Träume voller Schatten - Christina Löw - E-Book
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Träume voller Schatten E-Book

Christina Löw

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Beschreibung

Ein hübscher Jüngling. Ein hässlicher Zwerg. Ein dunkles Geheimnis. Patrick fiebert der ersten Auswahlrunde von "Germany’s Next Topmodel Men" und seiner Chance auf eine Model-Karriere entgegen. Doch als er dort auf den Mann trifft, der ihm die Schulzeit zur Hölle gemacht hat, reißen alte Wunden auf. Die Monster seiner Vergangenheit kehren zurück und Patrick stürzt haltlos in einen ausgewachsenen Albtraum. Kann er diesem wieder entfliehen oder ist er zu weit in seiner Erinnerung versunken? Zwerg Nase einmal anders. In "Träume voller Schatten" spinnt Christina Löw märchenhafte Elemente von Wilhelm Hauff zu einer modernen Fabel über die Abgründe von sexuellem Missbrauch, die Kraft der Freundschaft und den Mut zur Selbstbestimmtheit. (Die Printausgabe umfasst 294 Buchseiten.)

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Danksagung

Über die Autorin

Bisherige Bücher der Märchenspinnerei

 

 

Träume voller Schatten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2018 Christina Löw

Christina Löw

Von-Bodelschwingh-Str. 13

51061 Köln

1. Auflage Mai 2018

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder

teilweisen Nachdrucks, Kopie und Verbreitung jeglicher Form sind vorbehalten.

Coverdesign: Kirsten Piepenbring

Scherenschnitt: Janna Ruth

Lektorat: Janine Kandelbinder & Katherina Ushachov

Korrektorat: Janine Kandelbinder

ISBN-13: 978-3961114429 (Print)

ISBN: 978-3-7394-1654-0 (epub)

ASIN: B07CP87Z6S (mobi)

 

 

 

Träume voller Schatten

 

 

 

 

 

von

Christina Löw

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

frei nach einem Märchen von Wilhelm Hauff

 

 

 

 

Für alle Menschen, die diese Geschichte berührt.

 

 

Kapitel 1

Langsam und sorgfältig zog Patrick sich vor dem großen Standspiegel an. Dabei musterte er jeden Zentimeter seines Körpers. Es musste perfekt sein – er musste perfekt aussehen. Schließlich war das nicht irgendeine Party, sondern »die« Party. Und die einzige After-Show-Party der Berlin Fashion Week, für die er eine Karte bekommen hatte.

Bevor er in sein Hemd schlüpfte, beobachtete er das Spiel seiner Muskeln. Sein Sixpack konnte sich schon sehen lassen, doch er war mit seinen Brustmuskeln nicht zufrieden. Da ging mehr. Er pumpte den Brustkorb auf und warf sich in Pose. Dann verglich er sein Spiegelbild mit dem Poster daneben an der Wand. An Sean O'Pry reichte er längst nicht heran, aber er war zumindest auf einem guten Weg.

Damit seine Muskeln auch nachher gut sichtbar waren und niemand übersehen konnte, dass sein Körper wohl definiert war, legte Patrick noch ein paar Klimmzüge ein. Jedoch so, dass er nicht in Schweiß ausbrach. Er hatte keine Zeit, um noch einmal zu duschen.

Als er zufrieden war, trug er ein paar Spritzer Spicebomb auf seine Schlüsselbeine auf und tupfte etwas von dem Parfüm hinter seine Ohren. Dann zog er sich weiter an, bis nur noch Krawatte und Sakko fehlten - und natürlich das Styling seiner Frisur.

Im Bad beäugte er sein Gesicht ganz genau im Spiegel über seinem Waschbecken, aber vor allem auch im Kosmetikspiegel daneben. War jedes Barthaar in Form gestutzt? Hatte er alle Augenbrauenhaare von seiner Nasenwurzel gezupft? Und was war mit den Nasenhaaren? Er seufzte. Es wäre viel einfacher, wenn diese ganzen Haare nicht immer wieder nachwachsen würden. Es würde so viel Zeit und Geld sparen.

Nicht, dass er so viel ausgab, wie er gerne würde. Doch das, was er wirklich wollte – einen persönlichen Stylisten –, konnte er sich nicht leisten. So musste er mit einem wöchentlichen Besuch beim Barber-Shop auskommen und sich jeden Tag selbst um die allgemeine Pflege kümmern. Bartshampoo war dabei ein Muss und besonders vor dem Ausgehen brachte er seinen Bart nach dem Bürsten gern mit etwas Bartöl zum Glänzen.

Er wusch sein Gesicht mit einem klärenden Tonikum, um auch die letzten Unreinheiten zu vertreiben, und trug anschließend eine mattierende Tagescreme auf. Glänzend sollte sein Auftritt zwar schon sein, aber nicht seine T-Zone. Jetzt fehlte nur noch ein bisschen Augen-Roll-On gepaart mit ein paar Tupfern Concealer gegen die Augenringe der letzten durchtanzten Nächte.

Erst als er alle fraglichen Stellen erneut überprüft und sich davon überzeugt hatte, dass es so perfekt war, wie es eben ging, wandte er sich zum Abschluss den Haaren zu. Er zog mit dem Kamm zwei seitliche Scheitel und stylte das dazwischenliegende Haar mit den Fingern und einer guten Portion Haargel erst zur Mitte und dann nach vorne. Der klassische Beckham – laut Gentlemen's Quarterly immer noch der Frauenschwarm unter den Kurzhaarfrisuren.

Zufrieden musterte Patrick sich erneut im größeren Spiegel und machte seinem Abbild schöne Augen. Wenn er es richtig anstellte und auch nur ein bisschen Glück hatte, konnte er heute Abend sicherlich ein Mädel klarmachen, vielleicht sogar ein Model. Oder er könnte selbst einem der Agenten, die immer auf solchen Partys unterwegs waren, positiv auffallen.

Bevor er die Wohnung verließ, band er die Krawatte zu einem einfachen Windsor, schlüpfte in das Sakko und zog sich die passenden Schuhe an. Nach einem letzten Blick in einen der Flurspiegel zog er die Tür hinter sich zu.

Als der Aufzug auf dem Weg nach unten in der zweiten Etage anhielt, hatte Patrick schon ein ungutes Gefühl. Und wirklich: Als sich die Türen öffneten, stand seine Nachbarin Melissa vor ihm und strahlte ihn an.

»Hallo Nachbar, du siehst aber schick aus heute«, sagte sie und stellte sich neben ihn, näher als es in der Fahrstuhlkabine nötig gewesen wäre.

Patrick seufzte leise und unterdrückte ein genervtes Schnauben. Er nickte nur kurz und tat dann so, als müsste er dringend eine Nachricht auf seinem Smartphone beantworten. Sie ließ ihn einfach nicht in Ruhe, egal, wie oft er sie ignorierte. Er wollte den Kontakt mit ihr nicht vertiefen, weder als Nachbarn noch in irgendeiner anderen Hinsicht. Dazu war sie einfach zu unscheinbar. Anders ließ sie sich nicht beschreiben.

Sie war ihm schon auf die Nerven gegangen, als sie kurz nach seinem Einzug an seine Tür geklopft hatte, um ihn im Haus willkommen zu heißen und sich ihm vorzustellen. Er hatte sie abgewimmelt, so schnell es irgendwie ging. Ohnehin hatte er ihr nur aufgemacht, weil er dachte, seine Bestellung mit Pflegeprodukten wäre überraschend schnell angekommen. Und dann stand sie vor ihm. Ein Mauerblümchen. Ein Mäuschen. Eine Person, der er in seinem Alltag nicht einmal einen Blick schenkte.

Und genau so hatte er es fortan gehalten. Er hatte sie ignoriert, so gut das eben möglich war, wenn man im selben Haus lebte und sie es oft genug abzupassen schien, wann er die Wohnung verließ oder heimkam. Es war so erbärmlich, dass man es nicht einmal als Stalking bezeichnen konnte.

Als sie nun zwar viel zu nah, aber immerhin schweigend neben ihm stand, kehrten seine Gedanken zur Party zurück. Da die metallenen Wände des Aufzugs zu matt waren, um sich darin zu spiegeln, nutzte er die Kamerafunktion seines Handys, um noch einmal sein Abbild zu betrachten.

Mit seinen wohlgeformten Zügen vor Augen kehrte auch seine Ruhe zurück. Die würde er nachher brauchen. Schließlich durfte er sich nicht als Anfänger entlarven lassen, sondern musste so wirken, als würde er sich tagtäglich mit Models, Agenten, Designern und anderen wichtigen Leuten aus der Modebranche umgeben.

Patrick merkte, wie ihm warm wurde, und prüfte schnell seinen Puls. Dann sog er betont langsam die Luft durch die Nase ein und pustete sie durch den Mund wieder aus. Das wiederholte er weitere neun Mal, bis seine Atmung sich normalisiert hatte. Dass Melissa ihn dabei beobachtete, versuchte er gekonnt zu ignorieren.

Er seufzte erleichtert, als ihre Wege sich endlich an der Haustür trennten.

Den restlichen Weg zum Club, in dem die Party stattfand, legte er ohne Zwischenfälle zurück. Klar, er kam nicht mit einer Limo an, wie das die wichtigen Leute taten, sondern fuhr stattdessen mit der Bahn und lief die letzten Meter zu Fuß, aber trotzdem hatte er ein Ticket und damit eine Eintrittsberechtigung. Das konnten auch nicht alle von sich sagen.

Er schlängelte sich an der langen Reihe der Wartenden vorbei, die versuchten, ohne Ticket irgendwie – koste es, was es wolle – hinein zu kommen, und wurde gleich darauf vom Türsteher hereingelassen. Ausgestattet mit einem Bändchen und einem Bon für ein Freigetränk schlenderte Patrick betont lässig den Gang entlang auf den Hauptsaal zu.

Bevor er über die Schwelle trat, überprüfte er sein Aussehen in den verspiegelten Wänden des Flurs, strich eine Haarsträhne in Form und wischte eine unsichtbare Fluse von seinem Sakko. Er lächelte seinem Abbild zu, ein kleines bisschen Zähne zeigen, aber bloß nicht zu viel, und straffte die Schultern. Dann ging er erhobenen Hauptes weiter. See and be seen – das war sein Motto des Abends.

Während er mit sicheren Schritten die Bar an der rechten Wand des Saals ansteuerte, verschaffte er sich aus den Augenwinkeln einen Überblick. Bloß nicht so wirken, als würde ihn das alles beeindrucken. Dazugehören, oder zumindest so tun als ob.

Mit einem Glas Sekt in der Hand lehnte er sich kurz darauf mit dem Rücken an die Seite der Bar, aber nicht so, als wollte er hierbleiben und sich direkt als einsames Mauerblümchen auf dem Ball der Schönen und Reichen abstempeln, sondern als suchte er jemand Bestimmtes in der Menge. Mit Mühe kämpfte er gegen den Drang an, mit offenem Mund und großen Augen seine Umgebung anzustarren. Ganz ruhig, flüsterte er sich selbst zu. Du kannst das. Lass einfach dein Aussehen für dich sprechen. Mehr brauchst du nicht.

Mit möglichst unbeteiligter, fast schon gelangweilt wirkender Miene – wie tagelang vor den heimischen Spiegeln geübt – saugte Patrick alles in sich auf.

Die riesigen Kronleuchter, die von der Decke baumelten und aussahen, als wären sie aus funkelnden Diamanten gemacht. Die Kaviar-Bar, an der es neben verschiedenen Sorten der kleinen Kügelchen auch Champagner und Austern gab. Die Tabletts mit kunstvoll dekorierten Drinks, die von elegant und doch sexy gekleideten Kellnerinnen und Kellnern, die allesamt Models sein konnten, durch die Menge getragen wurden. Die gutaussehenden Menschen in lässiger Abendgarderobe, die sich um die Stehtische versammelt hatten. Und natürlich der Laufsteg. Keine After-Show-Party der Berlin Fashion Week, die etwas auf sich hielt, kam ohne einen Catwalk aus – und wenn dieser einfach nur dekorativ war.

Für Patrick war er so viel mehr. Für ihn repräsentierte er einen Traum, den er schon seit so langer Zeit hegte. Endlich entdeckt zu werden und über einen Laufsteg zu schreiten, aber natürlich nicht über irgendeinen. Dass er durch das Casting von Germany's Next Topmodel Men gekommen und zur morgigen ersten Auswahlrunde eingeladen worden war, zeigte ihm schließlich, dass er auf dem richtigen Weg war.

Auf die Amateur-Varianten, die es gefühlt bei jedem Stadtfest gab, hatte er keine Lust. Das war etwas für diejenigen, die kein Potential hatten, für diejenigen, die dachten, sie könnten auch mit den Fotos, die Papa oder Mama von ihnen im Garten schossen, groß rauskommen.

Er schnaubte und hoffte, dass niemand diesen Ausrutscher seiner ansonsten makellosen Mimik bemerkt hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete er die Menschen in seiner direkten Nähe. Der Barkeeper polierte weiter die Gläser. Die Hostess flirtete mit einem älteren Herrn, der, seinem Anzug nach zu urteilen, mindestens so reich wie umfangreich sein musste. Und auch sonst schienen alle anderen mit sich selbst beschäftigt zu sein.

Patrick atmete auf und vertiefte sich wieder in seinen Traum. Er brauchte gar nicht die Augen zu schließen, um sich vorzustellen, wie er den Laufsteg entlangschritt.

Wie er am Ende verharrte, für die Kameras posierte und mit gesetzten und bloß nicht zu schnellen Schritten, passend zum Rhythmus der Musik, wieder zurückging. Auch wenn es in der Realität nur wenige Momente sein würden, vor seinem inneren Auge genoss er jeden einzelnen davon.

Er spürte das Licht der Scheinwerfer, doch es blendete ihn nicht. Er fühlte, wie die Menge ihn mit ihren Blicken auszog – um die Klamotten oder seinen Körper zu bekommen. Er hörte das Klicken der Kameraauslöser und das Seufzen der Zuschauer aus den ersten Reihen. Und er schmeckte den Triumph, es geschafft zu haben.

Ein Hüsteln riss ihn aus seinem Tagtraum. Patrick spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss, und versuchte sogleich – ganz unauffällig, versteht sich –, mit seinem Sektglas sein Handgelenk zu kühlen. Stumm schalt er sich selbst, dass seine Gedanken abgedriftet waren. So sehr, dass er nicht gemerkt hatte, wie sich ihm jemand näherte. Und nicht nur irgendjemand.

Diese Frau sah gleichermaßen attraktiv wie erfolgreich aus – und das war sie auch. Annabelle von Gelding, bekanntes deutsches Model und seit Kurzem Besitzerin eines jungen, hippen Labels.

Sie stand vor ihm, als wäre sie direkt seinem Tagtraum entstiegen, und wollte offensichtlich sogar mit ihm sprechen. Doch er konnte sie bloß anstarren, als wäre er ein unbeholfener Teenager mitten im Hormonschub.

Patrick schluckte. »Ich … ähm …«

Wie erklärt man einem Supermodel, dass man sie nicht gesehen hat, weil man in seiner Vorstellung selbst über den Laufsteg geschritten ist? Und das am besten, ohne sich noch lächerlicher zu machen?

Er blinzelte und versuchte es erneut. Schlimmer konnte es jetzt ohnehin nicht mehr kommen.

Doch bevor er sich eine Ausrede zusammenstammeln konnte, befreite Annabelle von Gelding ihn aus seiner misslichen Lage. Sie lächelte. Freundlich. Echt.

»Soll ich dich lieber mit dir selbst alleine lassen?«, fragte sie mit einem Augenzwinkern, das Patricks Herz ein paar Takte schneller pochen ließ.

Zugleich half ihm ihre ungezwungene Art, sich aus seiner überraschten Starre zu reißen und sie ebenfalls anzulächeln.

»Nein, natürlich nicht«, brachte er endlich heraus. Er trank schnell einen Schluck Sekt, um auch den Rest seiner vorrübergehenden Schüchternheit herunterzuspülen, und straffte sich. »Ich freue mich sehr, Sie persönlich kennenzulernen. Ich hätte nur nicht erwartet, dass ein Star wie Sie …«, er nutzte seine Grübchen gekonnt aus, um seinen Charme anzuheizen, und bedachte sie mit einem wohltrainierten Augenaufschlag, »sich ausgerechnet mich als Gesprächspartner aussuchen würden.«

Er war selbst ein bisschen irritiert über seine Ehrlichkeit, die so gar nicht zu seinem Plan, sich bestmöglich auf der Party zu präsentieren, passen wollte. Da war etwas an diesem Supermodel, das ihn entwaffnete, sie wirkte zu natürlich, um ihr etwas vorzumachen. So sehr er sich auch mimisch anstrengte, sein Mund schien sich bei ihrer Unverfälschtheit angesteckt zu haben.

»Na, das ist doch mal eine ungewöhnliche Antwort.« Annabelle von Gelding wirkte überrascht, auch sie schien eine andere Reaktion erwartet zu haben.

Nach diesem holprigen Start unterhielten sie sich eine ganze Weile angeregt. Patrick vergaß völlig, dass er das Supermodel fragen wollte, warum sie ausgerechnet ihn angesprochen hatte – und nicht jemanden, der einflussreicher, erfolgreicher oder einfach reicher aussah. Oder auch jemanden, der sich mit überschäumendem Interesse an sie gewandt hatte.

Stattdessen bezwang er seine erste Scheu und fragte sie über das Model-Business aus. Ihre Antworten wirkten unvermutet ehrlich, sie sprach offen über ihre eigenen Rückschläge und die negativen Erfahrungen, die sie vor allem zu Beginn ihrer Karriere gemacht hatte. Gleichzeitig ermutigte sie ihn auch.

»Wenn es dein Traum ist, musst du ihn verfolgen«, sagte sie. »Du musst dich richtig reinknien und dich bemühen, dein Ziel zu erreichen, sonst kannst du es schließlich gar nicht schaffen.«

»Schon. Aber was ist, wenn ich es eben nicht schaffe?« Ganz leise kam ihm das über die Lippen. Er war nicht sicher, ob sie es überhaupt verstehen konnte – ob er wollte, dass sie es verstand.

Patrick schluckte. Dabei hoffte er, dass sie den Kloß, der sich plötzlich in seinem Hals gebildet hatte, nicht bemerken würde. Denn auch wenn er es selbst gern vergessen wollte, so selbstsicher, wie er sich der Welt präsentierte, fühlte er sich nicht immer. Was hatte er abgesehen von seinem Körper schon zu bieten?

Ein glockenhelles Lachen riss ihn aus seinen düsteren Überlegungen.

Patrick unterdrückte den Impuls, irritiert die Stirn zu runzeln – Falten zeigten zwar Charakter, hatte er in der GQ gelesen, aber nicht in seinem Alter. Stattdessen schaute er Annabelle von Gelding fragend an.

»Du hast das ernst gemeint?« Sie hob eine elegant geschwungene Augenbraue und Patrick beeilte sich, den Kopf zu schütteln.

Diese Party war nicht der richtige Ort für solche Zweifel – und vielleicht hatte er ihre Freundlichkeit langsam überstrapaziert. Er setzte wieder sein charmantes Lächeln auf, nippte an seinem Sekt und wechselte das Thema.

Nach dem Gespräch mit Annabelle – sie hatte ihm schließlich das Du angeboten – nahm Patrick den Rest des Abends wie im Rausch wahr. Dass er, ein Nobody, mit einem Supermodel gesprochen hatte, weckte offenbar das Interesse der anderen Gäste. Irgendetwas muss doch an ihm dran sein, schienen sie zu denken und fortan musste er sich nicht mehr darum sorgen, allein in einer Ecke zu stehen.

So lernte er eine Reihe Leute kennen, die etwas im Business zu sagen hatten – und sammelte fleißig Visitenkarten ein. Netzwerken war nie verkehrt und auch wenn er bei den meisten Kontakten noch keine Ahnung hatte, ob und wenn ja, wann er sie nutzen würde, schadete es nicht, sie zu haben.

Er ärgerte sich nur, dass seine eigenen Karten im Vergleich mit den anderen nicht mithalten konnten: Die Papierqualität hätte besser sein können, das Design sowieso und er hatte natürlich keine Agentur, deren Namen er aufdrucken konnte. Wenn er all das gehabt hätte, würde er sich überzeugender verkaufen und müsste sich neben all diesen Menschen, die wirklich wichtig waren oder zumindest überzeugend so tun konnten, nicht so unbedeutend fühlen.

Doch das behielt er natürlich für sich, lächelte weiter, machte Smalltalk und hatte im Großen und Ganzen eine gute Zeit. Erst als er langsam vom Lächeln Muskelkater im Gesicht bekam und keine Ahnung mehr hatte, wie viele Sektgläser er ausgenippt hatte, dachte er darüber nach, wie er wieder nach Hause kommen sollte. Ein Blick auf das Display seines Smartphones bestätigte ihm, dass er die U-Bahn vergessen konnte – aber zum Glück fuhren in der Nähe auch Nachtbusse und die Metrotram.

Als er die Haustür aufschloss und in den Flur wankte, war der Nachthimmel zwar noch dunkel, aber er fürchtete, dass das nicht mehr lange so bleiben würde. Patrick gähnte, schleppte sich zum Aufzug und auf der dritten Etage zu seiner Wohnung. Als er die Tür hinter sich zudrückte, pochte sein Kopf, seine Sicht war leicht verschwommen und sein Magen grummelte.

Trotzdem schaffte er es unfallfrei bis ins Bad, wo er eine Kopfschmerztablette einwarf und mit etwas Mundwasser gurgelte. Das musste reichen. Auf dem Weg zum Schlafzimmer streifte er seine Kleidung ab und zog eine Spur aus Klamotten hinter sich her. In seinen Giorgio-Armani-Boxershorts, die er im Schlussverkauf ergattert hatte, sank er mit einem Ächzen auf die Bettkante, zog sich die Socken aus, steckte das Smartphone in die Ladestation und fiel ins Bett.

Er stand vor einem kleinen baufälligen Haus, das aussah, als könnte es jeden Moment in sich zusammenfallen. Es wirkte leer und verlassen, als wäre schon ewig keine Menschenseele mehr in der Nähe gewesen. Und doch … ein leises Quietschen ließ ihn irritiert innehalten. Ein Knarren folgte und tatsächlich öffnete sich vor ihm eine Tür, die er zuvor für ein Stück verwitterte Wand gehalten hatte. Neugierig trat er näher und blickte durch den schmalen Spalt, der sich aufgetan hatte.

Er traute seinen Augen kaum. Das Innere hatte rein gar nichts mit dem Äußeren gemein. Er konnte kaum glauben, dass das eine mit dem anderen zusammengehörte. Vorsichtig zwängte er sich durch den Türspalt und nahm die Pracht, die sich ihm präsentierte, in sich auf.

Schon die Eingangshalle war so riesig, dass sie eigentlich gar nicht in das Häuschen passen durfte. Wände und Decke bestanden aus Marmor, ebenso wie die Säulen, die Durchgänge zu mehreren Korridoren einfassten. Kommoden und Beistelltische aus dunklem Holz säumten die Wände, darauf standen teuer aussehende Vasen mit üppigen Blumenarrangements. Gemälde, deren Rahmen vergoldet und mit funkelnden Steinen besetzt waren, bedeckten die restlichen Wandflächen. Der Boden jedoch war aus Glas und so glatt, dass Patrick schon auf den ersten Schritten ins Rutschen geriet und sich nur mühsam an einem Tisch festhalten konnte.

Dennoch tastete er sich weiter vorwärts. Seine Neugier zog ihn ganz ins Innere. Dass die Tür hinter ihm zufiel, bemerkte er nicht mehr. Zu sehr war er in die Erkundung dieses extravaganten Hauses vertieft.

Doch schon an der übernächsten Gabelung des Gangs, den er gewählt hatte, geriet er erneut ins Straucheln und setzte sich diesmal wirklich auf den Hosenboden. Vor ihm stand ein Meerschweinchen. Ein Meerschweinchen auf zwei Beinen wohlgemerkt, mit Nussschalen statt Schuhen an den Pfoten. Es ging wie ein Mensch und es war auch genauso angezogen: Hose und Hemd und darüber eine Weste und wenn seine Augen ihn nicht täuschten, hatte es sogar eine kleine Fliege um den Hals gebunden. Auf dem Kopf trug es einen winzigen Zylinder.

Kapitel 2

Das schrille Klingeln der Weckfunktion seines Handys riss Patrick aus dem Schlaf. Im ersten Moment saß er senkrecht im Bett, im nächsten sank er wieder in die Kissen und hielt sich den Kopf. Es fühlte sich an, als würde sein Hirn im Inneren seines Schädels Karussell fahren, oder, noch schlimmer, Autoscooter. Er kniff die Lider zu, um das grelle Licht des Tages auszusperren, das Stroboskopblitzen gleich direkt durch seine Netzhaut zu zucken schien.

Wenigstens noch zehn Minuten! Die Snooze-Funktion und er waren alte Bekannte, und an diesem Morgen brauchte er sie dringend. Patrick zog die Decke über den Kopf und döste wieder ein. Vielleicht war es gleich besser, vielleicht fühlte er sich in zehn Minuten fitter.

Es vergingen erst zehn, dann zwanzig und schließlich dreißig Minuten. Er wusste, dass er dringend aufstehen musste, dass er nicht zu spät kommen sollte – nicht schon wieder. Doch er konnte sich einfach nicht aufraffen. Anstatt mit der Zeit wacher zu werden, fühlte er sich immer matter. Sein Kopf dröhnte und jedes Mal, wenn er die Lider auch nur einen Spalt öffnete, tanzten helle, stechende Punkte vor seinen Augen. Wie Glühwürmchen, aber böse.

Schließlich tauchte das Meerschweinchen aus seinem Traum nach jedem neuen Snooze Grimassen ziehend auf seiner inneren Mattscheibe auf. Das erschien ihm irgendwann so gruselig, dass er eine Gänsehaut bekam und sich aufraffte. Was genau hatte es eigentlich mit diesem Meerschweinchen auf sich? Mit dem Haus, das sich in einer Hütte versteckte? Patrick schüttelte den Kopf, um die eigenartigen Bilder zu vertreiben, und bereute es im selben Moment. Keine plötzlichen Bewegungen, bloß keine weiteren Schmerzen provozieren.

Langsam hievte er die Beine über die Bettkante und verharrte einen Augenblick, um Kraft zum Aufstehen zu sammeln. Wie in Zeitlupe stemmte er sich schließlich hoch und schlurfte ins Bad.

Als er eine Dreiviertelstunde später die Wohnungstür hinter sich schloss, wusste er selbst nicht so recht, wie er das geschafft hatte. Wacher war er kein bisschen, es ging ihm auch nicht besser. Doch er konnte sich nicht schon wieder krankmelden. Außerdem müsste er sich dann zum Arzt schleppen und die ganzen leidenden Menschen dort ertragen. Das wäre mindestens ebenso grausam, wie zur Arbeit zu kriechen. Irgendwie würde er schon ankommen und auch die nächsten Stunden überstehen. Zum Glück musste er ja nicht wie die Festangestellten bis zum frühen Abend dortbleiben.

Immerhin ein Gedanke munterte ihn ein bisschen auf: Heute Nachmittag war die erste Auswahlrunde von Germany's Next Topmodel Men – endlich! Allerdings wurde ihm direkt danach bewusst, dass es somit umso wichtiger war, wieder fit zu werden. Dass er sich zusammenreißen musste, um nicht nur den Tag zu überstehen, sondern bei der Auswahl zu glänzen. Schließlich war das endlich die Chance, auf die er so lange gewartet hatte!

Bei dem Gedanken umspielte ein Lächeln seine Lippen. Er würde bei der ersten Staffel von Germany's Next Topmodel Men dabei sein! Allerdings nur, wenn er diese Runde überstand. Und das war bei seinem aktuellen Zustand ein großes Wenn.

Der Aufzug wollte einfach nicht kommen. Wahrscheinlich hatte die alte Frau Becker aus dem fünften Stock wieder etwas in den Türen stehen gelassen und es dann vergessen. Deshalb wandte er sich zum Treppenhaus. Stufen, viel zu viele Stufen. Jeden Schritt spürte er direkt in seinem Kopf, als würde jemand ein Drumkit testen, ein Schlag pro Stufe, direkt in seinem Hirn.

Als er den Absatz zur zweiten Etage erreichte, ließ er sich auf den Steinboden sinken. Den Kopf vergrub er für einen Moment in den Händen. Atmen, durchatmen, Luft. Er war nicht wirklich außer Atem, aber er fühlte sich schwach und ihm war leicht schwindelig, als käme nicht genug Sauerstoff in seinem Gehirn an.

Als es ihm ein, zwei Minuten später wieder besser ging, stemmte er sich hoch und überwand die nächsten zwei Stockwerke. Er wähnte sich fast am Ziel, hatte die Haustür beinahe erreicht, als diese sich öffnete und ihm entgegenschwang.

Anstatt sie mit Leichtigkeit aufzuhalten, wie er es normal getan hätte, sah er zu, wie die Tür gegen die Wand knallte, direkt danach zurückschwang und wieder zuzufallen drohte. Erst im letzten Moment schob sich ein knallroter Sneaker in den sich schließenden Spalt. Im nächsten Augenblick stapften Jeansbeine mit zwei riesigen Einkaufstüten darüber in den Hausflur. Auch wenn er von der Person ansonsten nur den Stirnansatz sehen konnte, wusste Patrick genau, wen er vor sich hatte: Melissa.

»Pass doch auf, wo du hingehst«, sagte er, als sie sich an ihm vorbeidrückte und die Tür hinter sich zufallen ließ.

Sie wandte sich ihm zu und lugte zwischen den Taschen hindurch. »Oh, entschuldige. Ich habe dich nicht gesehen.« Sie errötete.

Patrick strich sich eine nicht vorhandene Strähne aus der Stirn. »Hier leben auch andere Menschen, weißt du.«

»Ich … ähm, ja. Es tut mir leid.«

Er schaute sie einen Moment stumm an, dann hob er das Kinn gerade so viel, dass es auffiel, und marschierte zur Tür. Ohne ein weiteres Wort zog er sie auf und ging nach draußen. Melissas Blick spürte er in seinem Rücken, bis die Haustür ins Schloss fiel.

Dann gab er sich betont lässig und schlenderte bis zur nächsten Ecke – nur für den Fall, dass sie seinen Abgang durch den Glaseinsatz der Tür oder ein Fenster beobachtete. Erst danach verfiel er in einen leichten Laufschritt. Zum Glück war der Weg bis zur nächsten Bushaltestelle nicht weit, sonst hätte er das Tempo sicherlich nicht durchgehalten – nicht mit seinen erneut dröhnenden Kopfschmerzen.

Nach der kurzen Busfahrt eilte Patrick über den Parkplatz auf den Eingang zu, huschte durch die sich vor ihm öffnenden automatischen Schiebetüren und lief schnell zur Umkleide. Dort schloss er seine Sachen in seinem Spind ein und streifte das unförmige No-Name-Shirt mit dem Supermarkt-Logo über. Dann suchte er nach Tanja, der Team-Leiterin der heutigen Morgenschicht. Schon als er in den richtigen Gang bog, fühlte er ihren durchdringenden Blick auf sich.

Er fragte sich immer wieder, wie es bloß kam, dass sie zu spüren schien, wenn er sich ihr näherte und etwas »ausgefressen« hatte, wie sie es nannte. Darunter fiel für sie natürlich das Zuspätkommen. Es waren aber auch – nach Patricks Meinung – ganz normale Fragen, die sie die Augen verdrehen und die Stirn runzeln ließen.

Was sie nur immer mit ihm hatte! Es war, als hätte sie ihn ganz besonders auf dem Kieker.

Sie rief in ihm Erinnerungen an ein Alter wach, das er gerne begraben hätte. Damals hatte er sich hilflos gefühlt, nutzlos und vor allem, als wäre er nichts wert. Und als wäre alles seine Schuld. Er schüttelte kurz den Kopf, um besonders den letzten Gedanken zu verdrängen.

Tanja lief betont langsam auf ihn zu und blieb in einer Entfernung stehen, in der sie noch nicht allzu sehr zu ihm aufsehen musste.

Patrick grinste und trat einen weiteren Schritt auf sie zu, sodass sie den Kopf zumindest etwas in den Nacken legen musste.

Tanja machte einen unsicheren Schritt zurück – nur um gleich darauf betont entschieden die Hände in die Seiten zu stemmen. »Na, haben wir es auch endlich zur Arbeit geschafft, Pretty Boy?«

Mühsam unterdrückte Patrick den Impuls, das Gesicht zu verziehen. Er hasste den Spitznamen, den sie ihm verpasst hatte. Dieser hob zwar sein gutes Aussehen hervor, nahm ihn aber ganz eindeutig nicht ernst – und das nagte an seinem Ego. Er zwang sich zu einem stummen Lächeln. Eine Erwiderung verkniff er sich, eine Antwort wollte Tanja auf ihre Fragen ohnehin selten. Ihr war wichtig, dass man tat, was sie verlangte, und ansonsten ihre Autorität nicht infrage stellte.

»Du weißt schon, wie man eine Uhr liest, oder?«, fragte sie mit übertrieben gespitztem Mund und in einem Tonfall, mit dem Eltern ihre Kinder ansprechen, wenn diese etwas Dummes tun oder sagen.

Ihre Stimme jagte Patrick einen Schauer über den Rücken. Schnell kämpfte er das Gefühl der Beklemmung herunter und glättete seine Gesichtszüge. Sollte Tanja doch sagen, was sie wollte! Von ihr würde er sich nicht einschüchtern lassen.

Er tat, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört, und fragte lediglich: »Um welche Regale soll ich mich kümmern?« Betont gelangweilt verschränkte er die Arme vor der Brust und tappte mit dem Fuß auf den Boden, als wären die Rollen vertauscht und Tanja diejenige, die sich ihm gegenüber verantworten müsste.

Sie schaute ihn streng an und seufzte dann. »Du kannst Hamed bei den Getränkeregalen helfen.«

Patrick verharrte einen Moment, wartete ab, ob sie mehr sagen wollte, doch sie scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg. »Los, an die Arbeit! Worauf wartest du? Auf eine Einladung?«

Er drehte sich stumm um und ging, so schnell es ihm möglich war und ohne dass es wirkte, als würde er vor ihr fliehen, in die Getränkeabteilung hinüber.

Hamed grinste ihn an, als er schnell um die Regalecke bog und sich noch einmal prüfend umsah. »Hat sie dich wieder auf dem Kieker?«

Patrick nickte, verzog das Gesicht und schaute bedeutungsvoll auf sein Handgelenk, auch wenn da gar keine Uhr zu finden war.

Hamed verstand trotzdem. »Was kommst du auch immer zu spät, Mann?«

Patrick zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Es passiert einfach.«

Hamed runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts mehr. Stattdessen wuchtete er einen Kasten mit Berliner Pilsner auf den schon bestehenden Stapel vor sich, kehrte dann zur Palette zurück und wiederholte die Prozedur.

Patrick schloss sich der eintönigen Tätigkeit an. Er versuchte wirklich, pünktlich zu sein. Mehr oder weniger, zumindest. Doch auch, wenn seine Sachbearbeiterin vom Arbeitsamt ihm inzwischen im Nacken saß, fiel es ihm jeden Morgen aufs Neue schwer, sich beinahe schon selbst am Kragen hierher zu schleifen. Wie sollte man sich auch zum Kisten schleppen, Regale einräumen und was sonst anfiel, motivieren?

Es war stupide, seine Talente lagen eindeutig woanders und er konnte nach wie vor nicht fassen, dass das Arbeitsamt allen Ernstes der Meinung war, die Stelle im Supermarkt wäre das Beste, was ihm im Moment passieren könnte. Er hatte sich nur dazu bereit erklärt, weil sie ihm sonst die zusätzlichen Leistungen gestrichen hätten. Eine Strafmaßnahme, da er zu viele Jobs abgelehnt hatte. Das Argument »unter meiner Würde« war dabei auch nicht sonderlich gut angekommen.

Patrick seufzte und konzentrierte sich auf seine Tätigkeit. Er wollte sich nicht noch einmal die Finger zwischen zwei vollen Getränkekästen einquetschen. Das tat nicht nur höllisch weh, sondern sah auch ziemlich bescheuert aus – so konnte er ganz sicher nicht nachher zur Auswahlrunde gehen. Die Auswahlrunde … mühsam zog er sich aus den nun angenehmeren Gedanken zurück. Ein Kasten auf den anderen, bis zu vier Kästen auf einen Stapel. Dann davor neu beginnen, es sei denn, es gab schon zwei Stapel hintereinander. Bei Berliner Weiße bis zu drei dieser Reihen nebeneinander, beim Pilsner ähnlich, bei Lager gewöhnlich nur zwei, teils reichte auch eine.

Nachdem sie eine Stunde lang die Stapel mit den Getränkekästen aufgefüllt hatten, machte Hamed eine kurze Pause und Patrick schlich sich mit nach draußen. Das ging immer gut, wenn er Pappe zur Presse brachte; da kontrollierte keiner, wie lange er wirklich brauchte.

Während Hamed an seiner Cola nippte und eine Zigarette rauchte, schlürfte Patrick lieber einen Smoothie mit Antioxidantien, Vitaminen und was sonst gegen den Kater gut war. Geschmacklich konnte er diese ganzen hippen Gemüse-Smoothies nicht ausstehen, aber zum einen halfen sie nach einer durchzechten Nacht und zum anderen waren sie gut für sein Kapital – seinen Körper. Und das war alles, was zählte. Besonders heute.

Hamed schraubte seine Cola-Flasche zu, warf den Zigarettenstummel in den Müll und ging schon wieder rein, während Patrick einen weiteren Moment frische Luft schnappte und seinen Smoothie austrank. Mit langen, langsamen Atemzügen bemühte er sich, möglichst viel Sauerstoff durch seine Lungen zu pumpen. Verschwunden waren seine Kopfschmerzen immer noch nicht, aber sie waren zumindest um einiges schwächer geworden.

Nach einem Blick auf sein Smartphone beeilte er sich, an die Arbeit zurückzukehren. Er durfte sich nicht wieder von Tanja erwischen lassen – und die hatte ihm schon vor über einer Viertelstunde gesagt, dass er sich um das Leergut kümmern sollte.

Als er im Lager ankam, sank seine Laune noch weiter: Nicht nur stapelten sich die Kästen bis dicht unter die Decke, es waren auch noch hauptsächlich welche mit Glasflaschen.

Patrick seufzte und schlurfte zur Ameise. Er hasste das. Vorsichtig rangieren, in dem engen Raum die Abstände genau abschätzen, um bloß nicht die hohen Türme umzukippen. Je schwerer er den Handhubwagen belud, desto schlechter ließ der sich bewegen und außerdem wackelte es ziemlich, wenn er die Ameise hoch- und runterfuhr.

Eine Palette nach der nächsten beförderte er aus dem Leergutlager nach draußen, wo sie abtransportiert werden würden. Nach einer Weile ging es ihm leichter von der Hand, er arbeitete zügiger und fand die Aufgabe gar nicht mehr so schlimm. Immerhin sah ihm hier niemand so genau auf die Finger und er hatte seine Ruhe – vor Tanja und ebenso vor den Kunden.

So hatte er auch endlich Zeit, sich auf den Nachmittag zu freuen – auf die Auswahlrunde von Germany's Next Topmodel Men. Vor seinem inneren Auge sah er sich über den Laufsteg schreiten und für die Kameras posieren. Das grelle Scheinwerferlicht ließ ihn einen Moment blinzeln, doch er hielt den Kopf gerade, den Blick nach vorn gerichtet und straffte die Schultern. Am Ende des Catwalks drehte er sich mit einem gekonnten Hüftschwung um und schritt zurück.

Nur aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und fuhr herum. Doch es war zu spät: Bei seinem letzten Lenkmanöver hatte er einen Kasten mit Glasflaschen gerammt und diese Erschütterung ließ nun den ganzen Turm kippen. Mit einem erstickten Schrei sprang Patrick zur Seite und sah mit aufgerissenen Augen zu, wie die Kästen mit einem lauten Krachen zu Boden stürzten und die Flaschen zerschellten.

Er konnte nichts tun. Nur abwarten, bis der Glasregen versiegte – und sich dann der Strafpredigt stellen, die nicht lange auf sich warten lassen würde. Bei dem Lärm würde es nur wenige Sekunden dauern, bis die ersten seiner Kollegen im Laden etwas davon mitbekamen. Und Tanja hatte sehr gute Ohren.

»Du kannst echt gar nichts vernünftig machen, oder?«

Tanjas Stimme ließ Patrick zusammenzucken. Mit hochgezogenen Schultern drehte er sich zu ihr um und senkte den Blick. «Ich … Es war ein Versehen«, sagte er leise zum Boden.

»Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«

Langsam und widerwillig hob Patrick den Kopf. Anstatt Tanja ins Gesicht zu sehen, blickte er an ihrem linken Ohr vorbei ins Leere. »Es … Es tut mir leid«, murmelte er.

»Was hast du gesagt? Ich kann dich nicht hören, wenn du so nuschelst.« Tanja stemmte die Hände in die Seiten. Ihr Gesicht war rot angelaufen.

»Es tut mir leid«, wiederholte Patrick etwas lauter. »Es war keine Absicht.«

»Na, das will ich hoffen! Auch wenn das ohnehin nichts mehr ändert.« Sie schüttelte den Kopf. »Deine Laufbahn hier ist beendet – aber so was von!«

Patrick brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Dann öffnete er den Mund, doch ein Blick von Tanja reichte, damit er ihn wieder zuklappte.

»Du kommst andauernd zu spät, befolgst meine Anweisungen höchst widerwillig, wenn überhaupt, und den Schaden, den du jetzt verursacht hast, will ich dir noch nicht einmal vorrechnen.«

Instinktiv senkte Patrick erneut den Kopf.

Tanja seufzte. »Patrick, du bist hiermit fristlos entlassen. Verlass bitte sofort das Gelände, in zwei Tagen wird dir das offizielle Kündigungsschreiben zugestellt.«

Anstatt etwas zu erwidern oder abzuwarten, ob Tanja noch etwas hinzufügen würde, wandte er sich um und verließ stumm das Lager. Was sollte er schon sagen? Dass er nahezu kein Arbeitslosengeld bekommen würde, wenn er diesen Job so schnell verlor, würde Tanja nicht interessieren. Wieso auch? Er war ja nur eine Aushilfe. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, aber diesen schluckte er hastig herunter.

Auf dem Weg zu seinem Spind stieß er fast mit Hamed zusammen.

»Was ist denn mit dir passiert, Mann?«

Patrick atmete lautlos durch und bemühte sich, eine möglichst unbeteiligte Miene aufzusetzen. »Tanja hat mich gefeuert«, sagte er schlicht. Damit wollte er sich an dem Ex-Kollegen vorbeidrängen, doch der hielt ihn an der Schulter zurück.

»Echt? Was ist passiert?«

Patrick hob eine Braue. »Hast du den Lärm nicht gehört?«

Hameds Augen weiteten sich. »Das warst du? Alter!«

Patrick nickte stumm.

»Sch… Scheibenkleister.«

Hamed ließ ihn los und Patrick ging schweigend weiter. Nur weg von hier. Er wollte den Supermarkt hinter sich lassen, diesen neuen Beweis des Versagens verdrängen und sich stattdessen auf das konzentrieren, was ihm wirklich lag: modeln. Wenn er bei Germany's Next Topmodel Men weiterkam, konnte ihn das Arbeitsamt mal. Dann würde er es allen zeigen!

»Das tut mir echt leid, Mann!«, rief Hamed ihm noch hinterher. »Pass auf dich auf!«

Patrick hob kurz die Hand zum Abschied, doch er drehte sich nicht mehr um.

Kapitel 3

Bevor er zum Fernsehstudio fuhr, legte Patrick einen Zwischenstopp zu Hause ein. Schließlich musste er noch das passende Outfit auswählen und zudem eins oder zwei zum Wechseln mitnehmen.

Man konnte nie zu viel Auswahl dabeihaben. Da es die erste Staffel war, wusste niemand so recht, was zu erwarten war, oder welche Aufgaben ihnen gestellt werden würden.

Er schlüpfte in die dunkle Chino, die er sich schon am Tag zuvor rausgelegt hatte, und griff sich den farblich passenden Gürtel. Nach ein paar Spritzern Spicebomb– und einem Blick zu Sean O'Pry – zog Patrick das hellblaue Hemd an, das seine Augen besonders zum Strahlen brachte.

Seine Mutter hatte diese Formulierung früher oft benutzt, erinnerte er sich plötzlich, verdrängte den Gedanken aber schnell wieder. Jetzt bloß nicht an seine Kindheit denken.

---ENDE DER LESEPROBE---