln. »Komme gleich!«, rief sie durch die Tür und stand auf. Vielleicht konnten ihre Eltern ihr sogar bei der Entscheidung helfen. Unwahrscheinlich zwar, aber auch eine geringe Chance war besser als nichts.
Am Esstisch herrschte zunächst hungriges Schweigen. Denn bei Spaghetti Bolognese, die ihre Mutter auftischte, war Carolin vollauf damit beschäftigt, ihren Magen zu füllen, der nach dem ersten Teller fröhlich gluckste, aber durchaus noch Nachschub wollte.
»Du siehst wieder deutlich entspannter aus«, sagte ihre Mutter, als Carolin sich den Teller erneut füllte. »Magst du jetzt erzählen, was vorhin los war?«
»Ach, nur eine kleine Unstimmigkeit mit Annika«, wiegelte Carolin ab und wickelte Spaghetti um ihre Gabel. »Alles wieder geklärt.«
Ihre Mutter hob eine Braue. »Bist du sicher, dass es nur das war? Es wirkte wie deutlich mehr, als du nach Hause kamst …«
»Wie war eigentlich das Vorsingen?«, warf ihr Vater ein, bevor Carolin ihrer Mutter antworten konnte.
»Das habe ich sie vorhin auch schon gefragt«, erwiderte Carolins Mutter. »Da wollte sie nicht darüber reden.«
Carolin öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Solange ihre Eltern sich eher neben ihr als mit ihr unterhielten, machte es sowieso keinen Sinn, sich in das Gespräch einzuklinken. Da konnte sie auch abwarten, zu welchem Schluss die beiden allein kamen – und weiteressen, bis ihr Magen zufrieden war.
Nach mehreren Minuten, in denen ihre Eltern hin und her überlegten, ohne Carolin einzubeziehen, wandte ihr Vater sich endlich an sie. »Magst du uns verraten, was wirklich vorgefallen ist?«
Die lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, seufzte und sagte schlicht: »Ich habe die Rolle nicht bekommen.«
»Aber du hast doch so viel dafür geübt«, meinte ihre Mutter.
»Das ist ja schade«, bemerkte ihr Vater.
»Allerdings kannst du die Zeit nun gut für die Schule nutzen«, kam es nahezu einstimmig von beiden.
Nur mühsam unterdrückte Carolin ein Schnauben. »Es ist ja nicht so, als wäre ich in Gefahr, sitzenzubleiben. Und ihr hättet zumindest einen Moment länger warten können, bis ihr euch freut, dass ich die Rolle nicht bekommen habe. Außerdem wurde mir dafür eine andere angeboten!« Herausfordernd schaute sie ihre Eltern an.
Die Lippen ihrer Mutter formten erst eine schmale Linie, dann hoben sich ihre Mundwinkel langsam zu einem zaghaften Lächeln. Bei ihrem Vater sah es ähnlich aus.
»Was für eine Rolle denn?«, fragte ihre Mutter schließlich.
»Elphaba.«
»Welche ist das?«, wollte ihr Vater wissen.
»Die Hauptrolle neben Galinda. Letztere ist die Partie, auf die ich mich beworben hatte und die ich nicht bekommen habe«, erklärte Carolin auf die verwirrten Blicke ihrer Eltern hin.
»Also hast du jetzt nicht weniger zu tun?«, fragte ihre Mutter.
Carolin schüttelte den Kopf. »Es könnte sein, dass ich sogar etwas mehr zu tun habe. Ich muss mir die Gesangspassagen noch genauer anschauen.«
»Schaffst du das denn neben der Schule?«, hakte ihr Vater nach.
Carolin zuckte leicht die Achseln, nickte dann aber. »Ich denke schon. Die Rollen werden ja auch schon jetzt für die Aufführung im Herbst vergeben, damit wir viel Zeit haben – wöchentlich eine Doppelstunde im Halbjahr und in den Ferien auch mal einen ganzen Tag oder ein Probenwochenende. In den Sommerferien werden wir uns sicherlich öfter treffen, da haben wir viel Zeit, um allein zu lernen oder uns mit den anderen zum Üben zu verabreden.«
»Und du wirst Französisch nicht weiter vernachlässigen?«, wollte ihre Mutter wissen.
»Nein.« Carolin seufzte leise. »Ich bin auch schon für die nächste Klassenarbeit – nein, wir haben noch keinen Termin – mit Annika zum Lernen verabredet. Sie kann mir das deutlich besser erklären als Frau Kleinschmidt. Und in der Oberstufe werde ich Französisch sowieso abwählen – ist also nur noch ein halbes Jahr.« Sie grinste bei der Aussicht.
»Du willst Französisch abwählen?« Eine Falte bildete sich auf der Stirn ihres Vaters.
»Ja. Wundert euch das wirklich?« Carolin blickte von ihrem Vater zu ihrer Mutter. »Ich hatte nie Spaß daran. Habe mich immer mehr damit gequält als mit Englisch. Ich hatte nur bisher keine Wahl. Ab der 7. Klasse kam Französisch dazu, ob wir wollten oder nicht.«
»Es ist nur schade.« Ihre Mutter seufzte. »Französisch ist so eine schöne Sprache.«
»Für euch vielleicht.« Carolin verzog das Gesicht. »Für mich nicht.«
Das Gespräch zog sich noch eine Weile hin, Carolin war aber froh, dass ihre Eltern nach und nach etwas Einsehen zeigten. Zwar keine überschwängliche Freude, aber immerhin. Das war in gewisser Weise fast besser gelaufen, als sie gedacht hatte.
Trotzdem war sie froh, als ihre Mutter von sich aus das Thema wechselte, während ihr Vater den Nachtisch aus dem Kühlschrank holte, und fragte: »Wie möchtest du eigentlich deinen Geburtstag feiern?«
»Och, einfach im kleinen Kreis.«
»Aber es ist dein 16. Geburtstag – willst du da nicht eine Party haben oder mit deinen Freundinnen ausgehen?« Ihr Vater stellte drei Schüsselchen mit laktosefreier Pannacotta und Erdbeersoße auf den Tisch.
Carolin prustete leicht. »Du willst, dass ich mich in Clubs oder Bars herumtreibe? Dass ich mich mit Bier oder Wein betrinke?« Sie schüttelte sich. »Was anderes darf ich ja ohnehin noch nicht trinken.«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich würde es verstehen, solltest du bis spät aufbleiben und mit deinen Freundinnen tanzen gehen wollen – du wirst schließlich nur einmal 16.«
Carolin schaute ihren Vater zweifelnd an, dann griff sie nach ihrem Dessert. »Ich dachte einfach an einen DVD-Abend mit Annika, dass sie an dem Freitag nach meinem Geburtstag hier übernachtet, wir Pizza oder Pommes essen und danach mit Sprite und Mezzo Mix im Wohnzimmer verschwinden.«
Ihre Eltern wechselten einen Blick. Dann nickten sie. »Okay«, meinte ihre Mutter. »Es ist dein Geburtstag.«
Am Morgen ihres Geburtstags schlug Carolin gut gelaunt die Augen auf. Sie musste zwar zur Schule und daher früh aufstehen, aber wenn ihre Ohren sie nicht täuschten, bereiteten ihre Eltern in der Küche gerade das versprochene Pfannkuchen-Frühstück vor.
Carolin lächelte. Dabei stellte sie sich vor, sie würde schon den ersten Bissen schmecken. Ihr Magen grummelte, also stand sie schnell auf, wickelte sich in ihren Bademantel, streifte warme Kuschelsocken über und tapste leise zum Treppenabsatz.
Obwohl sie sich wirklich Mühe gab, schaffte sie es nicht, ihre Eltern bei den Vorbereitungen in der Küche zu überraschen. Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte der Treppenstufen geschafft, als ihr Vater den Kopf aus der Küche streckte.
»Wir hätten dir das Frühstück auch gleich ans Bett gebracht«, sagte er und grinste sie an. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Liebling.«
»Danke.«
Carolin hüpfte die restlichen Stufen herunter und ließ sich dann von seinen ausgebreiteten Armen umfangen. An den meisten Tagen fand sie so etwas von ihren Eltern eher nervig bis peinlich – und hatte es ihnen in der Öffentlichkeit verboten –, aber zu ihrem Geburtstag fühlte es sich richtig an. Schön sogar. Sie verharrte einen Moment, dann löste sich wieder von ihrem Vater – schließlich war sie kein kleines Kind mehr.
Gemeinsamen traten sie in die Küche. Ihre Mutter strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht, wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und schloss sie dann ebenfalls in ihre Arme. »Alles Gute, meine Süße.«
Auch hier schmiegte Carolin sich kurz an. »Danke. Können wir frühstücken? Ich habe einen richtigen Geburtstagshunger!«
»Natürlich. Die Pfannkuchen sind schon fertig, du kannst dir aber noch die Marmelade aussuchen, wenn du welche möchtest, ebenso laktosefreie Schokocreme und diverse Obstsorten. Wir haben alle deine Lieblingszutaten besorgt.«
»Auch Ahornsirup?«
»Natürlich auch Ahornsirup.« Ihre Mutter lächelte. »Der steht in der Vorratskammer direkt neben der Marmelade.«
Carolin holte ihn und wenige Minuten später saßen sie zusammen am Tisch. Ihren ersten Pfannkuchen dekorierte sie mit Bananenstückchen und Heidelbeeren und goss eine großzügige Portion Ahornsirup darüber. Dann vertilgte sie ihn, ein köstlich-süßes Stück nach dem nächsten.
Schließlich war von dem Pfannkuchenturm, den ihre Mutter gebacken hatte, nur noch ein letzter Pfannkuchen übrig. Auch die Schalen mit dem Obst hatten sich geleert. Carolin legte zufrieden ihre Gabel ab und strich sich über den vollen Bauch. »Das war das beste Geburtstagsfrühstück, das ich je hatte!«
»So wie letztes Jahr?« Lachfältchen zeigten sich an den Augenwinkeln ihrer Mutter.
»So wie letztes Jahr und das Jahr davor und davor – und davor.« Carolin grinste. »Ich hätte kein Problem damit, mich allein von Pfannkuchen zu ernähren.«
»Das glaube ich dir sofort!« Ihr Vater lachte und schaute dann zur Uhr. »Meinst du, du kannst noch ein, zwei Geschenke öffnen, oder müssen wir damit bis heute Nachmittag warten?«
Carolin folgte seinem Blick und zog eine Grimasse. »Ich muss noch ins Bad, meine Sachen packen und dann zur Bahn laufen. Das wird knapp.«
»Was hältst du davon, wenn ich dich fahre?«, fragte ihre Mutter. »Ausnahmsweise. Dann kannst du zumindest eines auf jeden Fall noch öffnen.«
»Gerne!«
Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern einige Pakete in buntem Papier auf dem Couchtisch arrangiert hatten. Ihr Vater trat vor und reichte seiner Tochter eines davon. »Wenn du schon nicht viele aufmachen kannst, würde ich an deiner Stelle hiermit beginnen.«
Carolin nahm das flache Paket. Es war leicht und rechteckig. »Ein Film?«
Ihre Eltern nickten.
Schnell riss sie das Papier von der DVD-Hülle – und musste beim Anblick des Covers grinsen. »Ihr habt mir Der Zauberer von Oz gekauft?«
»Wir dachten uns, weil ihr ja Wicked als Musical aufführt, dass es ganz schön wäre, wenn du auch den Film kennenlernst, der die ursprüngliche Geschichte erzählt«, antwortete ihre Mutter.
»Wir möchten dich ja in dem, was du tust, unterstützen«, fügte ihr Vater hinzu. »Auch wenn wir uns manchmal sorgen, dass du deine Schulfächer deswegen vernachlässigst.« Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn. Wahrscheinlich hätte er das noch um einiges weiter ausführen können, verkniff es sich aber.
»Das hier könntest du auch noch öffnen«, warf ihre Mutter ein und reichte Carolin eine schmale, längliche Schachtel.
Carolin entfernte das Papier und fand darin eine mit Samt bedeckte Schatulle. Fragend schaute sie ihre Eltern an. Die bedeuteten ihr, doch hineinzuschauen.
Als sie den Deckel vorsichtig aufklappte, fand sie ein zierliches silbernes Armband mit kleinen Anhängern: ein Mädchen, ein kleiner Hund, ein Zauberstab, ein spitzer Hut, Musiknoten, ein Schloss – und ein Herz mit der Aufschrift There’s no place like home. »Ein Charm Bracelet!«
»Gefällt es dir?«, wollte ihre Mutter wissen.
»Ich war nicht sicher, ob du mit 16 vielleicht zu erwachsen für solchen Schmuck bist …«, setzte ihr Vater hinzu.
»Danke! Das ist super – und total in. Annika und ich hatten schon überlegt, ob wir uns passende Anhänger für eine Kette holen sollten – im Partnerlook.« Carolin umarmte erst ihre Mutter, dann ihren Vater. Als ihr Blick danach zur Uhr wanderte, unterdrückte sie allerdings einen Fluch. »Wir müssen gleich los!«
»Mit dem Auto sind es kaum sieben Minuten bis zu deiner Schule, das schaffen wir«, beruhigte ihre Mutter sie.
»Schon, aber ich bin ja noch nicht fertig.« Carolin sprintete die Treppe hinauf, huschte kurz ins Bad, zog sich dann in Rekordzeit an und stopfte die letzten Schulsachen in ihren Rucksack. Wenige Minuten später saß sie neben ihrer Mutter im Auto.
Den ganzen Schultag über wartete Carolin darauf, dass er wieder vorbei war. Es wäre so viel entspannter, wenn ihre Eltern sie krank gemeldet hätten … Dann hätte sie zu Hause bleiben und den Tag tatsächlich genießen können. Allerdings würden ihre Eltern so etwas niemals tun und wahrscheinlich wäre es auch etwas auffällig, wenn sie ausgerechnet an ihrem Geburtstag fehlte.
Also zählte sie die Stunden bis zum Schulschluss und freute sich zusammen mit den anderen aus ihrer Klasse, als sie erfuhren, dass sie früher frei bekamen – Französisch fiel aus. Na, wenn das mal kein Geburtstagsgeschenk war! Beschwingten Schrittes verließ Carolin das Schulgelände nach der vierten Stunde und wandte sich zur Bahn.
Während sie auf die Linie 9 Richtung Sülz wartete, schaltete sie ihr Handy ein und las die SMS, die in der Zwischenzeit eingetrudelt waren: Annika, die ihr zum Geburtstag gratulierte und fragte, wann sie am Freitag vorbeikommen konnte, und über was für ein Geschenk Carolin sich freuen würde. Padma, Tim und einige andere aus dem Chor wünschten ihr ebenfalls alles Gute – und ›Häppi Börsdei‹. Mit einem Lächeln auf den Lippen stieg Carolin schließlich in die Bahn und wenige Stationen später, an der Endstation Hermeskeiler Platz, wieder aus.
Als sie den Rest des Heimwegs zu Fuß antrat, kam die Sonne hinter den Wolken hervor und Carolin erspähte Schneeglöckchen und Krokusse in einigen der Vorgärten, die sie passierte. Das verbesserte ihre Laune gleich noch mehr. Sie lief die Hochwaldstraße entlang und bog schließlich in die Morbacher Straße ein. Vor dem Haus ihrer Eltern kramte sie den Schlüssel aus ihrem Rucksack, schloss auf und ging nach drinnen.
»Ich bin wieder da – die letzten Stunden sind ausgefallen!«, rief sie, hörte jedoch keine Antwort.
Mit einem Achselzucken streifte sie ihre Jacke ab und zog die Schuhe aus. Ihre Mutter hatte wahrscheinlich noch eine Lehrveranstaltung an der Uni. Carolin sah auf ihre Armbanduhr: 12 Uhr. Ja, wenn sie jetzt nicht hier war, würde es sicherlich noch anderthalb Stunden dauern, bis sie frei hatte und heimkam. Ähnliches galt für ihren Vater. Denn selbst wenn dieser nur den halben Tag arbeitete, war er sicherlich von Carolins normalem Stundenplan ausgegangen. Also hatte sie das Haus für sich allein – das war auch mal was!
Sie drehte eine Pirouette auf ihren Socken und ging dann in die Küche. Darauf einen Geburtstagskakao!
Doch sie hatte die Sojamilch noch nicht aus dem Kühlschrank geholt und das Pulver nicht aus dem Schrank, als es klingelte. Carolin runzelte die Stirn. Ob das der Briefträger mit Geburtstagskarten war? Oder der Paketbote?
Sie eilte zur Haustür und öffnete.