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Die größte Fantasy-Saga unserer Zeit in vollständig überarbeiteter Neuausgabe!
Eddard Stark, der Lord von Winterfell, ist dem Ruf seines Königs und alten Freundes Robert Baratheon gefolgt und hat seine kalte Heimat im hohen Norden verlassen, um als Hand – als Roberts Berater und Stellvertreter – zu dienen. Eddard ist ein geradliniger, tapferer und aufrechter Mann, der sich jeder Gefahr mit dem Schwert entgegenstellen würde – doch die Ränke der Mächtigen bei Hof sind nichts, was man mit einem Schwert bekämpfen kann. Auch dann nicht, wenn man die Hand des Königs ist ...
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Seitenzahl: 719
George R. R. Martin
Das Erbe vonWinterfell
Das Lied von Eis und Feuer 2
Ins Deutsche übertragenvon Jörn Ingwersen
Vollständig durchgesehen und überarbeitetvon Sigrun Zühlke und Thomas Gießl
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel»A Game of Thrones« (Pages 360-674 + Appendix)bei Bantam Dell, a division of Random House, Inc., New York.
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21. AuflageTaschenbuchausgabe April 2010bei Blanvalet, einem Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Copyright © 1996 by George R. R. MartinCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1997by Verlagsgruppe Random House GmbHPublished in agreement with the author c/o Ralph M. Vicinanza, Ltd.All rights reservedRedaktion: Andreas HelwegUH · Herstellung: samKarten U2/U3: Franz VohwinkelSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-04715-3V002www.blanvalet.de
CATELYN
Der Himmel im Osten schimmerte rosig und golden, als die Sonne über dem Grünen Tal von Arryn aufging. Catelyn Stark beobachtete, wie sich das Licht ausbreitete, während ihre Hände auf dem glatt gemeißelten Stein der Balustrade vor ihrem Fenster ruhten. Unter ihr war die Welt schwarz, wurde dunkelblau, dann grün, während der Morgen über Felder und Wälder kroch. Fahle weiße Nebel stiegen von Alyssas Tränen auf, wo gespenstische Fluten über die Schulter des Berges drängten und ihren langen Sturz die Wand der Riesenlanze hinab begannen. Catelyn spürte den leichten Sprühregen auf ihrem Gesicht.
Alyssa Arryn hatte erlebt, wie ihr Mann, ihre Brüder und ihre Kinder erschlagen wurden, und doch hatte sie nie eine Träne darüber vergossen. So hatten die Götter beschlossen, dass sie keine Ruhe finden sollte, bis ihr Weinen die schwarze Erde des Grünen Tales bewässerte, wo die Menschen, die sie geliebt hatte, begraben lagen. Mittlerweile war Alyssa sechstausend Jahre tot, und dennoch fand kein Tropfen des Wasserfalls je den Weg ins Tal. Catelyn fragte sich, wie groß der Sturzbach ihrer Tränen sein würde, wenn sie starb. »Erzählt mir auch den Rest«, sagte sie.
»Der Königsmörder stellt in Casterlystein ein Heer zusammen«, antwortete Ser Rodrik Cassel aus dem Zimmer hinter ihr. »Euer Bruder schreibt, er habe Reiter zum Stein entsandt und zu wissen verlangt, was Lord Tywin zu tun gedenke, aber er hat keine Antwort erhalten. Edmure hat Lord Vanke und Lord Peiper angewiesen, den Pass unterhalb vom Goldzahn zu bewachen. Er schwört, dass er keinen Fußbreit Tullyland aufgeben wird, ohne ihn mit dem Blut der Lennisters zu tränken.«
Catelyn wandte sich vom Sonnenaufgang ab. Seine Schönheit konnte sie nur schwerlich aufmuntern. Es schien ihr grausam, dass ein Tag so schön begann und so übel zu enden versprach. »Edmure hat Reiter geschickt und Schwüre ausgesprochen«, sagte sie, »doch Edmure ist nicht der Lord von Schnellwasser. Was ist mit meinem Hohen Vater?«
»In dem Brief wurde Lord Hoster nicht erwähnt, Mylady.« Ser Rodrik zupfte an seinem Backenbart. Dieser war weiß wie Schnee und stachlig wie ein Dornenbusch nachgewachsen, während der Ritter sich von seinen Verletzungen erholt hatte. Fast sah er wieder aus, wie man ihn kannte.
»Mein Vater hätte die Verteidigung von Schnellwasser nicht Edmure überlassen, wäre er nicht sehr krank«, vermutete sie besorgt. »Man hätte mich gleich wecken sollen, als dieser Vogel kam.«
»Eure Schwester hielt es für besser, Euch schlafen zu lassen, wie mir Maester Colemon berichtet.«
»Man hätte mich wecken sollen«, beharrte sie.
»Der Maester teilte mir mit, Eure Schwester wolle nach dem Kampf mit Euch sprechen«, sagte Ser Rodrik.
»Dann will sie weiter diesen Mummenschanz treiben?« Catelyn verzog das Gesicht. »Der Zwerg hat mit ihr gespielt wie auf einem Dudelsack, und sie ist zu taub, die Melodie zu hören. Was heute Morgen auch geschehen mag, Ser Rodrik, es ist längst an der Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Ich gehöre nach Winterfell zu meinen Söhnen. Wenn Ihr für die Reise bei Kräften seid, will ich Lysa um eine Eskorte bitten, die uns nach Möwenstadt begleitet. Von dort aus können wir ein Schiff nehmen.«
»Wieder ein Schiff?« Ser Rodrik wurde leicht grünlich im Gesicht, brachte es jedoch fertig, den Schauer auf seinem Rücken zu unterdrücken. »Wie es Euch beliebt, Mylady.«
Der alte Ritter begab sich nach draußen vor die Tür, als Catelyn die Dienerinnen hereinrief, die Lysa ihr überlassen hatte. Wenn sie noch vor dem Duell mit Lysa spräche, wäre sie vielleicht noch umzustimmen, dachte sie, während man sie anzog. Lysas Politik wandelte sich mit ihren Launen, und ihre Launen wechselten stündlich. Das scheue Mädchen, das sie einst in Schnellwasser gekannt hatte, war zu einer Frau herangewachsen, die abwechselnd stolz, ängstlich, grausam, verträumt, leichtsinnig, verschreckt, halsstarrig, eitel und vor allem wankelmütig war.
Als dieser abscheuliche Kerkermeister auf Knien angekrochen kam, um ihnen zu sagen, dass Tyrion Lennister gestehen wollte, hatte Catelyn Lysa bedrängt, ihnen den Zwerg in aller Stille bringen zu lassen, aber nein, ihre Schwester musste ihn dem halben Grünen Tal vorführen. Und nun das …
»Lennister ist mein Gefangener«, erklärte sie Ser Rodrik, während sie die Turmtreppe hinabstiegen und durch die kalten weißen Hallen Hohenehrs schritten. Catelyn trug schlichte graue Wolle und einen versilberten Gürtel. »Das muss meiner Schwester in Erinnerung gerufen werden.«
An den Türen zu Lysas Gemächern begegneten sie ihrem Onkel, der gerade herausstürmte. »Auf dem Weg zum Narrenfest?«, schimpfte Ser Brynden. »Ich würde dir raten, deiner Schwester Vernunft einzuprügeln, wenn ich nur glaubte, dass es etwas nützt, aber du würdest dir nur die Hand verletzen.«
»Von Schnellwasser ist ein Vogel eingetroffen«, begann Catelyn, »ein Brief von Edmure …«
»Ich weiß, Kind.« Der schwarze Fisch, der seinen Umhang hielt, war Bryndens einziges Zugeständnis an Schmuck.
»Ich musste es von Maester Colemon erfahren. Daraufhin habe ich deine Schwester um die Erlaubnis gebeten, tausend erfahrene Männer zu nehmen und so schnell wie möglich nach Schnellwasser zu reiten. Weißt du, was sie entgegnet hat? Das Grüne Tal kann weder tausend Streiter entbehren noch einen einzigen, Onkel, hat sie erwidert. Ihr seid der Ritter des Tores. Euer Platz ist hier.« Ein Schwall von kindischem Gelächter drang durch die offenen Türen hinter ihm heraus, und ihr Onkel warf einen finsteren Blick über die Schulter. »Nun, ich habe ihr gesagt, da kann sie sich ebenso gut gleich einen neuen Ritter des Tores suchen. Schwarzfisch hin oder her, noch bin ich ein Tully. Bei Einbruch der Dunkelheit breche ich nach Schnellwasser auf.«
Das konnte Catelyn nicht überraschen. »Allein? Ihr wisst so gut wie ich, dass Ihr auf der Bergstraße nicht überleben werdet. Ser Rodrik und ich kehren nach Winterfell zurück. Kommt mit uns, Onkel. Ich gebe Euch Eure tausend Mann. Schnellwasser wird nicht allein kämpfen.«
Brynden dachte einen Moment lang nach, dann nickte er barsch. »Wie du sagst. Es ist ein langer Heimweg, aber wir werden es schon schaffen. Ich warte unten auf euch.« Er schritt von dannen, und sein Umhang flatterte ihm hinterher.
Catelyn wechselte einen Blick mit Ser Rodrik. Zum Klang von hohem, angespanntem Kinderkichern traten sie durch die Tür.
Von Lysas Gemächern aus erreichte man einen kleinen Garten, einen Ring von Erde und Gras, mit blauen Blumen bepflanzt und auf allen Seiten von hohen weißen Türmen umgeben. Die Erbauer hatten ihn als Götterhain gedacht, aber Hohenehr ruhte auf dem harten Stein des Berges, und so viel Mutterboden sie auch aus dem Grünen Tal heraufbringen mochten, konnten sie doch keinen Wehrholzbaum dazu bringen, hier Wurzeln zu schlagen. Die Lords von Hohenehr pflanzten daher Gras und verteilten Skulpturen zwischen den niedrigen blühenden Büschen. Dort sollten die beiden Streiter aufeinandertreffen und ihr Leben und das Tyrion Lennisters in die Hände der Götter legen.
Lysa, frisch geputzt und in cremefarbenem Samt, ein Band aus Saphiren und Mondsteinen um den milchweißen Hals, hielt auf der Terrasse Hof, mit Blick auf den Kampfplatz, umgeben von ihren Rittern, Gefolgsleuten und großen und kleinen Lords. Die meisten von ihnen hofften noch immer, sie zu ehelichen, mit ihr das Bett zu teilen und an ihrer Seite über das Grüne Tal von Arryn zu herrschen. Nach allem, was Catelyn während ihres Besuches auf Hohenehr gesehen hatte, hofften sie vergeblich.
Ein hölzernes Podium war errichtet worden, um Roberts Stuhl zu erhöhen. Dort saß der Lord von Hohenehr, kicherte und klatschte in die Hände, während ein buckliger Puppenspieler in blau-weißem Narrenkleid zwei hölzerne Ritter aufeinander einhacken ließ. Krüge mit dicker Sahne und Körbe voller Brombeeren waren verteilt worden, und die Gäste tranken süßen, nach Orangen duftenden Wein aus verzierten Silberbechern. Ein Narrenfest hatte Brynden es genannt. Wie Recht er hatte.
Auf der anderen Seite der Terrasse lachte Lysa fröhlich über einen Scherz von Lord Jäger und biss vorsichtig in eine Brombeere an der Spitze des Dolches von Ser Lyn Corbray. Diese beiden Freier standen in Lysas Gunst am höchsten … heute zumindest. Nur schwerlich hätte Catelyn sagen können, welcher der beiden ungeeigneter gewesen wäre. Eon Jäger war noch älter, als Jon Arryn es gewesen war, halb verkrüppelt von der Gicht und mit drei streitsüchtigen Söhnen geschlagen, einer habgieriger als der andere. Ser Lyn frönte einer ganz anderen Narretei: Schlank und gut aussehend, war er der Erbe eines uralten, wenn auch verarmten Hauses, dabei eitel, leichtsinnig und aufbrausend … und, wie man flüsterte, notorisch desinteressiert am intimen Charme der Frauen.
Lysa erblickte Catelyn und hieß diese mit schwesterlicher Umarmung und feuchtem Kuss an den Hals willkommen. »Ist es nicht ein wunderbarer Morgen? Die Götter lächeln auf uns herab. Koste einen Becher von diesem Wein, liebe Catelyn. Lord Jäger war so gut, ihn aus seinen eigenen Kellern bringen zu lassen.«
»Danke, nein, Lysa, wir müssen reden.«
»Später«, vertröstete ihre Schwester sie und wollte sich schon abwenden.
»Jetzt.« Catelyn sprach lauter, als sie beabsichtigt hatte. Männer wandten sich um. »Lysa, du kannst nicht allen Ernstes mit dieser Torheit fortfahren. Lebend besitzt der Gnom einen Wert für uns. Tot ist er nur Futter für die Krähen. Und sollte sein Streiter sich behaupten …«
»Die Chancen dafür stehen schlecht, Mylady«, versicherte ihr Lord Jäger und klopfte ihr mit einer von Leberflecken übersäten Hand auf die Schulter. »Ser Vardis ist ein kühner Kämpfer. Er wird mit dem Söldner kurzen Prozess machen.«
»Wird er das, Mylord?«, sagte Catelyn kühl. »Das ist die Frage.« Sie hatte Bronn auf der Bergstraße kämpfen sehen. Dass er die Reise überlebt hatte, während andere Männer gefallen waren, durfte man nicht dem Zufall anrechnen. Er bewegte sich wie ein Panter, und dieses hässliche Schwert, das er sein Eigen nannte, schien an seinem Arm wie festgewachsen.
Lysas Freier sammelten sich um sie wie Bienen um eine Blüte. »Frauen verstehen nur wenig von diesen Dingen«, sagte Ser Morten Waynwald. »Ser Vardis ist ein Ritter, Mylady. Dieser andere Bursche, nun, solche wie er sind allesamt im Herzen Feiglinge. Nützlich in der Schlacht, wenn Tausende Gefährten um sie herum sind, doch stehen sie allein, verlässt sie gleich die Mannhaftigkeit.«
»Angenommen, Ihr hättet damit Recht«, sagte Catelyn so höflich, dass ihr Mund schmerzte. »Was gewinnen wir durch den Tod des Gnoms? Glaubt Ihr, es würde Jaime auch nur einen Deut interessieren, ob wir seinen Bruder vor Gericht gestellt haben, bevor wir ihn vom Berg stoßen?«
»Enthauptet den Mann«, schlug Ser Lyn Corbray vor. »Wenn man dem Königsmörder den Kopf des Gnoms schickt, wird ihm das eine Warnung sein.«
Ungeduldig schüttelte Lysa das hüftlange kastanienbraune Haar. »Lord Robert will ihn fliegen sehen«, sagte sie, als klärte das die Frage. »Und der Gnom hat es allein sich selbst zuzuschreiben. Er war es, der die Prüfung durch den Kampf gefordert hat.«
»Lady Lysa blieb keine ehrenhafte Möglichkeit, ihm dies zu verweigern, selbst wenn sie es gewollt hätte«, erklärte Lord Jäger gewichtig.
Ohne die Gegenwart der Männer zu beachten, drang Catelyn auf ihre Schwester ein. »Ich erinnere dich daran, dass Tyrion Lennister mein Gefangener ist.«
»Und ich erinnere dich daran, dass der Zwerg meinen Hohen Gatten ermordet hat!« Ihre Stimme wurde lauter. »Er hat die Hand des Königs vergiftet und meinen kleinen Liebling vaterlos gemacht, und nun soll er teuer dafür bezahlen!« Sie fuhr herum, dass ihre Röcke flogen, und schritt über die Terrasse. Ser Lyn, Ser Morten und die anderen Freier empfahlen sich mit kurzem Nicken und eilten ihr hinterher.
»Glaubt Ihr, dass er die Tat begangen hat?«, fragte Ser Rodrik leise, als sie wieder allein waren. »Lord Jon ermordet, meine ich. Der Gnom streitet es ab, und zwar heftig …«
»Meiner Meinung nach haben die Lennisters Lord Arryn ermordet«, erwiderte Catelyn, »nur ob Tyrion, Ser Jaime oder die Königin oder gar alle zusammen, kann ich unmöglich sagen.« Lysa hatte in ihrem Brief nach Winterfell Cersei genannt, nun jedoch schien sie sicher zu sein, dass Tyrion der Mörder war … vielleicht weil der Zwerg hier war, während sich die Königin hinter den Mauern des Roten Bergfrieds in Sicherheit befand, Hunderte von Meilen entfernt im Süden. Catelyn wünschte fast, sie hätte den Brief ihrer Schwester vernichtet, bevor sie ihn gelesen hatte.
Ser Rodrik zupfte an seinem Backenbart. »Gift, nun … es könnte sehr wohl das Werk des Zwerges sein, das stimmt. Oder Cerseis. Gift, heißt es, sei die Waffe der Frauen, wenn Ihr mir verzeihen wollt, Mylady. Der Königsmörder, nun … ich hege keine große Zuneigung für den Mann, aber es passt nicht zu ihm. Allzu gern sieht er Blut an seinem goldenen Schwert. War es Gift, Mylady?«
Catelyn blickte ihn fragend an, und ihr war nicht ganz wohl. »Wie sonst sollten sie es nach einem natürlichen Tod aussehen lassen?« Hinter ihnen kreischte Lord Robert vor Freude, als einer der Puppenritter den anderen in zwei Teile schlug und sich dabei eine Flut roter Sägespäne über die Terrasse ergoss. Sie betrachtete ihren Neffen und seufzte. »Dieser Junge wächst ohne die geringsten Regeln auf. Zum Regieren wird er niemals stark genug sein, wenn man ihn nicht eine Weile seiner Mutter wegnimmt.«
»Sein Hoher Vater war ganz Eurer Ansicht«, hörte sie eine Stimme neben sich. Sie wandte sich um und fand Maester Colemon vor, der einen Becher Wein in der Hand hielt. »Er wollte den Jungen als Mündel nach Drachenstein schicken, müsst Ihr wissen … oh, vermutlich sollte ich darüber nicht sprechen.« Sein Adamsapfel hüpfte nervös unter der losen Ordenskette. »Ich fürchte, ich habe zu viel von Lord Jägers exzellentem Wein genossen. Die Aussicht auf ein Blutvergießen strapaziert meine Nerven …«
»Ihr täuscht Euch, Maester«, entgegnete Catelyn. »Es war Casterlystein, nicht Drachenstein, und diese Vereinbarungen wurden erst nach dem Tod der Hand getroffen, ohne Zustimmung meiner Schwester.«
Der Kopf des Maesters zuckte derart heftig am Ende seines lächerlich langen Halses, dass er selbst halbwegs wie eine Puppe aussah. »Nein, ich bitte um Verzeihung, Mylady, doch war es Lord Jon höchstselbst, der …«
Unter ihnen erklang laut eine Glocke. Hohe Herren und Dienstmädchen gleichermaßen unterbrachen, was sie gerade taten, und traten an die Balustrade. Unten führten zwei Gardisten in himmelblauen Umhängen Tyrion Lennister herein. Der pausbackige Septon von Hohenehr begleitete ihn zur Statue in der Mitte des Gartens, einer weinenden Frau, die aus gemasertem Marmor gehauen war und zweifellos Alyssa darstellen sollte.
»Der böse kleine Mann«, sagte Lord Robert kichernd. »Mutter, darf ich ihn fliegen lassen? Ich will ihn fliegen sehen.«
»Später, mein kleiner Liebling«, versprach Lysa.
»Erst die Prüfung«, leierte Ser Lyn Corbray, »dann die Hinrichtung.«
Einen Augenblick später erschienen die beiden Kontrahenten an verschiedenen Seiten des Gartens. Dem Ritter standen zwei junge Knappen zur Seite, dem Söldner der Waffenmeister von Hohenehr.
Ser Vardis Egen steckte von Kopf bis Fuß in Stahl, einer schweren Rüstung über Kettenhemd und wattiertem Waffenrock. Große, runde Medaillons, bemalt mit dem blauen und cremefarbenen Siegel, das den Mond und den Falken des Hauses Arryn zeigte, schützten die verwundbare Verbindung von Arm und Brust. Ein metallener Rock bedeckte ihn von der Hüfte bis fast zum Knie, während um seinen Hals ein solider Ringkragen lag. Falkenschwingen sprossen aus den Seiten seines Helms, und sein Visier war ein spitzer Eisenschnabel mit schmalem Sehschlitz.
Bronn war so leicht gepanzert, dass er neben dem Ritter fast nackt aussah. Er trug nur ein schwarzes, öliges Kettenhemd über hartem Leder, einen runden stählernen Halbhelm mit Nasenschutz und dazu eine Kettenhaube. Hohe Lederstiefel mit stählernen Schienbeinschützern an den Beinen, und Scheiben von schwarzem Eisen waren in die Finger seiner Handschuhe genäht. Doch fiel Catelyn auf, dass der Söldner seinen Gegner um einen halben Kopf überragte und eine größere Reichweite besaß … zudem war Bronn fünfzehn Jahre jünger, falls sie das richtig einschätzte.
Sie knieten im Gras neben der weinenden Frau, einander gegenüber, zwischen ihnen Lennister. Der Septon nahm eine facettierte Kristallkugel aus dem weichen Stoffbeutel an seiner Hüfte. Er hob sie hoch über den Kopf, und Licht brach sich in alle Richtungen. Regenbogen tanzten auf dem Gesicht des Gnoms. Mit hohem feierlichem Singsang bat der Septon die Götter, herabzusehen und zu bezeugen, die Wahrheit in der Seele dieses Mannes zu ergründen, ihm Leben und Freiheit zu schenken, falls er unschuldig sei, oder ihn in den Tod zu schicken, sollte er Schuld tragen. Seine Stimme hallte von den umstehenden Türmen zurück.
Nachdem das letzte Echo verklungen war, ließ der Septon seine Kristallkugel sinken und entfernte sich eilig. Tyrion beugte sich vor und flüsterte Bronn etwas ins Ohr, bevor die Gardisten ihn abführten. Lachend stand der Söldner auf und wischte Gras vom Knie.
Robert Arryn, Lord von Hohenehr und Verteidiger des Grünen Tales, zappelte ungeduldig auf einem erhöhten Stuhl herum. »Wann kämpfen sie denn endlich?«, fragte er unverblümt.
Ser Vardis wurde von einem seiner Knappen auf die Beine geholfen. Der andere brachte ihm einen dreieckigen Schild von beinah vier Fuß Höhe, aus schwerer Eiche, mit Eisennägeln beschlagen. Diesen banden sie an seinem linken Unterarm fest. Als Lysas Waffenmeister Bronn einen ähnlichen Schild anbot, spuckte der Söldner aus und winkte ab. Ein drei Tage alter, rauer schwarzer Bart bedeckte Kinn und Wangen, doch wenn er sich nicht rasierte, dann nicht aus Mangel an scharfen Klingen. Die Schneide seines Schwertes besaß den gefährlichen Glanz jenes Stahls, den man täglich stundenlang geschliffen hatte, bis er zu scharf war, als dass man ihn ungestraft berühren konnte.
Ser Vardis streckte die Hand im Panzerhandschuh aus, und sein Knappe drückte ein hübsches Langschwert mit doppelter Schneide hinein. In die Klinge war mit zartem Geflecht ein Morgenhimmel eingraviert, der Griff war ein Falkenkopf, der Handschutz in Form von Flügeln gehalten. »Dieses Schwert habe ich für Jon in Königsmund anfertigen lassen«, erklärte Lysa ihren Gästen stolz, während sie zusahen, wie Ser Vardis einen Probehieb ausführte. »Er hat es stets getragen, wenn er an König Roberts Stelle auf dem Eisernen Thron saß. Ist es nicht wunderschön? Ich fand es nur angemessen, dass unser Streiter Jon mit seiner eigenen Klinge rächt.«
Die verzierte Silberklinge war ohne Zweifel hübsch, nur schien es, als wäre Ser Vardis mit seinem eigenen Schwert vertrauter gewesen. Dennoch sagte Catelyn nichts. Sie war die fruchtlosen Streitgespräche mit ihrer Schwester leid.
»Lasst sie kämpfen!«, rief Lord Robert.
Ser Vardis wandte sich dem Lord von Hohenehr zu und hob sein Schwert zum Gruß. »Für Hohenehr und das Grüne Tal.«
Tyrion Lennister hatte man auf einem Balkon auf der anderen Seite des Gartens platziert, flankiert von seinen Wachen. Ihm wandte sich Bronn mit flüchtigem Gruß zu.
»Sie warten auf Euren Befehl«, sagte Lady Lysa zu ihrem Sohn.
»Kämpft!«, schrie der Junge, der sich mit zitternden Armen an die Lehne seines Stuhls klammerte.
Ser Vardis fuhr herum und hob den schweren Schild. Bronn stellte sich ihm. Ihre Schwerter schlugen aneinander, einmal, zweimal, zur Probe. Der Söldner trat einen Schritt zurück. Der Ritter folgte ihm, den Schild vor sich. Er versuchte einen Hieb, aber Bronn wich zurück, außer Reichweite, und die silberne Klinge durchschnitt nur Luft. Bronn bewegte sich nach rechts im Bogen um Ser Vardis herum. Dieser folgte ihm erneut, den Schild weit vor sich. Der Ritter drängte vor, wobei er wegen des unebenen Bodens jeden Schritt mit Sorgfalt setzte. Der Söldner wich erneut zurück, ein leises Lächeln auf den Lippen. Ser Vardis griff an, schlug zu, doch Bronn sprang fort von ihm und hüpfte leichtfüßig über einen flachen, moosbewachsenen Stein. Nun beschrieb der Söldner einen Kreis zu seiner Linken, fort von dem Schild, zur ungeschützten Seite des Ritters. Ser Vardis versuchte, auf seine Beine einzuhacken, doch der Gegner war außer Reichweite. Bronn tänzelte weiter nach links. Ser Vardis drehte sich um.
»Der Mann ist eine Memme«, erklärte Lord Jäger. »Steh und kämpfe, Feigling!« Andere Stimmen schlossen sich ihm an.
Catelyn sah zu Ser Rodrik hinüber. Ihr Waffenmeister schüttelte kurz den Kopf. »Er will, dass Ser Vardis ihn jagt. Das Gewicht von Rüstung und Schild würde selbst den stärksten Mann ermüden.«
Fast jeden Tag ihres Lebens hatte sie Männern beim Schwertkampf zugesehen, hatte einem halben Hundert Turnieren beigewohnt, dieses jedoch unterschied sich von ihnen: ein Tanz, bei dem der kleinste Fehltritt den Tod bedeutete. Während sie zusah, wurde in Catelyn Stark die Erinnerung an ein anderes Duell zu einer anderen Zeit wach, so lebendig, als wäre es gestern erst gewesen.
Sie trafen sich im unteren Burghof von Schnellwasser. Als Brandon bemerkte, dass Petyr nur Helm, Brustharnisch und Kettenhemd trug, legte er ebenfalls den Großteil seiner Rüstung ab. Petyr hatte sie um ein Zeichen ihrer Gunst gebeten, das er beim Kampf tragen wollte, doch sie hatte sein Ersuchen abgelehnt. Ihr Hoher Vater hatte sie Brandon Stark versprochen, und so war er es, dem sie ihr Pfand gab, ein hellblaues Tuch, das sie mit der springenden Forelle von Schnellwasser verziert hatte. Während sie es in seine Hand presste, flehte sie ihn an: »Er ist nur ein dummer Junge, dennoch liebe ich ihn wie einen Bruder. Ich würde um ihn trauern, wenn er sterben sollte.« Und ihr Verlobter blickte sie mit den kühlen grauen Augen eines Stark an und versprach, den Jungen zu verschonen, der sie liebte.
Jener Kampf fand ein rasches Ende, kaum dass er begonnen hatte. Brandon war ein erwachsener Mann, und er trieb Kleinfinger über den ganzen Hof und dann die Wassertreppe hinab, ließ bei jedem Schritt Hiebe auf den Jungen niederregnen, bis der taumelte und aus einem Dutzend Wunden blutete. »Gebt auf!«, rief er mehr als einmal, doch Petyr schüttelte nur den Kopf und kämpfte grimmig weiter. Als der Fluss um ihre Knöchel schwappte, machte Brandon dem Ganzen schließlich mit einer brutalen Rückhand ein Ende, die das Kettenhemd seines Gegners und auch das Leder durchschlug und ins weiche Fleisch unter den Rippen ging, so tief, dass Catelyn sicher war, die Wunde müsse tödlich sein. Petyr sah sie an, während er fiel, und murmelte »Cat«, indes hellrotes Blut zwischen den Ketten hervorquoll. Sie dachte, sie hätte es vergessen.
Da hatte sie sein Gesicht zum letzten Mal gesehen … bis zu jenem Tag, als man sie in Königsmund zu ihm führte.
Zwei Wochen vergingen, bis Kleinfinger wieder bei Kräften war und Schnellwasser verlassen konnte, aber ihr Hoher Vater verbot ihr, ihn im Turm zu besuchen, wo er zu Bette lag. Lysa hatte dem Maester geholfen, ihn zu pflegen. In jenen Tagen war sie sanftmütig und schüchtern gewesen. Auch Edmure wollte ihm einen Besuch abstatten, Petyr hingegen hatte ihn fortgeschickt. Ihr Bruder hatte im Duell Brandon als Knappe gedient, und das konnte Kleinfinger nicht verzeihen. Sobald er wieder bei Kräften und transportfähig war, ließ Lord Hoster Tully Petyr Baelish in einer geschlossenen Sänfte fortbringen, damit er auf den Fingern genesen konnte, jenen windumtosten Felsen, auf welchen er geboren war.
Das laute Klirren von Stahl auf Stahl brachte Catelyn wieder in die Gegenwart zurück. Ser Vardis stürmte heftig auf Bronn ein, trieb ihn mit Schild und Schwert vor sich her. Der Söldner bewegte sich rückwärts, parierte jeden Hieb, sprang leichtfüßig über Stein und Wurzel, wobei er den Gegner nie aus den Augen ließ. Er war schneller, wie Catelyn auffiel. Das silberne Schwert des Ritters kam nie auch nur in seine Nähe, doch seine eigene hässliche graue Klinge schlug eine Kerbe in Ser Vardis’ Schulterharnisch.
Das kurze Aufflammen des Kampfes endete so schnell, wie es begonnen hatte, als Bronn einen Schritt zur Seite tat und hinter die Statue der weinenden Frau trat. Ser Vardis hieb dorthin, wo er gestanden hatte, und sein Schwert traf Funken sprühend den hellen Marmor von Alyssas Oberschenkel.
»Sie kämpfen nicht gut, Mutter«, beklagte sich der Lord von Hohenehr. »Ich will, dass sie richtig kämpfen.«
»Das werden sie, mein süßer Liebling«, beruhigte ihn die Mutter. »Der Söldner kann nicht den ganzen Tag weglaufen.«
Einige der Lords auf Lysas Terrasse rissen bereits derbe Witze, während sie sich Wein nachschenkten, doch auf der anderen Seite des Gartens beobachteten Tyrion Lennisters ungleiche Augen den Tanz der Streiter, als gäbe es sonst nichts auf der Welt.
Überraschend stürmte Bronn hinter der Statue hervor, ging noch immer links herum, richtete einen doppelhändigen Hieb gegen die ungeschützte rechte Seite des Ritters. Ser Vardis blockte ab, wenn auch unbeholfen, und die Klinge des Söldners blitzte aufwärts zu seinem Kopf. Metall klirrte, und eine Falkenschwinge brach knirschend ab. Ser Vardis tat einen halben Schritt nach hinten, um sich zu sammeln, und hob seinen Schild. Eichenspäne flogen, als Bronns Schwert auf die hölzerne Mauer eindrosch. Wieder trat der Söldner nach links, fort von dem Schild, und traf Ser Vardis am Bauch, wobei seine messerscharfe Klinge in der Rüstung des Ritters einen hellen Spalt zurückließ.
Ser Vardis stieß sich mit dem hinteren Fuß ab, und seine Silberklinge senkte sich in weitem Bogen. Bronn schlug sie zur Seite und tänzelte davon. Der Ritter krachte in die weinende Frau hinein, brachte sie auf ihrem Sockel zum Wanken. Taumelnd trat er zurück und drehte den Kopf auf der Suche nach dem Feind hierhin und dorthin. Das Schlitzvisier im Helm engte seine Sicht ein.
»Hinter Euch, Ser!«, rief Lord Jäger zu spät. Bronn schwang sein Schwert mit beiden Händen, traf Ser Vardis am Ellbogen seines Schwertarmes. Das dünne Metall, das sein Gelenk schützte, knirschte. Aufstöhnend fuhr der Ritter herum und riss seine Waffe hoch. Diesmal hielt Bronn ihm stand. Die Schwerter flogen, und ihr stählernes Lied erfüllte den Garten und hallte von den weißen Türmen Hohenehrs zurück.
»Ser Vardis ist verletzt«, stellte Ser Rodrik mit ernster Stimme fest.
Man musste es Catelyn nicht sagen. Sie hatte Augen, sie konnte das helle Rinnsal Blut sehen, das dem Ritter über den Unterarm bis zum Ellenbogen lief. Jede Parade erfolgte jetzt etwas langsamer und etwas tiefer als zuvor. Ser Vardis wandte dem Feind die Seite zu, versuchte mit dem Schild zu blocken, aber Bronn schlich flink wie eine Katze um ihn herum. Der Söldner schien immer stärker zu werden. Seine Hiebe hinterließen nun Spuren. Die Rüstung des Ritters war von tiefen, schimmernden Dellen übersät, an seinem rechten Oberschenkel, seinem schnabelförmigen Visier, quer über den Brustharnisch, eine lange vorn an der Halsberge. Das Medaillon mit Mond und Falke an Ser Vardis’ rechtem Arm war sauber in zwei Hälften geschnitten und hing nur noch an einem Riemen. Durch die Luftlöcher in seinem Visier konnten die Zuschauer seinen schweren Atem hören.
Blind vor Arroganz, wie sie waren, erkannten selbst die Ritter und Lords des Grünen Tales, was sich vor ihnen abspielte, nur nicht ihre Schwester. »Genug, Ser Vardis!«, rief Lady Lysa hinunter. »Macht ihm jetzt ein Ende, mein Junge hat genug.«
Und von Ser Vardis Egen muss gesagt werden, dass er den Befehl seiner Herrin bis zum Letzten befolgte. Im einen Augenblick taumelte er noch rückwärts, halbwegs gebückt hinter seinem vernarbten Schild, im nächsten griff er schon an. Der plötzliche Ansturm warf Bronn aus dem Gleichgewicht. Ser Vardis stieß mit ihm zusammen und hieb dem Söldner den Rand seines Schildes ins Gesicht. Beinahe, beinahe stürzte Bronn … er wankte rückwärts, stolperte über einen Stein und hielt sich an der weinenden Frau fest, um nicht die Balance zu verlieren. Ser Vardis warf seinen Schild beiseite, stürmte ihm nach und hob das Schwert mit beiden Händen. Mittlerweile war sein rechter Arm vom Ellenbogen bis zu den Fingern blutüberströmt, doch hätte sein letzter, verzweifelter Hieb Bronn vom Hals bis zum Nabel gespalten … wäre der Söldner stehen geblieben.
Aber Bronn wich zurück. Jon Arryns wunderschönes Silberschwert glitt am marmornen Arm der weinenden Frau entlang, und das obere Drittel der Klinge brach sauber ab. Bronn drückte mit der Schulter gegen den Rücken der Statue. Die verwitterte Figur Alyssa Arryns wankte und stürzte mit mächtigem Lärm um, und Ser Vardis Egen ging unter ihr zu Boden.
Im nächsten Augenblick war Bronn schon über ihm, trat den Rest des zertrümmerten Medaillons zur Seite, um die weiche Stelle zwischen Arm und Brustharnisch freizulegen. Ser Vardis lag auf der Seite, unter dem geborstenen Torso der weinenden Frau. Catelyn hörte den Ritter stöhnen, als der Söldner seine Klinge mit beiden Händen hob und herabstieß, mit seinem ganzen Gewicht dahinter, unter dem Arm und durch die Rippen. Ser Vardis Egen erbebte kurz und lag dann still.
Schweigen lastete über Hohenehr. Bronn riss seinen Halbhelm ab und ließ ihn ins Gras fallen. Seine Lippe blutete, wo der Schild ihn getroffen hatte, und sein rabenschwarzes Haar war nass vom Schweiß. Er spuckte einen abgebrochenen Zahn aus.
»Ist es vorbei, Mutter?«, fragte der Lord von Hohenehr.
Nein, wollte Catelyn ihm gern sagen, es fängt jetzt erst richtig an.
»Ja«, erwiderte Lysa bedrückt, und ihre Stimme war kalt und tot wie der Hauptmann ihrer Garde.
»Kann ich den kleinen Mann jetzt fliegen lassen?«
Auf der anderen Seite des Gartens kam Tyrion Lennister auf die Beine. »Nicht diesen kleinen Mann«, sagte er. »Dieser kleine Mann fährt mit dem Rübenaufzug hinunter.«
»Ihr erdreistet Euch …«, begann Lysa.
»Ich erdreiste mich anzunehmen, dass sich das Haus Arryn seiner eigenen Worte erinnert«, sagte der Gnom. »Hoch wie die Ehre.«
»Du hast versprochen, dass ich ihn fliegen lassen darf«, schrie der Lord von Hohenehr seine Mutter an. Er begann zu zittern.
Lady Lysas Gesicht rötete sich vor Zorn. »Die Götter haben es als angemessen erachtet, ihn für unschuldig zu erklären, Kind. Uns bleibt keine andere Wahl, als ihn freizulassen.« Mit lauter Stimme fügte sie hinzu: »Wache! Führt Mylord Lennister und seinen … Handlanger aus meinen Augen. Begleitet sie zum Bluttor und lasst sie frei. Sorgt dafür, dass sie genügend Pferde und Proviant bekommen, um bis zum Trident zu gelangen, und achtet darauf, dass man ihnen ihre Sachen und Waffen zurückgibt. Die werden sie auf der Bergstraße noch brauchen.«
»Auf der Bergstraße«, entfuhr es Tyrion Lennister. Lysa gestattete sich ein leises, zufriedenes Lächeln. Auch das war eine Art Todesurteil, dachte Catelyn. Tyrion Lennister musste das ebenfalls wissen. Dennoch schenkte der Zwerg Lady Arryn eine höhnische Verbeugung. »Wie es Euch beliebt, Mylady«, sagte er. »Ich glaube, wir kennen den Weg.«
JON
»Ihr seid der hoffnungsloseste Haufen, den ich je ausbilden musste«, verkündete Ser Allisar Thorn, als sie sich im Hof versammelt hatten. »Eure Hände sind für Mistgabeln gemacht, nicht für Schwerter, und wenn es nach mir ginge, würdet ihr allesamt Schweine hüten. Aber gestern Abend habe ich gehört, dass Gueren mit fünf Neuen den Königsweg heraufkommt. Der eine oder andere davon könnte vielleicht einen halben Furz wert sein. Um für sie Platz zu schaffen, habe ich beschlossen, acht von euch dem Lord Kommandanten zu überstellen, damit er mit ihnen nach eigenem Gutdünken verfährt.« Einen Namen nach dem anderen rief er auf. »Kröte. Steinschädel. Auerochs. Liebhaber. Pickel. Affe. Ser Spinner.« Schließlich sah er Jon an. »Und der Bastard.«
Pyp stieß einen Freudenschrei aus und warf sein Schwert in die Luft. Ser Allisar fixierte ihn mit Echsenblick. »Man wird euch jetzt Männer der Nachtwache nennen, aber ihr seid dümmer als der Affe eines Possenreißers, wenn ihr das wörtlich nehmt. Ihr seid grüne Jungs und stinkt nach Sommer, und wenn der Winter kommt, sterbt ihr wie die Fliegen.« Und mit diesen Worten schritt Ser Allisar Thorn von dannen.
Die anderen Jungen versammelten sich um die acht, deren Namen aufgerufen worden waren, lachten und fluchten und gratulierten. Halder schlug Kröte mit der flachen Seite seines Schwertes auf den Hintern und brüllte: »Kröte von der Nachtwache!« Pyp rief, ein Schwarzer Bruder brauche ein Pferd, und sprang auf Grenns Schultern. Dabei gingen sie kullernd und knuffend und johlend zu Boden. Dareon rannte in die Waffenkammer und kam mit einem Schlauch saurem Roten wieder. Während sie den Wein vom einen zum anderen reichten und wie blöde grinsten, bemerkte Jon, dass Samwell Tarly allein unter einem kahlen toten Baum in der Ecke des Hofes stand. Jon bot ihm den Schlauch an. »Ein Schluck Wein?«
Sam schüttelte den Kopf. »Nein danke, Jon.«
»Geht es dir gut?«
»Sehr gut, wirklich«, log der dicke Junge. »Ich freue mich für euch alle.« Sein rundes Gesicht zitterte, als er sich zu einem Lächeln zwang. »Eines Tages wirst du Erster Grenzer, ganz wie dein Onkel es war.«
»Ist«, verbesserte Jon. Er wollte Benjen Starks Tod nicht akzeptieren. Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, rief Halder: »Hier, willst du das alles allein trinken?« Pyp riss ihm den Weinschlauch aus der Hand und wich ihm lachend aus. Als Grenn ihn beim Arm packte, drückte Pyp den Schlauch, und ein dünner roter Strahl spritzte Jon ins Gesicht. Halder heulte protestierend über die Vergeudung guten Weines. Jon spuckte. Matthar und Jeren erklommen die Mauer und begannen, sie mit Schneebällen zu bewerfen.
Nachdem er sich losgerissen hatte, Schnee im Haar und Wein auf seinem Wappenrock, war Samwell Tarly verschwunden.
An diesem Abend kochte Drei-Finger-Hobb den Jungen zur Feier des Tages ein besonderes Mahl. Als Jon den Gemeinschaftssaal betrat, führte ihn der Lord Kämmerer persönlich zur Bank am Feuer. Die älteren Männer klopften ihm im Vorübergehen auf die Schulter. Die acht zukünftigen Brüder feierten mit Lammbraten, in Knoblauch und Kräutern gebacken, garniert mit Zweigen von Minze, eingerahmt von gestampften Steckrüben, die in Butter schwammen. »Direkt vom Tisch des Lord Kommandanten«, erklärte ihnen Bowen Marsch. Es gab Salate aus Spinat und Kichererbsen und Steckrüben und danach Schalen mit Blaubeeren und süßer Sahne.
»Glaubt ihr, sie lassen uns zusammen?«, fragte Pyp, während sie sich selig die Mägen vollschlugen.
Kröte verzog das Gesicht. »Ich hoffe nicht. Ich hab mir deine Ohren schon lange genug angesehen.«
»Ho«, fuhr Pyp auf. »Hört, wie die Krähe alle Raben schwarz schimpft. Du wirst ganz sicher ein Grenzer, Kröte. Sie werden uns so weit weg wie möglich von der Burg haben wollen. Wenn Manke Reuber angreift, klappst du dein Visier hoch und zeigst ihm dein Gesicht, dann rennt er schreiend fort.«
Alle außer Grenn lachten. »Ich hoffe, ich werde Grenzer.«
»Du und alle anderen«, meinte Matthar. Jeder, der das Schwarz trug, tat seinen Dienst auf der Mauer, und von jedem wurde erwartet, dass er zu ihrer Verteidigung zum Stahl griff, doch die Grenzer waren das wahre kämpfende Herz der Nachtwache. Sie waren diejenigen, die es wagten, vor die Mauer zu gehen und den Verfluchten Wald und die eisigen Berghöhen westlich des Schattenturms zu durchstreifen, wo sie gegen Wildlinge und Riesen und gigantische Eisbären kämpften.
»Nicht alle«, entgegnete Halder. »Ich gehe zu den Baumeistern. Welchen Nutzen hätten die Grenzer, wenn die Mauer einstürzt?«
Man würde viele Maurer und Zimmerleute zur Reparatur von Festungen und Türmen brauchen, Bergleute zum Tunnelgraben und zum Zertrümmern der Steine für Straßen und Wege, Forstarbeiter zum Entfernen von nachgewachsenem Unterholz, wo der Wald zu nahe an die Mauer kam. Einmal, sagte man, hatten sie mächtige Eisblöcke aus gefrorenen Seen weit im verfluchten Wald gehauen und diese auf Schlitten gen Süden gefahren, um die Mauer noch höher zu bauen. Das war jedoch Jahrhunderte her. Jetzt konnten sie nur noch von Ostwacht zum Schattenturm über die Mauer reiten und nach Rissen oder geschmolzenen Stellen suchen und diese reparieren, so gut es ging.
»Der Alte Bär ist kein Narr«, bemerkte Dareon. »Du wirst sicher Baumeister, und Jon wird sicher Grenzer. Er ist der beste Schwertkämpfer und der beste Reiter unter uns, und sein Onkel war Erster Grenzer, bevor er …« Seine Stimme verstummte unbeholfen, als er merkte, was er fast ausgesprochen hätte.
»Benjen Stark ist noch immer Erster Grenzer«, erklärte Jon Schnee und spielte mit seiner Schale Blaubeeren herum. Alle anderen mochten die Hoffnung auf eine sichere Heimkehr seines Onkels aufgegeben haben, er jedoch nicht. Er schob die Beeren von sich, hatte sie kaum angerührt, und erhob sich von der Bank.
»Willst du die nicht mehr essen?«, fragte Kröte.
»Nimm sie, wenn du willst.« Jon hatte von Hobbs großem Festmahl kaum gekostet. »Ich bringe keinen Bissen mehr herunter.« Er nahm seinen Umhang vom Haken an der Tür und ging hinaus.
Pyp folgte ihm. »Jon, was ist?«
»Sam«, seufzte er. »Er war heute Abend nicht bei Tisch.«
»Es sieht ihm gar nicht ähnlich, dass er eine Mahlzeit auslässt«, sagte Pyp nachdenklich. »Meinst du, er ist krank?«
»Er fürchtet sich. Wir verlassen ihn.« Er dachte an den Tag, als er Winterfell verlassen hatte, all die bittersüßen Abschiede, Bran mit gebrochenen Knochen, Robb mit Schnee im Haar, Arya, die ihn mit Küssen überhäufte, nachdem er ihr Nadel geschenkt hatte. »Wenn wir erst unseren Eid abgelegt haben, werden wir uns um Pflichten zu kümmern haben. Manche von uns werden vielleicht fortgeschickt, nach Ostwacht oder zum Schattenturm. Sam wird in der Ausbildung bleiben, mit Leuten wie Rast und Kuger und diesen neuen Jungen, die über den Königsweg zu uns kommen. Die Götter allein wissen, wie sie sein werden, aber du kannst wetten, dass Ser Allisar sie gegen ihn aufhetzt, und zwar bei erster Gelegenheit.«
Pyp verzog das Gesicht. »Du hast getan, was du konntest.«
»Was wir tun konnten, hat nicht genügt«, erwiderte Jon.
Eine tiefe Rastlosigkeit erfüllte ihn, während er zu Hardins Turm ging, um Geist zu holen. Der Schattenwolf lief neben ihm zu den Ställen. Einige der scheueren Pferde traten gegen die Boxenwände und legten die Ohren an, als die beiden hereinkamen. Jon sattelte seine Stute, stieg auf und ritt aus der Schwarzen Festung hinaus, gen Süden durch die mondbeschienene Nacht. Geist lief voraus, flog über den Boden und war einen Augenblick später verschwunden. Jon ließ ihn laufen. Ein Wolf brauchte die Jagd.
Er hatte kein Ziel im Sinn. Er wollte nur reiten. Ein Stück weit folgte er dem Bach, lauschte dem eisigen Murmeln des Wassers, dann ritt er quer über die Felder zum Königsweg. Schmal und steinig war er, von Unkraut überzogen, eine Straße ohne bestimmtes Versprechen und doch ein Anblick, der in Jon unermessliche Sehnsucht aufkommen ließ. Winterfell lag an dieser Straße und jenseits davon Schnellwasser und Königsmund und Hohenehr und so viele andere Orte: Casterlystein, die Insel der Gesichter, die Roten Berge von Dorne, die hundert Inseln von Braavos im Meer, die qualmenden Ruinen des Alten Valyria. All jene Orte, die Jon nie sehen würde. Die Welt lag an dieser Straße … und er war hier.
Hatte er seinen Eid erst abgelegt, wäre die Mauer seine Heimat, bis er das Alter von Maester Aemon erreicht hatte. »Noch habe ich den Eid nicht abgelegt«, murmelte er. Er war kein Ausgestoßener, der das Schwarz anlegen oder die Strafe für seine Verbrechen auf sich nehmen musste. Er war aus freien Stücken hergekommen, und er konnte auch aus freien Stücken wieder gehen … solange er jene Worte nicht gesprochen hatte. Er musste nur weiterreiten und konnte alles hinter sich lassen. Bis zum nächsten Vollmond wäre er wieder bei seinen Brüdern in Winterfell.
Deinen Halbbrüdern, erinnerte ihn eine innere Stimme. Und bei Lady Stark, die dich nicht willkommen heißen wird. Für ihn war kein Platz in Winterfell und auch kein Platz in Königsmund. Nicht einmal seine eigene Mutter hatte ihn gewollt. Der Gedanke an sie stimmte ihn traurig. Er fragte sich, wer sie gewesen sein mochte, wie sie ausgesehen hatte, warum sein Vater sie verlassen hatte. Weil sie eine Hure oder eine Ehebrecherin war, Dummkopf! Etwas Finsteres und Unehrenhaftes, denn warum sonst sollte sich Lord Eddard schämen, von ihr zu sprechen?
Jon Schnee wandte sich vom Königsweg ab und blickte sich um. Die Feuer der Schwarzen Festung waren hinter einem Hügel verborgen, doch die Mauer war zu sehen, schimmerte blass unter dem Mond, endlos und kalt, von Horizont zu Horizont.
Er riss sein Pferd herum und ritt nach Hause.
Geist kehrte zurück, als er auf eine Anhöhe kam und den fernen Glanz vom Lampenschein im Turm des Lord Kommandanten sah. Die Schnauze des Schattenwolfes war rot von Blut, während er neben dem Pferd hertrottete. Jon merkte auf dem Rückweg, dass er schon wieder an Samwell Tarly dachte. Als er zu den Ställen kam, wusste er, was er zu tun hatte.
Maester Aemons Gemächer befanden sich in einem stabilen hölzernen Bau unter dem Krähenschlag. Alt und gebrechlich, wie er war, teilte der Maester seine Kammern mit zwei der jüngeren Kämmerer, die sich um seine Bedürfnisse kümmerten und ihm bei seinen Pflichten halfen. Die Brüder scherzten, man habe ihm die zwei hässlichsten Männer der Nachtwache gegeben. Da er blind war, blieb ihm der Anblick der beiden erspart. Klydas war klein, kahl und kinnlos und hatte kleine hellrote Augen wie ein Maulwurf. Chett hatte eine Geschwulst von der Größe eines Taubeneis am Hals, und sein Gesicht war gerötet von Pickeln und Furunkeln. Vielleicht wirkte er aus diesem Grund stets so zornig.
Chett öffnete auf Jons Klopfen hin. »Ich muss mit Maester Aemon sprechen«, erklärte Jon.
»Der Maester ist im Bett, wo auch du sein solltest. Komm am Morgen wieder, und vielleicht empfängt er dich.« Schon wollte er die Tür schließen.
Jon hielt sie mit dem Fuß offen. »Ich muss jetzt mit ihm sprechen. Morgen früh ist es zu spät.«
Chett zog ein finsteres Gesicht. »Der Maester ist es nicht gewohnt, mitten in der Nacht gestört zu werden. Weißt du, wie alt er ist?«
»Alt genug, Besuchern mit mehr Höflichkeit zu begegnen als Ihr«, sagte Jon. »Bittet ihn in meinem Namen um Verzeihung. Ich würde seine Nachtruhe nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Jon hatte seinen Stiefel fest in die Tür geklemmt. »Ich kann hier die ganze Nacht stehen, wenn es sein muss.«
Der Schwarze Bruder gab ein angewidertes Grunzen von sich und öffnete die Tür, um ihn hereinzulassen. »Warte in der Bibliothek. Dort ist Holz. Mach Feuer. Ich werde nicht zulassen, dass sich der Maester deinetwegen erkältet.«
Schon knisterten die Scheite fröhlich, da führte Chett Maester Aemon herein. Der alte Mann trug sein Schlafgewand, doch um seinen Hals lag die Münzkette seines Ordens. »Der Stuhl am Feuer wäre mir angenehm«, sagte er, als er die Wärme in seinem Gesicht spürte. Als er bequem saß, bedeckte Chett seine Beine mit einem Fell und stellte sich an die Tür.
»Es tut mir leid, dass ich Euch geweckt habe, Maester«, sagte Jon Schnee.
»Du hast mich nicht geweckt«, erwiderte Maester Aemon. »Ich benötige immer weniger Schlaf, je älter ich werde, und ich bin schon sehr alt. Oft verbringe ich die halbe Nacht mit Gespenstern der Vergangenheit und erinnere mich an Zeiten vor fünfzig Jahren, als wäre es gestern erst gewesen. Das Mysterium eines mitternächtlichen Besuchers ist eine willkommene Abwechslung. Nun sag mir, Jon Schnee, warum besuchst du mich zu dieser ungewohnten Stunde?«
»Um darum zu bitten, dass Samwell Tarly von der Ausbildung befreit und als Bruder der Nachtwache aufgenommen wird.«
»Das ist nicht Sache Maester Aemons«, beschwerte sich Chett.
»Unser Lord Kommandant hat die Ausbildung der Rekruten in die Hände von Ser Allisar Thorn gelegt«, erklärte der Maester gütig. »Nur er entscheidet, wann ein Junge bereit ist, seinen Eid abzulegen, wie du sicher weißt. Warum kommst du mit diesem Anliegen zu mir?«
»Der Lord Kommandant hört auf Euch«, erklärte Jon. »Und die Verwundeten und Kranken der Nachtwache unterliegen Eurer Verantwortung.«
»Und ist dein Freund Samwell verwundet oder krank?«
»Das wird er sein, wenn Ihr nicht helft.«
Er erzählte ihnen alles, selbst den Teil, als er Geist an Rasts Kehle hatte. Maester Aemon lauschte schweigend, die blinden Augen aufs Feuer gerichtet, doch Chetts Miene verfinsterte sich mit jedem Wort. »Ohne uns, die ihm zur Seite stehen, hat Sam keine Chance«, endete Jon. »Was das Schwert betrifft, ist Hopfen und Malz bei ihm verloren. Selbst meine Schwester Arya könnte ihn niedermähen, und die ist nicht mal zehn. Wenn Ser Allisar ihn kämpfen lässt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er verletzt oder getötet wird.«
Chett konnte nicht mehr an sich halten. »Ich habe diesen fetten Jungen im Gemeinschaftssaal gesehen«, erregte er sich. »Er ist ein Schwein und eine hoffnungslose Memme dazu, wenn das wahr ist, was du sagst.«
»Vielleicht ist es so«, erwiderte Maester Aemon. »Sagt mir, Chett, was würdet Ihr mit einem solchen Jungen tun?«
»Ihn lassen, wo er ist«, sagte Chett. »Die Mauer ist kein Ort für Schwächlinge. Lasst ihn üben, bis er bereit ist, egal wie viele Jahre es dauern mag. Ser Allisar wird ihn zum Mann machen oder töten, ganz nach dem Willen der Götter.«
»Das ist dumm«, warf Jon ein. Er holte tief Luft, um seine Gedanken zu ordnen. »Ich erinnere mich, dass ich einmal Maester Luwin gefragt habe, warum er eine Kette um den Hals trägt.«
Maester Aemon berührte seine eigene Kette, und seine knochigen, faltigen Finger strichen über die schweren Metallglieder. »Weiter.«
»Er hat mir erklärt, das Ordensband eines Maesters bestehe aus einer Kette von einzelnen Gliedern, die ihn daran erinnern sollen, dass er zum Dienen vereidigt ist«, sagte Jon nachdenklich. »Ich habe ihn gefragt, warum jedes Glied aus anderem Metall besteht. Eine Silberkette würde viel besser zu seinem grauen Gewand passen, habe ich ihm gesagt. Maester Luwin lachte. Ein Maester schmiedet seine Kette mit Studien, hat er mir erklärt. Die verschiedenen Metalle stehen für verschiedene Lehren, Gold für die Studien von Geld und Rechnungswesen, Silber für das Heilen. Eisen für die Kriegskunst. Und er sagt, es gebe noch andere Bedeutungen. Das Band soll den Maester an das Reich erinnern, dem er dient, ist es nicht so? Lords sind Gold und Ritter Stahl, aber zwei Glieder sind noch keine Kette. Man braucht dazu noch Silber und Eisen und Blei, Zinn und Kupfer und Bronze und den ganzen Rest, und die sind Bauern und Schmiede und Händler und Ähnliches. Eine Kette braucht die unterschiedlichsten Metalle, und ein Land braucht die unterschiedlichsten Menschen.«
Maester Aemon lächelte. »Und?«
»Die Nachtwache braucht auch die unterschiedlichsten Menschen. Wozu sonst Grenzer, Kämmerer und Baumeister? Lord Randyll konnte aus Sam keinen Krieger machen, und auch Ser Allisar kann es nicht. Man kann Zinn nicht in Stahl verwandeln, so sehr man es auch schmiedet, doch das bedeutet nicht, dass Zinn nutzlos wäre. Warum sollte Sam nicht Kämmerer werden?«
Chett stieß ein wütendes Knurren aus. »Ich bin Kämmerer. Glaubst du, das wäre eine leichte Arbeit für Feiglinge? Die Kämmerer halten die Nachtwache am Leben. Wir jagen und ernten, kümmern uns um die Pferde, melken die Kühe, sammeln Feuerholz, kochen die Mahlzeiten. Was glaubst du, wer deine Kleider näht? Wer bringt Nachschub aus dem Süden? Die Kämmerer.«
Maester Aemon sprach sanfter. »Ist dein Freund ein Jäger?«
»Er hasst die Jagd«, musste Jon einräumen.
»Kann er ein Feld pflügen?«, fragte der Maester weiter. »Kann er einen Wagen fahren oder ein Schiff segeln? Kann er eine Kuh schlachten?«
»Nein.«
Chett stieß ein hässliches Lachen aus. »Ich habe gesehen, was mit weichen Lordlingen passiert, wenn man sie an die Arbeit schickt. Lass sie Butter rühren, und ihre Hände bekommen Blasen und bluten. Gib ihnen eine Axt zum Holzhacken, und sie schlagen sich den eigenen Fuß ab.«
»Ich weiß etwas, das Sam besser als jeder andere kann.«
»Ja?«, fragte Maester Aemon.
Argwöhnisch sah Jon zu Chett hinüber, der neben der Tür stand, seine Furunkel rot und böse. »Er könnte Euch helfen«, fuhr er eilig fort. »Er kann rechnen, lesen und schreiben. Ich weiß, Chett hingegen kann nicht lesen, und Klydas hat schwache Augen. Sam hat alle Bücher in der Bibliothek seines Vaters gelesen. Er wäre auch gut zu den Raben. Tiere scheinen ihn zu mögen. Geist hat sich sofort mit ihm angefreundet. Es gibt eine Menge, was er tun könnte, nur eben nicht kämpfen. Die Nachtwache braucht jeden Mann. Warum einen ohne jeden Sinn töten? Nutzt stattdessen seine Begabungen.«
Maester Aemon schloss die Augen, und einen kurzen Moment lang fürchtete Jon, er sei eingeschlafen. Endlich sagte er: »Maester Luwin war dir ein guter Lehrer, Jon Schnee. Dein Verstand ist so kühn wie deine Klinge, so scheint es.«
»Bedeutet das …?«
»Es bedeutet, dass ich über das, was du mir erzählt hast, nachdenken werde«, erklärte der Maester mit fester Stimme. »Und nun, glaube ich, bin ich müde genug zum Schlafen. Chett, geleite unseren jungen Bruder zur Tür.«
TYRION
Sie hatten in einem Espenwäldchen gleich neben der Bergstraße Schutz gesucht. Tyrion sammelte totes Holz, während ihre Pferde Wasser aus einem Bergbach tranken. Er bückte sich, um einen gesplitterten Ast aufzuheben, und untersuchte ihn eingehend. »Wird das gehen? Ich bin nicht geübt im Feuermachen. Das hat Morrec immer für mich erledigt.«
»Ein Feuer?«, sagte Bronn und spuckte aus. »Bist du so hungrig, dass du dafür sterben würdest, Zwerg? Oder hast du den Verstand verloren? Ein Feuer lockt meilenweit die Clans an. Ich will diese Reise überleben, Lennister.«
»Und wie willst du das bewerkstelligen?«, fragte Tyrion. Er klemmte den Ast unter den Arm und stocherte im spärlichen Unterholz herum, suchte nach mehr. Sein Rücken schmerzte von der Mühsal des Bückens. Seit Tagesanbruch, nachdem Ser Lyn Corbray sie mit steinerner Miene durch das Bluttor geführt und ihnen verboten hatte, jemals zurückzukommen, waren sie geritten.
»Wir haben keine Chance, wenn’s ans Kämpfen geht«, erklärte Bronn, »aber zwei kommen schneller voran als zehn und sind nicht so leicht zu entdecken. Je weniger Zeit wir in diesen Bergen verbringen, desto wahrscheinlicher erreichen wir die Flusslande. Reite hart und schnell, sage ich. Reise bei Nacht und verkrieche dich bei Tag, vermeide die Straße, wo es geht, mach keinen Lärm und zünde kein Feuer an.«
Tyrion Lennister seufzte. »Ein glänzender Plan, Bronn. Versuch es damit, wenn du willst … und verzeih mir, wenn ich mich nicht damit aufhalte, dich zu begraben.«
»Du meinst, du willst mich überleben, Zwerg?« Der Söldner grinste. Er hatte eine dunkle Lücke in seinem Lächeln, wo die Kante von Ser Vardis Egens Schild ihm einen Zahn ausgeschlagen hatte.
Tyrion zuckte mit den Schultern. »Bei Nacht hart und schnell zu reiten ist eine sichere Methode, am Berg auszurutschen und sich den Hals zu brechen. Ich ziehe es vor, langsam und entspannt zu reisen. Ich weiß, dass dir der Geschmack von Pferden zusagt, Bronn, nur wenn unsere Tiere diesmal unter uns wegsterben, werden wir versuchen müssen, Schattenkatzen zu satteln, und wenn ich die Wahrheit sagen soll, so glaube ich, dass uns die Clans entdecken werden, egal was wir tun. Ihre Augen sind überall.« Er deutete auf die hohen, windumtosten Klippen rundum.
Bronn verzog das Gesicht. »Dann sind wir tot, Lennister.«
»Wenn ja, so ziehe ich es vor, bequem zu sterben«, erwiderte Tyrion. »Wir brauchen Feuer. Die Nächte hier oben sind kalt, und warmes Essen wird uns die Bäuche wärmen und uns aufmuntern. Glaubst du, wir könnten hier Wild finden? Lady Lysa hat uns freundlicherweise mit einem veritablen Festmahl aus Pökelfleisch, hartem Käse und altem Brot versorgt, nur würde ich mir ungern so fern vom nächsten Maester einen Zahn abbrechen.«
»Fleisch kann ich besorgen.« Unter einer Strähne von schwarzem Haar hervor beobachtete Bronn mit seinen dunklen Augen Tyrion voller Argwohn. »Ich sollte dich mit deinem Feuer hier zurücklassen. Wenn ich dein Pferd nähme, stünden meine Chancen doppelt gut, es zu schaffen. Was würdest du dann tun, Zwerg?«
»Sterben höchstwahrscheinlich.« Tyrion bückte sich, um einen weiteren Zweig aufzuheben.
»Denkst du, ich würde es nicht tun?«
»Du würdest es sofort tun, wenn dein Leben davon abhinge. Schließlich warst du auch schnell damit, deinen Freund Chiggen zum Schweigen zu bringen, als er diesen Pfeil in den Bauch bekam.« Bronn hatte den Kopf des Mannes am Haar zurückgerissen, die Spitze seines Dolches unterm Ohr hineingetrieben und später Catelyn Stark erklärt, der Söldner sei seiner Wunde erlegen.
»Er war so gut wie tot«, sagte Bronn, »und sein Stöhnen lockte sie an. Chiggen hätte dasselbe für mich getan … und er war kein Freund, nur ein Mann, mit dem ich gemeinsam geritten bin. Täusche dich nicht, Zwerg. Ich habe für dich gekämpft, aber ich liebe dich nicht.«
»Ich brauche deine Klinge«, erwiderte Tyrion, »nicht deine Liebe.« Er warf seinen Arm voll Holz zu Boden.
Bronn grinste. »Du bist unerschrocken wie ein Söldner, das will ich dir zugestehen. Woher wusstest du, dass ich für dich eintrete?«
»Wissen?« Tyrion hockte sich unbeholfen auf seine verkümmerten Beine, um das Feuer einzurichten. »Ich habe gewürfelt. Damals im Wirtshaus habt ihr, Chiggen und du, geholfen, mich gefangen zu nehmen. Warum? Die anderen sahen es als ihre Pflicht, für die Ehre der Herren, denen sie dienen, nicht so ihr beiden. Ihr hattet keinen Herrn, keine Pflicht und ziemlich wenig Ehre, warum sich also einmischen?« Er nahm sein Messer hervor und schnitzte etwas Rinde von den Stöcken, die er gesammelt hatte, um sie als Zünder zu verwenden. »Nun, weshalb tun Söldner überhaupt irgendwas? Für Gold. Ihr dachtet, Lady Catelyn würde euch für eure Hilfe belohnen, euch vielleicht sogar in ihre Dienste nehmen. Hier, das sollte genügen, hoffe ich. Hast du einen Feuerstein?«
Bronn schob zwei Finger in den Beutel an seinem Gürtel und warf einen Feuerstein herüber. Tyrion fing ihn aus der Luft.
»Meinen Dank«, sagte er. »Die Sache ist, dass ihr die Starks nicht kanntet. Lord Eddard ist ein stolzer, ehrenhafter und ehrlicher Mann, und sein holdes Weib ist noch übler. Oh, ohne Zweifel hätte sie die eine oder andere Münze für euch übrig gehabt, wenn das alles vorüber gewesen wäre, und sie euch mit freundlichen Worten und angewidertem Blick in die Hand gedrückt, aber mehr hättet ihr euch nicht erhoffen dürfen. Die Starks suchen Mut und Treue und Ehre in den Männern, die sie für ihre Dienste wählen, und wenn ich die Wahrheit sagen soll, waren Chiggen und du nichts als Abschaum.« Tyrion schlug den Feuerstein an seinen Dolch, um einen Funken hervorzurufen. Nichts.
Bronn schnaubte. »Du hast eine kühne Zunge, kleiner Mann. Eines Tages könnte sie dir jemand rausschneiden und dir selbst zum Fressen geben.«
»Das sagen sie alle.« Tyrion blickte zum Söldner auf. »Habe ich dich verletzt? Ich bitte um Verzeihung … aber du bist Abschaum, Bronn, täusch dich nicht. Pflicht, Ehre, Freundschaft, was bedeuten sie dir schon? Nein, spar dir die Mühe, wir kennen beide die Antwort. Dennoch, dumm bist du nicht. Im Grünen Tal hatte Lady Stark keine Verwendung mehr für dich … aber ich, und das Einzige, woran es den Lennisters nie gemangelt hat, war Gold. Als der Moment kam, die Würfel zu zücken, habe ich darauf gebaut, dass du klug genug wärst zu erkennen, was in deinem Interesse liegt. Zum Glück für mich wusstest du es.« Wieder schlug er Stein und Stahl aneinander, abermals vergebens.
»He«, sagte Bronn und hockte sich hin. »Ich mach das.« Er nahm Tyrion Messer und Feuerstein aus den Händen und schlug schon beim ersten Versuch Funken. Ein Stück Rinde begann zu glimmen.
»Gut gemacht«, lobte Tyrion. »Abschaum magst du sein, doch du bist unbestreitbar nützlich, ja, mit dem Schwert bist du fast so gut wie mein Bruder Jaime. Was willst du, Bronn? Gold? Land? Frauen? Beschütze mein Leben, und du sollst es bekommen.«
Sanft blies Bronn ins Feuer, und die Flammen sprangen höher. »Und wenn du stirbst?«
»Nun, dann gibt es jemanden, der mich ehrlich betrauert«, gab Tyrion grinsend zurück. »Dein Anspruch auf das Gold endet mit mir.«
Das Feuer flackerte hübsch. Bronn stand auf, steckte den Flint wieder in seinen Beutel und warf Tyrion dessen Dolch zu. »Abgemacht«, sagte er. »Dann gehört mein Schwert dir … aber glaub nicht, dass ich jedes Mal auf die Knie falle und M’lord sage, wenn du scheißen musst. Ich spiele für niemanden den Speichellecker.«
»Und auch nicht den Freund«, entgegnete Tyrion. »Ich bin mir sicher, dass du mich ebenso schnell verrätst wie Lady Stark, wenn du dir einen Gewinn davon versprichst. Sollte je der Tag kommen, an dem du versucht bist, mich zu verkaufen, denk immer daran, Bronn … ich zahle deren Preis, gleich wie hoch er sein mag. Ich lebe gern. Und jetzt: Meinst du, du könntest uns etwas zum Abendessen besorgen?«
»Kümmere dich um die Pferde«, forderte ihn Bronn auf und zog den langen Dolch von seiner Hüfte. Damit verschwand er zwischen den Bäumen.
Eine Stunde später waren die Pferde gestriegelt und gefüttert, das Feuer knisterte fröhlich vor sich hin, und die Lende einer jungen Ziege drehte sich tropfend und zischend über den Flammen. »Jetzt fehlt uns nur noch etwas guter Wein, um unser Zicklein hinunterzuspülen«, sagte Tyrion.
ENDE DER LESEPROBE